Gefühl – Fundament für lebendige Vernunft

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ZEITSCHRIFTENARCHIV
Jan Tillmann
Gefühl – Fundament für lebendige
Vernunft
Themenzentrierte Interaktion
Gib mir mein Gefühl zurück ...
23. Jahrgang, 1/2009, Seite 27–35
Psychosozial-Verlag
28078
Jan Tillmann, Gefühl – Fundament für lebendige Vernunft
23. Jahrgang
Heft 1 · Frühjahr 2009
Jan Tillmann
Gefühl – Fundament für lebendige Vernunft
Der folgende Beitrag ist von der Grundüberzeugung getragen,
dass die Spaltung von „Kopf“ und „Bauch“ und die Herrschaft
des Ersteren über das Zweite eine Quelle von Unglück ist. Das
abendländisch-europäisch-philosophische Grundmuster hat eine
Soziokultur begründet, die auf dieser Spaltung beruht. Das hat
Europa so erfolgreich gemacht und sich gleichzeitig katastrophal
ausgewirkt. Es käme jedoch darauf an, eine Vernunft zu entwickeln, in der Denken und Fühlen gleichberechtigt kooperieren, sich
in dynamischer Balance bewegen. Die TZI hätte zu diesem Projekt
viel beizutragen.
The following contribution is based on the essential conviction
that the disconnection of the “head” and the “heart”, of our intellect and our emotions, and the preeminence of the former over
the latter, is a source of unhappiness. The fundamental Western
European philosophical pattern has become the basis for a socioculture defined by this split. It is what has made Europe so
successful, but at the same time it has had disastrous effects. It
would be crucial, though, to develop a sense of reason within
which thinking and feeling cooperate on an equal footing, while
maintaining a dynamic balance. TCI has much to contribute to
this project.
Zum Autor
Jan Tillmann, Prof. erem. d. ev.
FH Hannover. Wissenschaftl.
Interessen: Sozialarbeitswissenschaften, Philosophie &
Beziehungsberatung. Leitung
v. Ausbildungsgruppen für
pädagogisches Rollenspiel,
Supervisor.
Anschrift: Bödeckerstr. 63,
30161 Hannover
„Ich seh’ dir ins Gesicht doch spüren tue ich nichts/Und
dein Körper ist gefroren und erstarrt/Ich muss prüfen ob
du noch am Leben bist/Mit kalten Händen berührst du
mich/– doch fühle ich nichts//Fast wie ein Engel der aus
Stein und Eis besteht/Meine Gefühle hinter Panzertüren
nun gefangen nimmt//Gib mir mein Gefühl zurück/Du
bist viel zu kalt für mich/Gib mir mein Gefühl zurück/
Und denk immer dran: ich liebe dich!“ (Welle, 1994)
Für viele Jugendliche (vielleicht auch für Erwachsene) beschreiben die ersten Zeilen dieses Songs den Wunsch, ja die ‚Notwendigkeit’, liebenden Kontakt zu spüren, dieses Gefühl erleben
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zu wollen. Es kann durchaus sein, dass ein solcher Text auch als
undifferenzierte Aussage, als Kitsch und ideologischer Ausdruck
wahrgenommen wird. Und trotzdem kann es gute Gründe geben,
in dem Beitrag einer Zeitschrift, deren Adressaten überwiegend
Gebildete, ja Intellektuelle und Studierte sind, vom schlichten
Alltag und seinen seelischen Ausdrucksformen auszugehen. Dort
kümmert sich keiner um richtiges Versmaß, eingängigste und unkomplizierte Melodien werden geliebt. Solche oft belächelten
Produktionen drücken mitunter auch Stimmungen, Wahrnehmungen und Bedürfnisse aus, die noch vorbegrifflich sind und
undefiniert unter der Decke der formallogischen, technisch-ökonomisch auf Tempo und Effektivität ausgerichteten herrschenden Wirklichkeit rumoren. Solche Produktionen sind oft – im
Sinne von natürlich und unbefangen – naiv, damit authentisch
und spiegeln offen oder versteckt eine lebendige persönliche und
gesellschaftliche Wirklichkeit. In ihnen deutet sich der Reichtum
der konkreten Lebensprozesse an, ein Reichtum, dem allenfalls
ein Feierabend- oder Ferienreservat zugewiesen ist.
Im hannoverschen Stadtteil Kirchrode tobt eine heftige
Auseinandersetzung. Der Kirchenvorstand der evangeli„Argumente und
schen Jakobigemeinde hat beschlossen, ein 6300m2 großes
Grundstück an den Pharmakonzern Boehringer zu verEmotionen
kaufen. Dort soll ein Tierimpfstoffzentrum gebaut werschließen sich
gegenseitig aus“. den, das mit der benachbarten tierärztlichen Hochschule
kooperieren wird. Aus dem Kreis der Gemeindemitglieder
erhebt sich heftiger Protest. Dieser Bau in einem Wohngebiet sei gesundheitlich sehr gefährlich und die damit verbundenen
Massentierversuche seien ethisch nicht vertretbar. Der Stadtkirchenrat und das Landeskirchenamt haben dem Vorhaben jedoch
zugestimmt. M. Conrath, der Manager des Konzerns, der mit der
Realisierung beauftragt ist, verteidigt das biotechnische Vorhaben
und erklärt die geplante Anlage für vollkommen sicher. Er äußerte folgenden Satz: „Argumente und Emotionen schließen sich
gegenseitig aus“ (Conrath, 2008, 17). In einer solchen Aussage
konzentriert sich der hohe Stellenwert stringenter Rationalität
und luzider Argumentation. Hier leuchtet die Gegenposition zu
dem oben zitierten Songtext auf: Gefühle verwirren das aufgeklärte, fortschrittliche Bewusstsein nur. Sie seien ein irrationaler,
evolutionärer Rest, der die „Vermessung der Welt“ und das Untertanmachen der Natur zum Schaden der Menschen behindert.
Der vermeintlich Klügere gibt hier zwar nicht nach, aber er argumentiert lange in Geduld mit denen, deren Protest in Inkompetenz begründet sei. Stellt sich auf Dauer keine Einsicht ein, so
wird die Realisierung des Vorhabens trotzdem durchgesetzt. Es
kann aber durchaus sein, dass eine solche Einstellung nicht so ausschließlich eine Wahrheit ist, wie ihre Verfechter es darstellen. Die
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Helle dieses „fortschrittlichen“ Bewusstseins wirft zugleich sehr
scharfe Schatten, was an ökologischen, psychischen und sozialen
Problemen unübersehbar geworden ist. Die Nebenwirkungen der
naturwissenschaftlich-technisch-ökonomischen Triade sind eine
globale Lebensbedrohung (vgl. Tillmann 2007, 13ff.).
Die Spaltung von Bewusstsein, Körper & Gefühl
Die Spaltung von denkendem Bewusstsein auf der einen Seite
und Gefühl und Körper auf der anderen, also die rationale Helle
getrennt von der „irrationalen” Dunkelheit und die ersten kritischen Gegenbewegungen dazu werde ich im folgenden durch
einige Zitierungen kurz und exemplarisch andeuten.
Platon (ca. 487–348 v. Chr.) lässt im Phaidon (399 v. Chr.) Sokrates vor seiner Hinrichtung begründen, warum die Seele im
Leben nicht die Wahrheit finden kann. „… Solange wir nämlich
beim Forschen neben dem reinen Denken noch den Leib gebrauchen und solange unsere Seele mit diesem Übel vermengt
ist, werden wir das, wonach wir begehren – nämlich die Wahrheit
– niemals recht erlangen.” Er beschreibt dann ausführlich, welche
Schwierigkeiten der Leib macht, durch die er uns „nicht zur Vernunft” kommen lässt und zeigt, dass wir erst im Tode zur Wahrheit
kommen. Im Leben sei daher die Seele „so viel als möglich vom
Leibe zu trennen”. Diese Denunzierung des Leibes, seine Unterwerfung unter Seele/Geist/Bewusstsein kann auch großes Erschrecken auslösen. Im „Urknall” des europäischen Abendlandes
wird das Leben entwertet und der Tod gefeiert. Die Spaltung von
Kopf und Bauch wird später ins Christentum eingeführt. Menschen werden lebendig verbrannt, um die Seelen zu retten. Trotz
der unbestreitbaren Helle europäischer Entwicklung stellt sich mir
die Frage: Tut sich hier ein Schatten auf, der bis Auschwitz reicht?
Zu Beginn der Neuzeit formuliert Descartes dieses Spaltungsparadigma noch einmal in seinem „Cogito ergo sum – ich denke
also bin ich”. Und es beginnt, sich auch Widerstand zu regen.
Rousseau formuliert den ersten Satz in seinem „Emile” (1762)
als Programm: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Urhebers
der Dinge hervorgeht; alles entartet unter den Händen der Menschen.” Sein „Zurück zur Natur” weist dem Gefühl die Priorität
in der Entwicklung des Menschen zu. Damit macht er etwas, das
beim Bruch mit Denktradition häufig zu beobachten ist: er befürwortet eine Umkehrung, was das aufgezeigte Problem nicht löst.
Feuerbach stellt hingegen eine Balance her: „Die der Wahrheit gemäße Einheit von Kopf und Herz besteht nicht in der Auslöschung
oder Vertuschung ihrer Differenz, sondern vielmehr nur darin, dass
der wesentliche Gegenstand des Herzens auch der wesentliche Ge29
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genstand des Kopfs ist – also nur in der Identität des Gegenstandes.
Die neue Philosophie, welche den wesentlichen und höchsten Gegenstand des Herzens, den Menschen, auch zum wesentlichen und
höchsten Gegenstand des Verstandes macht, begründet daher eine
vernünftige Einheit von Kopf und Herz, von Denken und Leben”
(Feuerbach 1843, 344, §59/Hervorhebung: Feuerbach).
Diese Sätze – auch in ihrer herzlichen, konkreten Terminologie – sind eine frühe Vorwegnahme des Leitgedankens der humanistischen Psychologie.
Auch zeitgenössisch werden – außerhalb der TZI – Ansätze, die denkendes Bewusstsein der Tendenz nach noch
Der wesentliche
weit umfassender begreifen, deutlich formuliert. „Der
Gegenstand des
menschliche Leib ist Treffpunkt zwischen Mensch und
Herzens ist auch der Welt.” (Gordijn 1975, 21). Trebels (1995, 116ff.) spricht
wesentliche Gegen­ von der dialogischen Struktur zwischen dem bewegten
stand des Kopfes. Leib und der Welt, von intentionaler Bezogenheit. “… es
ist ein Berühren der Welt und gleichzeitig ein Berührtwerden durch die Dinge (und Personen) in ihr. Die dialogische
Struktur enthält die fragende Gerichtetheit auf die Welt und die
Offenheit für empfangene Antworten” (ebd. 118). Hier wird vorsichtig versucht, die abendländische Spaltung zurückzunehmen.
Es ist zurzeit für mich auch sehr spannend zu beobachten, wie
naturwissenschaftlich basierte Verfahren Erkenntnisse aus der humanistischen Psychologie (u.a.) bestätigen und sich damit der Abstand zu den geisteswissenschaftlichen Orientierungen verringert.
An den Neurochirurgen Damasio (1994 und 2004) sei hier nur
erinnert, der Körper und Gefühl als unabdingbare Basis eines denkenden Bewusstseins naturwissenschaftlich nachweist. Christakis
(29/2008, 138ff) – ebenfalls Mediziner – zeigt auf, wie der soziokulturelle Globe sich unmerklich in unser Inneres einschleicht
und bestimmend wird. Bauer (2004/2008) stellt diesen Zusammenhang in einer sehr klaren und lesbaren Studie überzeugend
dar. Blech (32/2008, 110ff) stellt die Forschungen des Epigenetikers Szyf vor, der aufzeigt, wie das Erbgut im Gehirn durch das
Umfeld verändert wird. Traumatische Erlebnisse im Baby- oder
Kindesalter haben zur Folge, dass das Gen für einen Rezeptor zur
Stressbewältigung abgeschaltet wird, was dann Konsequenzen für
die Persönlichkeitsstruktur des späteren Erwachsenen hat. Die
strikte Trennung zwischen Körper und Bewusstsein hält der neueren Forschung nicht länger stand.
Körper/Leib – Fühlen – Selbstgewissheit
Mit dem Körper erobert sich das Kleinkind zunächst krabbelnd die
Fläche und dann – mühsam sich aufrichtend – den gesamten Raum.
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Unmittelbar überträgt sich auf uns als Beobachtende die Lust und
Neugier, mit der das geschieht. Es quietscht vor Freude und weint,
wenn es sich stößt, und es erwartet mit deutlichem Blick die Zurkenntnisnahme, wenn etwas gelingt. So beginnt alle Kommunikation
und die Wahrnehmung der Kontakte durch Berührung. Etwas zu gewinnen oder zu verlieren ist – wie das gesamte Handeln – ein körperlicher Akt. Erfahrungen werden – auf der Bandbreite zwischen
Lust und Schmerz – gespeichert, bzw. als Marker benutzt, der alte
Erfahrungen ins Gefühl und ins Bewusstsein ruft. Über den Körper
erleben wir uns als Subjekt. Der Körper ist die Basis für dessen Unverwechselbarkeit und Selbstgewissheit (Terbuyken 2003, 2ff).
Konzepte, die den Körper nicht instrumentalisieren, sondern
ihn integriert als einflussreichen Teil der Persönlichkeit bewerten,
sprechen vom Leib: Ich habe einen Körper und ich bin ein Leib.
In diesem Sinne benutze ich im folgenden den Begriff Leib.
Alles Fühlen ist leibgebunden und es überschreitet die Grenze
des Leibes. Es gibt in der Natur keinen Schall, es gibt nur unterschiedlich starken Luftdruck. Da er in der Frühzeit der Menschheit Gefahren anzeigte (Steinschlag, Fressfeinde etc.), hat der
Leib Voraussetzungen entwickelt, die bewirken, dass wir ihn als
Schall wahrnehmen. Er warnt vor Bedrohungen durch entsprechende Geräusche, die Angst oder Wut auslösen können und die
ggf. Flucht oder Angriff bewirken. Es gibt in der Natur auch kein
Licht. Es gibt eine Fülle elektromagnetischer Wellen mit ganz unterschiedlichen Amplituden, Wellenlängen und Frequenzen, die
für uns unsichtbar sind. Einen kleinen Ausschnitt davon hat unser
Leib jedoch als Licht (und Farben) für uns sichtbar gemacht, damit
wir uns in unserer Welt orientieren können. Auch Wärme und
Kälte gibt es in der Natur nicht. Es gibt nur Energieaufladungen
von Atomen und Molekülen, die sich durch ihre unterschiedlichen Schwingungen ausdrücken, die wir nicht sehen können. Da
diese jedoch durch zu wenig oder zu viel für Leben gefährlich,
ja tödlich sind, haben wir als Leib die Fähigkeit entwickelt, das
lebenserhaltende Maß zwischen Kälte- und Wärmeempfindung
auszutarieren. Schon in dem eingangs zitierten Song wird schnell
deutlich, wie das Begriffspaar warm-kalt, transponiert in den Ausdruck für Gefühle, die zwischen Nähe und Distanz uns allen bekannt sind, Symbol der großen Dimension Gefühl ist. Sinnlich
wahrnehmbare Leiblichkeit wird Basis für Fühlen.
Gefühle als Verbindung zwischen Innen & Außen
In der Entwicklung zur Warmblütigkeit entsteht eine Form der
Brutpflege, die eine Tendenz verstärkt: das Gefühl überschreitet
die Selbstwahrnehmung des Leibes. Fühlen wird die Grundlage
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für Beziehung. Im Fühlen erleben wir eine Beziehung, eine als
Stimmung gespürte Verbindung zwischen dem sich selbst wahrnehmenden Leib und den Dingen und Lebewesen, d.h. der uns
umgebenden sichtbaren Welt. Über die Grundpaare ‚Furcht vor
– Wut auf ’, ‚Freude über – Trauer wegen’ und ihre vielen Abkömmlinge in unterschiedlichen Intensitäten und Färbungen erhalten wir eine ganzheitliche Information über die Situation, in
die wir gerade eingebunden sind. Das Außen und das Innen werden durch körperliche Wahrnehmung und Gefühle im Hier und
Jetzt verbunden. Unser Bewusstsein nimmt das wahr und kann
sich darüber Gedanken machen. Gedanken können Gefühl und
möglicherweise Schmerzen auslösen. Aber unsere Gedanken selbst
spüren wir nicht leiblich. Mit ihnen können wir beobachten und
wissen, aber mit ihnen können wir nicht Leben und Lebendigkeit ursprünglich erfahren. Gefühl kann darüber hinaus eine wertende, orientierungsleitende Funktion haben, die lange vor dem
denkenden Bewusstsein ausgebildet wurde. Sie vereinheitlicht alle
Teilwertungen zu einer Gesamtwertung. Das Subjekt erschließt
mithilfe seines Gefühls für sich selbst, was ihm in seiner subjektiven Lage die Informationen aus der äußeren Realität bedeuten
und wie sie mit seiner inneren Realität zu vereinbaren sind (vgl.
Holzkamp 1983a, 95ff). Das denkende Bewusstsein hat es mit kausal verknüpften Objekten zu tun. Das Gefühl überträgt das Spüren des Leibes auf das Außen. Wir erleben ein intensives Gefühl
für ein Kleidungsstück, für unsere Wohnung, einen Baum, einen
Menschen. Am stärksten erleben wir das im geglückten Lieben.
Da sind wir beschwingt, zugewandt, milde, wach und die Welt lächelt uns zu. An jedem Meer, an jedem Stein, Gebirge, Duft, Tier,
Mensch können wir das erleben, was wir Beziehung nennen. Was
aber ist – neben den Humanität begründenden Strahlungen des
Gefühls –mit Neid, Missgunst, Verletzung, Mordlust, Missbrauch?
Mit den vielen zerstörerischen Gestalten des Gefühls? Sie sind
Folgen der gespaltenen Kultur. Wenn diese Spaltung aufgehoben
ist, sehen wir, was von den zerstörerischen Gefühlen übrig ist.
Eine spätere Sorge!
Gefühl als gespeicherte Erinnerung
Gefühl kann über das leibliche Gedächtnis hinaus Erinnertes
aufbewahren und dem Bewusstsein zuführen. Es stellt von erlebten Situationen und ihren Bewegungen gewissermaßen Melodien her, die durch ähnliche Situationen sofort zum Abspielen
aufgefordert sind. Lustvolle Melodien werden expressiv gefeiert,
bedrohende, je nach leiblichen Möglichkeiten, mit Flucht oder
Angriff abgewehrt. Menschen erleben die Wiederholung eines
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Vorgangs, wenn ihnen ähnliche Situationen aus früheren traumatischen oder euphorischen Erlebnissen einfallen. Das Melodienreservoir der einzelnen Menschen bestimmt wesentlich, wie sie
ihre Beziehungen gestalten können.
Orientierungsloses Denken
Die europäisch-abendländische Entwicklung hat ein Ideal konstruiert, welches das sich selbst nicht spürende und fühlende Bewusstsein zu einer objektiven Instanz macht, die dem Spüren und
Gefühl übergeordnet ist. Auf dieser Basis wurde eine Vernunft
hypostasiert, die Leben und Welt erforscht und regelt, aber das
Leben selbst nicht erleben soll. Objektivität z. B. ist gewöhnlich
die Ausschaltung jeglicher subjektiver Innerlichkeit. Die griechische Tradition, die so maßgeblich die europäische Soziokultur
beeinflusste, hat eine wurzellose, unlebendige Vernunft hervorgebracht, die bis in die Gegenwart hinein als Prinzip maßgeblich ist. Diese Tradition orientiert sich zentral an geschichts- und
zeitlosen, der Konkretion enthobenen Idealbildern.
Deutlich akzentuiert ist das noch einmal bei Holzkamp ausgedrückt (10/1983, 62). Ein denkendes Bewusstsein, das im Gegensatz
zu einer „unhinterfragbaren emotionalen Innerlichkeit” steht, ist
„in einem elementaren Sinne orientierungsloses Denken …”. Es ist
durch die Ausklammerung subjektiver Betroffenheit ein individuelles Spiegelbild der gesellschaftlichen Entfremdungen und Herrschaftsmechanismen. „Ein solches losgelöstes Denken hat quasi sein
Subjekt verloren, es ist, auch wenn es an uns stattfindet, nicht mehr
‚unser’ Denken, also recht eigentlich das Gegenteil von dem, was es
zu sein vorgibt, Irrationalität im Gewande des Rationalen.”
Die Kluft zwischen Erkenntnis & Praxis überwinden –
ein TZI-Projekt?
Ruth Cohn hat sich bewusst von der einseitig ratioorientierten
Erkenntnisgewinnung abgegrenzt. „Den positivistischen Wissenschaftsansatz, der davon ausgeht, dass innere, subjektive Phänomene für die wissenschaftliche Beweisführung weniger glaubwürdig seien als die messbaren, sogenannten objektiven, habe ich
(ebenso wie Farau) nie geteilt. Alle Phänomene, die allgemein
messbaren und solche, die nur von einer Person bezeugt werden können (zum Beispiel ein Gefühlserlebnis oder eine Erinnerung), enthalten Wirklichkeit” (Cohn 1984, 216).
Viele Grundgedanken und die Praxis der TZI sind anschlussfähig an neuere philosophische und wissenschaftliche Erkennt33
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Themenschwerpunkt: Gib mir mein Gefühl zurück …
nisse. Ich fände es sinnvoll, wenn die TZI sich stärker für Strömungen, die sich in die gleiche Richtung bewegen, öffnen
würde. Philosophen und Philosophinnen zeigen zuweilen aufkeimende Entwicklungen auf. Schneider (2005, 9–23) hat eine
hervorragende Analyse der Überschneidungen und Abgrenzungen zur Postmoderne vorgelegt. Jäggi (2005, 187ff) hat den so
einseitig als Macht- und Beziehungslosigkeit definierten Begriff
der Entfremdung neu aufgearbeitet und fügt ihm Gedanken ein,
die dem Chairperson-Postulat sehr nahekommen. Eine Öffnung
und Hinwendung der TZI zu diesen Schulen könnte die praktische Umsetzung dieser Erkenntnisse befördern. Ich möchte das
an einem Beispiel deutlich machen, das stellvertretend für verschiedenste der hier genannten Parallelen stehen kann.
„Es ist ganz simpel: immer wenn wir meinen, was wir sagen,
erheben wir für das Gesagte den Anspruch, dass es wahr oder
richtig oder wahrhaftig ist; damit bricht ein Stück Idealität in
unseren Alltag ein” (Habermas 1990, 134). Diese Aussage ist
mit dem Anspruch der selektiven Authentizität sehr verwandt.
Habermas gründete die Gültigkeit von Werten und Regeln des
Zusammenlebens in einer Gesellschaft auf die Ergebnisse eines
„herrschaftsfreien Dialogs”. Die Voraussetzung einer solchen
“idealen Sprechsituation” ist Wahrhaftigkeit, Chancengleichheit
und Regelakzeptanz. Ich kann dem Was der Aussage Habermas’
durchaus zustimmen. Doch ich finde wenig über das Wie bei
ihm. Hier könnte beispielsweise die TZI wirksam werden. Sie
hat nicht nur eine Philosophie, sondern sie hat auch eine Methode, die von dieser nicht losgelöst, sondern ihre Grundlage ist
und auf deren Basis ein herrschaftsfreier Dialog geübt werden
könnte.
Vielleicht sollte die heutige TZI-Praxis sich auch nicht allein
auf die Durchführung von Seminaren konzentrieren. Kroeger
(vgl. 2000, 26) schlägt vor, sich in Stadtteilarbeit, Schulprojekten,
betrieblicher Arbeit etc. zu engagieren. Hier könnte für ein Beziehungsklima gesorgt werden, das die übliche Störung der Inhalte durch Rivalitätsmentalitäten mildern würde. Die TZI kann
helfen, Beziehungsfähigkeit zu entwickeln und das ChairpersonPostulat in der gesamten Person zu begründen, was hieße, es als
emotionale Haltung zu verankern. Vielleicht könnte die TZI im
Blick auf den Globe etwas unbescheidener werden und sich als
eine Art Nichtregierungsorganisation (NGO) verstehen und sich
in die oben angegebenen basispolitischen Arbeitsgruppen einbringen.
Im entwickelten Gefühl verankerte Beziehungsfähigkeit und
bewusst gelebte Chairperson sind zentrale Säulen in Kooperationen. Leib und Gefühl erspüren die Nebenwirkungen des abgespaltenen Bewusstseins, das ein schnelles, effektives und siegreiches
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Handeln als höchstes Ziel hervorgebracht hat. Der dem TZI-Konzept innewohnende Optimismus, dass die Abspaltung gemindert
werden kann, wäre eine wichtige Grundlage solcher Arbeit. Kann
die TZI sich als eine Philosophie begreifen, die mit klopfendem
Herzen das Projekt einer neuen Moderne vertritt, ausprobierend,
fehlerfreundlich und ganzheitlich? „Wir sind aber – so die anthropologische Theorie – nur sekundär bewusst und handelnd, primär
aus einer vorbewussten und vorethischen Sphäre lebend, die bewusst und denkend dann zu gestalten ist” (Kroeger, 27).
Wenn wir uns das bewusst machen, kann Vernunft dann lebendig werden? Zunächst so viele Fragen! Vielleicht ist es ein
guter Weg, mehr Fragen zu haben als Antworten, die man sowieso nicht einsam am Schreibtisch finden kann.
Literatur
Bauer, J.: Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Frankfurt
2008.
Blech, J.: siehe Interview mit Christakis und Szyf.
Cohn, R.: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven. Stuttgart 1984.
Conrath, M.: Hannoversche Allgemeine Zeitung. 19. Juli 2008.
Christakis, N.: Kultur verändert die Gene. In: Der Spiegel, 29, Hamburg 14.7. 2008.
Damasio, A.: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München 1994.
Damasio, A.: Ich fühle, also bin ich – die Entschlüsselung des Bewusstseins. Berlin 2004.
Descartes, R.: Meditationen (Hrsg.:A. Buchenau). Leipzig 1915.
Gordiyn, C. C. C. u. a.: Wat beweegt ons. Baarn 1975
Feuerbach, L.: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. 1843.In: Schmidt, G. (Hg.): Frankfurt/Main 1967.
Holzkamp, K.: Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main 1983a.
Holzkamp, K.: Nur wer Angst hat, kann vernünftig sein. In: Psychologie heute 10/1983b.
Holzkamp, K.: Was heißt “Psychologie vom Subjektstandpunkt”? Sozialpsychiatrische Informationen 4/1992.
Jäggi, Rahel: Entfremdung – zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt/Main 2005
Kroeger, M.: Visionen und Notwendigkeiten für Will im Jahre 2000. In: Themenzentrierte Interaktion. 1/2000,
12-29.
Platon, (428–348 v. Chr.): Phaidon. In: Philosophen entdecken die Welt – die Ursprünge des abendländischen
Denkens. München 1983.
Rousseau, J.-J.: Emile oder über die Erziehung. Paderborn 1998.
Schneider, H.-J.: Anliegen und Ambivalenzen postmodernen Denkens. In: Themenzentrierte Interaktion.
1/2005, 9–23.
Szyf, M.: Bruch des bösen Zaubers. In: Der Spiegel. 32 Hamburg 4.8.2008.
Terbuyken, G.: Körper – (k)ein Thema der Sozialarbeit und Heilpädagogik? Vortrag auf der Fachtagung an der
Ev. Fachhochschule. Hannover 9.4.2003.
Tillmann, J.: Trajektivität. Anstöße für eine Metatheorie der Sozialarbeitswissenschaft. Hannover 2007.
Trebels, A. H.: Bewegungskultur und ihr Rückzug auf Bewegungskonzepte. Berlin 1995.
Welle: Erdball. Gib mir mein Gefühl zurück. In: Der Sinn des Lebens (Album, 4.Song) Hannover 1998
35
Psychosozial-Verlag
Angela Mauss-Hanke (Hg.)
Internationale Psychoanalyse
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