T E X T: S U Z A N A M Ü L L E R Das lebendige Weltall Sternbilder und Sternenmythen philoSPIRIT A us der Almhütte treten wir in die klare Sternennacht hinaus und erschauern. Über uns funkeln abertausende Sterne, wie ein Meer voll funkelnder Perlen erhellen sie die mondlose Nacht. Die Magie des Augenblicks nimmt uns gefangen. Nach einer Weile des ehrfurchtsvollen Schweigens beginnt Georg, unser sternenkundiger Philosoph, Geschichten von den Bewohnern dieses Himmels zu erzählen. Unsere kleine Gruppe taucht in eine Welt ein, von der wir ein Teil sind. Ein Stück Himmel wird lebendig, aus Chaos wird Ordnung. Die Spannung der Erzählungen lässt in uns eine Saite erklingen und wir wissen: in dieser magischen Nacht sind wir dem Geheimnis des Lebens ein gutes Stück näher gekommen. Jupiter und Europa Georg beginnt seine Erzählung mit der Entstehung unseres Kontinents. Er berichtet vom wunderschönen, weißen Stier, in den sich Jupiter verwandelt hatte. Der Göttervater war zur phönizischen Königstochter Europa in Liebe entbrannt und gewann durch diese seine Verwandlung ihre Zuneigung. „Bald spielt er mit ihr und springt auf dem grünen Rasen herum, bald streckt er die schneeweiße Flanke im gelblichen Sand aus. Allmählich schwindet Europas Furcht; nun lässt er sich von den Händen des Mädchens die Brust kraulen, nun um die Hörner frische Kränze schlingen.“ Ovid, Metamorphosen Auf seinem Rücken entführte er sie schwimmend an die Küstern Kretas. Ein neuer Kontinent war geboren. Das lebendige Weltall Warum hat der Mensch immer wieder mythologische Themen in die Sterne projiziert? Die Menschen vergangener Tage fixierten ihre Aufzeichnungen in einem „Buch“, das für die Nachkommen auf eine ewig lange Zeit lesbar bleiben würde: Himmel und Sterne. Der Sternenkult sowie die Sternenbeobachtung waren im Altertum auf der ganzen Erde verbreitet und in das tägliche Leben integriert. Es wurden Tempel errichtet, die nach den Sternen ausgerichtet sind. Die Sterne wurden als lebendige Wesen gesehen und als Götter verehrt. Die Menschen orientierten sich an den Sternen, lebten im Einklang mit den Gesetzmäßigkeiten der Natur und nutzten diese Kräfte in ihrem Alltag. Die ältesten Überlieferungen und Beschreibungen des Sternenhimmels stammen von den Ägyptern, den Mayas, aus China und aus Mesopotamien. Aus Mesopotamien stammen 48 Sternbilder, die von Ptolemäus überliefert wurden. Die Namen der Sternbilder stammen von den Griechen, aber viele Sterne tragen heute noch arabische Namen. Aus der Erzählung von Homer entnehmen wir, dass die Griechen in den Sternenbildern eine reale Welt sahen. Eine Welt der Götter, Dämonen und Helden, in der die besonderen Taten und Ereignisse im Himmel verewigt Europa auf dem Stier, Lenbachplatz,München 21 Als der Schmiedegott Hephaistos dem Achill einen neuen Schild schmiedete, „ ... schuf er darauf die Erde, das wogende Meer und den Himmel, auch den vollen Mond und die rastlos laufende Sonne und alle Gestirne, die rings den Himmel umleuchten, Plejaden und Hyaden und die große Kraft des Orion und die Bärin, die sonst der Himmelswagen genannt wird und nach dem Orion hinspäht und allein nicht teil hat am Bad im Okeanos, dem Weltenstrom...“ Homer, Ilias wurden und bis heute ihre Lebendigkeit nicht verloren haben. Großer Bär Die für uns mächtigsten und strahlendsten Sternbilder am Himmel sind der Große Bär und der Orion. Das griechische Wort für Bär lautet „Arktos“, wovon sich unser Begriff Arktis ableitet, weil dort der Große Bär immer zu sehen ist. Die Römer sahen in den sieben Sternen die Septemtriones (die sieben Dreschochsen), die ununterbrochen um die Drehachse des Himmelspols laufen. Die Nordländer haben dieses Sternbild als Wotanswagen gedeutet und die Mitteleuropäer als Wagen des legendären Königs Arthur oder von Karl dem Großen. Über die „Große Bärin“ wurden die verschiedensten Sagen erzählt, darunter auch die folgende: Zeus verliebte sich in Kallisto, „die Schönste“. Kallisto wurde schwanger und bekam einen Sohn, Arkas. Beide wurden von Hera, der Gemahlin von Zeus, eifersüchtig verfolgt, so dass Zeus seine Geliebte zu ihrem Schutz in eine Bärin verwandelte. Als Bärin irrte Kal- 22 philoSPIRIT Genuss des kühlenden Bades im Ozean kommen solle, dass sie also nie unter den Horizont sinken kann. Orion und Großer Hund Der Große Bär listo nun durch die Wälder, bis sie eines Tages ihren zu einem Jäger herangewachsenen Sohn traf. Arkas erkannte seine Mutter nicht und schickte sich an, sie zu töten: Um das zu verhindern, versetzte Zeus beide als Sternbilder in die auch für die Griechen heilige nördliche Himmelsgegend. Kallisto wurde so zur „Großen Orion Bärin“, Arkas zum benachbarten „arktophylax“, dem „Bärenhüter“, auch als Sternbild Bootes bezeichnet, der der Bärin folgt und sie bewacht. Der hellste Stern des Bärenhüters ist „arkturos“, was ebenfalls „Bärenhüter“ bedeutet. Hera bewirkte aber in ihrer Eifersucht, dass die Große Bärin nie in den Orion wurde bei den Griechen als Vorbild des großen Jägers gesehen. Begleitet vom Großen und vom Kleinen Hund nimmt er den Kampf auf gegen die für Menschen damals noch sehr bedrohlich erscheinenden Tiere. Der Jäger ist in der alten Zeit zugleich auch der große Wanderer, der ohne Heimat durch die Berge und Wälder streift, in seiner ungeheuren Kraft auch ein großer Wohltäter der Menschen. Wie alle Sterblichen erduldet Orion Liebe und Tod, aus deren Nacht er jedoch immer wieder zu neuem Leben ersteht. Bei seinen Wanderungen durchs Meer kam Orion zu König Oinopion auf der Insel Chios und wollte dessen Tochter Merope zur Frau nehmen. Der Vater verweigerte sie ihm und blendete den Orion. Orion gab nicht auf. Er tastete sich durchs Meer zur Insel Lemnos zum Götterschmied Hephaistos. Der Schmied überließ dem Geblendeten den Knaben Kedalion, den Orion auf die Schultern nahm, um sich von ihm durchs Meer zum Ort des Sonnenaufgangs führen zu lassen. Dort wendete Orion seine blinden Augen den Strahlen der aufgehenden Sonne zu und ließ sich so das Licht seiner Augen neu entzünden. Bei den Ägyptern steht das viel beachtete Sternbild des Orion mit dem Gott Osiris in Verbindung. In den Pyramidentexten wird der Weg der Pharaonen und ihre Verbindung zu den ihnen zugeordneten Sternen und Sternbildern deutlicher dargestellt. Sie berichten über die Reise ins Jenseits, indem sich die Seelen im Sternenreich niederlassen. „O (König) da, du bist jener große Stern, der Gefährte des Orion, der den Himmel durchfährt mit dem Orion, der die (Duat) A b e n t e u e r P h i l o s o p h i e 4 / 2 0 0 6 philoSPIRIT durchfährt mit Osiris. Du steigst auf der östlichen Seite des Himmels, erneut zu deiner Zeit, verjüngt in deiner Stunde.“ (Pyramidentexte) Eine ebenso bedeutende Rolle hat für die Ägypter die Konstellation des Großen Hundes. Nach den Ägyptern „wohnt die Seele des Osiris einer Person inne, die mit großen Schritten vor Sothis herschreitet ...“. (H.P.B., Lexikon der Geheimlehren) Sothis ist auf Ägyptisch der Sirius, der Hund-Stern. Sirius steht mit der Nilüberschwemmung in Verbindung und hat seit von Demeter, der griechischen Göttin der Landwirtschaft, der Fruchtbarkeit und der Heirat. Auch in anderen Ländern wurde das Sternbild Virgo mit einer „Muttergöttin“ in Verbindung gebracht: In Assyrien war sie die Frau von Bel, in Babylonien war sie Ishtar, Königin der Sterne. Nach einer anderen Legende ist es auch die Jungfrau Astraea, die Göttin der Gerechtigkeit, Tochter von Zeus und Themis, welche die Erde im Ehernen Zeitalter, als die Menschen die Gerechtigkeit nicht mehr achteten, voll Abscheu verließ, zum jeher einen mystischen und direkten Einfluss auf den gesamten belebten Himmel. Im Zusammenhang mit den Pyramiden steht er in Verbindung mit den Initiationen, die in ihnen stattgefunden haben. Weiters steht Sirius mit fast jedem Gott und jeder Göttin in Verbindung und mit jeder Religion des Altertums. Jungfrau Die Griechen sahen in diesem Sternbild Persephone, die wunderschöne Tochter A b e n t e u e r Bild der inneren Freiheit und Jugend. Persephone kommt jedes Jahr aus dem Hades und verjüngt und erneuert die Natur. Demeter bringt die Natur zum Reifen und Ernten. Es ist das Prinzip der ständigen Wiederkehr, das Prinzip des Lebens, das uns dieses Sternbild lehrt. Der Himmel in Dir Gedankenverloren lässt Georg seine letzten Worte verklingen. Mit seinen Erzählungen hat er in uns einen Himmel entstehen lassen, wo Steinbock, Schlange, Andromeda und noch so manch andere Sternenbilder Wirklichkeit geworden sind. Sterne und Sternbilder als Symbol für die ewige Schöpfung, ein Symbol für die eigene Vervollkommnung. Will der Mensch in seinem eigenen Licht strahlen, muss er sich in die großen Rhythmen des Kosmos einfügen und mit ihnen in Harmonie treten. So wie der Polarstern am Himmel der physischen Orientierung dient, so sind die Sternbilder auch Wegweiser für die Seele! Die Tragödie der mythologischen Erzählungen widerspiegelt sich in unserem täglichen Leben. Wir weinen, lachen und singen auf dem Wege zum Glück, zu unserer inneren Weisheit. Das ewige Ziel liegt in den Sternen, der Weg dorthin ist der des Menschen. Q Per aspera ad astra Jungfrau P h i l o s o p h i e 4 / 2 0 0 6 Himmel hinaufflog und zum Sternbild Dike wurde. Die friedliebenden Ackerbauern - so erzählt man - haben sie sehr vermisst und haben, um sich zu trösten, zu diesem Sternbild aufgeschaut, aus dem sie die Göttin der Gerechtigkeit anstrahlte. Für die Griechen war die Jungfrau das Ebenbild eines Mädchens oder einer Frau, die nicht verheiratet war, egal, ob keusch oder nicht. Auch im mythologischen Sinn hat die Jungfrau wenig mit der heutigen Auffassung über eine Jungfrau gemeinsam. Es ist eigentlich das archetypische 23 (Über die Schwierigkeiten zu den Sternen) Seneca Literatur: H.P.Blavatsky, Lexikon der Geheimlehren, Esoterische Philosophie GmbH, 1997 Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Rowohlts Enzyklopädie, 1987 G. Fink, Ovid, Metamorphosen; Das Buch der Mythen und Verwandlungen; Artemis Verlag, 1989 Cornelius Geoffrey, Was Sternbilder erzählen, Kosmos 1997 Wolfgang Achadenwaldt, Stern Sagen, Insel Verlag, 2002