M E D I Z I N EDITORIAL Schwerhörigkeit durch Freizeitlärm Hans-Peter Zenner F reizeitlärm gefährdet die Gesundheit unserer Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, so die Bundesärztekammer in einer wichtigen Stellungnahme in dieser Ausgabe (siehe Bekanntgaben). Ein Fünftel von uns Deutschen ist bereits schwerhörig. Die heutigen Hörgewohnheiten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen lassen befürchten, daß innerhalb von fünf Jahren durch das Hören von tragbaren Kassettenabspielgeräten sowie als Folge der für Jugendliche typischen Besuche von Diskotheken und Musikgroßveranstaltungen bei etwa zehn Prozent der Jugendlichen irreversible beidseitige Hörverluste von 10 dB und mehr als 4 kHz zu erwarten sind. Hinzu kommen häufig vorbestehende Hörverluste durch laute Kinderspielzeuge und Feuerwerkskörper. Eine besonders starke Gehörgefährdung ergibt sich insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene an Lärmarbeitsplätzen, deren notwendige Hörerholungszeit durch Freizeitlärm verkürzt wird. Massive Gefährdung durch Geräuschentwicklung Wenn man bedenkt, daß ab 84 dB (A) eine Gehörgefährdung beginnt, dann machen Geräuschentwicklungen von Spielzeugen mit 134 bis 135 dB bei Knackfiguren, 128 bis 129 dB (A) bei Knackfröschen (2,5 cm vom Ohr entfernt), Kinderpistolen mit mehr als 135 dB (A), Diskothekenmusik von 89 dB (A) bis 110 dB (A) (VerteiA-1052 (36) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 16, 23. April 1999 lungsmaximum über 100 dB) (A) sowie Musikgroßveranstaltungen mit Mittelwerten über 100 dB (A) eine massive Gefährdung deutlich. Hinzu kommt, daß zehn Prozent der Walkman-Hörer mittlere Hörpegel von 100 dB (A) mit dem Kopfhörer einstellen. Eine Übersicht mit ausführlichen Literaturhinweisen findet sich unter (9), ausgesuchte Einzelarbeiten sind unter (1–8) dargestellt. Schwerhörigkeit als zweifach-stille Krankheit Anders als beim Berufslärm, anders als beim Umweltlärm wird jedoch der von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen „konsumierte“ Spielzeug- und Musiklärm als anregend und zum Teil berauschend empfunden: diese „Macht der 100 dB und mehr“ läßt erwarten, daß die Zahl der Lärmschwerhörigen für eine Altersgruppe zunimmt, die der besonderen Fürsorge von Ärzten, Gesellschaft und Staat bedarf. Viele Hörende bemerken die Schwerhörigkeit des Gegenübers nicht, denn Schwerhörigkeit ist eines der letzten Tabus der Gesellschaft. Sie ist eine zweifach-stille Krankheit: Der Kranke hört Stille und er spricht nicht von seiner Schwerhörigkeit, er bekennt sich nicht dazu – er zieht sich in die kommunikative Isolation zurück. Die zwischenmenschliche Kommunikation mittels Sprache wird gestört. Dabei gilt es zu bedenken: nicht nur wenn der Lärm Ohr und Raum M E D I Z I N EDITORIAL/FÜR SIE REFERIERT überschwemmt, kann der Hörsinn Sprache nicht mehr empfangen, das Zuhören, das Verstehen – auch im übertragenen Sinne – werden beeinträchtigt. Die durch wiederholte Exposition resultierende irreversible Schwerhörigkeit hat zur Folge, daß morgen das Hören auf Dauer verletzt ist. Die menschliche Kommunikation wird chronisch erschwert oder verhindert. Insbesondere die Extrembelastung von zehn Prozent eines Jahrgangs von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland ist besorgniserregend hoch. Aufklärung, die sich an die Musik- und Lärmexponierten, nicht nur über Schule, Jugendliche, Sozialarbeiter und Medien, sondern auch an den Arzt richtet sowie an die Verantwortlichen (Veranstalter, Diskjockeys und Vermieter, wie Städte und Gemeinden) appelliert, tut not. Sie reicht aber zum Schutz von Kindern und Jugendlichen nicht aus. Es ist ärztliche Aufgabe, den Staat an seine Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen zu erinnern, auf daß der Gesetzgeber Pegelbegrenzungen in Diskotheken, für tragbare Musikwiedergabegeräte sowie für lärmgebende Spielzeuge und andere Geräte mit Kopfhörern, für Kinder und Jugendliche erläßt. In der Stellungnahme der Bundesärztekammer werden derartige mit dem Umweltbundesamt abgestimmte Pegelbegrenzungen erfreulicherweise konkret vorgeschlagen, so daß der Gesetzgeber eine klare Handhabe hat. Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1999; 96: A-1052–1053 [Heft 16] Literatur 1. Babisch W, Ising H, Dziombowski: Einfluß von Diskothekbesuchen und Musikhörgewohnheiten auf die Hörfähigkeit von Jugendlichen. Z Lärmbekämpfung 1988; 35: 1–9. 2. Babisch W, Ising H: Musikhörgewohnheiten bei Jugendlichen. Z Lärmbekämpfung 1994; 41: 91–97. 3. Bambach G, Ising H: Schallpegel von Kinderspielzeugen, HNO 1994; 42: 470–472. 4. Dieroff HG: Soziakusis und Impulslärm. HNO-Praxis 1976; 4: 494–499. 5. Hanel J: Schuljugend und laute Musik. Über die Bedeutung der technisch verstärkten Musik im Lebenskonzept von Schülerinnen und Schülern. Schriftenreihe des Vereins für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, Stuttgart: Fischer, 1996. 6. Ising H et al.: Empirische Untersuchungen zu Musikhörgewohnheiten von Jugendlichen: HNO 1995; 43: 244–249. 7. Landsberg-Becher JE et at.: Lärm und Gesundheit – Materialien für 5.–10. Klassen (Hrsg.: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [BZgA], Köln, in der Reihe „Gesundheitserziehung und Schule“). 8. Struwe F, Jansen G, Schwarze S, Schwenzer C, Nitzsche M: Untersuchung von Hörgewohnheiten und möglichen Gehörrisiken durch Schalleinwirkungen in der Freizeit unter besonderer Berücksichtigung des Walkman-Hörens. In: Babisch W, Bambach G, Ising H, Kruppa B, Platz P, Rebentisch E, Struwe F (Hrsg): Gehörgefährdung durch laute Musik und Freizeitlärm.WaBoLu Hefte Umweltbundesamt 1996; 5: 44–154. 9. Zenner HP et al.: Gehörschäden durch Freizeitlärm. HNO 1999; 47: 236–248. Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Hans-Peter Zenner Direktor der UniversitätsHals-Nasen-Ohren-Klinik Silcherstraße 5 72076 Tübingen Di-Bella-Multitherapie gegen Krebs in Phase-II-Studien in Italien erfolglos Luigi Di Bella, ein italienischer Arzt, hat eine Kombinationstherapie entwickelt, mit der seinen Behauptungen nach die meisten Krebserkrankungen gebessert, wenn nicht gar geheilt werden sollten. Um die Frage der Kostenübernahme dieser Behandlung durch das italienische öffentliche Gesundheitswesen zu klären, sind nun in 26 Krankenhäusern unkontrollierte Phase-II-Studien an 386 Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen durchgeführt worden. Zur Studiengruppe gehörten unter anderem Kranke mit aggressiven Non-Hodgkin-Lymphomen oder chronischer lymphatischer Leukämie, metastasiertem Brust-, Darm- und Pankreas-, Speiseröhrenoder Magenkrebs, die entweder bereits die in ihrem Stadium übliche konventionelle Behandlung durchlaufen hatten oder deren Tumoren nicht auf diese Therapie ansprachen sowie Glioblastompatienten, deren Krebs nach chirurgischer Entfernung und Radiotherapie wieder aufgetreten waren. Sie erhielten im Zeitraum zwischen März und Juli 1998 die sogenannte Di-Bella-Multitherapie, die aus einer Mischung von Melantonin, Bromocriptin, Somatostatin und antioxidativ wirkenden Vitaminen wie B oder E besteht; bei manchen Patienten wurden kleine Mengen von Cyclophosphamid und Hydroxyrurea hin- zugefügt. Bei der Nachkontrolle am 31. Oktober 1998 zeigte sich, daß bei 12 Prozent (47 Patienten) die Krankheit stabil geblieben war, bei 52 Prozent (199 Patienten) war der Krebs jedoch vorangeschritten, 25 Prozent (97 Patienten) waren bereits daran verstorben. Aus diesen Verläufen schließen die Autoren, daß die DiBella-Multitherapie Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen keinen ausreichenden Nutzen bringt, um weitere klinische Studien damit durchzuführen. silk Italy Study Group for the Di Bella Multitherapy Trials: Evaluation of an unconventional cancer treatment (the Di Bella Multitherapy): results of phase II trials in Italy, Br Med J 1999; 318: 224–228. Dr. Roberto Raschetti, Instituto Superiore di Sanita, Department of Epidemiology and Biostatistics, Viale Regina Elena, 299 00161 Rom. Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 16, 23. April 1999 (37) A-1053