InldusionjExklusion Sina Farzin (M.A.) ist Fellow an der Graduate School of Social Sciences, Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Sozialtheorie, Gesellschaftstheorie und Systemtheorie. SrNA FARZIN Inklusion/Exklusion Entwicklungen und Probleme einer systemtheoretischen Unterscheidung [transcript] Drucklegung mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Akademikerinnenbundes Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: II dnb.ddb.de abrufbar. © zoo6 transcript Verlag, Bietefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Kai Reinhardt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-36r-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Inhalt Einleitung .. ................................ .. ... ... ........................... .................... 7 I. Psychische und soziale Systeme .............................................. 1. Autopoiesis und Sinn: gemeinsame Grundlage psychischer und sozialer Systeme ............................ ................ 2. Strukturelle Kopplung und Interpenetration ......................... 3. Inklusion/Exklusion ................................................................... 4. Individuum und Gesellschaft .................................................... 5. Polykontexturale Adressen und Individualisierung durch Inklusion ........................................................................... 6. Zusammenfassung ...................................................................... 13 II. InklusionjExklusion in der modernen Gesellschaft .......... 1. Inklusion und funktionale Differenzierung ............................ 2. Exklusion und funktionale Differenzierung ........................... 3. Funktionale Differenzierung und soziale Ungleichheit ........ 4. Inklusionsvermittlung und funktionale Differenzierung ..... 5. Inklusion/Exklusion in der Weltgesellschaft .......................... 6. Zusammenfassung ...................................................................... 14 19 22 24 32 37 39 40 49 60 67 75 85 111. Die Form Inklusion .................................................................. 1. Der Begriff der Form ................................................................... 2. Die Asymmetrie der Form Inklusion ....................................... 3. Implizite und explizite Exklusion ............................................. 4. Inklusion/Exklusion in sozialen Systemen ............................. 5. Der Mensch in sozialen Systemen ............................................ 6. Zusammenfassung ...................................................................... 89 90 94 98 100 103 107 Abschließende Betrachtung .......................................................... 109 Literaturverzeichnis ........................................................................ 115 Einleitung >>Inklusion bedeutet, daß alle Funktionskontexte für alle Teilnehmer des gesellschaftlichen Lebens zugänglich gemacht werden[ ... ].<< Evolution und Geschichte, 1975 >>Inklusion liegt [... ] immer dann vor, wenn ein autopoietisches psychisches System, das auf der Basis von Bewußtheit operiert, seine Eigenkomplexität zum Aufbau sozialer Systeme zur Verfügung stellt.<< Individuum, Individualität, Individualismus, 1989 »Inklusion (und entsprechend Exklusion) kann sich nur auf die Art und Weise beziehen, in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden.<< Inklusion und Exklusion, 1995 Drei Zitate aus drei Aufsätzen Niklas Luhmanns spannen das Feld auf, das im Folgenden untersucht werden soll. Es wird um die Bestimmung der Differenz Inklusion/Exklusion innerhalb der hier verhandelten Form der soziologischen Systemtheorie gehen. Dabei, und soviel wird schon in diesen kurzen Auszügen deutlich, kann nicht von einer kontinuierlichen und geschlossenen Begriffsentwicklung gesprochen werden. Je nach thematischem Fokus und theoretischem Interesse ergeben sich in der über 20-jährigen Geschichte der Ausarbeitung des Inklusions-/Exklusionskonzepts unterschiedliche Definitionen und Verwendungen. Die vorliegende Arbeit begibt sich auf die Spuren dieser Bedeutungs- und Begriffsverschiebungen innerhalb der Theorie sozialer Systeme. Und sie unternimmt dies vor dem Hintergrund einer immer weiter 8 I INKLUSION/EXKLUSION ausufernden Debatte über die analytische Verwendbarkeit der Begriffe innerhalb und außerhalb des sozialwissenschaftliehen Diskurses in den letzten Jahren. Ist in der soziologischen Systemtheorie von Inklusion/Exklusion die Rede, wird einer der am kontroversesten diskutierten Theoriebereiche berührt. Es geht, je nach eher system- oder gesellschaftstheoretischem Kontext, um das Verhältnis von psychischen und sozialen Systemen, von Individuum und Gesellschaft. Innerhalb eines Theorierahmens, der dafür berüchtigt ist, psychische Systeme außerhalb von Gesellschaft zu verorten und den Menschen am liebsten als Überbleibsel einer überholten Ganzheitsvorstellung zumindest als wissenschaftliche Kategorie zu umgehen, mag die Anstrengung überraschen, die unternommen wird, diesen Bereich theoretisch auszuarbeiten. Aber die scharfe Unterscheidung zwischen psychischen und sozialen Systemen, häufig vorgetragen in provokativen Semantiken1, ist nur der erste Schritt auf einem theoretischen Weg zu einer genaueren Fassung des schwierigen Spannungsverhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft (am Ende dieses Weges wird uns auch der Mensch wieder begegnen, allerdings unter neuen theoretischen Vorzeichen). Inklusion/Exklusion beginnt eine entscheidende Rolle zu spielen ab dem Punkt, an dem durch die Umstellung auf einen autopoietischen Systembegriff die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen psychischen und sozialen Systemen neu gefasst werden müssen. Von hier aus wird die Unterscheidung auf verschiedenen Ebenen der Theoriearchitektur eingeführt und, teilweise parallel, in verschiedenen Deutungen verwendet. Das führt in den auf Luhmanns Ausarbeitungen aufbauenden Weiterentwicklungen der Inklusions-/Exklusionsthematik zu unterschiedlichen Ansätzen, welche die verschiedenen Bedeutungskontexte der Differenz nicht immer erwägen. Diese Diffusion wird sowohl aus theorieinternen als auch -externen Gründen noch angefeuert. Innerhalb der Arbeiten Luhmanns kommt der Inklusions-/Exklusionsthematik besonders in den späten Schriften eine zentrale Stellung zu. Vor dem Hintergrund eigener Aufenthalte in den Favelas Brasiliens formuliert Luhmann 1 I Vgl. das anscheinend in keiner Einführung zu umgehende Zitat: >>Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren. << Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, FrankfurtjM.: Suhrkamp 1990, S. 30. EINLEITUNG I 9 theoretische Entwürfe, welche die biographische Erschütterung auch sprachlich widerspiegeln.2 Zudem treten in diesen Abhandlungen Kategorien in den Vordergrund, die bis dahin in der Systemtheorie gegen wesentliche Widerstände aus anderen theoretischen Richtungen als unerheblich betrachtet wurden. Die Rede ist von Raum und Menschen, deren Wiedereinzug in das Vokabular der Systemtheorie sich in dieser späten Phase in Luhmanns Schriften vollzieht.3 Neben diesen Irritationen, die sich aus dem Rahmen der soziologischen Systemtheorie ableiten, gewinnt die Thematik auch vor einem weiteren, zunächst außerwissenschaftlichen Hintergrund an Brisanz. In Frankreich wird Mitte der 1970er Jahre im sozialpolitischen Zusammenhang der Exklusionsbegriff in die öffentliche Debatte eingeführt und besetzt dort sehr erfolgreich die Funktion einer neuen Sammelkategorie für sozial als problematisch angesehene Existenzweisen. 4 Der Erfolg des Terminus Exklusion liegt dabei sicherlich auch in der Radikalität suggerierenden Semantik begründet: nicht mehr arm, nicht mehr am Rande der Gesellschaft, nicht mehr der Unterschicht angehörig, sondern exkludiert, ausgeschlossen, unsichtbar. Aus dem öffentlichen Diskurs wird der Begriff dann übernommen in die soziologische Forschung, zunächst in Frankreich, später dann auch in Deutsch- 2 I Vgl. zur Analyse der literarischen Ausdrucksform in Luhmanns Aufsatz Jenseits von Barbarei: Balke, Friedrich: Tristes Tropiques. Systems Theory and the Literary Scene, in Sozial Systeme 8 (2002), S. 27-37. 3 I Was von Kritikern der Theorie nicht ohne Genugtuung kommentiert wurde. Vgl. Esser, Hartmut: Inklusion und Exklusion- oder: die unvermutete Entdeckung der leibhaftigen Menschen und der Not in der Welt durch die soziologische Systemtheorie, in: Oskar Niedermeyer/Bettina Westle (Hg.): Demokratie und Partizipation, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 407-416. 4 I Als exkludiert charakterisiert werden bspw. Arme, körperlich Behinderte, psychisch Kranke, alleinerziehende Eltern. Zu weiteren Beispielen und zur Begriffsgeschichte allgemein Stichweh, Rudolf: Inklusion/Exklusion, funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft, in: Soziale Systeme 3 (1997), S. 123-136, hier S. 123-125. Für eine Abgrenzung dieser französischen Begriffstradition gegen das in Aspekten korrespondierende angelsächsische Konzept der >>underclass<< siehe Bude, Heinz: Das Phänomen der Exklusion. Der Widerstreit zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und soziologischer Rekonstruktion, in: Mittelweg 36, H. 4 (2004), S. 3-15, hier S. 7-9. 10 I INKLUSION/EXKLUSION land.s In den systemtheoretischen Arbeiten, die an diese Debatte anschließen, vermengen sich dabei häufig die schon an sich nicht kohärenten Begriffssetzungen innerhalb der eigenen, durch Luhmann geprägten Theorie und die vielfältigen inner- und außersoziologischen Auseinandersetzungen. Um diese Verwirrungen aufzuheben, sollen im Verlauf der Argumentation die drei zentralen Lesarten der Differenz Inklusion/Exklusion in ihrer Beziehung zur gesamten Theorie nachgezeichnet werden. Unterschieden wird dabei in drei Einheiten, die jeweils andere theoretische Schwerpunkte bilden: die systemtheoretische, die differenzierungstheoretische und die kommunikationstheoretische Ausarbeitung von Inklusion und Exklusion. 6 Diese drei Theorieebenen bestimmen die Definition der Differenz Inklusion/Exklusion zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Entwicklung verschieden stark, werden aber von Luhmann selbst nie systematisch unterschieden. Sie greifen ineinander, werden teilweise parallel ausgeführt und stützen oder widersprechen sich dabei. Die hier verfolgte Trennung ist also eine analytische, die Textzusammenhänge unterbricht und Argumentationslinien über lange Ausarbeitungsphasen konturiert, um die unterschiedlichen Bedeutungshorizonte zu entfalten. Zunächst soll in Hinsicht auf die >>autopoietische Wende<<, die Luhmann 1984 mit Veröffentlichung des Bandes Soziale Systeme vollzieht, aufgezeigt werden, wie die grundlegenden systemtheoretischen Annahmen zu einer Reformulierung des Verhältnisses zwischen psychischen und sozialen Systemen führen, in deren Folge die Unterscheidung Inklusion/Exklusion in die Theorie eingeführt wird. Mit dem Konzept der Exklusionsindividualität, das daraufhin näher bestimmt wird, vollzieht sich der Übergang zu 5 I Besonders ausführlich in der über mehrere Ausgaben geführten Debatte in der Zeitschrift Mittelweg 36, die sich an einen Artikel Robert Casteis anschloss. Vgl. Castel, Robert: Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs, in: Mittelweg 36, H. 3 (2000), S. 11-25. 6 I Diese Einteilung baut auf die Unterteilung bei Markus Göbel/Johannes F.K. Schmidt in eine sinntheoretische, eine gesellschaftstheoretische und eine differenztheoretische Fassung auf. Die hier gewählten Bezeichnungen ergeben sich aus dem Versuch, die Einbindung in die gesamte Theorie unter den verschiedenen Aspekten herauszustellen. Vgl. Göbel, Markus/Schmidt, Johannes F.K.: Inklusion/ Exklusion. Karriere, Probleme und Differenzierungen eines systemtheoretischen Begriffspaars, in: Soziale Systeme 4 (1998), S. 87-118. EINLEITUNG I 11 einer Neufassung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Im zweiten Kapitel ändert sich dann die Blickrichtung auf das Verhältnis zwischen Inklusion/ Exklusion und der Differenzierungsform der Gesellschaft. Dabei wird es zunächst um den Begriff der Inklusion gehen, den Luhmann von Parsons übernimmt und in seinen Überlegungen zur gesellschaftlichen Evolution funktionaler Differenzierung zunächst differenzlos verwendet. Erst mit Blick auf Phänomene massenhaften Elends in der modernen Gesellschaft beginnt Luhmann in seinem Spätwerk die Ausarbeitung von Exklusion als Gegenbegriff. Im Fokus der Analyse steht dann das Verhältnis von Differenzierungstheorie und Ansätzen der soziologischen Ungleichheitsforschung, ein Bereich also, dem bis dahin kein zentrales systemtheoretisches Interesse zukam. Damit betritt die Systemtheorie das weite Feld der soziologischen Diskussion um Ausmaß und Qualität sozialer Ungleichheiten oder Ausgrenzungen unter den Bedingungen fortschreitender Modernisierung. Inwiefern es gelingt, die Unterscheidung Inklusion/Exklusion zur Erklärung von sozialer Marginalisierung anzuwenden und welche theorieimmanenten Probleme dabei entstehen, soll hier dargelegt werden. Während dieser Diskussionszusammenhang in den letzten Jahren intensiv ausgearbeitet wurde, beschäftigt sich das dritte Kapitel mit einer innerhalb der Systemtheorie sehr jungen Debatte um die Unterscheidung Inklusion/Exklusion als Form. Hier steht die Differenz selbst in ihrer Qualität als Differenz im Zentrum der Überlegungen. Inklusion oder Exklusion kann systemtheoretisch nur als kommunikative Operation formuliert werden, was die Frage nach den besonderen Eigenschaften inkludierender oder exkludierender Kommunikationen in den unterschiedlichen Arten sozialer Systeme aufwirft. Abschließend wird dann dargelegt werden, unter welchen Bedingungen sich an dieser Theoriestelle der Wiedereintritt des Menschen in das Theorievokabular vollzieht. Am Ende der Argumentation soll also deutlich sein, welche Entwicklungen die Begriffsgeschichte von Inklusion und Exklusion in der soziologischen Systemtheorie vollzieht. Grundlage sind dabei die verschiedenen Ansätze innerhalb der Arbeiten Luhmanns und ihre Weiterentwicklung innerhalb des systemtheoretischen Forschungsprogramms. Auf die zahlreichen weiteren soziologischen Ansätze, die den Gegenstand der sozialen Inklusion und Exklusion bearbeiten, kann im Rahmen der hier verhandelten