Sport und Gesundheit: gesellschaftliche und ökonomische

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Sport und Gesundheit:
gesellschaftliche und ökonomische Perspektiven
Martin Elbe, Timo Schädler, Johann-Wilhelm Weidringer und Christian Werner
Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden zentrale gesellschaftliche und ökonomische Perspektiven von Sport
und Gesundheit miteinander verknüpft. Sport und Gesundheit sind komplexe und vielschichtige
Prozesse, die sich wechselseitig beeinflussen. Der positive Einfluss von körperlicher Aktivität auf
die Gesundheit gilt als unbestritten, dennoch zeigt sich das Bewegungsverhalten der Menschen
großen Schwankungen unterworfen. Ein großer Teil der gesundheitsorientierten Sportprogramme
findet in Vereinen statt, wo wichtige sozialintegrativen Einstellungen und Kompetenzen erworben
werden, z. B. in der Übernahme eines Ehrenamts. Neben Modernisierungstendenzen sollten
Vereine auch auf gesellschaftliche Entwicklungen der Individualisierung und Ausdifferenzierung
verschiedener Lebensstile reagieren.
Schlüsselwörter: Sport, Bewegung, Gesundheit, Gesundheitssystem, soziale Integration,
Ehrenamt.
Abstract
This paper deals with the interconnection of social and economic perspectives of sport and health.
Sport and health are described as complex, multilayered and interdependent processes. The
positive effects of physical activity on health are common sense, however, the peoples’ activities
are subject to large scale fluctuations. A great part of health-oriented sports programs take place
in sport clubs, where useful attitudes and skills of social inclusion might be acquired, e. g. via
voluntary work. Sport clubs have to face the pressure of modernization as well as processes of
individualization and differentiation of various lifestyles.
Keywords: sports, physical activity, motion, health, heath care system, social inclusion, voluntary
work.
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Zeitschrift für Gesundheit und Sport
Problemstellung
Es ist ein alter Traum der Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften, eine Kennzahl zu
bestimmen, die das Maß menschlicher
Bedürfnisbefriedigung angibt. Wäre das
gesichert möglich, dann ließe sich – je nach
Denkmodell – auch das Wohlbefinden der
Menschen optimieren. Bekanntermaßen ist
aber die Bestimmung eines sozial-ökono­
mischen Optimums ebenso willkürlich wie die
Erstellung von Glücksindizes. Das Problem
hierbei ist, dass die Menschen kaum Einigkeit
darüber erzielen können, welche Werte denn
nun allgemein gültig zu sein haben: Materieller
Wohlstand? Erfolg? Glück? Gesundheit?
Gesundheit scheint unter den beispielhaft
angeführten Kriterien das am einfachsten
Bestimmbare zu sein: Gesundheit ist die
Abwesenheit von Krankheit – so lautet stark
verkürzt bekanntlich eine mögliche Definition.1
Aber auch diese negative Definition von
Gesundheit hilft nicht wirklich weiter, denn
nun stellt sich die Frage: Was ist krank? Die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat
versucht, dieses Problem dadurch zu lösen, dass
sie eine positive Definition von Gesundheit
vorschlug: Gesundheit ist „… ein Zustand
vollkommenen körperlichen, psychischen
und sozialen Wohlbefindens und nicht allein
das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“
(Ulich & Wülser, 2005) Diese Definition
von Gesundheit als Utopie war weder für die
Wissenschaft noch für die Praxis eine große
Hilfe. Seit gut 25 Jahren vertritt die WHO daher
die Auffassung, dass Gesundheit die Fähigkeit
und Motivation sei, ein wirtschaftlich und
sozial aktives Leben führen zu können. Mit
der Ottawa-Charta der WHO von 1986 wird
die Gesundheitsvorstellung somit explizit auf
Einen komplexeren Zugang zur Gesundheit stellen wir mit
dem Salutogeneseansatz nach Antonovsky (1997) später
vor.
1
Heft 1/2011 den wirtschaftlichen und sozialen Kontext
bezogen (Ulich & Wülser, 2005). Mittlerweile
werden in Gremien der WHO zur umstrittenen
Fortschreibung der Gesundheitsdefinition auch
Aspekte zur Ausformulierung zeitgenössischer
wie perspektivisch gültiger Dimensionen
von u. a. Ethik und Migration diskutiert.
Der Grad der Gesundheit einer Gesellschaft
lässt sich nach dieser Vorstellung anhand der
gesellschaftlichen Teilhabe, insbesondere
am Arbeitsprozess, bestimmen. Neben
dem Ausmaß an grundsätzlicher Teilhabe
an der Erwerbsgesellschaft (für die die
Arbeitslosenstatistik eine gute Maßzahl liefert,
wobei eine deutlich positive Korrelation
zwischen Arbeitslosigkeit und Krankheit
besteht), zeigen hierbei insbesondere die
krankheitsbedingten Fehlzeiten an, wie gesund
(also wirtschaftlich und sozial aktiv) die
Menschen in einer Population sind.
Die Arbeitslosenquote in Deutschland
liegt im Jahr 2011 bei ca. 7 % – dieser
vergleichsweise niedrige Wert deutet auf ein
hohes Maß an gesellschaftlicher Teilhabe
und damit Gesundheit in Deutschland hin.
Aber: Diejenigen, die Arbeit haben, sind
nicht automatisch gesund. Im Durchschnitt
aller Branchen sind Arbeitnehmer zwölf Tage
im Jahr krank gemeldet, wobei die Dauer
der Krankmeldungen vom 15. bis zum 65.
Lebensjahr kontinuierlich ansteigt (baua, 2011).
In zahlreichen Berufen steigen speziell nach
dem 50. Lebensjahr die krankheitsbedingten
Fehlzeiten stark an. Dies wird sich aufgrund
des demographischen Wandels in den nächsten
Jahren noch deutlich verstärken, wobei
insbesondere chronische Krankheiten vielfach
bis zum Verlust der Erwerbsfähigkeit führen
können (Badura & Wagner, 2008). Betrachtet
man die krankheitsbedingten Fehlzeiten
nach Diagnosen, dann fällt auf, dass die
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und
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Elbe, Schädler, Weidringer & Werner
des Bindegewebes mit 23,7 % der Fälle die mit
Abstand häufigste Diagnosegruppe ist (baua
2011). Neben den Erkrankungen des Stützund Bewegungsapparats, sind insbesondere
Atmungssystem-, Herz-Kreislauf- sowie
Stoffwechsel-Erkrankungen häufige Ursachen
für Arbeitsunfähigkeit.
Aber auch psychische Erkrankungen zählen
mit 9,3 % zu den häufigsten Ursachen,
wobei zu beachten ist, dass zwischen physi­
schen und psychischen Erkrankungen
(insbesondere Depression, Burn-out und
psychosomatischen Erkrankungen) vielfach
ein enger Zusammenhang besteht. „Ursächlich
dafür sind vor allem Wechselwirkungen
zwischen unspezifischen Einflüssen, wie
zum Beispiel chronischem Stress oder
mangelhafter sozialer Integration, und
krankheits­spezifischen
Risikofaktoren,
wie etwa Rauchen, Bewegungsarmut oder
körperliche Fehlbelastung.“ (Badura &
Wagner, 2008). Ausgehend von rund 27
Millionen Pflicht- und freiwillig Versicherten
der Gesetzlichen Krankenversicherung schätzt
die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und
Arbeitsmedizin für das Jahr 2009 insgesamt
459,2 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage und
damit einen Ausfall an Bruttowertschöpfung
von 75 Milliarden Euro (baua, 2011).
Während also der Anteil derjenigen, die
aufgrund von Arbeitslosigkeit in Gesundheit
und gesellschaftlicher Teilhabe deutlich
eingeschränkt sind, einen relativ niedrigen
Wert erreicht hat, ist festzustellen, dass
auch diejenigen, die aktiv am Erwerbsleben
teilnehmen, gesundheitliche Einschränkungen
erfahren
und
im
Gesundheitssystem
Kosten verursachen. Natürlich stehen dem
wiederum Leistungen gegenüber, die das
Gesundheitssystem erbringt – Krankheit
verursacht eben nicht nur Kosten, vielmehr
sind Krankheit und Gesundheit selbst ein
wichtiger Wirtschaftsfaktor.
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Während
das
Hauptaugenmerk
im
Gesundheits­­system bisher primär auf Heilung
und Wiedereingliederung (Kuration und
Rehabilitation) lag, tritt die Prävention in den
letzten Jahren zunehmend in den Vordergrund.
Präventionsmaßnahmen haben den Vorteil
das Auftreten von Krankheit zu verhindern,
also direkt zur Gesundherhaltung beizutragen.
Dieser Perspektive widmet sich auch der
Ansatz der Salutogenese (Antonovsky,
1997), der davon ausgeht, dass Menschen
durch Steigerung ihres Kohärenzsinns
(Bedeutsamkeit, Sinnhaftigkeit und Handhab­
barkeit der alltäglichen Lebenswelt) ihr
individuelles Gesundheitsempfinden steigern
können. Aus dieser Perspektive ist Gesundheit
als lebenslange Funktion und nicht als
momentaner Zustand zu bewerten – aus volks­
wirtschaftlicher Sicht geht es damit um die
Optimierung von Gesundheitsleistungen und
-kosten im Lebensverlauf via Prävention,
Kuration, Rehabilitation. Eine Schlüsselrolle
kommt in allen drei Aspekten der Gesundheit
der Bewegung, genauer: dem Sport zu.
Relevanz: Sport und Gesundheit
Sport ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor
geworden, der in Deutschland 1,4 % des
Brutto­inlandprodukts ausmacht, damit z.
B. die Textilindustrie in ihrer Bedeutung
überholt hat, und etwa 700.000 Arbeitsplätze
bereitstellt (DOSB, 2006). In Anbetracht der
demographischen Entwicklung und Zunahme
chronischer Erkrankungen stehen immer
stärker Maßnahmen gesundheitsbewusster
regelmäßiger Bewegung, wie sie insbe­
sondere über die Sportvereine angeboten
werden, im Mittelpunkt. Laut der WHO
sparen körperlich aktive Menschen dem
Gesundheitssystem ca. 500 Euro pro Jahr,
wobei Gutachten belegen, dass generell ca.
40 % der Kosten im Gesundheitssystem
Zeitschrift für Gesundheit und Sport
Sport und Gesundheit: gesellschaftliche und ökonomische Perspektiven
verhaltens­bedingt entstehen. Neben falscher
Ernährung und Genussmittelmissbrauch ist
Bewegungsmangel einer der wichtigsten
Faktoren. „Volkswirtschaftler sprechen von
bis zu 30 Mrd. Euro, die in Deutschland über
Bewegungsprogramme eingespart werden.
Sportvereine leisten mit ihren Programmen
zur
gesundheitlichen
Prävention
und
Rehabilitation einen bedeutenden Beitrag
zur Förderung der Volksgesundheit und zur
Entlastung des Sozialstaates“ (DOSB, 2006).
Politik und Wissenschaft versuchen seit
einigen Jahren dem Bewegungsmangel
entgegenzusteuern. Allerdings zeigt sich das
Bewegungsverhalten bei vielen Menschen als
eine Verhaltensweise, die über die gesamte
Lebensspanne hinweg betrachtet starken
Schwankungen unterworfen ist und meist nicht
als ein Verhalten mit lebenslanger Routine
angesehen werden kann (vgl. Schwarzer,
2004; Woll, 2004; Fuchs, 2003). Insbesondere
Veränderungen individueller Zeit- und
Finanzbudgets, die oft mit Berufseinstieg
oder Familiengründung verbunden sind,
werden als kritische Phase mit einer hohen
Ausstiegswahrscheinlichkeit (Drop-out) für
die sportliche Betätigung angesehen.
Hingegen steigt Studien zufolge mit dem
Eintritt in das Rentenalter die Bereitschaft
für den Beginn einer körperlichen Aktivität
an (Breuer & Wicker, 2007). Als Reaktion
auf die Umkehrung der Alterspyramide sind
gerade der Seniorensport und die Zielgruppe
50+ bei den Sportanbietern in den Fokus
gerückt. Das Bewegungsverhalten ist also ein
motivationaler Prozess mit Unterbrechungen,
Entscheidungen
und
Neuorientierungen
(Schwarzer, 2004; Woll, 2004). Sportliche
Aktivität oder Inaktivität geht in hohem
Maß aus den gemachten Erfahrungen und
früheren Verhalten hervor (Woll, 2004). Wer
bereits einmal an einem Trainingsprogramm
teilgenommen hat, wird auch später
wahrscheinlich erneut an einem Programm
teilnehmen. Demnach ist „frühere Aktivität
[…] ein guter Prädikator für spätere Aktivität“
(Schwarzer, 2004).
Oftmals spielen der Spaß an der Ausübung, das
anschließende Wohlbefinden oder die soziale
Anerkennung in der Bezugsgruppe eine größere
Rolle als das Wissen um die gesundheitlichen
Wirkungen von Sport (Schwarzer, 2004). Das
Gesundheitsmotiv wird als Begründung für die
sportliche Betätigung zwar häufig angegeben,
ist aber als alleiniger Beweggrund oftmals
keine stabile Motivationsgrundlage (Fuchs,
2003). Das gemeinsame Sporterlebnis, das
Erleben von Sport steht mit im Vordergrund
und dieser sozial-integrativen Wirkung ist sich
der Sport sehr wohl bewusst.
Erst mit zunehmendem Lebensalter steigt auch
das Gesundheitsmotiv signifikant an (Breuer
& Wicker, 2007), wobei generell sportlich
Inaktive Gesundheit als Motiv angeben
(Bös & Brehm, 2003), auch wenn dies nicht
zwangsläufig zur Handlungsauslösung führt.
Der Verein: Integration und Sport
Speziell in Deutschland wurde sportliche
Aktivität lange Zeit mit der Mitgliedschaft
in einem Sportverein gleichgesetzt und
bereits 1995 erklärte der Dachverband die
Förderung von „Sport und Gesundheit“ zur
zentralen gesundheitspolitischen Aufgabe der
angeschlossenen Verbände und Vereine (Bös
& Brehm, 2003). Sportvereine dienen dabei
nicht nur der direkten Gesundheitsförderung
ihrer Mitglieder durch Bewegung sondern
auch der sozialen Förderung durch Integration
und damit einer gesundheitsförderlichen
Teilhabe an der Gesellschaft. Der Sportverein
biete benachteiligten Gruppen, Menschen
mit Migrationshintergrund, Ausländer/innen,
aber auch bildungs- und partizipationsfernen
Schichten eine Möglichkeit zum Erwerb
Elbe, Schädler, Weidringer & Werner
des Sozialkapitals und somit zur sozialen
Integration. Vorstellungen vom Sportverein als
Sozialstation zur Linderung gesellschaftlicher
Desintegrationsprozesse
gehören
zum
Standardvokabular der staatlichen und
verbandlichen Sportpolitik und werden
generationsübergreifend postuliert. Warum
wird dem organisierten Sport seit Jahrzehnten
solch eine hohe Integrationsfunktion und
soziale Bedeutung zugemessen?
Der organisierte Sport stellt in Deutschland
nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch
eine zentrale Quelle sozialen Kapitals dar –
mit über 90.000 Vereinen und rund 28 Mio.
Mitgliedern (Breuer & Wicker, 2010) ist er
die erfolgreichste Freiwilligenorganisation
Deutschlands. In diesem Sinne wird in der
Literatur das Argument der „großen Zahl“
geführt, d. h. je größer die Zahl der im
Sport organisierten Personen, desto höher
die Gemeinwohlorientierung. Anders als
andere kulturelle und soziale Vereinigungen
ermögliche insbesondere der Sportverein eine
aktive Beteiligung, ein geselliges Miteinander,
ein freiwilliges Engagement seiner Mitglieder/
innen und dadurch die Aneignung neuen
Wissens, neuer Fertigkeiten und Kompetenzen,
die auch in andere soziale Lebenswelten
hineinreichen können.
Vor, während und nach dem Sporttreiben
ergeben sich zahlreiche Kontaktmöglichkeiten,
d. h. in der Regel (Gesprächs-)Situationen,
die einem sozialen Gefüge förderlich
sind. Besonders Spielsportarten knüpfen
erstens an die traditionellen Formen der
Zusammengehörigkeit an und fordern
zweitens den Mannschafts- oder Teamgeist,
die „organisierte Kollektivität“ (Auernheimer,
1988). Ferner gelten Sportvereine als Orte der
Geselligkeit, in denen neben dem eigentlichen
Sportangebot
Feste
(Saisoneröffnung,
Weihnachtsfeier, Sportlerehrung etc.) oder
ganz einfach das „gemeinsame Bier nach
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dem Sport“2 regelmäßige Interaktionen der
Mitglieder auf formelle und informelle Art und
Weise fördern.
Aufgrund der weitgehend freiwilligen
Mitgliedschaft biete der Sportverein eine
Fülle von Sozialisationsgelegenheiten zur
„selbsttätig-produktiven Konstitution von
Persönlichkeit“ (Cachay & Thiel, 2000).
Kinder und Jugendliche bauten hier in
Kommunikation mit den anderen Mitgliedern
ein erstes vielfach lebenslang prägendes
Fundament
von
Situationsdefinitionen,
Erwartungs­typisierungen, Norm- und Wert­
orientierungen,
Handlungsmustern
und
Einstellungen auf (Hurrelmann, 2006; Bös &
Brehm, 2003).
Sportintegration
und
-sozialisation
könne gesellschaftliche und indivi­du­
elle Fehlentwicklungen, bedingt durch
Eingliederungsbzw.
Integrations­
schwierigkeiten oder auch sozialisatorischen
Brüchen wie anhaltender Arbeitslosigkeit
kompensieren und dabei unterstützen, dass
im Sport erworbene Einstellungen und
Kompetenzen (z. B. Fairplay, Toleranz,
Team­geist etc.) sich auch in anderen Lebens­
bereichen wie Schule, Ausbildung, Ehe
und Familie niederschlagen. Insgesamt
könne Sport also integrationsfördernd
und persönlichkeitsbildend (z. B. durch
Entwicklung moderner bzw. demokratischer
Geschlechtsidentitäten) wirken. Sportvereine
sozialisieren somit auch für den Beruf und tragen
dadurch (speziell in der Phase der sekundären
Sozialisation) zu einem gesundheitsorientierten
Lebensstil junger Menschen bei, der dann
auch in der betrieblichen Sozialisation im
Erwachsenenalter weiter wirkt (Elbe, 1997).
Sportvereine sind nach den bisherigen
Funktionszuschreibungen anscheinend in
der Lage, doppelte Integrationsleistungen
zu erbringen. Die beiden genannten
Wenn alkoholfrei, dann durchaus auch im Sinne eines
Elektrolytersatzes physiologisch wertvoll.
2
Zeitschrift für Gesundheit und Sport
Sport und Gesundheit: gesellschaftliche und ökonomische Perspektiven
Perspektiven auf die Integrationsleistungen
von Sportvereinen (Integration im und
durch Sport) basieren mitunter auf ähnlichen
Argumentationsmustern: Sie böten erstens
einen geeigneten sozialen und organisatorischen
Rahmen für die Realisierung von Vorstellungen
ihrer Mitglieder. Die Mitglieder integrieren
sich in die Gemeinschaft und binden sich
an die Organisationen. Zweitens könnten
Sportorganisationen zur Vergesellschaftung
ihrer Mitglieder beitragen, d. h. die Mitglieder
erwerben durch die Partizipation im Verein
auch habitualisierte Dispositionen, die sie
auf andere gesellschaftliche Handlungsfelder
übertragen könnten. Der organisierte Sport stellt
quantitativ nach wie vor den bedeutsamsten
Träger ehrenamtlichen Engagements in
Deutschland dar. Insgesamt engagieren sich
in den Sportvereinen Mitglieder in 1,85 Mio.
ehrenamtlichen Positionen, davon 0,85 Mio.
auf der Vorstandsebene und 1,0 Mio. auf der
Ausführungsebene (Breuer & Wicker, 2010).
Jedoch hat die Diskussion um neue Formen
des freiwilligen Engagements seit einigen
Jahren Konjunktur. Dabei ist beim Ehrenamt
sowohl eine individuelle Ebene (persönliche
Bereicherung und Verwirklichung) als auch
eine organisationale Ressource (Arbeitskraft)
zu sehen. Es lässt sich feststellen, dass die
Vereinsarbeit nicht mehr nur ausschließlich
durch das ehrenamtliche Engagement der
Mitglieder, sondern teilweise auch von
bezahlten Mitarbeitern getragen wird. Schon
Mitte der 80er Jahre kommt Anders (1984) in
seiner Sportvereinsanalyse zu der Feststellung,
dass die ehrenamtliche Führung als zentrales
Strukturelement nicht letztlich aufgrund der
gewandelten Bedürfnisse der Sportreibenden,
des zunehmenden Aufgabenkatalogs der
Vereine und gewandelter Anforderungen an
den Verein, mehr und mehr zurück gehen
wird und eine weitere Entwicklung vermehrt
hauptamtliche Mitarbeiter in den Vereinen
Heft 1/2011 erfordert. Dieser Professionalisierungsdruck
der Sportorganisationen (Horch, 1999)
zwinge die Vereine und Verbände, mehr
Hauptamtliche einzustellen und das bereits
vorhandene Personal in Ehren- und Hauptamt
zu qualifizieren, wenn sie Wachstumschancen
wie stärker professionalisierte Organisationen
nutzen wollten.
Der Professionalisierungs- bzw. Modernisie­
rungs­druck kommt einer Vermarktlichung
der
Sportorganisationen
„von
oben“
gleich (Nährlich, 2000), die einerseits zu
Entkoppelungsprozessen zwischen Indivi­
duum und Organisation im Sinne eines
Managements von Ungewissheit (Elbe,
2011) und andererseits zu einer zunehmenden Dienstleistungsorientierung führt (Dürr,
2008), wodurch die Vereine ihre sozialintegrative Funktion verlören. Mitglieder würden zu
Kunden, das Verhält­nis untereinander distanzierter und im Verhältnis zum Verein rationalkalkuliert, sachbezogener. Sportorganisationen
müssten sich entscheiden, um entweder als
„strikt marktorientierte und hoch-professionalisierte
Dienstleistungsunternehmen“,
oder aber als „primär sozial-kulturell
orien­tierte Gemeinschaften mit geringem
Professionalisierungsgrad und rudimentärer
Marktorientierung“ (Zimmer, 1997) zu bestehen. Mittlerweile hat die Praxis bewiesen,
dass insbesondere kleine Vereine von ihren
Mitgliedern getragen werden und auch ohne
marktwirtschaftliche Ausrichtung überlebensfähig sein können.3
Zum anderen kommt es zu einem
Modernisierungsdruck „von unten“ im Sinne
einer Wahrnehmungsänderung des Ehrenamts
(Zimmer & Priller, 2007, 1997). Ein
Wertewandel im Ehrenamt hin zur stärkeren
Aus steuerrechtlicher Sicht ist hier der Aspekt der Gemeinnützigkeit von erheblicher Bedeutung, ebenso der sog.
„Übungsleiterfreibetrag“ von bis zu 2.100 Euro p. a. gem.
§ 3 Artikel 26, EStG, der damit einen deutlichen Anreiz für
sportförderndes, ehrenamtliches Engagement in Vereinen
liefert.
3
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Elbe, Schädler, Weidringer & Werner
Bedeutung von Selbstverwirklichung und
zu einer Pluralisierung des Lebensstils ist
auszumachen, welcher entscheidenden Einfluss
auf die ausgeübten Tätigkeiten hat. Das
Ehrenamt wird als ein Medium für Prozesse
von Selbstverwirklichung und Selbstfindung
betrachtet, das sich in die jeweils biographische
Phase des Einzelnen einfügt. In der Sportpraxis
zeigen sich auch hier Tendenzen, dass die
Übernahme eines Amtes insbesondere von
jüngeren Generationen keineswegs als
„Ehre“, sondern als „Last“ empfunden wird.
Mit den Modernisierungsprozessen und der
zunehmenden Individualisierung können
Individuen ferner auch scheitern, mit der Folge
von gesellschaftlichen Bindungsverlusten
(Beck, 1986) und zunehmender Ungewissheit
(Elbe, 2011). Gerade der Sport zeichnet gerne
ein „trauliches“ Bild von sich, in dem er in
der modernen, organisationsdurchdrungenen
Gesellschaft Marginalisierung entgegenwirkt
und mit seinen Vereinen einen Ort der Zuflucht,
Gemeinschaft und Orientierung bietet. Neben
der körperlichen Gesunderhaltung diene
der vereinsgebundene Sport damit auch der
gesellschaftlichen Integration und somit
insgesamt einer physisch-psycho-sozialen
Gesundheitsförderung.
Alltag und Individualisierung
Wie bereits angedeutet, hat sich im Zuge
der Individualisierung der Gesellschaft
eine Verschiebung der institutionellen
Bindungsbereitschaft der Einzelnen vollzogen,
die dazu führt, dass speziell unter jungen
Menschen die Bereitschaft, im Verein aktiv
zu werden, rückläufig ist. Speziell die
Sportsoziologie (z. B. Bette, 2010; Prohl
& Scheid, 2009; Heimann, 2007; Cachay
& Thiel, 2000) hat in den letzten Jahren
darauf hingewiesen, dass auch im Sport
eine zunehmende Differenzierung wirksam
Seite 12
wird und neben traditionellen Formen des
vergemeinschafteten Sports in Vereinen
zunehmend individualisierter Sport ohne
langfristig-relationale Bindung an eine
spezifische Organisation tritt. Dies hat zur
Folge, dass speziell privatwirtschaftliche
Sportangebote, z. B. in Fitness-Studios,
auf transaktionaler Vertragsbasis oder auch
Angebote zum Gesundheitssport, die teilweise
von Krankenkassen gefördert werden,
zunehmend nachgefragt werden und damit
zu einer Individualisierung der Bewegung im
Alltag beitragen. Der privatwirtschaftliche Teil
des Sportangebots vereinigt einen großen Teil
des Wachstums in der Sportbranche auf sich,
wobei Fitness als individualisiertes Angebot
eine besondere Bedeutung hat (Trosien, 2009).
Mit dieser Entwicklung werden zweierlei
Trends befördert: Zum einen wird der
Körper im Rahmen der Institutionalisierung
des Lebenslaufs (Elbe, 2011; Kohli, 2003)
selbst zur Institution und damit zum
Gegenstand von Inszenierung (Heinemann,
2007; ApuZ, 2007) und freier Gestaltung
zugänglich. Eben die Individualisierung lässt
Vergemeinschaftung des Sports im Verein
dann unattraktiv erscheinen – der Sport
wird rationalisiert zur gesellschaftlichen
relevanten Bewegung des Individuums. Damit
wird aber zugleich Gesundherhaltung zur
gesellschaftlichen Pflicht. Nicht sportlich aktiv
zu sein erscheint als Präkariatsmerkmal und
verwerflich, was weder im Einzelfall noch aus
volkswirtschaftlicher Sicht hinnehmbar sei: „…
dass sowohl aus Gründen der Volksgesundheit
als auch aus Kostengründen ein weiterer
Anstieg der Inaktivität nicht hingenommen
werden darf und die Bestrebungen zur
Erhöhung des bewegungsaktiven Anteils der
Bevölkerung hohe Priorität haben“ (Martin et
al., 2001). Allerdings weisen weniger als 20 %
der erwachsenen Bevölkerung ein hohes Maß
an wünschenswerter körperlich-sportlicher
Zeitschrift für Gesundheit und Sport
Sport und Gesundheit: gesellschaftliche und ökonomische Perspektiven
Aktivität auf (Bös & Brehm, 2003). Es gilt also
gesundheitspolitische Wunschvorstellungen
von
gesellschaftlichen
Realitäten
zu
unterscheiden.
Die positive Wirkung von gezielter Bewegung
auf die Gesundheit soll hier nicht bestritten
werden, gute Belege hierfür finden sich z. B.
in der Metaanalyse von Woll & Bös (2004),
die nachweisen, dass Gesundheitssport
einen generell positiven Effekt auf vielerlei
Erkrankungen
und
Mortalitätsursachen
hat.4 Der neue Körper-Kult hat allerdings
auch weitere Konsequenzen: Es besteht
die Gefahr, dass die Selbstinszenierung des
Körpers so dominant wird, dass hieraus
selbst Gesundheitsgefahren erwachsen. In
Zusammenhang mit aktivem Training in
Fitness-Studios weist Kläber (2010) nach,
„… wie sehr Techniken der medikamentösen
Körpermodellierung unter Ignorierung von
Gesundheitsschäden und Nebenwirkungen
bereits im modernen Alltag angekommen
sind.“ Und diese Aussage bezieht sich nicht
auf Leistungssportler!
In diesen Rahmen wirtschaftlicher und sozialer
Bedeutung von Sport und Gesundheit haben
sich die nachfolgenden Analysen zur Studie
„Wie fit ist Deutschland?“ einzuordnen.
Insbesondere ist dabei dem zunehmenden
Trend der Ökonomisierung sowohl von Sport,
als auch von Gesundheit Rechnung zu tragen.
Die
individuell
gesundheitsförderlichen
Effekte sind nicht zu bestreiten – die
gesamtgesellschaftliche Wirkung aber sehr
wohl diskutierenswert.
Nicht verschwiegen werden soll, dass ältere Metaanalysen
diesen Zusammenhang bei weitem nicht so klar nachweisen
konnten (Bös & Brehm, 2003), allerdings wurde bereits hier
die Notwendigkeit differenzierter Analysen angemahnt, wie
sie von Woll & Bös 2004 vorgelegt wurden.
4
Heft 1/2011 Literatur
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Zeitschrift für Gesundheit und Sport
Sport und Gesundheit: gesellschaftliche und ökonomische Perspektiven
Kontakt
Prof. Dr. Martin Elbe
Dipl.-Sportwiss. Timo Schädler
Prof. Dr. med. Johann Wilhelm Weidringer
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Heft 1/2011 Seite 15
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