Ergänzendes Material zum ADVENTECHO 9/2007 „Christentum und Judentum liegen beide falsch“ Interview mit Paul Lippi Als Adventist hast du mehr als 20 Jahre in Israel gelebt und an der Hebräischen Universität in Jerusalem studiert. Was hast du aus deinen Beziehungen gelernt, das deine religiösen Anschauungen bereichert hat? Was mich an Israel erstaunt ist das Ausmaß, in dem einfache Menschen Interesse an der Auslegung der Heiligen Schriften haben. Biblische Ausdrücke kommen in der alltäglichen Unterhaltung vor. Die verschiedenen Wege des Bibelverständnisses sind Teil der populären Kultur. Für jemanden, der aus einer Glaubensgemeinschaft kommt, in der die linguistische Interpretation der Bibel und der populäre Glaube völlig getrennt sind und sich kaum miteinander austauschen, ist die israelitische Gesellschaft wie Musik in den Ohren. Adventisten sollten von den Juden lernen, dass Gott nicht plötzlich in einem Loch verschwindet, wenn man offen eine sprachliche oder inhaltliche Schwierigkeit in der Bibel diskutiert. Gottes Gegenwart ist glücklicherweise nicht so fragil. Wenn eine andere Blickweise auf bekannte Texte uns zwingt, bestimmte Aussagen zu revidieren, dann fällt nicht alles um, was wir jemals geglaubt haben. Weil Gott gnädig ist, erlaubt er uns, unsere Überzeugungen anzupassen, ohne seine Gabe des Glaubens zurückzuziehen. Wie siehst du die Zukunft der Verbindung zwischen Juden und Adventisten und die Zukunft des Adventismus in der Beziehung zur protestantischen Tradition? Da sich das kulturelle Zentrum des Adventismus immer mehr von Nordamerika wegbewegt, werden wir uns weiter von der protestantischen Tradition entfernen. Die Adventbewegung begann unter weißen, angelsächsischen Protestanten und ihre kulturellen Prägungen haben in mancher Hinsicht unsere Pioniere daran gehindert, biblische Wahrheiten zu erfassen. Natürlich hatten sie freien Zugang zur Bibel, aber es war die Bibel im Kontext des Glaubens der weißen, angelsächsischen Protestanten. Da die Vielfalt innerhalb der adventistischen Familie zunimmt, wird es leichter, diese ererbten Annahmen als solche zu erkennen und unsere Lehren im Lichte des Wortes Gottes zu korrigieren. Mir scheint, dass Gott stets soziale Veränderungen genutzt hat, um sein Volk tiefer in die Wahrheit zu führen. Wir sehen diesen Prozess in Apostelgeschichte 15. Konservative Leiter der Urgemeinde hingen an einem überholten Modell der Bekehrung, bis sie durch die Situation in den Gemeinden vor Ort gezwungen wurden, ihr theologisches Verständnis zu ändern. Die Theologie entwickelt sich, wenn sie sich bemüht, mit den soziologischen Realitäten Schritt zu halten. Indem wir aufzuholen versuchen, gelangen wir zur Wahrheit. Dieser Prozess findet zurzeit auch auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen Adventisten und Juden statt. Die Frage nach der Rolle Israels in den abschließenden Ereignissen der Weltgeschichte ist nicht länger ein abstraktes theologisches Thema. Die sozialen Realitäten zwingen uns, unseren geistlichen Schatz in einer nichtchristlichen Umwelt zu überdenken. Da wir eher Pragmatiker sind als aufmerksame Studenten des Wortes Gottes, reagieren wir besser auf das Wirken Gottes unter uns als auf seine Stimme in der Heiligen Schrift. Ich sehe nicht, dass sich der Adventismus als Selbstzweck näher auf das Judentum zubewegt. Sowohl das Christentum als auch das Judentum sind Formen des institutionalisierten Ungehorsams. Anstatt die tragische Spaltung der wahren Anbeter in sich bekämpfende Parteien zu korrigieren, haben wir unsere Sünden gerechtfertigt und um sie herum bestimmte Lehren aufgebaut. Weil der Ursprung des Christentums die Ablehnung des Gesetzes Gottes ist, kann uns die Reformation des Christentums nur näher an die ursprüngliche Sünde bringen. Christentum wie ADVENTECHO 9/2007 – „Christentum und Judentum liegen beide falsch“ Seite 2 von 3 Judentum liegen beide falsch. Auch wenn Gott in seiner Gnade sich weiterhin in beiden Traditionen bekannt machte, stellt keine von beiden die biblische Offenbarung vollständig dar. Wenn wir eschatologisch (endzeitlich) denken, dann können sich die „Übrigen“, „die Gottes Gebote halten und das Zeugnis Jesu haben“ (Offb 12,17), nicht ausschließlich aus Anhängern des Judentums oder des Christentums zusammensetzen. Das Judentum hat die biblische Anschauung des Gehorsams gegenüber Gottes Geboten bewahrt, aber definiert sich unter Ausschluss des Zeugnisses Jesu. Das Christentum hält sich an das Zeugnis Jesu, aber gehorcht ihm nicht in biblischer Weise. Die endzeitlichen „Übrigen“, die das „ewige Evangelium“ verkündigen (Offb 14,6), müssen notwendigerweise die historischen Begrenzungen des Judentums und des Christentums überschreiten. Um das zu tun, müssen beide Traditionen von der jeweils anderen jene Wahrheiten borgen, die sie durch ihren Ungehorsam eingebüßt haben. Ich denke nicht, dass viele Adventisten heutzutage die Verzweigungen der „Übrigen“ verstehen, weil sie sich weiterhin exklusiv mit dem Christentum identifizieren. Wenn wir unsere spezielle Verbindung mit den Juden bedenken, finden wir dann Antisemitismus unter Adventisten? Wenn ja, wie erklärst du dieses Paradox? In historischer Sicht ist der Kernpunkt des christlichen Selbstverständnisses und seiner Selbstdefinition die Verwerfung Israels als Volk Gottes. In der Praxis sind Adventisten eine ethnisch diverse Gruppe von Menschen, von denen die meisten glauben, dass Rassismus und Vorurteile schwere Sünden sind. Der Antisemitismus, dem ich unter Adventisten begegnet bin, ist mehr eine Sache mangelnder Sensibilität und eher von Unwissenheit als bösartiger Absicht geprägt. Ich bin niemals einem fanatischen adventistischen Antisemiten begegnet, aber ich kenne Judenchristen, die unsere Gemeinschaft verlassen haben, weil sie den ständigen [theologischen] Antisemitismus von unseren Kanzeln und in unseren Publikationen nicht mehr ertragen konnten. Wir sind mehr der Gleichgültigkeit schuldig als persönlicher Feindseligkeit. Aber der Adventismus leidet unter mancher schlechter Theologie. Der größte Teil dieser verkehrten Theologie stammt nicht von uns selbst, sondern ist Teil unseres christlichen Erbes. Glücklicherweise kann man ein mangelndes Verständnis der Theorie haben oder gar einer verkehrten Theologie anhängen und dennoch manche Dinge in der Praxis richtig machen. Auf der persönlichen Ebene kann man zu Gott eine gesunde Beziehung unterhalten, während man allen möglichen irrigen Ansichten anhängt. Das entbindet uns natürlich nicht von der heiligen Verpflichtung, unsere falsche Theologie zu korrigieren. Unser Ziel sollte sein, dass unser Reden und Verhalten eines Tages harmonieren und beide mit Gottes offenbarten Willen für unser Leben übereinstimmen. Was sind deiner Ansicht nach die bedeutensten Merkmale des Adventismus, die ihn zum Judentum hinziehen? Sowohl das Judentum als auch die Adventgemeinde anerkennen die Thora. Die Adventisten haben eine schöne Theologie entwickelt, die den Gehorsam gegenüber dem Gesetz Gott in ihr Denken integriert. Wir sind dem christlichen Irrtum der Ablehnung des Gesetzes entkommen, aber nicht der christlichen exegetischen und sprachlichen Tradition, die uns immer noch daran hindert, unser Verständnis der Thora zu verbessern. Wir sind die erste mengenmäßig bedeutsame Gruppe von Heidenchristen seit dem zweiten Jahrhundert, die sich an Gottes Gesetz erfreut. Dies könnte möglicherweise eine Gemeinsamkeit mit Juden sein, wenn wir nur lernen würden, darüber mit biblischen Begriffen zu reden. Wie erklärst du dir diese spezielle Verbindung? Das kann ich nur der Leitung des Geistes in der Adventbewegung zuschreiben, denn historisch gesehen gab es keinen Dialog zwischen den adventistischen Pionieren und Juden. Sind die Juden sich ihrer Verbindung zu Adventisten bewusst? Nach meiner Erfahrung haben viele nordamerikanische Juden etwas über Siebenten-TagsAdventisten gehört, aber die meisten Israeliten haben es nicht. In Israel sind wir noch nicht auf der Landkarte verzeichnet. Was jene von uns halten, die uns erkennen, ist eine andere Sache. Ich habe nur anekdotenhafte Kenntnisse, aber der Eindruck von uns scheint oberflächlich und sehr negativ zu sein. ADVENTECHO 9/2007 – „Christentum und Judentum liegen beide falsch“ Seite 3 von 3 Im Allgemeinen werden wir wohl als eine Gruppe von Christen angesehen, die bestimmte definierende Symbole entführt haben, die eigentlich dem jüdischen Volk gehören. Solange Adventisten fortfahren, sich ausschließlich im christlichen Kontext zu definieren, wird es Juden schwerfallen, ihre Verbindung zu uns zu erkennen. Es ist für Juden sehr schwer, lange genug über unser Christentum hinauszublicken, um uns unserer selbst willen zu schätzen. Nicht nur wir leiden unter klischeehaften Zuordnungen, sondern auch Juden. Sind denn den Adventisten ihre Verbindungen zum Judentum bewusst? Sofern sie keine jüdischen Ehepartner oder Verwandten haben, verknüpfen sich die meisten Adventisten nicht mit Juden. Sie kennen natürlich biblische Juden, denn sie lesen von ihnen in ihrer Bibel. Die meisten Adventisten denken, dass Jesus das letzte Gute war, das von den Juden kam, und Gott danach keine weitere Verwendung für die Juden hatte. Adventisten scheinen nichts von dem nachbiblischen Beitrag der Juden zu wissen, der die protestantische Reformation ermöglichte. Im Mittelalter hat das Christentum die hebräische Bibel vom Judentum zurückgeborgt, zusammen mit all den kulturellen Hilfsmitteln, die notwendig waren, um den biblischen Text sinnhaft zu erschließen: die Kunst der historisch wörtlichen Interpretation [im Gegensatz zur Allegorisierung, die im Christentum verbreitet war], die grammatische Analyse, die Lexikographie und die Tradition der Aussprache [der hebräischen Worte, die nur aus Konsonanten bestehen]. Da die Adventisten das Alte Testament nicht selbst lesen können, sind sie sich nicht des jüdischen Beitrags bewusst, der ihre christlichen Übersetzungen erst ermöglichte. Was könnten Juden von Adventisten lernen, um bessere Juden zu werden? Das jüdische Volk muss seinen missionarischen Eifer zurückgewinnen. Der historische Grund, warum die jüdische Religion zum größten Teil aufgehört hat, unter Nichtjuden Anhänger zu finden, ist verständlich, aber in einer säkularen Welt muss dieser Trend umgekehrt werden. Die alten Gründe gelten nicht mehr, denn in den meisten Ländern ist die Ausübung des jüdischen Glaubens nicht mehr verboten und wird nicht mehr unterdrückt. Das Judentum braucht die Übung der direkten Konfrontation mit dem Heidentum. Es hat sich zu sehr als eine negative Reaktion auf das Christentum entwickelt. Das Judentum muss aus dieser reaktiven Verfahrensweise herauskommen, aus dem Schatten des Christentums heraustreten und seine eigene authentische Stimme wiedergewinnen. Als Adventisten können wir es uns nicht vorstellen, unseren Glauben nur auf unsere eigenen Familien zu beschränken – einen Glauben zu leben, der sich nicht zu anderen Menschen in der Finsternis ausstreckt und das Reich Gottes zu erweitern sucht. Juden sollten ihr geistliches Leben ebenso wenig einsperren. Die Thora ist eine lebendige, lebensspendende Botschaft, die nach Ausdruck verlangt. Der missionarische Impuls ist gesund und normal und sollte nicht als dem Geist des Judentums fremd angesehen werden. In der Zeit des zweiten Tempels war es ein jüdisches Anliegen, Hinzugekommene „unter die Flügel der Schekina“ (der heilenden und befreienden Gegenwart Gottes) zu bringen. Das sollte es wieder werden. Paul Lippi hat nach seinem Abschluss auf der Andrews-Universität an der Universität von Jerusalem weiterstudiert und 23 Jahre in Israel gelebt. Er war Pastor der Adventgemeinde in Jerusalem und ist gegenwärtig Direktor des Shalom Learning Center (Florida, USA), das Material für jüdische Leser herausgibt und Gemeindeglieder für den Dienst an Juden vorbereitet. Das Interview mit ihm ist der Zeitschrift Shabbat Shalom, Nr. 3, 2004, entnommen.