Kontinuität oder Kurskorrektur in der Entwicklungszusammenarbeit mit der „islamischen Welt“? Zusammenfassung des FriEnt-Fachgespräch am 17.2.2004 In der deutschen Öffentlichkeit hat sich in den letzten Jahren das Interesse an der islamischen Welt deutlich belebt. Auch entwicklungspolitisch engagierte Organisationen werden seitdem häufiger gefragt, ob und wie sie sich mit der Situation in islamisch geprägten Gesellschaften und mit den Bildern beschäftigen, die im Westen vom Islam und im islamischen Raum vom Westen bestehen. Haben sie in den Ländern dieses Raums die gesellschaftlichen Konflikte übersehen, die Terror offenbar den Boden bereitet haben? Sehen sie den Islam als einen zentralen Faktor für die Eskalation politischer Auseinandersetzungen auf der nationalen wie internationalen Ebene? Läuft Entwicklungszusammenarbeit Gefahr, das in islamischen Ländern vorhandene Konfliktpotential durch die Übertragung westlicher Modernisierungsvorstellungen unwillentlich zu verstärken? In den FriEnt-Organisationen haben diese und andere Fragen viele, aber auch sehr unterschiedliche Diskussionen zur Notwendigkeit von Kontinuität, Kurskorrekturen oder neuen Ausrichtungen in ihrer Zusammenarbeit mit der islamischen Welt ausgelöst. Unter dem Titel „Weiter wie bisher? Blinde Flecken? Do-no-harm?“ kamen im Februar 2004 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der FriEnt-Mitgliedsorganisationen zu einem Austausch über diese Debatten zusammen. Zusammenarbeit mit der „islamischen Welt“ – lange Tradition, neue Blickwinkel In der Veranstaltung zeigte sich von Beginn an, dass alle Organisationen seit langem Entwicklungsprozesse in Ländern unterstützen, in denen muslimische Mehr- oder Minderheiten leben. Genauso deutlich war, dass die „islamische Prägung“ bisher in keiner Organisation ein zentrales Kriterium bei der Festlegung ihrer Strategien gewesen ist. Forderungen nach entwicklungspolitischen Konzepten „für die islamische Welt“ stießen daher schon im Ansatz auf Bedenken. Zu unterschiedlich sind die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen im Nahen Osten und den Teilen Afrikas und Asiens mit muslimischer Bevölkerung, als dass die dort lebenden Menschen sich in ihrer Selbstwahrnehmung als islamisch geprägte Einheit sehen würden. Weltweit lebt die Mehrheit der Muslime sogar in Staaten, die eher gemischt-religiös als islamisch „geprägt“ sind. Auch mit dem Begriff der „umma“ als weltweiter Gemeinschaft der Muslime verbindet sich eher eine religiöse Vorstellung (der Beziehung zwischen den Gläubigen und Gott) als eine historisch gewachsene und die heutigen Nationalgesellschaften übergreifende politisch-kulturelle Identität. Angesichts der unzureichenden Präzision des Begriffs der „islamischen Welt“, so zeigte der Workshop, ist ein daran ausgerichteter grundsätzlicher Blick- oder Richtungswechsel für Entwicklungspolitik wenig handlungsorientierend. Wichtiger scheint es zu sein, Elemente von Kontinuität und Kurskorrektur zu verbinden. FriEnt ist eine Arbeitsgemeinschaft von: ٠ Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) ٠ Evangelischer Entwicklungsdienst (EED) ٠ Friedrich-EbertStiftung (FES) ٠ Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) ٠ Katholische Zentralstelle für Entwicklungshilfe / Misereor ٠ Konsortium Ziviler Friedensdienst ٠ Plattform Zivile Konfliktbearbeitung / Institut für Entwicklung und Frieden ٠ Kontinuität ist anzuraten, wenn Entwicklungsorganisationen bei der Überprüfung oder Festlegung von Handlungsoptionen weiterhin die Vielfalt politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Ausgangssituationen beachten. Sie sollten ihren Blick nicht darauf verengen, ob eine Region oder ein einzelnes Land zum islamischen Kulturraum gehört oder die dort lebenden Menschen überwiegend Muslime sind. Naher und Mittler Osten – „stabil, aber mit hohem Konfliktpotential“ Ausgerechnet für die Region, die derzeit als weltpolitisch gefährlich eingestuft wird, scheint eine differenzierte Beachtung der Entwicklungschancen und -probleme in der Vergangenheit gefehlt zu haben: den Gesellschaften im Maghreb, dem Nahen und Mittleren Osten und im Golfbereich. Die geostrategische Bedeutung der arabisch-islamischen Welt für die westlichen Industrieländer hat dazu geführt, dass lange Zeit - insbesondere in der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit - Defizite und Konflikte übersehen oder wenig angesprochen wurden, die in anderen Weltregionen Forderungen nach und Bemühungen um good governance, Menschenrechte und Armutsbekämpfung ausgelöst hätten. Warum sich in diesen Ländern ein hohes Konfliktpotential herausgebildet hat, sich aber gleichzeitig Schwierigkeiten und Widerstände gegen seine Benennung und Bearbeitung stellen, wird inzwischen sowohl in den arabischen Gesellschaften wie auf der Ebene der internationalen Zusammenarbeit stärker diskutiert. Eine Vielzahl von Studien, internationalen und interkulturellen Seminaren und Dialogen sind in Gang gekommen, auch mit Beteiligung von FriEnt-Organisationen. Bisherige Wahrnehmungsblockaden sind deutlicher geworden. Sie werden - je nach Organisation - mal stärker in der bisher unzureichenden Berücksichtigung der politischen Konfliktkonstellationen gesehen, mal in der Vernachlässigung von Kultur und Religion bei der Analyse gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Überlegungen zu entwicklungspolitischen Kurskorrekturen, so zeigte die Veranstaltung, müssen primär die gescheiterten ökonomischen und politischen Modernisierungsprozesse zum Ausgangspunkt nehmen. Ihre Bearbeitung verlangt jedoch kulturelle Sensibilität. Kultur und Religion – „vielstimmig und Teil von Stagnation oder Wandel“ In einer Reihe von Ländern haben mangelnde Meinungsfreiheit und die Unterdrückung von Reforminitiativen durch die politisch-wirtschaftlichen Eliten zum Erstarken religiös argumentierender Kritiker geführt. Nach ihrer Argumentation wird die gesellschaftliche Stagnation zu einem großen Teil auf den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungsdruck zurückgeführt, der aus den Industrieländern des (christlich geprägten) Westens kommt. Daraus entstehen Forderungen nach einer Aufwertung religiöser Werte und kultureller Traditionen bis hin zu der Vision einer „Islamisierung aller Gesellschaftsbereiche“. Verstärkt wird diese Tendenz dadurch, dass westliche Leitbilder, die sich an den Ideen des Nationalstaates, des Sozialismus oder des Kapitalismus orientierten, in vielen Gesellschaften ausgedient haben. Sie taugen nicht mehr zur Mobilisierung von Anhängerschaft und zur Legitimation von Herrschaft. Was den lokalen Eliten zur Sicherung der eigenen Machtpositionen bleibt, ist der Rückgriff auf die Religion. Diese Zuspitzung ins Religiöse erschwert wiederum eine gesellschaftliche Diskussion über Reformen, da religiös begründete Abgrenzungen im Gegensatz zu sozialen und wirtschaftlichen Interessenunterschieden kaum zum Gegenstand eines gesellschaftlichen Diskurses gemacht werden können. Innerhalb der muslimischen Bevölkerung verdrängt die Konzentration auf gemeinsame religiöse Werte die Auseinandersetzung über politische Konzepte und stärkt die Homogenitätsutopie. Dafür werden die Differenzen und Konkurrenzen gegenüber anderen Religions- bzw. Kulturkreisen umso deutlicher hervorgehoben. Die Gefahr einer Eskalation von Konflikten entlang religiöser Aufspaltungen, so wurde aus kirchlicher Entwicklungszusammenarbeit berichtet, lässt sich auch in deutlicher multi-religiösen Ländern beobachten. Religionsunterschiede werden dort inzwischen häufiger zur Trennlinie in politischen Auseinandersetzungen gemacht und führen zu gewaltsamen Zuspitzungen von Konflikten. Änderungen in entwicklungspolitischen Prioritäten und der Kultur der Zusammenarbeit, so die Einschätzung der Workshop-Teilnehmer, setzen deshalb auch eine differenzierte Be2 trachtung der Dynamik von religiös-kultureller Identitätsbildung und politischem Handeln voraus. Dazu gehört die Einsicht, dass „der Islam“ so wenig existiert wie „der Westen“. Kulturen wie Religionen sind weder monolithisch noch in ihren Ausprägungen unveränderlich. Unterschiedliche „Handlungs- und Bedeutungssysteme“ bestimmen das soziale Handeln von Individuen, Gruppen und Institutionen. Sie können nebeneinander existieren, sich vermischen und sich in Prozessen des sozialen Wandels verändern. In Umbruchsituationen, wie sie z.B. in vielen arabischen Gesellschaften zu beobachten sind, kommt dem Verhältnis zwischen traditionellen und modernen, zwischen Bedeutung gewinnenden und verlierenden Werten oder Vorstellungen über Lebens- und Entwicklungsziele besondere Bedeutung zu. Ob daraus resultierende Spannungen in der Gesellschaft eher als Chance oder als Bedrohung wahrgenommen werden, ist auch für Entwicklungspolitik wichtig. Im arabischen Raum scheint der gesellschaftliche Kontext derzeit eher Abwehrhaltungen und Homogenisierungsdruck zu begünstigen. Entwicklungszusammenarbeit muss kultur- und konfliktsensibel agieren Entwicklungszusammenarbeit muss daher prüfen, ob sie Prozesse der Vermittlung zwischen divergierenden gesellschaftlichen Zielvorstellungen fördern kann, indem sie z.B. Plattformen für Austausch zur Verfügung stellt oder über ihre Projekte Freiräume für die Erprobung neuer Handlungsmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Gruppen bildet. Gelingt es ihr, zumindest die Akzeptanz der Pluralität von unterschiedlichen Ideen zu erhöhen, kann sie eine größere Bereitschaft zur Beschäftigung mit Reforminitiativen schaffen und Tendenzen zu einer Uniformisierung oder Polarisierung gesellschaftlicher Debatten entgegensteuern. Die glaubwürdige Wahrnehmung einer derartigen Brückenfunktion der Entwicklungszusammenarbeit wird u.a. davon abhängen, wie westliche Politik sich insgesamt im Spannungsfeld zwischen strategischen Interessen an der Region und dem Eintreten für demokratische, sozial gerechte und nachhaltige Strukturen auf nationaler und internationaler Ebene positioniert. Für Entwicklungszusammenarbeit bedeutet dies, dass sie Interaktionsstrategien und formen finden muss, bei der sie nicht nur - aus einer Position der politischen und finanziellen Stärke - ihre Werte und Vorstellungen von Demokratie oder Entwicklung aktiv vermittelt („lehrt“). Sie muss auch - entsprechend ihres Eigenanspruchs nach inter-kultureller Kompetenz - bereit sein, Kritik aufzunehmen und zu verarbeiten („zu lernen“). Dazu gehört auch, dass sie die Bedeutung von Religion für gesellschaftliche Stagnation oder Veränderung versteht. Weder ist der Islam per se ein Problem für gesellschaftlichen Wandel, noch der instrumentelle Hebel. Das Potential von Religion als Kraft für Frieden und Entwicklung liegt darin, dass Menschen Entwicklung nicht nur „weltlich“ sehen, sondern religiöse Überzeugungen für ihr Handeln und Bewerten von Situationen sinnstiftend sind. Das gilt für den Umgang mit Anliegen wie der Überwindung von Armut, Diskriminierung und Ungerechtigkeit auf nationaler Ebene. Es macht sich aber auch an der Hinterfragung eines Teils der Werte fest, die die von den Industrieländern dominierte Gestaltung der Globalisierung prägen. Nicht zivilisatorische Unterschiede zwischen „Islam“ und „Westen“ stehen dann zur Diskussion, sondern die Suche nach den Leitbildern für die „eine Welt“. Wolfgang Kaiser (FriEnt/EED) Juli 2004 Die komplette Dokumentation der Veranstaltung ist unter dem Titel „Weiter wie bisher? Blinde Flecken? Do-no-harm?“ auf der website von FriEnt zu finden: http://www.frient.de/themen/religion.asp 3