FHVR, FB Archiv- u. Bibliothekswesen Margrit Lauber-Reymann Virtuelle Fachbibliotheken Studienskript – aktualisiert: 09/2011 1. Allgemeines: Fachspezifische Informationen im Internet Quantität und Heterogenität der über das Internet zugänglichen wissenschaftlichen Fachinformation machen es immer unumgänglicher, die verteilt liegenden Informationen eines Fachgebietes zu bündeln, fachgerecht zu strukturieren und zu erschließen. Geboten ist dies auch deshalb, weil nur dadurch trotz sinkender oder im besten Falle gleich bleibender Erwerbungsetats von Bibliotheken und Informationseinrichtungen ein optimaler Zugang zu allen Ressourcen – den konventionellen und den elektronischen, den frei zugänglichen und der kostenpflichtigen – für die Benutzer gewährleistet ist. Zu fast allen Wissenschaftsgebieten entstanden seit Mitte der 90er Jahre systematisch strukturierte Linklisten und Datenbanken – im englischsprachigen Bereich auch „Subject Gateways“ oder „Virtual Libraries“ genannt. Sie wurden meist von Institutionen wie z.B. Universitätsinstituten, Fachhochschulen, Fachgesellschaften, Interessengruppen oder von engagierten Einzelpersonen aufgebaut und sind mehr oder weniger aktuell gehalten, da die Pflege der Seiten einen erheblichen Aufwand erfordert. Einige Beispiele: WWW Virtual Library http://vlib.org/ Voice of the Shuttle (Geisteswissenschaften) http://vos.ucsb.edu/index.asp Intute ( Sozialwissenschaften) http://www.intute.ac.uk/socialsciences/ Mit der Einstellung der Fördermittel von JISC Mitte 2011 wird der Inhalt nur noch statisch vorgehalten. Das Schicksal dieser Virtuellen Bibliothek für die Sozialwissenschaften ist ungewiss. Archäologie Online (Guide) http://www.archaeologie-online.de Chemie.DE http://www.chemie.de Viele fachliche Gateways haben sich durchaus bewährt. Ein Manko ist jedoch vor allem darin zu sehen, dass Quantität, Qualität, Aktualität sowie die formale und sachliche Erschließung des Inhalts sehr unterschiedlich sind. Die Nutzer müssen sich bei jedem Angebot neu orientieren, informieren und einarbeiten. Außerdem wird z.T. unnötige Doppelarbeit beim Aufbau geleistet, ein Teil der Informationen ist redundant, andere Aspekte fehlen. Einige dieser Portale sind gezwungen, sich über Werbeeinnahmen zu finanzieren. 2. Der koordinierte Aufbau Virtueller Fachbibliotheken – ein Förderprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft Um den Aufbau eines koordinierten Netzes Virtueller Fachbibliotheken für den wissenschaftlichen Nutzerkreis in Deutschland zu gewährleisten, fördert die DFG durch finanzielle Sondermittel den Aufbau einheitlicher Virtueller Fachbibliotheken. Definition Als Virtuelle Fachbibliothek bezeichnet man eine Website, auf der die Wege zu wissenschaftsrelevanten Informationen und Dokumenten eines Faches oder eines Fachclusters unabhängig vom Typ der Dokumente, der Speicherform und des Speicherortes gebündelt werden. 1 FHVR, FB Archiv- u. Bibliothekswesen Margrit Lauber-Reymann Virtuelle Fachbibliotheken Studienskript – aktualisiert: 09/2011 Eine Virtuelle Fachbibliothek soll die Suche in verschiedenen, heterogenen Datenbeständen erlauben und ohne Medienbruch Ermittlung, Bestellung und Zugang zu den gewünschten Informationen und Quellen ermöglichen. Neben der Erschließung und Bereitstellung von PrintPublikationen und kostenfreien Internetangeboten soll auch der komfortable Zugang zu kostenpflichtigen, digitalen Produkten wie z.B. E-Journals, E-Books und Fachdatenbanken integriert sein. Konzeptioneller Aufbau Das Gesamtkonzept der fachsystematischen Gliederung orientiert sich am System der überregionalen Literaturversorgung. Im Allgemeinen sind diejenigen Bibliotheken für den Aufbau einer Virtuellen Fachbibliothek zuständig, die das entsprechende Sondersammelgebiet betreuen. Zusätzlich sind Fachinformationseinrichtungen, Spezialbibliotheken und Fachgesellschaften kooperativ beteiligt. Dahinter steht die programmatische Idee, das bereits seit langem bewährte System der überregionalen Literaturversorgung durch Sondersammelgebietsbibliotheken allmählich in ein Netzwerk Virtueller Fachbibliotheken zu überführen. Eine Übersicht über die einzelnen Sondersammelgebiete (fachliche oder regionale Schwerpunkte), die zuständigen Bibliotheken und die zum Fach gehörende Virtuellen Fachbibliotheken erhält man über folgende Seite: WEBIS (Web-basiertes Informationssystem zur überregionalen Literaturversorgung) http://webis.sub.uni-hamburg.de Die Erweiterung dieses Systems zu einem Netz Virtueller Fachbibliotheken wird von der DFG seit 1998 gefördert. Derzeit befinden sich mehr als 30 Fachgebiete bzw. Regionenportale im Aufbau. Für die Koordination der Aufbauarbeiten wurde zunächst eine Koordinationsstelle an der Technischen Informationsbibliothek/Universitätsbibliothek (TIB/UB) Hannover eingerichtet. Die Aktivitäten erfolgten in Abstimmung mit der Initiative Digitale Bibliothek 2010 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Die DFG und das BMBF haben hierzu eine Kooperationsvereinbarung zur Förderung von Informationsverbünden und Virtuellen Fachbibliotheken abgeschlossen. Ein wesentliches Ziel ist dabei, dass für den Zugang zu wissenschaftsrelevanten Informationen im Internet eine qualitativ hochwertige, nutzerorientierte und auf Dauer sichergestellte Infrastruktur aufgebaut wird. Zu den Fachgebieten bzw. Regionen, für die Virtuelle Fachbibliotheken geführt werden, gehören (Auswahl): Anglo-amerikanische Geschichte und Kultur Bibliotheks- Buch- und Informationswissenschaften Ethnologie Geowissenschaften Germanistik Geschichte und: Geschichtswissenschaften Holztechnologie Ibero-America Medizin Ost- und Südostasienforschung Osteuropa Physik Politikwissenschaft Rechtswissenschaft Romanischer Kulturkreis 2 FHVR, FB Archiv- u. Bibliothekswesen Margrit Lauber-Reymann Virtuelle Fachbibliotheken Studienskript – aktualisiert: 09/2011 Sozialwissenschaften Südasien Veterinärmedizin Wirtschaftswissenschaften In manchen Fachclustern – zum Beispiel bei den Geschichtswissenschaften, bei Kunst oder bei Regionen – ist derzeit noch eine Aufspaltung in Teilgebiete gegeben. Hier wäre eine inhaltlich stärkere Koordination oder eine klarere Abgrenzung für den Nutzer wünschenswert. 3. Die Funktionalitäten Virtueller Fachbibliotheken 3.1. Module Der Idealtypus einer Virtuellen Fachbibliothek sollte über folgende Kernmodule verfügen: a) Zugang zu relevanten Bibliothekskatalogen mit Einzel- oder Metasuche. In erster Linie sollte die Suche im Spezialbestand der jeweiligen SSG-Bibliothek(en) angeboten werden – mit der Möglichkeit der Erweiterung auf verwandte Gebiete oder allgemeine Verbundkataloge; b) Fachinformationsführer / Webkatalog / Internet Guide: Zugang zu fachlich relevanten, qualitätskontrollierten, mittels standardisierter Metadaten erschlossener Internetressourcen. Die fachgerechte Annotation der Ressourcen erhöht den Wert eines Webkataloges beträchtlich. Für die in manchen Fällen angebotene Bewertung der Ressourcen nach einem Punktsystem fehlt es jedoch noch an eindeutigen Kriterien. Die Auswahl und Erschließung von Quellen erfolgt teilweise kooperativ über den Datenpool Academic Linkshare; c) Suchmaschine zum Fachinformationsführer / Webkatalog. Im Idealfall ist die Recherche in den Dateien aller hierarchischen Ebenen der im Webkatalog erfassten Websites möglich. Voraussetzung ist, dass die Dateien indexiert wurden; d) Integrierte Fachrecherche: Metasuchmaschine, über die in den Modulen a) und b) der Virtuellen Fachbibliothek parallel recherchiert werden kann; e) Strukturierte Suche, z.B. nach bestimmten Ressourcen-Typen; Navigations- und Browsingmöglichkeiten; f) Dokumentlieferdienste. Im Idealfall sollte ohne System- oder Medienbruch („onestop-shop“) die beschleunigte Bestellung und Lieferung für kostenfreie und kostenpflichtige gedruckte und digitale Dokumente möglich sein, einschließlich der Bezahlung im Pay-per-use-Modus; g) Elektronische Zeitschriften (sofern der Zugang nicht schon über die Bibliothekskataloge realisiert ist). Häufig wird ein Auszug mit allen existierenden EZ eines Fachclusters angeboten. Die FSX-Verlinkung ist teilweise realisiert. Je nach Fach kann eine Virtuelle Fachbibliothek Erweiterungsmodule enthalten (sofern diese Funktionen nicht schon von den Kernmodulen abgedeckt sind) wie z.B. 3 FHVR, FB Archiv- u. Bibliothekswesen Margrit Lauber-Reymann Virtuelle Fachbibliotheken Studienskript – aktualisiert: 09/2011 h) Digitale Volltextsammlungen, u.a. mit E-Book-Sammlungen, fachspezifischen Nachschlagewerken, Quellensammlungen, Kongressberichten, Grauer Literatur; i) Zugang zu fachspezifischen oder allgemeinen OAI-Repositorien, die Nutzern eine Plattform für das Publizieren anbieten; j) Weitere fachliche Datenbanken, z.B. Fachbibliographien, Aufsatzdatenbanken, Bilddatenbanken; k) Fakten- u. Adressdatenbanken mit fachrelevanten empirischen Daten, Tagungsund Konferenzdaten, Kontaktdaten für Personen, Institutionen, Firmen, Verbände, Ausbildungs- und Forschungseinrichtungen; l) Tutorials zur Vermittlung fachlicher Informationskompetenz zu den Angeboten der jeweiligen Virtuellen Fachbibliothek. In manchen Fällen werden darüber hinaus Tutorials zur allgemeinen Einführung in die bibliographische Suche und Faktensuche für Studienanfänger des entsprechenden Faches angeboten (Bsp.: Evifa). Durch Kooperation mit dem Informationsportal LOTSE sind Tutorials teils dort hinterlegt. m) Content-Dienste: Datenbanken mit Zeitschrifteninhaltsverzeichnissen; n) Neuerwerbungslisten der SSG-Bibliothek(en) u. anderer relevanter Institutionen; o) Rezensionen zu Fachpublikationen; p) Fachliche Foren, Mailinglisten, Blogs, Pressedienste, RSS, Alerting; q) Newsletter mit aktuellen Informationen zur Virtuellen Fachbibliothek. 3.2. Die Erschließung Für die Erschließung insbesondere der verzeichneten Internetressourcen des Fachinformationsführers hat sich bei den meisten Virtuellen Fachbibliotheken das Dublin Core Metadata Element Set durchgesetzt. Dieser Standard enthält die folgenden 15 (Grund-)Kategorien: Title Author or Creator Subject and Keywords Description Publisher Other Contributor Date Resource Type Format Resource Identifier Source Language Relation 4 FHVR, FB Archiv- u. Bibliothekswesen Margrit Lauber-Reymann Virtuelle Fachbibliotheken Studienskript – aktualisiert: 09/2011 Coverage Rights Management Kleine Abweichungen von diesem Schema sind je nach Fach gegeben – meist in der Form, dass auf die Belegung einiger Kategorien des DC-Satzes verzichtet wird. In einigen (wenigen) Fällen werden einzelne Kategorien auch erweitert um „sub-elements“ (Unterfelder) und/oder „qualifiers“ bzw. „schemes“, die ermöglichen, die Attribute in einer Kategorie näher zu bestimmen (z.B. „Date“ = Datum der Erstellung einer Website oder Datum der letzten Überarbeitung, Eingabe nach einer bestimmten Norm wie ISO und dergl.). Als klassifikatorische Systeme finden die Standards der wissenschaftlichen Bibliotheken wie DDC oder/und RVK, teilweise auch Klassifikationssysteme der zuständigen SSGBibliotheken (z.B. GOK) Anwendung. Für die verbale Sacherschließung werden u.a. die RSWK und die SWD als Grundlage verwendet, teilweise in adaptierter Form. 4. Die Virtuellen Fachbibliotheken und das Projekt vascoda Ab 2003 bestand ein Kooperationsabkommen mit dem ebenfalls von der DFG geförderten wissenschaftlichen Internetportal vascoda.de, das über einen Verein mit 42 institutionellen Mitgliedern organisiert war. Die Schwerpunkte lagen auf einer gemeinsamen Präsentationsplattform für alle Virtuellen Fachbibliotheken, auf der Bereitstellung einer einheitlichen, integrierten Recherche und auf der Einbindung von Angeboten weiterer Anbieter, insbesondere der Informationsverbünde (z.B. Fachinformationsverbund Internationale Beziehungen und Länderkunde; FIZ, Fachinformationszentrum Karlsruhe). Damit sollte die Kooperation zwischen Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und Datenbankanbietern, die Dienstleistungen zur Literatur- und Informationsversorgung für ein oder mehrere Fächer aufbauen und betreiben, gestärkt werden. Die technische Realisierung einer Suche in sehr heterogenen, riesigen Datenbeständen und das Digital Rights Management erwiesen sich jedoch ebenso als Problem wie die dauerhafte Finanzierung. 2010 wurde die Suchmaschine von vascoda abgeschaltet, im Laufe des Jahrs 2011 soll der Verein aufgelöst werden. Voraussichtlich wird dann auch das Portal selbst, das derzeit noch in Form eines Blogs existiert und in der Rubrik „Fachzugänge“ eine Linkliste zu den bis dahin integrierten Virtuellen Fachbibliotheken und Dienstleistungen enthält, eingestellt. Da eine Koordination der Aktivitäten in den einzelnen Virtuellen Fachbibliotheken dringend notwendig erscheint, wird derzeit nach einer neuen Kooperationsbasis gesucht. 5. „Subject Gateway“, “Virtuelle Fachbibliothek” und „Portal“: Fließende Grenzen für Inhalt und Funktionalität Sowohl im bibliothekarischen, im informationswissenschaftlichen und fachwissenschaftlichen Bereich als auch im allgemeinen, unreflektierten Sprachgebrauch herrscht kein Konsens über den exakten Gebrauch und die Abgrenzung der Begriffe „Subject Gateway“, „Virtuelle Fachbibliothek“ und „Portal“. Die o.a. Definition (S. 1) stützt sich auf die durch die im Bibliotheksausschuss der DFG definierten Funktionen einer Virtuellen Fachbibliothek. Ein Subject Gateway sieht Rösch 1 typologisch als Teilmenge einer Virtuellen Fachbibliothek. Subject 1 Rösch 2004 5 FHVR, FB Archiv- u. Bibliothekswesen Margrit Lauber-Reymann Virtuelle Fachbibliotheken Studienskript – aktualisiert: 09/2011 Gateways erschließen – nach dieser Sichtweise – ausschließlich Internetressourcen, während Virtuelle Fachbibliotheken Informationsressourcen aller Art zugänglich machen sollen. Bei den „Portalen“ definiert Rösch neun Kernfunktionalitäten und unterscheidet zwischen Bibliotheksportalen, die einen institutionellen Bezug aufweisen und Wissenschaftsportalen, die institutionsübergreifend angelegt sind. Doch räumt der Autor auch ein, dass die Grenzen zwischen allen drei Kategorien fließend sind. 6. Virtuelle Fachbibliotheken und Portale : Objektorientierung vs. Kundenorientierung Der Weg von einer Virtuellen Fachbibliothek zu einem umfassenden Fachportal führt über die Integration weiterer zielgruppenspezifischer und individualisierter Dienstleistungen. Es ist der Schritt von einem objektorientierten zu einem mehr kundenorientierten Angebot. Ein Portal im Sinne eines Wissenschafts- oder Bibliotheksportals beinhaltet im Idealfall personalisierte Dienste, die eine individuelle Sichtweise auf den Inhalt erlauben, bis hin zur Möglichkeit der Konfiguration (Checkbox-, Filter-, Alerting-Verfahren). Weitere Elemente der Portalfunktion umfassen u.a. einen zentralen Einstiegspunkt (Login) für sämtliche Angebote, Bereitstellung von Kommunikations- und Kooperationskanälen, sowie – aus letzterem resultierend – die Möglichkeiten zur Diskussion, Bewertung und Verifikation der angebotenen Informationen, z.B. über Peer-Reviewing. Portale dienen somit einerseits die Reduktion des Informationsmaterials auf das tatsächlich Relevante und andererseits bieten sie die Möglichkeit, die gewonnenen Informationen rasch weiterzuverarbeiten und daraus generiertes Wissen im Idealfall ebenso schnell wieder in den Informationsfluss zurückzuführen. Einen wichtigen Schritt hin zu einem umfassenden Portal haben diejenigen Virtuellen Fachbibliotheken vollzogen, die bereits einen fachlichen Publikationsserver kostenlos zur Verfügung stellen (z.B. Arthistoricum.net) und als Kommunikationsplattformen dienen. Literatur: Gabrys-Deutscher, E. u. E. Tobschall: Zielgruppenspezifische Aufbereitung von Informationen als Angebot der Virtuellen Fachbibliothek Technik und Physik. Rösch, H.: Virtuelle Fachbibliotheken – in Zukunft Portale? Weber, M.: Eine Virtuelle Fachbibliothek für den bibliothekarischen Sektor – überflüssig oder überfällig? Alle in: Information, Wissenschaft & Praxis. - 55 (2004), 73 – 94 -Pianos, Tamara: Was macht vascoda? – In: ZfBB. - 52 (2005), 67 – 78 Moravetz-Kuhlmann, M. u. Lamble, Jeanette: „Elektronisch frei Haus“. – In: Bibliotheksmagazin (2008) 1, S. 49 – 54 6