Soziale Arbeit als Teil staatlicher Sozialpolitik

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Fachhochschule Zürich
Hochschule für Soziale Arbeit
SOZIALE ARBEIT ALS TEIL STAATLICHER SOZIALPOLITIK
1.
Funktionen von Sozialpolitik
Im folgenden wird versucht, Sozialpädagogik/Sozialarbeit aus einer politisch-ökonomischen Perspektive als Teil staatlicher Sozialpolitik darzustellen. Dies setzt einige Hinweise
zur Funktion von Sozialpolitik in einem marktwirtschaftlich organisierten, liberalen Staat
voraus.
Aus politisch-ökonomischer Perspektive muss Sozialpolitik gesehen werden im Zusammenhang mit dem Zusammenspiel von Produktion und Reproduktion. Die Begriffe Produktion und Reproduktion sind zwar in verschiedener Hinsicht nicht ganz unproblematisch und
nur schwer präzis zu definieren. Sie helfen aber doch, gewisse Aspekte des Zusammenarbeitens und Zusammenlebens von Menschen zu verdeutlichen.
Der Begriff "Produktion" umfasst sämtliche Formen des Einwirkens der Menschen auf die
"Natur" mit dem Ziel, die für das Leben notwendigen Existenzmittel zu erlangen und zu erschaffen. Dem Produktionsprozess wird eine für das gesellschaftliche Zusammenleben
ausschlaggebende Bedeutung zugemessen. Er schafft nicht nur die notwendigen Güter,
sondern bestimmt nicht unwesentlich auch die Strukturen und Prozesse der sozialen Systeme und prägt das menschliche Individuum als individuelles und soziales Wesen. Der Begriff "Reproduktion" umschreibt die gesellschaftliche und individuelle Aufgabe, sich die im
Rahmen der Produktion geschaffenen Güter anzueignen und zu verwenden zur Herstellung, Wiederherstellung und Weiterentwicklung der gesellschaftlichen und individuellen
Voraussetzungen des Produktionsprozesses. Im wesentlichen geht es um die sog. Reproduktion der "Arbeitskraft". Dieser weit gefasste Begriff umfasst alle Prozesse, die direkt der
Sicherung der materiellen und symbolischen Existenz des Menschen als Einzel- und Gattungswesen dienen.
Auf diesem Hintergrund kann nun festgestellt werden, dass sich die Funktionen von Sozialpolitik (und somit auch von Sozialpädagogik/Sozialarbeit als Teil von Sozialpolitik) auf
den Reproduktionsbereich beziehen. Sozialpolitik hat zu tun mit der Herstellung und Erhaltung existenz- und gesellschaftsfähiger Individuen - wobei die Gesellschaftsfähigkeit stark
durch die ökonomische Dimension (Arbeitsfähigkeit im weitesten Sinne) bestimmt wird.
Zur genaueren Beschreibung dieser Funktion von Sozialpolitik muss geklärt werden, wie
die menschliche Reproduktion in einem marktwirtschaftlichen, liberalen System organisiert
und gewährleistet wird. Dazu einige Hinweise:
- Dem klassisch liberalen politisch-ökonomischen Leitbild zufolge reproduziert sich das
Individuum und die Gesellschaft ausschliesslich durch marktvermittelte Austauschprozesse. Aus der freien Konkurrenz privater, als autonom und eigenverantwortlich gedachter Individuen soll sich das gemeinsame Beste, die Befriedigung aller gesellschaftlicher und individueller Bedürfnisse gleichsam von selbst ergeben. Für die Mehrheit der
Bevölkerung heisst dies, dass sie auf dem Arbeitsmarkt ihre private Arbeitskraft anbieten und generalisierte Kaufkraft (Geld) für die Bedarfsdeckung nachfragen muss. Auf
dem Warenmarkt werden Güter und Dienstleistungen nachgefragt und mit dem auf dem
Arbeitsmarkt erworbenen Geld bezahlt. So gewährleistet das marktwirtschaftliche Sys-
tem des Aequivalententauschs auch die Voraussetzung für die individuelle Reproduktion.
Entsprechend dieser Auffassung vom autonomen, freien Individuum trägt auch der private Sektor - das Individuum, resp. die Familie - die Verantwortung und das Risiko für
die individuelle Reproduktion, resp. hat diese mit eigenen Ressourcen zu gewährleisten. Dies gilt idealtypischerweise bezüglich aller wichtiger Dimensionen der individuellen Reproduktion. z.B.: Sozialisation und Qualifikation von Nachwuchs; Versorgung
Alter, Invalider, Kranker; materielle Existenzsicherung im Sinne von Obdach, Nahrung,
Gesundheit etc.
- Aus diesem Prinzip folgt, dass Mängel in der Gewährleistung der individuellen Reproduktion interpretiert werden als Versagen der Betroffenen. Deren Behebung wird gemäss der liberalen Logik natürlich ebenfalls dem Privaten, d.h. dem Liebesdienst einzelner Individuen oder spezifischer privater Organisationen überlassen.
- Die klassisch liberale Theorie hat indes der Realität des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens in liberalen, marktwirtschaftlich organisierten Staaten in keiner Phase
ihrer Entwicklung voll entsprochen. Liberale Staaten mussten sehr früh erkennen, dass
allein durch den marktvermittelten Tauschprozess für viele Individuen und Fami-lien die
individuelle Reproduktion nicht gewährleistet werden konnte. Das Ausmass der materiellen und symbolischen Not einer grossen Zahl von Menschen und ganzer sozialer
Schichten machte auch früh deutlich, dass die Ressourcen privater Liebestätigkeit nicht
ausreichten, die notwendige individuelle und gesellschaftliche Reproduktion sicherzustellen. Diese Gefährdung des Reproduktionsbereichs geriet zur Bedrohung des ökonomischen und politischen Systems und machte zur Legitimierung und Stabilisierung
des liberalen Staates staatliche Interventionen unabdingbar.
Wir können nun die auf den Reproduktionsbereich bezogenen Funktionen staatlicher Sozialpolitik genauer umschreiben: Sozialpolitik umfasst ein ganzes Bündel staatlicher/öffentlicher Massnahmen zur Absicherung der individuellen und gesellschaftlichen Reproduktion. Diese Massnahmen zielen sowohl auf die Gewährleistung einer ausreichenden
materiellen Ausstattung der privaten reproduktiven Systeme (z.B. Nahrung, Wohnung,
Gesundheit) als auch auf deren angemessene Ausstattung mit symbolischen Ressourcen
(z.B. Wissen um die Kinderpflege und -erziehung, Wertorientierungen, Moral etc.).
2.
Prinzipien von Sozialpolitik
Staatliche Interventionen in den Reproduktionsbereich widersprechen den Prinzipien traditioneller liberaler politisch-ökonomischer Theorie, sind aber zur Legitimation und Stabilisierung des Systems unerlässlich. Sozialpolitische Interventionen müssen deshalb so angelegt sein, dass sie die liberalen Leitbilder nicht grundlegend in Frage stellen und trotzdem
effizient und effektiv die gesellschaftliche und die individuelle Reproduktion gewährleisten.
- Sozialstaatliche Interventionen dürfen das Prinzip der Autonomie und Eigenverantwortlichkeit des privaten Subjekts nicht grundlegend in Frage stellen. Sozialstaatliche
Massnahmen drohen besondere Abhängigkeits-, Sorge- und Gewaltverhältnisse zwischen dem Staat und dem Individuum zu schaffen. Derartige (feudalistische) Abhängigkeitsverhältnisse wurden durch die bürgerliche Revolution abgeschafft, sie widersprechen der liberalen Auffassung von Freiheit und sind durch das wertneutrale bürgerliche
Legitimationssystem schwer legitimierbar. Zudem untergraben sie die Eigenver 2
antwortlichkeit des privaten Subjekts und drohen es zum Empfangsberechtigten staatlicher Leistungen zu machen.
- Sozialstaatliche Interventionen dürfen das Prinzip der Bindung der individuellen Reproduktion an die marktvermittelten Tauschprozesse nicht untergraben. Staatliche materielle und/oder symbolische Hilfe entprivatisiert tendenziell die ressourcenmässige Absicherung der Reproduktion. Sie koppelt die individuelle Reproduktion zumindest partiell und/oder vorübergehend ab vom ökonomischen System, d.h. vom marktvermittelten Aequivalententausch. Damit bedrohen derartige Massnahmen die "LohnarbeiterMotivation", d.h. die Bereitschaft des Privaten, die Reproduktionsvoraussetzungen eigenverantwortlich durch den Verkauf seiner Arbeitskraft zu beschaffen.
Die Spezifika des Systems staatlicher Absicherung des Reproduktionsbereichs in einem
liberalen, marktwirtschaftlich orientierten Staat tragen diesen "Widersprüchen" und "Gefahren" Rechnung. Das Subsidiaritätsprinzip betont die Priorität privater Selbsthilfe und
Hilfe - es stützt die Vorstellung von der Eigenverantwortlichkeit und Autonomie der Subjekte, resp. privater gesellschaftlicher Gruppen. Das Prinzip der direkten und indirekten Bindung der meisten staatlich/öffentlichen Leistungen im Reproduktionsbereich an den Arbeitsmarkt (z.B. Altersvorsorge) gewährleistet, dass die individuelle Reproduktion nicht
von der Teilhabe am Produktionsbereich abgekoppelt wird. Staatliche/öffentliche Massnahmen zur Absicherung der individuellen Reproduktion, die nicht in diesem Sinne ausgestal-tet sind und somit besondere materielle und symbolische Abhängigkeitsverhältnisse
des Individuums vom Staat schaffen, sind diskriminierend und stigmatisierend.
3.
Bereiche sozialstaatlicher Intervention
3.1
Materielle Absicherung der individuellen Reproduktion der Majorität (Soziale Sicherheit)
Im Verlauf der sozialstaatlichen Entwicklung liberaler Gesellschaften wurden immer weitere Bereiche der materiellen Absicherung der individuellen Reproduktionsrisiken der Fürsorge entzogen und versicherungsförmig geregelt. Die versicherungsmässige Absicherung
von Reproduktionsrisiken hat den Vorteil, dass die Leistungen durch eigene Beiträge des
Lohnabhängigen und durch Beiträge des Arbeitgebers als "Vernutzer" der Arbeitskraft als
"verdient" erscheinen. Die Koppelung sowohl an die private Verantwortlichkeit als auch an
den Arbeitsmarkt bleibt erhalten, die Autonomie wird nicht verletzt, es entsteht kein Abhängigkeitsverhältnis. Die Leistung erfolgt bei Eintritt des Versicherungsfalles im Prinzip
automatisch, regelhaft und geldförmig. Die Hilfsprogramme sind hoch standardisiert - es
ist klar, wem wie Hilfe gegeben wird und wem nicht. Dem Personal, das diese Programme
vermittelt, bleibt wenig Spielraum für eigene Entscheidungen. Dem Empfänger wird nicht
"geholfen", er wird nicht diskriminiert - es erfüllt sich ein Rechtsanspruch. Der Hilfsempfänger verkehrt mit den entsprechenden sozialen Einrichtungen weitgehend in dem ihm vertrauten "tauschförmigen" Interaktionsstil.
Das Netz sozialer Sicherheit in Staaten mit bürgerlich-liberaler Tradition und marktwirtschaftlicher Ordnung ist weitgehend entsprechend diesem Versicherungsprinzip ausgestaltet. Es wird verstärkt durch direkte staatliche Leistungen an die Träger dieser Versicherungen (z.B. AHV, Krankenkasse) und ergänzt durch nicht versicherungsförmige staatliche Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht (z.B. Kinderzulagen, Sozialabzüge
bei den Steuern, etc.). Diese sozialstaatliche Form der Absicherung individueller Reproduktion beruht somit einzig auf einem staatlich vermittelten monetären Umverteilungsprozess. Sie wird so ausgestaltet und laufend den veränderten Bedingungen im reproduktiven
3
und produktiven System angepasst, dass die Majorität (sozialintegrierte Mehrheit der Bevölkerung) auf einem ausreichenden Reproduktionsniveau gehalten werden kann.
3.2
Materielle Absicherung der individuellen Reproduktion der marginalisierten Minderheit (Sozialhilfe/Fürsorge)
Die Absicherung von individuellen Notlagen, die nicht durch das reguläre Netz sozialer Sicherheit aufgefangen werden, erfolgt mehr oder weniger traditionell nach den Prinzipien
der "Fürsorge". Die Einhaltung der oben erwähnten Prinzipien sozialstaatlicher Vorkehrungen muss im Rahmen der Sozialhilfe/Fürsorge in anderer Art und Weise gewährleistet
werden. Der Eintritt des Sozialhilfefalles wird nicht ein für allemal nach bestimmten Regeln
festgestellt, sondern laufend ermittelt und überprüft. Die Leistungen sind häufig nicht geldförmig, sondern bestehen in der Zuweisung von Gebrauchsgütern (z.B. Betten, Nahrungsmittel), direkten Bezahlungen von Rechnungen, Schuldensanierung, Wohnbeihilfen etc. All
diese Massnahmen erfordern beständigen Kontakt mit dem Fürsorgeempfänger. Dessen
Notlage und Bedürftigkeit wird ständig neu eingeschätzt. Die Rationalität dieses Verfahrens liegt wohl nicht nur in der Effektivität und Effizienz der Verwendung der Mittel. Vielmehr erzeugt diese Art der Hilfsvermittlung beim Sozialhilfeempfänger bestimmte Effekte:
Durch die permanente Kontrolle wird sichergestellt, dass der Sozialhilfeempfänger nur solange in den Genuss der Leistungen kommt, als er nicht in der Lage ist, seine Reproduktion durch Teilhabe am Arbeits- und Gütermarkt selbst zu gewährleisten. Der ständige
Druck soll motivieren, wieder eigenverantwortlich und autonom zu werden. Die laufenden
Kontakte werden zu sozialisierenden Beeinflussungen benutzt.
3.3
Symbolische Absicherung der individuellen Reproduktion der Majorität (Sozialisation
und Qualifikation)
Sozialisation und Qualifikation sind für die gesellschaftliche Reproduktion und Produktion
von besonderer Bedeutung. Das staatliche Vertrauen in die Sozialisationskraft privater Lebens- und Sozialisationsfelder war deshalb wohl zu keinem Zeitpunkt ungebrochen. Der
staatliche Zugriff auf die Sozialisation und Qualifikation Heranwachsender und Erwachsener hat dementsprechend auch in liberalen Staaten eine recht lange Tradition. Standen
anfänglich vor allem die Massnahmen zur Vergesellschaftung von Heranwachsenden im
Vordergrund, sieht sich der Staat zunehmend - entsprechend der immer grösseren Anforderungen, die der produktive und reproduktive Lebensalltag stellt - gezwungen, auch die
Vergesellschaftung Erwachsener abzusichern.
a)
Sozialisation und Qualifikation Heranwachsender
Die spezifische Organisationsform der Vergesellschaftung Heranwachsender in der bürgerlichen Gesellschaft ist die private Form der Familienerziehung. Der Sozialisations- und
Qualifikationserfolg ist dementsprechend eng verknüpft mit der Reproduktionskapazität
des jeweiligen familialen Systems. Diese Sozialisations- und Qualifikationskraft der Familien war bereits anfangs des 19. Jahrhunderts mit dem beginnenden Industrialisierungsprozess den wachsenden Anforderungen nicht mehr gewachsen. Seither stellen wir einen
Transfer immer weiterer Sozialisations- und Qualifikationsfunktionen vom privaten System
zu staatlichen/öffentlichen Systemen fest:
- Die staatlichen Massnahmen zur Vergesellschaftung Heranwachsender konzentrierten
sich vorerst primär auf den Qualifikationsbereich. Motiviert waren die staatlichen Eingriffe vor allem aus zwei Quellen:
• Die rapide Entwicklung des Produktionssystems stellt an die Qualifikation der Heranwachsenden sowohl bezüglich Persönlichkeitsstrukturen als auch bezüglich spezi 4
fischer instrumenteller und kommunikativer Kompetenzen immer höhere Anforderungen.
• Die bürgerliche Fundamentalnorm der "Gleichheit" wurde angesichts der Tatsache,
dass die Mehrheit ihre Existenz als Lohnarbeiter sicherte, immer mehr in Form von
"Chancengleichheit" als Gleichheit der "Bildungsschancen" institutionalisiert.
Eine ausreichende Qualität der schulisch-beruflichen Ausbildung und die Gleichheit der
Bildungschancen konnten nur gewährleistet werden durch eine möglichst weitgehende
Abkoppelung des Bildungssystems von den privaten Ressourcen und dessen weitgehend staatliche Organisation. Schul- und Berufsausbildung sind heute öffentlich verantwortet und kontrolliert und der elterlichen "Gewalt" weitgehend entzogen. Dem entspricht, dass auch die finanziellen Mittel für das Bildungssystem nur mehr zu einem geringen Teil von den Privaten (Familie, Betriebe etc.) direkt aufgebracht werden müssen.
- Eine zunehmende Vergesellschaftung von Erziehungsprozessen ist aber in den letzten
Jahrzehnten auch im Bereich der Sozialisation i.e.S. feststellbar. Einerseits wird zwar
nach wie vor die zentrale Bedeutung der Familie für die Personalisations- und Sozialisationsprozesse betont, und dieses Sozialisationsfeld geniesst beinahe absoluten
Schutz. Anderseits scheint aber auch diese Bastion privat verantworteter und organisierter Reproduktion "angeknackt" zu sein. Die Reformbestrebungen im Bereich des
Familien- und Kindesrechts und der Jugendhilfe tendieren dahin, die elterliche Gewalt
einzuschränken resp. zu kontrollieren und die öffentlichen Einflussmöglichkeiten zu
vergrössern. Die Familie wird mit einem immer grösser werdenden Spektrum von staatlich-öffentlichen Massnahmen zur Absicherung ihrer Funktionsfähigkeit umgeben (sog.
familienstützende Massnahmen wie Mütterberatung, Elternberatung, Erziehungsberatung etc.). Zudem gibt die Familie auch mehr und mehr Teilfunktionen an öffentliche
Sozialisationsfelder ab (Hort, Krippe, Kindergarten, Mittagstisch etc.). Diese Entwicklung ist zu interpretieren als staatliche, öffentliche Reaktion auf generelle Vergesellschaftungsprobleme. Derartige öffentliche Eingriffe in die Autonomie der Familie verlieren denn auch - weil sie zum Teil regulärer Sozialisationsverläufe der Mehrheit werden
- den ihnen sonst anhaftenden diskriminierenden Charakter.
b) Sozialisation und Qualifikation Erwachsener
Entsprechend der liberalen Theorie wird das Individuum als autonomes, eigenverantwortliches Subjekt betrachtet, das als gleichberechtigter Vertragspartner am Tauschprozess
auf dem Arbeits- und Gütermarkt teilhat und so seine individuelle Reproduktion sicherstellt. Die Herstellung und Erhaltung der psychophysischen Voraussetzungen (körperliche
Gesundheit, Motivation und Qualifikation etc.) zur Teilnahme an diesem Produktions- und
Reproduktionsgeschehen fällt in den privaten Zuständigkeitsbereich. Der Staat fungiert
einzig als Garant der marktwirtschaftlichen, vertraglichen Verhältnisse - er ist nicht berechtigt, durch direkte Interventionen in die privaten Sozialisations- und Qualifikationsprozesse
einzugreifen.
Der bürgerlich-liberale Staat musste aber von Anfang an mit der Tatsache rechnen, dass
dieses Idealbild des autonomen, eigenverantwortlichen Subjekts der Realität der menschlichen "Natur" in nur sehr beschränktem Masse entspricht. So sah er sich einerseits mit
Minderheiten konfrontiert, die nicht bereit und/oder fähig waren, ihre individuelle Reproduktion als Lohnarbeiter eigenverantwortlich zu gewährleisten und sich an die rationalen
Spielregeln des Aequivalenten-Tauschs zu halten (z.B. Kriminelle, Geistigbehinderte, psychisch Kranke). Anderseits wurde er in zunehmenden Masse gezwungen, die Vergesellschaftungs- und Qualifikationsprozesse auch der Mehrheit der Bevölkerung zu stützen und
abzusichern:
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Die Entwicklung des ökonomischen und des kulturellen Systems stellte in den letzten
Jahrzehnten immer höhere Anforderungen an die Arbeits- und Interaktionskompetenzen
der Menschen. Alltagsbewältigung im produktiven und reproduktiven Bereich wird zum
Problem. Für immer grössere Gruppen droht das Bild des autonomen, eigenverantwortlichen Bürgers zur Fiktion zu werden. So nehmen in den letzten Jahrzehnten die staatlichöffentlichen Vorkehrungen zur Absicherung der Vergesellschaftung und Qualifikation von
Erwachsenen zu. Sei es nun in Form staatlicher Massnahmen zur Verbesserung der konkreten lokalen Lebensverhältnisse der Individuen und Familien (z.B. Gemeinwesenarbeit)
oder sei es in Form der Vermittlung persönlicher Dienstleistungen, z.B. als Ehe- und Familienberatung, Lebensberatung, Laufbahnberatung, Erwachsenenbildung, Selbsterfahrungsgruppen, Psychotherapie - die staatlichen Interventionen in früher private Domänen
häufen sich.
3.4
Symbolische Absicherung der individuellen Reproduktion der marginalisierten Minderheit
Staatliche Massnahmen zur Kontrolle, Absicherung oder öffentlichen Organisation der Sozialisation und Qualifikation von verschiedenen Gruppen von jugendlichen und erwachsenen "Aussenseitern" haben auch in liberalen Staaten lange Tradition. Dort wo Individuen
vorübergehend oder dauerhaft nicht fähig oder willens sind, entsprechend den herrschenden Werten und Normen den Alltag in produktiven und reproduktiven Bereichen zu bewältigen, sieht sich der Staat/die Oeffentlichkeit aus verschiedensten Gründen zur Intervention gezwungen.
Die meisten dieser Aussenseitergruppen können auf der Basis von in Verfassung und Gesetz niedergelegten "vernünftigen" Prinzipien "behandelt" werden. Dies gilt insbesondere
für die Gruppe der "Kriminellen", von denen angenommen wird, dass ihre Form der Verletzung gesellschaftlicher Grundregeln auf einem "rationalen Entscheid" beruhe, da sie in der
Lage sind, vernünftig wahrzunehmen und zu handeln. Kriminelle konnten deshalb - weil
sie "straffähig" sind - bestraft werden. Auch diejenigen Gruppen von "Aussenseitern", die
als "Kranke" (d.h. körperliche Kranke) bezeichnet werden können, schaffen keine besondere Probleme. Sie können - gemäss dem wissenschaftlichen Anspruch der Medizin säuberlich von anderen Individuen, die nicht fähig oder bereit sind, den Alltag "normal" zu
bewältigen, unterschieden werden. Für die Zeit ihrer Krankheit erhalten sie einen besonderen gesellschaftlichen Status, der sie von den üblichen Produktions- und Reproduktionsverpflichtungen freistellt. Als schwerer lösbar erwies sich schon immer das Problem
der "psychisch Kranken" und "Behinderten". Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, sich
an die Reproduktions- und Produktions-"Spielregeln" zu halten. Sie verstossen nicht aufgrund eines rationalen Entscheids gegen die bürgerlichen Werte und Normen - sind somit
im Prinzip nicht straffähig. Sie können aber oft auch nicht als körperlich krank diagnostiziert, vorübergehend freigestellt, geheilt und wieder der "Normalität" zugeführt werden. So
geraten diese Gruppen von Menschen in oft lebenslange besondere Sorge- und Gewaltsverhältnisse gegenüber dem Staat - Verhältnisse, die, wie wir bereits gesehen haben, in
einem liberalen Staat schwer legitimierbar sind.
Für all diese Gruppen entwickelte sich in den industrialisierten, liberalen Staaten ein breites Spektrum von Massnahmen zur Kontrolle und Absicherung der Vergesellschaftung. Es
handelt sich um Formen der Stützung, Ergänzung und Substitution privater Reproduktion
für Heranwachsende und Erwachsene, die meist eine recht lange Tradition haben: z.B.
Formen der rituellen Heilung, der religiösen oder moralischen Behandlung, der Psychotherapie; Formen der Betreuung in Asylen und Hospitälern, Waisenhäusern, Arbeitserziehungsanstalten, Pflegefamilien, Heimen, Kliniken, Gefängnissen etc. All diese staatlichen
Zugriffe auf die Vergesellschaftung und Qualifikation von Heranwachsenden und Erwach 6
senen werden bei "Aussenseitern" interpretiert als Reaktion auf ein Versagen der privaten
Reproduktionskräfte im Einzelfall. Dementsprechend haben sie klar diskriminierende Wirkung, sie führen zu einer Stigmatisierung des Individuums. Je mehr derartige staatlichen
Massnahmen (wie wir unter 3.3 gesehen haben) auch eingesetzt werden mussten zur Absicherung der Vergesellschaftung der Majorität, desto mehr verloren sie auch diesen sozialindikativen Charakter (z.B. Psychotherapie). Immer aber steht im Zentrum das Bemühen, die besonderen Abhängigkeits- und Sorgeverhältnisse möglichst bald wieder zu lösen
und die Menschen zu motivieren und/oder zu befähigen, für ihre Reproduktion selbst Verantwortung zu übernehmen.
4.
Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Teilstrategie sozialstaatlicher Intervention
Auf diesem Hintergrund kann Sozialarbeit/Sozialpädagogik definiert werden als Teilstrategie der staatlichen/öffentlichen Gewährleistung angemessener materieller und symbolischer Reproduktionsbedingungen sowohl der Mehrheit der Bürger als auch der marginalisierten Minderheiten. Die Spezifika dieser Teilstrategie werden später dargestellt - hier soll
einzig die Abgrenzung zu anderen sozialpolitischen Strategien kurz dargelegt werden.
4.1. Alltagsorientierte Verschränkung von materieller und symbolischer Reproduktionshilfe
Sozialpolitik hat u.a. zum generellen Ziel, den Individuen diejenigen materiellen und symbolischen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die sie zu ihrer Reproduktion benötigen.
Sie versucht damit, den Menschen eine einigermassen geglückte Alltagsbewältigung zu
ermöglichen. Gewisse Teilstrategien konzentrieren sich auf die Absicherung der materiellen Reproduktionsrisiken: z.B. Krankenkassen-Leistungen, Arbeitslosen-Gelder, Wohnbeihilfen etc. Derartige ausschliesslich auf materielle Hilfe ausgerichtete "Programme" werden nicht der Sozialarbeit/Sozialpädagogik zugeordnet. Sie werden durch Organisationen
und Berufe im Bereich der Sozialadministration vermittelt. Andere Teilstrategien wiederum
konzentrieren sich mehr oder weniger exklusiv auf die Vermittlung von symbolischen Ressourcen: z.B. Familientherapie, Erziehungsberatung, Laufbahnberatung, Psychotherapie,
Erwachsenenbildung. Hierfür sind oft spezielle "Professionen" - z.B. Psychiater, Psychologen, Psychotherapeuten, Lehrer etc. - zuständig. Derartige Funktionen gelten ebenfalls
nicht als spezifisch sozialarbeiterisch. All diese nicht sozialarbeiterisch-sozialpädagogischen Teilstrategien beschränken sich auf die Absicherung von Teilvoraussetzungen der
individuellen alltäglichen Reproduktion.
Charakteristisch für Sozialpädagogik/Sozialarbeit ist, dass sie in ihrer Strategie materielle
und symbolische Ressourcenvermittlung verknüpft und versucht, umfassender und ganzheitlicher auf Alltagsprobleme von Menschen zu reagieren, als dies im Rahmen der oben
erwähnten Teilstrategien vorgesehen und möglich ist. Sozialpädagogik/Sozialarbeit ist damit meist unmittelbar mit den Alltagsproblemen von Menschen verknüpft und hat für und
mit diesen Menschen die materiellen und die symbolischen Ressourcen zu deren Bewältigung zu beschaffen und sinnvoll einzusetzen. Sie sichert im Alltag eine ausreichende Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern und die Integration in menschliche Arbeits- und Interaktionsgemeinschaften. Sozialarbeit/Sozialpädagogik steht damit auch unmittelbar im Spannungsfeld zwischen dem "hilfsbedürftigen" Individuum und den staatlichen sozialpolitischen Programmen.
4.2. Bearbeitung der Alltagsprobleme marginalisierter Minderheiten
Sozialpädagogik/Sozialarbeit konzentriert sich traditionellerweise auf die Kontrolle, Absicherung und Gewährleistung der individuellen Reproduktion von marginalisierten Indivi 7
duen, Gruppen und Schichten. Sie vermittelt materielle und symbolische Hilfe an Menschen, die aus den regulären Lebenszusammenhängen herauszufallen drohen und/oder
bereits herausgefallen sind. Diese Orientierung steht auch heute noch im Zentrum sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Organisationen und Berufstätigkeit.
Die beschriebene Generalisierung von Reproduktionsproblemen und die entsprechende
Ausweitung sozialstaatlicher Vorkehrungen zur Absicherung der Vergesellschaftung von
Individuen hat zur Folge, dass Sozialarbeit/Sozialpädagogik in zunehmendem Masse auch
konfrontiert wird mit der Lösung von Alltagsproblemen der "sozialunauffälligen" Majorität.
Es ist eine Erweiterung der Aufgaben von Sozialpädagogik/Sozialarbeit festzustellen in
Richtung auf stützende und ergänzende Massnahmen zur Absicherung der Funktionsfähigkeit der sozialen Systeme, in denen die Mehrheit der Menschen produzieren und sich
reproduzieren. Der "reparative" Schwerpunkt von Sozialarbeit/Sozialpädagogik wird ergänzt durch den "präventiven". Karikierend wird dafür der Begriff der "Pädagogisierung
des Alltagslebens" (der Majorität) verwendet. Erfahrungsgemäss werden derartige neue
Tätigkeitsfelder aber oftmals der Sozialpädagogik/Sozialarbeit entzogen und in speziellen
Berufen organisiert (z.B. Erwachsenenbildung, soziokulturelle Animation), wenn sie institutionalisiert sind.
4.3. Gesellschaftliche Relevanz von Sozialpädagogik/Sozialarbeit
Die gesamtgesellschaftliche Relevanz von Sozialpädagogik/Sozialarbeit wird unterschiedlich bewertet, je nachdem in welchen Bereichen sozialstaatlicher Massnahmen sozialpädagogische/sozialarbeiterische Organisationen und Berufstätigkeit lokalisiert sind. Soweit
sich Sozialpädagogik/Sozialarbeit nach wie vor primär und/oder ausschliesslich mit gesellschaftlichen Randgruppen befasst, wird ihre gesellschaftliche Relevanz eher als gering erachtet. Sozialpädagogik/Sozialarbeit hat hier in der Regel "Aussenseiter" zu verwalten, deren mangelhafte Integration in das politisch-ökonomische System weder qualitativ noch
quantitativ zu einem systemgefährdeten Moment wird.
Soweit Tätigkeitsfelder von Sozialpädagogik/Sozialarbeit angesiedelt sind im Bereich der
Kontrolle und Absicherung von Reproduktionsproblemen quantitativ grösserer und sozialintegrierter Gruppen und/oder sich beziehen auf Probleme von Randgruppen, die auch für
die Majorität von Bedeutung sind (z.B. AIDS), gewinnt Sozialpädagogik/Sozialarbeit an
Relevanz.
Derartige Unterschiede in der gesamtgesellschaftlichen Bewertung von Sozialpädagogik/Sozialarbeit haben Einfluss auf die soziale (Rang-)Position der Akteure und schlagen sich
nieder in unterschiedlicher ressourcenmässiger Ausstattung.
CS
Sozpolsp.doc
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