Powered by Seiten-Adresse: https://www.biooekonomiebw.de/de/fachbeitrag/aktuell/der-ethische-blick-aufpflanzenbau-und-nutzung/ Der ethische Blick auf Pflanzenbau und -nutzung Der Konkurrenzdruck auf den zum Pflanzenbau geeigneten Flächen der Erde steigt. Wie viel davon sollen wir zum Anbau von welchen Nahrungsmitteln für Menschen und Tiere nutzen und wie viel zum Anbau von Biomasse zur Energiegewinnung? Diese aktuell heiß diskutierten Fragen bieten auch aus ethischer Sicht reichlich Stoff für Kontroversen. Tübinger Bioethiker sorgen für mehr Transparenz. Der Biologe und Philosoph Prof. Dr. Thomas Potthast ist seit 2002 Wissenschaftlicher Koordinator des IZEW an der Universität Tübingen. © Potthast, Universität Tübingen Prof. Dr. Thomas Potthast koordiniert das Internationale Zentrum für Ethik in den 1 Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. Als Bioethiker – Potthast hat sowohl Biologie als auch Philosophie studiert – beurteilt er die Sachlage aus beiden Perspektiven und hält fest: „In der Bioethik geht es generell um die philosophische Reflexion der Fragen zum Umgang mit Lebendigem in allen Formen.“ Im deskriptiven Teil der Ethik als Wissenschaft von der Moral beschreibt er mit seinem Team das Spektrum von Motiven und Gründen für moralische Handlungen. Dabei kann sich die Vorstellung darüber, was moralisch ist, durchaus ändern. „Die gesellschaftliche Moral wandelt sich im Laufe der Zeit. Zum Beispiel war es im 19. Jahrhundert in Deutschland ganz selbstverständlich, Singvögel zu essen. Das hat sich heute grundlegend geändert“, erklärt Potthast. Insofern liefern auch die ethischen Untersuchungen zur Bioökonomie keine unumstößlichen, ewig gültigen Antworten, sondern eine Entscheidungsgrundlage entsprechend der Normen unserer Zeit und in unserem Umfeld. Die besagten Gründe näher und kritisch zu beurteilen, ist Sache der normativen Ethik. Hier findet, salopp gesagt, eine Sortierung in gute und weniger gute Gründe statt. Dabei ist gut oder nicht gut eine Frage der Philosophie, wie Potthast sagt. Seine Arbeit zu bioökonomischen Fragen ist ein Beispiel für anwendungsbezogene Ethik, um die es am IZEW hauptsächlich geht. „Wir fragen zum einen danach, auf welche Normen und Werte wir uns einigen können, und untersuchen zum anderen die Sachgrundlage. Dabei gilt es, empirische und deskriptive Aspekte miteinander zu verknüpfen. Daraus resultiert ein gemischtes Urteil“, so Potthast. „Tank oder Teller“ greift zu kurz Alles hängt mit allem zusammen - Der ethische Blick auf die Bioökonomie lässt sich auf diese Komplexität ein. © T. Potthast und U. Siegmund unter Verwendung eines Entwurfs von R. Grunewald und ergänzten Bildern von M. Engels/S.Mailänder, R. Piechocki sowie T. Potthast Als ganz wesentlichen ethischen Aspekt der Bioökonomie nennt er die Frage der Nahrungsmittelversorgung. „Das ist von großer moralischer Bedeutung. Jedoch gehört zum menschlichen Leben mehr als die Aufnahme von 1.500 Kilokalorien. Außerdem ist es falsch, die Frage auf ‚Tank oder Teller’ zu reduzieren, denn pflanzliche Produkte werden auch zur stofflichen Nutzung benötigt. Und wir müssen im Detail zunächst klären, wofür genau die Nahrungspflanzen und wofür genau die Energiepflanzen angebaut werden“, sagt Potthast. Aus den Antworten daraus können sich durchaus differenzierte Bewertungen ergeben. So kann 2 es gut sein, Energiepflanzen zur Energiegewinnung in Biomassekraftwerken anzubauen, jedoch weniger gut, Energiepflanzen zur Gewinnung von Treibstoffen für Fahrzeuge anzubauen. „Alle Analysen, die ich kenne, führen zu dem Schluss, dass es ineffizient und damit auch schwer zu rechtfertigen ist, in Mitteleuropa aus Pflanzen Treibstoff zu gewinnen“, sagt Potthast. Übergeordnet stellen Bioethiker auch die Frage, ob nicht insgesamt zu viel Energie gebraucht wird. „Daraus entsteht eine sehr konfliktreiche Diskussion, der wir uns jedoch im Kontext der nachhaltigen Entwicklung unbedingt stellen müssen“, so Potthast. Auch eine Steigerung der Nahrungsmittelproduktion ist aus ethischer Sicht nicht so einfach zu befürworten, wie es zunächst scheint. „Eigentlich gibt es genügend Nahrungsmittel, wir haben eher ein Verteilungs- als ein Produktionsproblem. Eine erhöhte Nahrungsmittelproduktion allein ist also kein plausibel begründbares Ziel“, sagt Potthast. Generell ist es zwar nicht immer bequem, aber wichtig, bestimmte Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Einigkeit herrscht zum Beispiel darüber, dass Mobilität ein Bedürfnis des Menschen ist. Jedoch ist zu fragen, ob es langfristig nicht besser ist, dieses Bedürfnis über Elektrizität zu stillen als mithilfe von fossilen Treibstoffen oder Treibstoffen aus Energiepflanzenanbau. Dann müsste gefragt werden, wie diese Elektrizität am besten zu produzieren ist, zu welchem Anteil etwa durch das Verbrennen von Biomasse in Kondensationskraftwerken. Auch der Ursprung der Biomasse muss dann hinterfragt werden, denn Biomasse muss nicht zwangsläufig aus dem Anbau von Energiepflanzen stammen. Wenn sie aus pflanzlichen Abfallstoffen gewonnen wird, fällt ihre ethische Bewertung auf den ersten Blick recht positiv aus. „Biogene Reststoffe werden jedoch auch zur Bodenregeneration gebraucht, das heißt, auch hier gibt es Grenzen, die gemeinsam mit Ökologen und Bodenkundlern ausgelotet werden müssen“, gibt Potthast zu bedenken. Mühsam, aber wichtig für sinnvolle Entscheidungen: alle Facetten beleuchten Auch die ethische Betrachtung des Fleischkonsums sollte bei bioökonomischen Untersuchungen berücksichtigt werden, findet Potthast: „Darüber gibt es zurzeit in der Ethik viele Diskussionen. Aufgrund der faktischen Zusammenhänge komme ich aus verschiedenen Gründen zu dem Schluss, dass eine Reduktion des Fleischkonsums in der westlichen Welt moralisch geboten ist.“ Ob die dadurch frei werdenden Soja-, Mais- und Weideflächen dann zum Anbau von Energiepflanzen genutzt werden sollten, steht auf einem anderen Blatt – zumal Brachflächen auch für den Biotopschutz relevant sind. „Auch aus sozialen und ästhetischen Erwägungen heraus müssen wir uns fragen, ob wir wirklich jeden geeigneten Quadratmeter zum Pflanzenbau nutzen wollen.“ Potthast weist auch auf die globale Sicht hin: „Wenn wir von Ländern wie Brasilien fordern, Flächen in großem Umfang zu schützen, müsste dann nicht ein Land wie Baden-Württemberg auch bereit sein, die biologische Vielfalt in flächenmäßig viel kleinerem Umfang zu schützen?“ Damit spielt er auf die aktuelle Nationalparkdebatte an, die auch die Bioökonomie berührt. Denn Wald ist nicht gleich Wald. Hier gilt es, die verschiedenen Nutzungsarten untereinander und gegenüber einer völlig unterbleibenden Nutzung abzuwägen. Solche Wertfragen will die Bioethik offenlegen und so klar machen, auf welchen Grundlagen 3 letztlich politische Entscheidungen entstehen. „Die Ethik kann dazu zwar kein endgültiges Urteil fällen, die Gründe und Diskussionen jedoch transparenter machen“, so Potthast. Dabei müsse akzeptiert werden, dass es immer wieder zu rekursiven Diskussionsschleifen darüber kommt, welche Ziele es gibt, ob und mit welchen Mitteln sie zu verfolgen sind. „Ethik vereinfacht die Dinge nicht, sondern lässt sich auf ihre Komplexität ein. Zudem kommen andere Ethiker eventuell auch zu etwas anderen Schlussfolgen. Mit dieser Heterogenität müssen – und wollen – wir leben“, fasst Potthast ganz philosophisch zusammen. Fachbeitrag 13.12.2013 leh BioRegio STERN © BIOPRO Baden-Württemberg GmbH Weitere Informationen Universität Tübingen Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) Prof. Dr. Thomas Potthast Wilhelmstraße 19 72074 Tübingen E-Mail: potthast(at)uni-tuebingen.de Tel.: 07071 29-75251 Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) Der Fachbeitrag ist Teil folgender Dossiers Fortschritt dehnt bioethische Grenzen Industrielle Biotechnologie: Schwieriger Wechsel der Rohstoffbasis Bioökonomie: ein neues Modell für Industrie und Wirtschaft 4