Ethische Entscheidungen in der letzten Lebensphase Ethische

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Ethische Entscheidungen in der letzten Lebensphase
Entscheidungsfindung in der letzten Lebensphase
von Menschen mit Demenz
Thomas Frühwald
Abteilung für Akutgeriatrie
Krankenhaus Hietzing
mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel, Wien
Was macht Sinn?
Kurzsymposium des fppg und der ÖGGG
„Heißer Herbst“ - Demenz und Ethik.
Wien, 28.11.2011
Ethische Entscheidungen in der letzten Lebensphase
Inhalte
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Besondere Situation der Geriatrie – ihre Spannungsfelder
Der Mythos Autonomie am Lebensende
Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin / Geriatrie
Lebensende, „End of Life“...
(Pharmako)therapeutische Interventionen am Lebensende
(Frailty)
(Die PEG Sonde am Lebensende, insb. bei Demenz + 2 Kasuistiken)
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 2
Spezifität der Geriatrie
• Umgang mit sehr vulnerablen Menschen.
• Umgang mit Menschen, die zunehmend in ihrer Selbständigkeit
und Autonomie behindert und deshalb hilfsbedürftig sind.
• Umgang mit Menschen am Ende ihres Lebens - der Tod sollte
nicht nur der absolute Gegner, nicht nur Symbol des Versagens
sein, wenn er eintritt.
• Betreuung von Menschen in einem Umfeld, welches von ihnen oft
nicht freiwillig gewählt wurde - nicht nur einen kurzen Ausschnitt
ihrer Biographie lang, sondern meist während ihres gesamten
letzten Lebensabschnitts.
¾ Beschäftigung mit Fragen der Ethik – als Suche nach
Prinzipien und Grundlagen für ein gerechtes, sinnvolles,
vernünftiges, einsichtiges, gutes, gütiges Handeln...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 3
Ethische Prinzipien
Beauchamp & Childress, Principles of Biomedical Ethics,1994
Benefizprinzip: Verpflichtung Gutes zu tun, zum Wohl der Kranken
zu handeln.
Non-Malefizprinzip: Nichtschadensgebot, Verpflichtung Schlechtes
abzuwehren, nicht zu schaden.
Autonomie: Verpflichtung, die individuelle Persönlichkeit und deren
Recht auf unabhängige Selbstbestimmung zu respektieren, wenn es
um deren eigene Lebensprojekte, sowie physische und psychische
Integrität geht.
Gerechtigkeit: Verpflichtung, Diskriminierung zu vermeiden, nicht
auf Grundlage irrelevanter Merkmale zu unterscheiden.
Verpflichtung, Ressourcen gleich, nicht willkürlich zu teilen
(Verteilungsgerechtigkeit).
Spannungen zwischen diesen Prinzipien sind nicht immer
auszuräumen, man muss sie manchmal auch „produktiv aushalten“
können. Gian Domenico Borasio,2006
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 4
Spannungsfelder der Geriatrie
• zwischen der Todesnähe und dem Sichern einer
Lebensqualität unabhängig von der Länge des noch
verbleibenden Lebens
• zwischen Förderung der individuellen Selbständigkeit und
Autonomie einerseits und Gewährleistung von Schutz, Hilfe
und Betreuung durch fürsorglichen Paternalismus (der
Institution), wenn die alten Menschen selbst nicht mehr
dazu in der Lage sind andererseits
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 5
Doppelte Erosion der Autonomie am Lebensende
Demenz:
führt zur weitgehenden Zerstörung der Autonomie. Hat der Mensch mit
Demenz dann keine Lebensqualität mehr? Erfreut er / sie sich nicht der
Dinge des Lebens?
Abhängigkeit von Betreuung und Pflege, Institutionalisierung:
bedeuten eine zusätzliche Erosion der Autonomie: Reduktion der
Privatsphäre des Patienten, Einschränkung seines Willens durch die
Regeln und die Ordnung der Betreuungsstruktur. Das Autonomieprinzip
des Individuums wird vom Wohltätigkeitsprinzip der Institution
untergraben…
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 6
Autonomie und / oder Selbständigkeit
• Differenzierung zwischen Entscheidungsautonomie und
Durchführungsautonomie – Entscheidungsautonomie ist gegeben
auch ohne die getroffenen Entscheidungen selbst ausführen zu
können (B.Collopy, 1988)
• Körperliche Abhängigkeit (= Einschränkungen der Handlungsfähigkeit)
und der Erhalt von Entscheidungsfreiheit (= Selbstbestimmung) sind
vereinbar
• Die freie Entscheidung, Handlungsspielräume trotz noch vorhandener
physischer und kognitiver Fähigkeiten (= Handlungsfähigkeit,
Selbständigkeit) nicht zu nutzen und sich für mehr Unterstützung bei
Verrichtungen im Alltag zu entscheiden ist mit Selbstbestimmung
(=
Autonomie) vereinbar (A.Kruse, 2005)
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 7
Autonomie in der Geriatrie: Mythos und Wirklichkeit
nach Th.Rehbock: Autonomie-Fürsorge-Paternalismus - Zur Kritik medizin-ethischer
Grundbegriffe. Zeitschrift f. Ethik in der Medizin 3;131-150,2002
Mythos:
• Die sich aus der Menschenwürde ableitende Autonomie d. Pat. als
einzige ausschlaggebende Dimension bei der Entscheidungsfindung
in der Geriatrie
Wirklichkeit:
• Ohne optimale Fürsorge für die Pat. in Form adäquater Beratung u.
persönlicher, empathischer Anteilnahme sowie Begleitung, Betreuung
u. Pflege bestünde die Gefahr in einen Autonomismus abzugleiten das sich Verlassen auf die autonome Entscheidung von Menschen,
die nicht sicher dazu in der Lage sind...
• Gefahr einer indifferenten, gleichgültigen Haltung, die nur noch den
autonomen Kunden sieht und sich nicht um die Folgen kümmert...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 8
Autonomie in der Geriatrie: Mythos und Wirklichkeit
nach Th.Rehbock: Autonomie-Fürsorge-Paternalismus - Zur Kritik medizin-ethischer
Grundbegriffe. Zeitschrift f. Ethik in der Medizin 3;131-150,2002
„Die Begrenzung der Autonomie zu akzeptieren, vor allem auch im
hohen Alter mit seinem zunehmenden Hilfs- und Unterstützungsbedarf,
ist Voraussetzung für ein gelingendes Alter und kein Widerspruch zum
Grundsatz der Alterspflege, alles daran zu setzen, die Selbständigkeit
möglichst zu wahren oder wieder zu erlangen.“
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 9
Autonomie am Lebensende
„ ... die Normen der Autonomie und der Selbstbestimmung
werden konkurrenzlos als die Nr.1, als unendlich steigerbar
vorgestellt... merkwürdigerweise insbesondere für die Zeit des
Lebensendes... Dabei handelt es sich um den Kampf gegen
die Arroganz der Halbgötter in Weiß...“
„...es wird aber zunehmend auch die Frage gestellt, ob nicht
die Patientenautonomie dabei sei, ein Optimum zu
überschreiten und ein dann eher wieder schädigendes
Maximum anzustreben, während umgekehrt die Autonomie der
Ärzte (und der anderen Behandler) und damit ihre (mangelnde)
Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, Anlass zur Sorge
gebe...“
Klaus Dörner, Plenarvortrag am 5.Kongress der Deutschen Gesellschaft
für Palliativmedizin, Aachen, April 2005
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 10
Das Dogma der Autonomie
wird relativiert...
Atul Gawande. Complications - A surgeon‘s notes on an imperfect science. H.Holt & Co,2002
Das neue Dogma der Autonomie hat Schwierigkeiten anzuerkennen, dass
Patienten häufig die ihnen angebotene Freiheit gar nicht wollen, oder
brauchen...
Sie wären froh, ihre Autonomie respektiert zu wissen, auch wenn es
bedeutet, dass sie autonom und frei entscheiden auf sie zu verzichten...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 11
Das Dogma der Autonomie
wird relativiert...
Schneider CE. The practice of Autonomy. Oxford Univ.Press, N.Y., 1998
Autonomie ist nicht der ultimative Wert, wie er von der Medizinethik
propagiert wird - sie ist ein Wert von vielen...
Patienten erwarten nicht primär den Respekt ihrer Autonomie, sondern
empathische Güte (kindness). Sie vermittelt einem die Gewissheit der
eigenen Kontrolle über lebenswichtige Entscheidungen, sie lässt aber
auch die Möglichkeit zu, schwierige Entscheidungen, die man nicht
machen will / kann zu übernehmen, oder den Patienten dabei zu
begleiten, ihn / sie anzuleiten.
Manchmal ist der richtige, der gütige, mitfühlende (kind, compassionate)
Weg, den Patienten zur richtigen, guten Entscheidung mit sanftem Druck
anzuleiten, zu zwingen...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 12
Zum Thema Autonomie
„Wir sind alle Hüter des Anderen. Ohne eine solidarische
Gemeinschaft ist es unmöglich unseren Interessen nachzugehen
und unsere Talente zu verwirklichen. Diejenigen, die behaupten,
dass Benefizienz keine (gesellschaftliche) Pflicht, sondern einfach
eine Sache des Geschmacks ist, übersehen die Tatsache, dass um
ein ‚autonomer‘ Mensch zu sein wir auf die Wohltätigkeit (Benefizienz)
anderer angewiesen sind.“
E.H.Loewy, 2009
„As the field grows more complex and technological, the real task is
not to banish paternalism, the real task is to preserve kindness.“
Atul Gawande, 2002
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 13
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
nach E.H.Loewy
• Fragen, die zunächst gefragt werden sollten:
- Wer ist berechtigt, eine Entscheidung zu treffen?
- Wer wird hier behandelt?
• Falsche erste Frage: Was sollen wir tun? (z.B.: „Sollen wir
eine PEG-Sonde legen?“)
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 14
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
Prinzip der Reiseplanung…
Ethiker = Reiseberater mit 3 Fragen in fixer Reihenfolge:
1. Wo sind wir? (Wo fängt die Reise an?)
2. Wo wollen wir hin? („Quo vadis“ Frage…)
3. Wie kommen wir zum gewünschten Ziel?
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 15
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
1. Wo sind wir?
medizintechnische Frage…
• die ÄrztInnen, Pflegepersonen, TherapeutInnen …
informieren über die Situation: Diagnose, Prognose, noch zu
klärende Probleme
• der Ethiker/die Ethikerin muss sicher sein, dass wirklich
Experten die Fragen beantwortet haben und dass der Patient
und die Angehörigen informiert wurden
• bei Uneinigkeit des Teams in sachlichen Fragen kann der
Ethiker nicht helfen
Gute Ethik beginnt mit guten Fakten.
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 16
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
2. Wo wollen wir hin?
Die „quo vadis“ Frage…
• nur wenig medizintechnisch… der Arzt/die Ärztin erstellt
die Prognose, sagt was „im besten“ und was „im
wahrscheinlichsten Fall“ geschehen wird
• hauptsächlich biografische Frage: individuelle Werte,
Lebensgeschichte, Lebensziele des Patienten bestimmen
die Antwort
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 17
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
3. Wie kommen wir zum gewünschten Ziel?
Welche Mittel zum Erreichen des Ziels gibt es?
Eine „technische“ Frage, mit der allzu oft begonnen wird.
Die Verbindung zwischen den 3 Punkten - Fakten, Ziel und
Mittel zum Erreichen des Ziels - wird relativ einfach zu machen
sein
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 18
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
Entscheidungsfähigkeit und kognitive Kompetenz?
Kriterien, Vorbedingungen der Annehmbarkeit eines Entschlusses
• Genügend Wissen: der Patient/die Patientin muss die
Fakten verstehen, er/sie muss die Optionen verstehen (z.B.:
was passiert bei Behandlung / bei Nicht-Behandlung), klar
und deutlich sagen, welche der Optionen er / sie bevorzugt...
• Genügend Zeit zum Überlegen
• Kein Druck, oder Zwang
• Authentizität: er/sie muss eine Erklärung (warum er/sie das
eine, oder das andere vorzieht) im Einklang mit den eigenen
Werten geben können. Es ist gleichgültig, ob man selbst
damit übereinstimmt, oder nicht…
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 19
Eingeschränkte Einwilligungsfähigkeit
nach Hick C: Klinische Ethik. Springer, 2006
• Die Einwilligungsfähigkeit ist gerade in der Geriatrie oft nur graduell
gegeben. Es genügt aber, wenn sie für die aktuell anstehende
Entscheidung ausreicht.
• Aus ethischer Sicht soll eine der Situation angepasste
Patientenaufklärung auch bei nur eingeschränkt
entscheidungsfähigen Pat. erfolgen, auch wenn aus rechtlicher
Sicht die Bestellung eines Sachwalters erforderlich ist.
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 20
Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin und
autonomer Patientenwille
Gian Domenico Borasio, 2006
• Vor den Überlegungen über den Patientenwillen sollte immer die Frage
der allgemeinen medizinischen Indikation geklärt sein. Diese kann mit
zwei Fragen geklärt werden:
• gibt es ein vernünftiges Therapieziel (z.B. Lebensverlängerung)?
• ist dieses Ziel auch realistisch?
• Erst wenn diese Fragen mit „ja“ beantwortet wurden, kann man zur
individuellen Indikationsprüfung schreiten und fragen, ob dieses
Therapieziel mit dem deklarierten, oder mutmaßlichen Patientenwillen
auch übereinstimmt.
• Die Frage nach dem Patientenwillen ist oft irrelevant, weil es schon an
der allgemeinen Indikation für die geplanten medizinischen
Interventionen mangelt.
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 21
Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin
nach Marckmann G, in der Schmitten J, 2010
• Primär: Klärung der Frage, unter welchen Bedingungen es zulässig ist,
eine diagnostische, oder therapeutische Maßnahme durchzuführen
• Nicht erst der Abbruch einer medizinischen Maßnahme, schon deren
Initiierung bedarf einer Rechtfertigung
• Voraussetzung für medizinische Maßnahmen sind die ethischen
Prinzipien, daraus abgeleitet: drei Legitimationsvoraussetzungen:
1. Die Maßnahme soll dem Pat. insgesamt mehr nutzen als schaden
2. Der Pat. muss nach Aufklärung der Maßnahme zustimmen
(Ausnahmen: bewusstloser Pat., Gefahr in Verzug...)
3. Die Maßnahme muss „lege artis“ sein
• Auf eine (lebensverlängernde) Maßnahme sollte verzichtet werden,
wenn schon eine der Legitimationsvoraussetzungen nicht erfüllt ist –
dies wäre ein s.g. individualethischer Therapieverzicht...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 22
Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin
nach Marckmann G, in der Schmitten J, 2010
Schwierigkeiten beim individualethischen Therapieverzicht:
• Bestimmung der Nutzlosigkeit einer med. Maßnahme..
• Fehlende Einwilligungsfähigkeit d. Pat.
• Zur Nutzlosigkeit einer med. Maßnahme („Futility“):
• Unterscheidung zw. Nutzen und Wirksamkeit:
• Eine Maßnahme kann physiologisch wirksam sein, aber f. d. Pat.
ohne Nutzen...
• Relevant f. die Frage des Behandlungsabbruchs ist nur der Nutzen
f. d. individuellen Pat., nicht die Wirksamkeit, d.h. z.B. irgendein
physiologischer Effekt
• Beurteilung des Nutzens:
• Evidenz aus klinischen Studien (EBM)
• Leitlinien, Konsensusempfehlungen
• Individuelle ärztliche Expertise
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 23
Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin
nach Marckmann G, in der Schmitten J, 2010
Definitionsmöglichkeiten von Nutzlosigkeit:
• Enge Definition: eine Maßnahme ist nutzlos, wenn sie keine
physiologische Wirksamkeit hat...
• Definition im weiteren Sinne: nutzlose Maßnahme wenn z.B.:
• nur geringe Erfolgsaussichten
• keine erstrebenswerten Behandlungsziele
• inakzeptable Lebensqualität
• mehr Schaden las Nutzen zu erwarten
• Enge Definition der Nutzlosigkeit:
• medizinisch-fachliche Urteile
• eine einseitige ärztliche Entscheidung ist gerechtfertigt, geboten...
• Weite Definition:
• ist wertend!
• sollte dem Pat. Überlassen werden (wenn er dazu in der Lage ist...)
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 24
Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin
nach Marckmann G, in der Schmitten J, 2010
Sozialethischer Therapieverzicht:
• Folgt dem ethischen Prinzip der Gerechtigkeit
• Relevant, wenn es um die gerechte Verteilung limitierter Ressourcen
geht (Verteilungsethik, Allokationsethik)
• Verzicht auf medizinische Maßnahmen, wenn sie dem Pat. einen
geringen Nutzengewinn (Grenznutzen) bringen bei gleichzeitig hohen
Zusatzkosten (Grenzkosten)
• Die Ressourcen können anderen Pat. zukommen, die einen größeren
Nutzengewinn von ihnen haben
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 25
Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin
Marckmann G, in der Schmitten J, 2010
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 26
Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen
Beim Fehlen v. Entscheidungsfähigkeit, kognitiver Kompetenz hilft:
• Frage nach dem mutmaßlichen Willen:
• Hinweise durch Angehörige, durch v. Pat. früher designierte
Stellvertreter.
• Tatsächliche Funktion der („beachtlichen“)
Patiententenverfügungen...
• Frage, was der Patient bestimmt nicht wollen würde:
Schmerzen, Hunger und Durst spüren, Kälte, Entblößung,
verlassen sein…
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 27
Eingeschränkte Einwilligungsfähigkeit
nach Hick C, Klinische Ethik. Springer, 2006
• Die Einwilligungsfähigkeit ist gerade in der Geriatrie oft nur graduell
gegeben. Es genügt aber, wenn sie für die aktuell anstehende
Entscheidung ausreicht.
• Aus ethischer Sicht soll eine der Situation angepasste
Patientenaufklärung auch bei nur eingeschränkt
entscheidungsfähigen Pat. erfolgen, auch wenn aus rechtlicher Sicht
die Bestellung eines Sachwalters erforderlich ist.
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 28
Algorithmus zur Berücksichtigung des Patientenwillens
bei einwilligungsunfähigen PatientInnen
Marckmann G. 2004
Ist d. Pat.
einwilligungsfähig?
Ja
1. „Interne Plausibilitätskontrolle“
des erklärten PatientInnenwillens
anhand des mutmaßlichen
PatientInnenwillens
Nein
Pat. entscheidet
nach Aufklärung
Existiert eine
Patientenverfügung?
Ja
2. „Externe Plausibilitätskontrolle“
des erklärten und mutmaßlichen
PatientInnenwillens anhand allgemeiner
Wertvorstellungen
Nein
Nach erklärtem
PatientInnenwillen
entscheiden
1
Sind die Präferenzen
d. Pat. bekannt?
(mutmaßlicher Wille)
Ja
Nach mutmaßlichem
PatientInnenwillen
entscheiden
2
Nein
Nach allgemeinen
Wertvorstellungen
entscheiden
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 29
Zu Fragen der Ethik am Lebensende
„Der Tod erscheint nicht mehr als eine zur Natur des
Lebendigen gehörende Notwendigkeit, sondern als eine
vermeidbare, jedenfalls im Prinzip traktable und lange
aufschiebbare organische Fehlleistung.“
Hans Jonas: „Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer
Ethik für die technologische Zivilisation“, Suhrkamp, 1979
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 30
Überlegungen zum Lebensende
End of life Situation...
Empfehlungen zur Terminologie medizinischer Entscheidungen am Lebensende.
Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt 6/2011
http://bka.gv.at/DocView.axd?CobId=44491
Tod:
• unwiderruflicher, klar definierter Zustand
Lebensende:
• Prozess, der mit dem Tod endet
• Ein sehr dehnbare Situation, Lebensphase: zeitlich und biologisch
• Noch unschärfer durch Applikation medizinischer Interventionen,
Technologien
• Keine genaue Definition, keine Diagnose (?), „Diagnosing dying“
fraglich – keine exakte Grundlage für medizinisches Vorgehen
vorhanden...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 31
Überlegungen zum Lebensende
End of life Situation...
Empfehlungen zur Terminologie medizinischer Entscheidungen am Lebensende
Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt 2011
http://bka.gv.at/DocView.axd?CobId=44491
• Gratwanderung zw. Lebensverlängerung u. Sterbensverlängerung
• Konflikt zw. medizinischer Machbarkeit u. Nutzen für den Betroffenen
• Klassische medizinische Muster greifen nicht – z.B. auf EBM sich
berufende Entscheidungen für od. gegen eine Therapie
• Entscheidungsfindung beeinflusst durch:
• Angst zu versagen
• Angst vor rechtlichen Konsequenzen
• Das Sterben erscheint immer weniger als natürliches Ereignis, sondern
als ein medizinisch gestalteter Prozess
• Kollisionsszenarien:
• von Moralvorstellungen der Pat., deren Angehöriger u. der Ärzte
• von ökonomischen Zwängen, medizinischen Verheißungen u. dem
Wunsch der Sterbenden u. deren Angehöriger
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 32
„End of Life“ Phase
Klinisches Konstrukt d. terminalen Lebensphase geriatrischer Pat.
Gillick 1996
• die terminale, Lebensphase geriatrischer Patienten gekennzeichnet
durch permanente schwere Behinderung bei den ATL‘s
• keine Besserung trotz qualifizierter geriatrischer therapeutischer und
rehabilitativer Bemühungen
• Immobilität, bis Bettlägerigkeit
• Bedarf an intensiven pflegerischen Maßnahmen
¾ Lebenserwartung maximal 2 Jahre...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 33
„End of Life“ Phase
Klinisches Konstrukt d. terminalen Lebensphase geriatrischer Pat.
• Entspricht der „End-Stage Frailty“(Fried 2001, Walston 2003):
• verminderte Muskelkraft,
• Sarkopenie
• Gewichtsverlust
• herabgesetzte physische Belastbarkeit
• rasche Ermüdung
• Fatigue
• mangelnde Ausdauer
• Gleichgewichtsstörung, Gangunsicherheit
• Folgen:
• Stürze und Frakturen
• Behinderungen in den instrumentalen bis basalen ATL’s
• erhöhter Hospitalisierungsbedarf
• kontinuierlicher Betreuungs- und Pflegebedarf
• hohe Mortalität
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 34
„End of Life“ Phase
Klinisches Konstrukt d. terminalen Lebensphase geriatrischer Pat.
• Validierung in einer prospektiven Untersuchung (Frohnhofen 2011)
• globale, teambasierte klinische Beurteilung nach 1 Woche
interdisziplinärer geriatrischer Behandlungsversuch an einer AGR
• Assoziation zwischen dieser Beurteilung und dem Risiko während des
stationären Aufenthaltes zu versterben verlässlich bestimmbar.
• das Erkennen einer absehbar reduzierten Lebenserwartung große
klinische Herausforderung
• häufige interdisziplinäre Evaluierung der individuellen Situation des
Patienten /der Patientin erforderlich
• am besten im Rahmen eines qualifizierten geriatrischen Assessments.
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 35
Der am Lebensende akut erkrankte alte Mensch
Drei häufige Charakteristika:
1. insgesamt zwar schlechte, aber unsichere Prognose
2. Therapie kann lebensverlängernd sein, ist aber oft belastend
3. der/die Pat. ist betreuungsbedürftig, oft kognitiv beeinträchtigt
Zwei mögliche Wege:
1. Symptomkontrolle, Wahrung optimaler Lebensqualität und Würde
2. belastende Behandlung mit mehr oder minder großer Hoffnung auf
sinnvollen Nutzen für den/die Pat.
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 36
The Clinical Course of Advanced Dementia
Mitchell SL et al; NEJM 2009; 361:1529-38
• Prospektive Studie über 18 Monate, 323 PH-Pat., Ø 85,3a,
fortgeschrittene Demenz: Global Deterioration Scale - GDS 7 (u.a.
Nicht-Erkennen v. Angehörigen, „Wortzerfall“, Immobilität...)
• mittlere Überlebenszeit: 478 d (wie fortgeschr. Tumor, od. NYHA IV)
• 6-Monatsmortalität: 25%, nach 18 Monaten: 54,8%
• wenig „sentinel events“ wie Insult, Myokardinfarkt, Hüftraktur...
• häufigste unmittelbar kausale Situationen: Pneumonie, St.febrilis,
Ernährungsprobleme > 6-Monatsmortalität 40-50%
• Bei Pat. in dieser Situation müsste der Tod antizipierbar und Palliative
Care indiziert sein... Trotzdem wurden auch 3 Monate ante mortem bei
40,7% Pat. belastende Interventionen wie Akuthospitalisierungen,
parenterale Therapien, Sondennahrung durchgeführt...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 37
The Clinical Course of Advanced Dementia
Mitchell SL et al; NEJM 2009; 361:1529-38
• Fortgeschrittene Demenz sollte wie eine terminale Erkrankung, die
palliative Care benötigt betrachtet werden, insb. wenn Pneumonie,
St.febrilis u./od. Ernährungsprobleme auftreten.
• Die Behandlungs- und Pflegeplanung sollten dies berücksichtigen –
unter Einbeziehung der Angehörigen u. ev.
Betreuungsbevollmächtigten.
• „Patients with dementia who are dying often receive aggressive
treatments, such as tube feeding or hospitalization for pneumonia,
that may be of limited benefit and that are inconsistent with a
palliative approach to care.“
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 38
Survival after the First Episode of Pneumonia, the First Febrile Episode, and the Development of
an Eating Problem
The Clinical Course of Advanced Dementia
Mitchell SL et al; NEJM 2009; 361:1529-38
Überlebensraten bei
fortgeschrittener Demenz +
•Pneumonie
•St.febrilis
•Essschwierigkeiten
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 39
Prescribing therapy in the end-of-life situation
The need for an individualized approach
O’Mahony D et al. Pharmacotherapy at the end-of-life. Age&Ageing 2011:40:419-422
“Prescribers often persist with evidence-based prescribing in end-of-life
patients… This evidence-based - evidence-biased - prescribing for all
treatable medical conditions is unnecessarily expensive and ultimately of
dubious benefit for the patient…”
• Big challenge: what constitutes end-of-life, how to recognise, to
diagnose it?
• End-of-life is characterised by:
• accumulating health problems over a period of weeks to months with
• failing homeostasis that is irreversible, leading to death
• irreversible, end-stage frailty
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 40
Prescribing therapy in the end-of-life situation
The need for an individualized approach
O’Mahony D et al.: Pharmacotherapy at the end-of-life. Age&Ageing 2011:40:419-422
Major polypharmacy:
• >10 daily drugs = independent predictor of ADE’s in older people
Polypharmacy:
• > 8 regular prescription drugs daily = strongest predictor of ADE’s in
hospitalized older people
Oligopharmacy:
• < 5 daily prescription drugs, probably beneficial to end-of-life patients
in terms of ADE avoidance. To be achieved by a structured approach
to palliative pharmacotherapy
Appropriate polypharmacy:
• in palliative care prescribing cascades often reflect good clinical
practice, f.e.: opiates plus laxatives plus anti-emetics…
• terminal illness polypharmacy is appropriate as the emphasis focuses
entirely on symptom management
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 41
Therapieentscheidungen am Lebensende
Pharmakotherapie am Lebensende
O’Mahony, O’Connor 2011
Nur wenige konkrete, auf Evidenz basierte Empfehlungen vorhanden, zu
berücksichtigen wären:
•Lebenserwartung
•Therapieziele (z.B. Symptomkontrolle vs. längerfristige Prävention)
•„Time-to-benefit“ der verordneten Medikamente (möglicherweise länger
als die realistisch geschätzte Lebenserwartung)
•Probleme der Verabreichung der Medikamente
•Probleme beim Entzug div. Pharmaka (z.B. Corticosteroide, Benzod.)
•Pat. betrachten die Verordnung von Medikamenten als Ausdruck der
Arzt-Patient-Beziehung, deren Absetzen als deren Abbruch
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 42
Therapieentscheidungen am Lebensende
Prinzipien der Pharmakotherapie am Lebensende
O’Mahony, O’Connor 2011
• Lebensverlängernde Medikation nicht unbedingt angebracht
• Primär präventive medikamentöse Maßnahmen allgemein nicht
indiziert – die Lebenserwartung ist meist kürzer als die Zeit, bis der
primär präventive Effekt zum Tragen kommen kann („time-to-benefit“)
• Sekundär präventive Therapie braucht genaue Evaluierung und sollte
fortgesetzt / initiiert werden nur wenn der zu erwartende Nutzen in der
anzunehmenden Lebenserwartung zum Tragen kommen kann
• Allgemein sollte man sich auf maximal 5 verschiedene Pharmaka pro
Tag beschränken – bei mehr Medikamenten ist die „Adherence“
schlechter und das Risiko von UAW signifikant höher
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 43
Therapieentscheidungen am Lebensende
Prinzipien der Pharmakotherapie am Lebensende
O’Mahony, O’Connor 2011
• Zentrale Bedeutung: Bestimmung der Therapieziele zusammen mit
dem Patienten bzw. dessen Angehörigen und Betreuern – dies führt
eher zu angemessenen Medikamentenverordnungen
• Medikamente einzeln, nacheinander absetzen um ev. nachteilige
Effekte der Medikamentenabsetzung genau zuordnen zu können
• Weniger Medikamente, in weniger Einzeldosen sollten angepeilt
werden – ev. durch 1 x täglich Verordnung entsprechend retardierter
galenischer Formen
• Zusammenarbeit mit klinischer Pharmazie
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 44
Therapeutische Interventionen am Lebensende
Pauline W Chen: Final Exam – A Surgeons Reflections on Mortality. Knopf 2007 (Der Tod
ist nicht vorgesehen. Herder 2007)
• Oft mit Hoffnung verwechselt...
• Mehr Therapie mit mehr Liebe verwechselt...
• Therapierückzug wird schwierig bis unmöglich...
• Nicht zu behandeln wird mit Aufgeben verwechselt...
• Mit Beginn der Therapie fühlt man sich gegenüber der Therapie selbst
verpflichtet...
• Wenn schon so viel getan wurde, finden es Ärzte (u. Angehörige)
unmöglich, all diese Bemühungen fallen zu lassen...
„We battle away until the last precious hours of life, believing that cure is
the only goal. We inflict misguided treatments on not just others but
also ourselves.“
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 45
Therapeutische Interventionen am Lebensende
Pauline W Chen: Final Exam – A Surgeons Reflections on Mortality. Knopf 2007 (Der Tod
ist nicht vorgesehen. Herder 2007)
• Die Schwierigkeit loszulassen hat weniger mit unseren inneren
Konflikten zu tun, sie ist eher der Tatsache der unklaren Definition des
Sterbens zuzuordnen...
• Wir haben keine verlässliche Möglichkeit vorauszusagen, wann
jemand sterben wird...
• Es gibt eine große Diskrepanz zwischen unserer Wahrnehmung des
Sterbeprozesses und der der tatsächlichen Unmittelbarkeit des Todes
• Krankheiten die früher als definitive Vorboten des Todes galten, sind
jetzt höchstens temporäre Probleme, oder relativ kleine, behandelbare
Unannehmlichkeiten
• Der Tod ist nicht mehr der klar definierte Zeitpunkt als den wir ihn uns
vorstellen, sondern ein Prozess...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 46
Frailty
• ein multidimensionales Syndrom
• progredienter Verlust von diversen Funktionen
• progredient erhöhtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko
• biologische, medizinische sowie psychologische und soziale
Faktoren mit nachteiligem Einfluss auf normale körperliche und
psychische Funktionen
• verminderte Kapazität auf negative Krankheits- und
Umgebungseinflüsse kompensatorisch zu reagieren
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 47
Frailty
• irreversibel (?), ev. zu verzögern (?), „Vorbote des Todes“
• Wechsel von Selbständigkeit und Autonomie hin zur Abhängigkeit von
Hilfe und Betreuung bis zur vollständigen Erosion von Autonomie und
Selbständigkeit
• Zustand höchster Vulnerabilität für negative Outcomes wie Stürze u.
ihre Folgen, Immobilität, Funktionsverluste im Bereich der
Selbsthilfefähigkeit, Abhängigkeit von kontinuierlicher Betreuung und
Pflege
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 48
Frailty
Klinische Zeichen (machen zusammen das Vollbild des Syndroms aus):
• verminderte Muskelkraft, Sarkopenie
• Gewichtsverlust
• herabgesetzte physische Belastbarkeit, rasche Ermüdung, Fatigue,
mangelnde Ausdauer
• Gleichgewichtsstörung, Gangunsicherheit
„Biomarker“ z.B.:
• Sexualhormone ↓, Wachstumshormon ↓, IGF-1 ↓, IL-6 ↑, IL-2
.TNFα ↑, Interferon ↑, CRP ↑, Hb ↓, Hkt ↓. Osmolarität ↑
Folgen:
• Stürze und Frakturen
• Behinderungen in den instrumentalen bis basalen ATL’s
• Hospitalisierungsbedarf ↑
• zeitweiser bis kontinuierlicher Betreuungs- und Pflegebedarf
• Tod
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 49
Frailty - phänotypische Charakteristika
Fried LP et al: Frailty in Older Adults: Evidence for a Phenotype. J.Gerontol. 56A: 2001
o
o
o
o
o
•
•
•
Gewichtsverlust, Sarkopenie (> -10 Pfund/Jahr)
Geringe Ausdauer, Ermüdbarkeit, Fatigue („self reported“)
Schwäche (Handgriffstärke ↓ – niedrigste Quintile, geschlechts- u. BMI
korrigiert)
Langsamer Gang (Gehzeit f. eine 15 Fuß – Strecke, niedrigste
Quintile, korrigiert nach Geschlecht und Körpergröße)
Niedriges physisches Aktivitätsniveau (Kcal/Woche, niedrigste
Quintile, differenziert nach Geschlecht)
≥ 3 dieser Charakteristika: Frailty
keines dieser Merkmale: „robust“ oder „rüstig“
1 – 2 Merkmale: klinisches Vorstadium der Frailty („pre-frailty“)
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 50
Spectrum of frailty - suggested stage-appropriate interventions
Walston JD, Fried L: Frailty and ist implications for care.
In: Morrison RS, Meier DB (Ed‘s) Geriatric Palliative Care. Oxford Univ. Press, 2003
symptom relief,
patient centered
goal setting,
family and
caregiver support
robust
(preventive care)
exercise-,
hormone-,
antiinflammatory
interventions
exercise,
comprehensive
geriatric
assessment and
treatement,
GEM units
intermediate frailty
(pre-frailty)
exercise,
GEM units,
ACE units,
home hospital
hospice care,
comfort and
dignity
end-stage frailty
(irreversible)
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 51
Die PEG Sonde am Lebensende, insb. bei Demenz
Macht sie Sinn?
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 52
PEG – Nutzen?
insb. bei Pat. mit Demenz
Derzeitige Evidenzlage
Cervo FA et al, Geriatrics 2006, 6, 30-35
• kein Vorteil im Überleben (Mortalität gleich, ob mit oder ohne PEG)
• kein Vorteil in der Aspirationsprophylaxe
• keine Reduktion der Infektionsrate (Pneumonien)
• keine Verhinderung von Dekubitus, eher höhere Dekubitusinzidenz
• kein Nachweis einer Verbesserung der Lebensqualität
• höhere Rate an sonden-assoziierten Komplikationen
• eventuell weniger Pflegezuwendung
• mehr freiheitsbeschränkende Maßnahmen u. Sedierung
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 53
PEG - Nutzen?
Derzeitige Evidenzlage
Cave!
Die Studienlage ist nicht befriedigend... Bessere, prospektive, gut
randomisierte, kontrollierte Untersuchungen wären erforderlich.
Der fehlende Nachweis eines Nutzens bedeutet nicht den Nachweis
eines fehlenden Nutzens.
„The absence of proof is no proof of absence“
Synofzik M. PEG-Ernährung bei fortgeschrittener Demenz. Nervenarzt 2007;78:418-428
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 54
PEG bei Demenz
Keine Evidenz, dass die PEG-Sondenernährung bei Pat. mit
fortgeschrittener Demenz folgende Parameter verbessert:
•Überlebenszeit
•Inzidenz von Aspirationspneumonien
•Inzidenz von Decubitalulzera
•Infektionsrate
•Lebensqualität
•Ernährungsstatus
Finucane T et al. Tube feeding in patients with advanced dementia: a review of the
evidence. JAMA 1999;282:1365-1370
Gillick MR. Rethinking the role of tube feeding in patients with advanced dementia.
NEJM 2000;342:206-210
Die Anlage einer PEG Sonde verbessert nicht die Prognose von Pat. mit
fortgeschrittener Demenz: die 6-Monatsmortalität v. ca. 50% bleibt bei
Pat. mit oder ohne PEG-Sonde gleich.
Meier DE et al. High short-term mortality in hospitalized patients with advanced dementia:
lack of benefit of tube feeding. Ann Int Med. 2001;161:2385-2386
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 55
PEG bei Demenz
Trend zur Zunahme der Mortalität nach PEG
bei Pat. mit Demenz
Murphy LM et al. Percutaneous endoscopic gastrostomy
does not prolong survival in patients with dementia.
Arch Int Med. 2003;163:1351-1353
PEG-Sonde bei Pat. mit Demenz in PH
signifikant assoziiert mit:
• höherer Komplikationsrate
• freiheitsbeschränkenden Maßnahmen
• mehr Notaufnahmen im KH
war
Li I. Feeding tubes in patients with severe dementia.
Am Fam Phys. 2002;65:1605-1610
Odon SR et al. Emergency department visits
by demented patients with malfunctioning feeding tubes.
Surg Endo.2003;117:651-653
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 56
Ernährungsprobleme und PEG bei Demenz
• Nahrungsaufnahme = letzte ATL, die bei Demenz behindert wird.
• Essapraxie, allg. Rückzug, Anorexie, Abulie, Desinteresse an Nahrung
sind Symptome fortgeschrittener Demenz (können aber auch
Symptome einer begleitenden Depression sein - der Versuch einer
antidepressiven Therapie ist gerechtfertigt).
• Modifizierung des Essens und der Rahmenbedingungen, des
Ambientes in dem gegessen wird sind effektiv, aber bedürfen
Ressourcen, insb. in Institutionen.
• Die Entscheidung gegen die PEG ist nicht eine zwischen PEG und
nicht Ernähren bzw. „Verhungern“! Alternatives Nahrungsangebot und
Hilfe beim Essen müssen intensiviert fortgesetzt werden...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 57
PEG-Sonden bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz
- Warum noch immer so häufig?
Gillick MR et al, J Am Med Dir Ass, 2008, 9(5), 364-7
• Das Thema der Sondenernährung bei fortgeschrittener Demenz wird oft
nur als ein moralisches präsentiert, nicht als ein gleichzeitig auch
wissenschaftlich-medizinisches...
• Den Angehörigen geht es um eine pflegende, empathische Zuwendung
(„caring“) – diese ist empirischen Untersuchungen und darauf
basierenden Argumenten nicht leicht zugänglich...
• Hilfreich könnte es sein, den Angehörigen den symbolischen Wert der
Ernährung zu bestätigen, ihnen zu zeigen, dass er durch alternative
Möglichkeiten der Nahrungsreichung befriedigt werden kann.
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 58
CFO - Comfort Feeding Only
Palecek EJ et al. Comfort Feeding Only. Decision-Making Regarding Difficulty with Eating for
Persons with Advanced Dementia. JAGS 2010, 58, 580-584
Problemstellung:
• derzeit keine Evidenz, dass PEG Sonden die Mortalität, das
Aspirationsrisiko, die Überlebensqualität verbessern
• trotzdem: Zunahme d. PEG Rate bei Pat. mit Demenz
• die meisten PH Pat./Bewohner haben keine Verfügungen zum Thema
künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr
• der Verzicht auf künstliche Ernährung u. Flüssigkeitsgabe wird zu oft
als Verordnung v. Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz missverstanden
• PH fürchten Kontrollbehörden, die eine Gewichtsabnahme bei
Bewohnern als Pflegemangel sehen – PEG’s dagegen als Beweis,
dass alles gemacht wurde, um der Malnutrition zu begegnen
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 59
CFO - Comfort Feeding Only
Palecek EJ et al. Comfort Feeding Only. Decision-Making Regarding Difficulty with Eating for
Persons with Advanced Dementia. JAGS 2010, 58, 580-584
Lösungsvorschlag:
• Klare Sprachregelung, Betonung patientenzentrierter Betreuungsziele
• wenn indiziert u. v. Pat. akzeptiert: „Comfort Feeding Only“ Verordnung
• Sicherung d. Wohlbefindens d. Pat. durch individuellen Ernährungsplan:
• vorsichtige, einfühlsame Hilfe beim Essen („Hand feeding“)
• alternatives Nahrungsangebot (Fingerfood etc.)
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 60
Entscheidung zur Ernährung durch eine PEG Sonde
Angus F et al, Am J Gastroenterol 2003
• Soll auf der Basis der Beurteilung, ob sie dem individuellen Pat. einen
Nutzen bringt geschehen
• Individueller Patientennutzen ethisch durch zwei Faktoren bestimmt:
• medizinischer (objektiver) Nutzen
• Sinn u. Nutzen wie er v. Patienten bestimmt wird (ev. durch seinen
Vorsorgebevollmächtigten)
• Die ethische Verpflichtung, künstliche Ernährung anzubieten basiert auf
der medizinischen Indikation, der Durchführbarkeit im gegebenem
Rahmen und dem potentiellen Nutzen für den Patienten
• Künstliche Ernährung ist eine medizinische Therapie, sie braucht
eine medizinische Indikation, ohne diese ist der Arzt nicht
verpflichtet, sie durchzuführen, od. fortzusetzen
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 61
Entscheidung zur Ernährung durch eine PEG Sonde
Angus F et al, Am J Gastroenterol 2003
Spezielle Aspekte der Entscheidungsfindung:
• emotionelle Komponente, die das Vorenthalten der künstl. Ernährung
auch bei fortgeschrittener Demenz als „Verhungern - Lassen“
wahrnehmen lässt
• diesbezügliche ärztliche Voreingenommenheit
• Druck seitens selbst unter Druck stehender Pflegestrukturen
• PEG-Ernährung hat symbolische Bedeutung: wird (von Angehörigen)
ev. als letztes Möglichkeit, Pflege u. Zuwendung anzubieten gesehen
• religiöse Aspekte, interkulturelle Aspekte
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 62
Entscheidungsmodell zur Evaluation einer PEG-Ernährung bei
fortgeschrittener Demenz.
Nach Synofzik M. PEG-Ernährung bei fortgeschrittener Demenz. Nervenarzt 2007;78:418-428
PEG-Ernährung bei fortgeschrittener Demenz?
Individuelle Nutzen-Schadensrisiko-Abwägung
durch Palliativteam u./od. Ethik-Konsil
(Berücksichtigung einzelner Prognosefaktoren)
Nutzen > Schaden
Nutzen = Schaden
Nutzen < Schaden
Nutzen << Schaden
PEG anbieten
& empfehlen
PEG anbieten
& offen lassen
PEG anbieten
& abraten
PEG
nicht anbieten
PatientInnen-Präferenzen
PEG-Ernährung
PEG-Versuch
Orale Ernährung
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 63
Künstliche Ernährung am Lebensende?
Einige Anmerkungen...
• Die meisten Menschen die in der Terminalphase zu essen u. zu trinken
aufhören verspüren keinen Hunger und keinen Durst (ev. nur initial)
McCann RM et al. Comfort care for terminally ill patients: the appropriate use of nutrition and
hydration. JAMA, 1994; 272:1263-1266
• Die terminale Anorexie und Dehydration induzieren Ketose, Urämie und
Endorphin-Ausschüttung - dies kann als den Sterbeprozess erleichternd
betrachtet werden
• Die terminale Anorexie und Kachexie (z.B. bei Krebs) sind größtenteils
durch inflammatorische Zytokine ausgelöst, diese sind durch
Ernährungsintervention, wie z.B. Sondenernährung nicht beeinflußbar
Henderson CT et al. Prolonged tube feeding in long-term care: nutritional status and clinical
outcomes. J Am Coll Nutrition. 1992;11:309-325
• Trotzdem wird die künstliche Ernährung als letzte lebenserhaltende
Maßnahme abgesetzt. 25% der PH-Bewohner mit Demenz in den USA
sterben mit einer liegenden, bis zum Schluss benutzten PEG-Sonde...
Mitchell SL et al. Dying with advanced dementia in the nursing home. Arch Int
Med.2004;164:321-326
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 64
Künstliche Ernährung am Lebensende?
Einige Anmerkungen...
• Notwendige Unterscheidung zwischen nicht essen können und
nicht essen wollen
• Nicht essen wollen: möglicherweise Ausdruck eines langsamen
Abschieds vom Leben, von beginnender Todesnähe...
Ablehnung der Nahrung die letzte verbliebene Möglichkeit der
Selbstbehauptung in einer Situation, die man nicht will...
Heubel F. Lebt der Mensch vom Brot allein? Ethik Med. 2007;19:55-56
• Der Verlust der Kontrolle über die eigenen Lebensumstände ist
etwas, was man anscheinend mehr fürchtet als Schmerz, als das
Sterben. Möglicherweise induziert ein gewisser sozialer Druck die
Nahrungsablehnung als einen nicht ganz so selbst gewählten Weg.
• Die Sondenernährung zu beenden ist viel schwieriger, als sie nicht
zu beginnen, obwohl es ethisch und juridisch gleichwertige
Entscheidungen sind...
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 65
PEG - Empfehlungen für die Praxis
nach Mitchell SL et al. Dying with advanced dementia in the nursing home. Arch Int
Med.2004;164:321-326
• Die PEG soll nicht angewandt werden um einer Diskussion über
Prognose und Zweck der Betreuung und Pflege auszuweichen
• Ärzte sollten eine PEG nur auf Basis von auf Evidenz basierten
Indikationen empfehlen, anordnen bzw. durchführen
• Ärzte sind nicht verpflichtet sinn- und nutzlose therapeutische
Maßnahmen durchzuführen - auch nicht auf Wunsch von Patienten,
Angehörigen, Kollegen...
• Um die übermäßige Rate an PEG einzudämmen sind zu empfehlen:
• Evidenz-basierte Empfehlungen
• Palliativ- und Ethik-Konsultationen
T.Frühwald, 28.November 2011
Seite 66
Danke!
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