ETHISCHE UND BIOETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN MOLEKULARGENETISCHER PRÄDIKTION UND MANIPULATION Hans-Martin Sass VOM LESEN UND SCHREIBEN IM BUCH DER NATUR Georg Mendel wußte einiges; aber was das Buch der Natur betrifft, so war er fast noch ein Analphabet. Von außen konnte er einige Gesetze der Genetik durch empirische Experimente vermuten. Damit ging es ihm nicht anders als unseren Vorfahren, die über die Jahrtausende hin die Geheimnisse der Natur versucht haben zu entschlüsseln und die die Natur bekämpft, ausgebeutet, selektiert, gehegt, gezüchtet und kultiviert haben ohne zu wissen, was den Stoff des Lebens 'im Innersten zusammenhält'. Mendel mag geahnt haben, daß es ein Buch der Natur gibt, aber er hielt es weder in der Hand, noch konnte er es lesen. Wir halten das Buch in der Hand, wir können es noch nicht lesen, aber wir fangen an zu buchstabieren. Wir kennen die Buchstaben A und G, T und C und machen Leseerfahrungen in ihrer Sequenzierung und ihrer Komplementarität. Wir beginnen, einige Codierungs-, Interaktions- und Steuerungsfunktionen zu verstehen und sie in unsere lebensweltliche Praxis zu übersetzen durch Prädiktion und Erklärung. Ja, wir können ansatzweise auch den Text des Buches ändern, nicht mehr indirekt durch Hege, Zucht und Selektion, sondern direkt durch genetische Modifikation und Manipulation. Mit dem Wissen kommt die Verantwortung. Das Zeitalter von genetischer Diagnostik und genetischer Manipulation stellt uns als Menschen vor neue und erweiterte ethische und medizinethische Herausforderungen. Das neue molekulargenetische Wissen bedeutet Macht wie jedes Wissen. Zusätzliche und größere Macht verlangt nach mehr und stabilerer Verantwortung. Die frühere größere Ohnmacht vor der Natur bedeutete Hilflosigkeit und ein Ausgeliefertsein den Grausamkeiten und Unberechenbarkeiten der Natur. Die uns zugewachsenen neuen Möglichkeiten von genetischer Prädiktion und Manipulation können dazu beitragen, uns von Abhängigkeiten und Unsicherheiten zu befreien; sie fordern aber auch in verschärfter Weise heraus, das Verhältnis von uns Menschen zu Natur und Kultur neu auszumessen, eine Herausforderung, die im Zeitalter global wirksam werdender und durch Technik und Wissenschaft ermöglichter zivilisatorischer Revolutionen nicht nur aus Gründen biotechnologischer Güterabwägung fällig geworden ist. Hinter der Frage nach den Zielen, Methoden, Grenzen und Gefahren der modernen Techniken steht also die Frage nach dem Menschen als dem homo faber und seinen Orientierungsund Organisationstechniken, seinen Produktions-, Pflegeund Manipulationstechniken [8:VIf]. Insgesamt haben wir es bei der Frage nach dem Menschen im Zeitalter von Prädiktion und Manipulation mit Güterabwägungen in den drei Bereichen von 1 Kultur, Wissen und Verantwortung zu tun: (1) der Polarität und Komplementarität von Natur und Kultur und des Menschen als eines sowohl Naturwesens wie Kulturwesens, (2) der Macht und Last von Wissen und Freiheit, die der Wissende und Mündige im Gegensatz zum Unwissenden und Unmündigen hat, und (3) den Leistungen und Gefahren, den Herausforderungen, Unsicherheiten und Risiken moralischer Subjekte bei Manipulation, Modifikation und Transformation. VON ETHOS DER KULTIVIERUNG ROHER UND GRAUSAMER NATUR Innerhalb einer im Abendland weitgehend technikfeindlich bestimmten postmodernen öffentlichen Kultur wird Natur heute rousseauistisch romantisiert und die Manipulation von Natürlichem häufig als barbarisch empfunden. Ethiker und Philosophen übernehmen auf Expertenkongressen gern die Rolle der Kassandra, die vor der Technik im allgemeinen und vor der Hochtechnik und ihrer Anwendung am Menschen im besonderen warnt. Und natürlich soll der Ethiker und Philosoph auch vor der Anwendung der Molekulargenetik in der Humanmedizin warnen. Ich habe nicht die Absicht diesen Chor technophober Intellektueller zu vergrößern. Deshalb formuliere ich als meine erste These: Technik ist Teil von Kultur und erlaubt uns, Willkür, Ungerechtigkeiten und Mißgunst roher und grausamer Natur zu bekämpfen und unzivilisierte Lebensumstände zu verbessern und zu kultivieren. Das Wort 'Kultur' kommt von cultivare, dem geplanten und systematischen Nutzen des Naturbodens als Ackerboden. Ein Zaun oder eine Hecke grenzt den kultivierten Raum von der unkultivierten Natur ab. Naturpflanzen werden durch Hege und Selektion zu veredelten Kulturpflanzen; Unkräuter gehören nicht in den Garten und auf den Acker und werden ausgerissen. Kultur und Natur stehen in Spannung. Die Natur wurde vom Menschen immer als das Fremde, das Gefährliche, das Bedrohende empfunden. Erst seit Petrarca, Rousseau und der Naturromantik, also in Zeiten zivilisatorischer Sicherheit, wird Natur auch romantisiert und wir haben vergessen, daß die Umgestaltung von roher und bedrohender Natur eine Kulturleistung allerersten Ranges war und ist. Sie erst macht die Erde zur Heimat und zum Haus des Menschen als eines Kulturwesens. Rohe Natur ist grausam, natürlich, nicht menschlich, nicht kultiviert. Von der Kulturlandschaft, ihren Häusern, Tieren und Pflanzen können wir wie in einem Spiegel zurückschließen auf den Menschen und seine eigene Kultivierung. Diese These läßt sich am eindringlichsten belegen in einem Hinweis auf die verschiedene Art und Weise, wie kultivierte Menschen sich mit Ziergärten und Parks umgeben haben. Bekannt ist der Gegensatz des französischen und des englischen Parks [7]. Hier die Dominierung, Disziplinierung und Beschneidung unter den absoluten Herrscherwillen des Menschen, auf dessen Haus die Alleen, Hecken, beschnittenen Bäume zusammen mit den 1 geometrisch angelegten Mauern und Wegen hin orientiert ist. Auf der anderen Seite der einzelne Baum, die eine natürlich anmutende Natur manipulierende Gestaltung des Menschen, der gentlemanliche Umgang mit dem Solitärgehölz, das vor Unkraut und Mitbewerbern gehegt wird, auch künstliche Ruinen, die zusammen mit der Natur schaffenden Hege die zeitliche Dimension des memento mori einbezieht. Noch anders der chinesische Garten, nicht weniger ein Ergebnis von manipulierender Expertise, Hege, Zucht und planendem Entwurf. Aber Mensch, Haus, Baum, Brücke, Landschaft und genetisch manipulierte Goldfische in den Teichen bilden eine Harmonie, welche die intervenierende hegende und modifizierende, umbiegende und ausreißende Hand nicht sichtbar werden läßt. Anders als im englischen und französischen Garten ist der Besitzer des Gartens selbst Gärtner; das Beschneiden von Bäumen, die Zucht der Rosen, das Füttern der Goldfische ist gleichzeitig Arbeit, Meditation, Manipulation und der Versuch, in das Paradies zurückzugreifen durch seine Neugestaltung als Kulturaufgabe. Was sind die Gärten unseres Jahrhunderts? Es sind die Wasserspiele und Pflanzenbeete in den Innenräumen unserer Einkaufszentren und den Eingangshallen unserer Luxushotels und Bürogebäude, domestizierte Natur in den Innenräumen von Kommerz und Zivilisation, zweckmäßig, gehegt und gleichzeitig pflegeleicht: der Park im Haus, nicht mehr das Haus oder Schloß im Park. Parkplätze für Autos anstelle von Parks für Bäume, Pflanzen und Wege umgeben Einkaufszentren, Bürogebäude, Wohnmaschinen und Hotels [15]. Die am Beispiel des Gartens, des hortus, des Eingezäunten, beschreibbaren Interaktionsverhältnisse von Mensch, Natur und Kultur zeigen in den drei Beispielen des englischen, des französischen und des chinesischen Garten unterschiedliche Konzeptionen von Natur, vom Verhältnis des Menschen zur Natur, von seinem Selbstverständnis als homo faber und von den kulturellen Zielen von Modifikations- und Manipulationshandeln. Unsere Gegenwart, so läßt sich aus den ersten Modellen klassischen Parks vergleichbaren Ziergärten vermuten, entwickelt ein neues der gesteigerten Manipulation von äußerer Natur komplementäres Verhältnis zu Hege und Re-Integration von Kultur und Natur in Innenräumen und, wie die Diskussion um die Bewahrung roher und nichtmanipulierter Reservate und Biotope zeigt, auch ein neues Verhältnis zur ungezähmten Natur, die nicht mehr als Bedrohung, sondern nunmehr als Bereicherung von Zivilisation und Kultur und Hege verstanden werden kann [15]. Die Modelle von dominierender Herrschaft, von Fairness widerspiegelnder Partnerschaft und von manipulierender und hegender Integration von Mensch und Kultur in ästhetisch und ökologisch vermittelte Natur lassen sich übertragen in die größeren Dimensionen des Verhältnisses von Natur und Kultur angesichts der Tatsache, daß unsere Generation beginnt, das Buch der Natur nun wirklich zu öffnen. Kultur ist der manipulierende Umgang mit der Natur, mit der äußeren Um-welt und mit 1 der inneren des Menschen. In der Art und Weise des Umgangs mit der Natur läßt sich auch das jeweilige Selbstverständnis des Menschen und sein Verständnis von der Natur, auch seiner eigenen, ablesen. Je größer die technischen Risiken und Möglichkeiten sind, umso größer sind die Dimensionen der ethischen und kulturellen Güterabwägung. Diese Überlegung führt zu meiner zweite These, welche das neue molekulargenetische Wissen und die mit verbundenen Manipulationsmöglichkeiten in die kulturellen und ethischen Traditionen bisheriger Naturwissenschaft und Naturphilosophie einordnet und seiner Sensationalität beraubt: Genetische Diagnostik und Manipulation sind keine grundsätzlich neuen Herausforderungen an Kultur und Ethik, sondern nur verschärfte Herausforderungen mit neuen Risiken und Unsicherheiten, technischen wie kulturellen, aber auch größeren Möglichkeiten von Kultur, von mehr Freiheit und Emanzipation, mehr menschlicher Solidarität und mehr Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur, letztlich auch einer humanen und ästhetischen und kulturellen der Befreiung der Natur zu sich selbst. Wie die Beispiel von Garten und Park zeigen, sind Technik im allgemeinen und Biotechnologie im besonderen in sich weder gut noch schlecht. Vor mehr als einem Jahrhundert hat der Düsseldorfer Technikphilosoph Ernst Kapp die These vertreten, daß die Kulturgeschichte die von Menschen verantwortete Fortsetzung der Naturgeschichte sei, Technogenese als Fortsetzung der Ontogenese: 'Die ganze Menschheitsgeschichte, genau geprüft, löst sich zuletzt in die Erfindung besserer Werkzeuge auf' [8:XXXVIII]. Wenn das so ist, dann ist es nicht diese oder jene Technik, die als solche kulturkritisch oder technikkritisch analysiert werden muß; die Abschätzung von Technikfolgen muß sich vielmehr auf die kulturell und ethisch relevanten Aspekte einer differenzierenden Abschätzung von Gebrauchsfolgen konzentrieren. Insgesamt haben wir bei der modernen Hochtechnik, nicht zuletzt auch in Medizin und Genmedizin, generell eine vergleichbare Situation vor uns, wie sie der Steinzeitmensch hatte, der seine primitiven Werkzeuge, die Steinaxt dazu benutzen konnte, den Urwald auszuroden oder feindliche oder freundliche Gruppen von Mitmenschen auszurotten. Diese drei Szenarien des Gebrauchs der Steinaxt sind nicht technisch, sondern ethisch unterschiedlich und bedürfen jeweils einer eigenen differenzierten Analyse und Bewertung [22]; das generelle Verbot von Steinäxten wurde nie diskutiert und hätte auch nichts gebracht, da Steinäxte nur das besser machen, was ohne Axt auch die bloße Hand tun kann. Die Dimensionen allerdings für die Risiken haben sich gewaltig vergrößert, sowohl was die technischen Risiken betrifft wie auch was die Risiken der Abschätzung von Theoriefolgen und Technikfolgen betrifft. Auf die durch mehr Techniken und Theorien auf die Menschen zukommenden größeren Risiken des Mißbrauch hat vor über 2500 Jahren aber auch schon der chinesische Denken Laotse hingewiesen: 'Je mehr die Menschen scharfe Geräte haben, desto mehr kommen Haus und Staat ins Verderben; je mehr die Leute Kunst und Schlauheit pflegen, desto mehr erheben sich böse 1 Zeichen; je mehr Gesetze und Befehle prangen, desto mehr gibt es Diebe und Räuber' [10:100]. VOM ETHOS DER PFLICHT UND DES RECHTES AUF WISSEN Nicht die im Mittelpunkt erregter kultureller und wissenschaftlicher Debatten stehenden erweiterten Möglichkeiten genetischer Modifikation, sondern die bisher kaum diskutierten Möglichkeiten genetischer Prädiktion scheinen mir für heute die eigentliche und aktuelle Herausforderung an das Ethos der Kultivierung und Selbstkultivierung zu sein. An den ethischen und kulturellen Parametern des Szenariums der Analyse des menschlichen Genoms läßt sich diese neue Herausforderung besonders deutlich zeigen. Hier haben wir das klassische Modell des ethischen Umgangs mit dem Zuwachs von Wissen vor uns. Sapere aude, war der Wahlspruch der Aufklärung: Wage zu denken! Denken, werten und entscheiden aber tun wir aufgrund von Informationen. Wissen und Informationen zu haben, ist Macht. Wie aber gehen wir mit der Macht um, die das Wissen verleiht. Dürfen wir auf medizinische und ethische Vorteile der präsymptomatischen und präventiven Medizin verzichten? Ist es nicht besser Risiken für Krankheiten zu erkennen und zu verhindern, als post factum akut zu intervenieren, oft vergeblich, oft mit viel Leid und Schmerzen verbunden, oft vergeblich. Wollen wir pauschal auf Zuwachs von Erkenntnis und Wissen verzichten, weil andere mit diesem Wissen auch unethisch umgehen können? Oder wollen wir nicht lieber diejenigen öffentlichen und beruflichen Diskurse heute führen, die uns erlauben, differenziert Gefahren und Risiken der neuen Techniken einzugrenzen und Vorteile gesellschaftlich, individuell und medizinisch nutzbar zu machen? Ich fasse meine Antwort in einer dritten These zusammen: Fortschritte in der Molekulargenetik verstärken die Transformation der Medizin weg von der akuten Krisenintervention und hin zur nichtakuten, prädiktiven und präventiven Medizin. Diese sensationelle kopernikanische Wende in den biomedizinischen Wissenschaften hat enorme Konsequenzen für die bioethischen Wissenschaften, die ärztliche Praxis, das Arzt-Patient Verhältnis und unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit [21; 23; 25; 26]. Die Risikofaktorenmedizin macht asymptomatische und präsymptomatische Früherkennung von Gesundheitsrisiken möglich und revolutioniert die klassischen Szenarien der hippokratischen Medizin revolutioniert. Freizeitverhalten, Arbeitsplatz oder genetische Prädisposition oder eine Gemenge von allen diesen drei Faktoren bestimmen die jeweils individuellen Risiken für meine Gesundheit. Bluthochdruck und Zuckerstoffwechsel, kardiovaskulare oder onkologische Prädispositionen und andere Risikofaktoren sind erkennbare und manipulierbare individuelle Risiken für Gesundheit. Einige können ausgeschaltet werden, andere reduziert oder das Stadium ihres Akutwerdens verzögert werden. Der Patient wird zum Partner von Verhinderung oder Verzögerung des Eintritts von schwereren Gesundheitsrisiken. Neben die fürsorgliche und fremdbestimmte hippokratische Ärzteethik tritt in Zukunft die 1 selbstbestimmte und selbstverantwortliche Patienten- oder Bürgerethik in der Gesundheitspflege. Die Medizinethik wird in der nicht allzu fernen Zukunft eine ebenso radikale kopernikanische Wende erfahren im Gefolge der Transformation der Medizin durch die langfristig erkennbaren Risikofaktoren wie die Medizin selbst. Damit ändern sich die Prioritäten traditioneller bioethischer Prinzipien aus hippokratischer Tradition [21]. Es geht künftig seltener um die Abwägung der Interventionsmaximen des nil nocere und des bonum facere bei einer Akutintervention und häufiger um die konsequente Anwendung der Sequenz: Erkennung von individueller und gesellschaftlicher oder gruppenspezifischer Risikofaktoren, Entwicklung von Strategien zur Verringerung oder Vermeidung individueller Gesundheitsrisiken und der Erreichung individueller und gesellschaftlicher Gesundheitsziele [23]. Damit ändern sich auch die Subjekte der Verantwortung in der traditionellen Arzt-Patient Interaktion. Wenn es um Vermeidung von lebensstil- oder arbeitsplatzbedingten Risiken und solchen aus dem genetischen Erbe geht, dann wird der Mediziner zum Berater und der Patient (besser: der Bürger als potentieller Patient) zum primären Handlungs- und Verantwortungssubjekt. Nicht mehr Compliance mit paternalistischen ärztlichen Entscheidungen und solidarische Finanzierung der Krankheitskosten, sondern Verantwortung und Selbstbestimmung nach Information und Beratung durch den Mediziner und eine nach Kriterien von Verantwortung und Solidarität finanzierte Gesundheitsvorsorge sind die primären bioethischen Tugenden des Bürgers und die ordnungsethischen Parameter im Szenarium der Gesundheitsvorsorge. Dabei kommt es zu ähnlichen Spannungen zwischen den technisch ermittelten Risiken und individuellen Konzeptionen von Lebensqualität und Risikokompetenz, zwischen objektiven Zwängen von Prävention und individuellen Prioritäten von Lebensqualität, Lebensstil, Arbeitsstil und Freizeitverhalten. Diesmal ist aber der Bürger, nicht der Arzt, derjenige, der abwägen und entscheiden muß. Der Schwerpunkt bioethischer Fragestellungen wird sich von der Arzt- und Forschungsethik auf Patienten- und Gesundheitsethik verlagern. Vor allem zwei bioethische Prinzipien, Aufklärung und Schweigepflicht, erscheinen im Szenarium der prädiktiven Medizin in einem anderen Licht als in dem der Krankenversorgung. Konnte man bei der Krankenversorgung im Sonderfall mit Gründen das Prinzip der Aufklärung vernachlässigen oder gar außer Kraft setzen, so sind im Szenarium des technischen und ethischen Umgangs mit Risikofaktoren Information und Beratung die Bedingung der Möglichkeit eines Modells von Gesundheitsvorsorge im Umgang mit Risikofaktoren, das auf Verantwortung und Information basiert. Traditionell gehört die Schweigepflicht zu den ehernen Prinzipien ärztlicher Ethik, jetzt muß sie neu bekräftigt und ausgemessen werden angesichts des Mißbrauchs, der mit Informationen aus der prädiktiven Medizin getrieben werden kann. Ein drittes bioethisches Prinzip stellt sich aber unübersehbar in den Vordergrund: Pflicht zum Wissen. Gibt es eine Pflicht zum Wissen oder vielmehr ein Bürgerrecht auf Nichtwissen in 1 bezug auf meine eigenen Risikofaktoren für Gesundheit? [9; 12; 26]. Diese Frage muß sich unsere Generation zum erstenmal in aller Radikalität stellen. Meine vierte These lautet daher: Jawohl, es gibt eine Pflicht zum Wissen um Risikofaktoren dort, wo ich durch verantwortungsvollen Umgang mit diesem Wissen etwas ändern kann. Wissen ist Macht und aus der Macht ergibt sich Verantwortung. Verantwortlich mit Informationen umzugehen, das bin ich primär mir selbst und der Solidargemeinschaft schuldig, die gemeinsam die Kosten für die Gesundheitspflege übernimmt [21; 23]. Wissen bedeutet nicht nur Freiheit zur Selbstbestimmung, sondern auch Verantwortung für andere. Die Konsequenzen dieser Verantwortung für eine neue teils solidarische, teils eigenverantwortliche Finanzierung von Kosten der Gesundheitspflege wurden bereits erwähnt. Andere neue Verantwortungen ergeben sich zwischen den Generationen in Fällen schwerster Erbkrankheiten [9; 12; 26]. Einer unter fünfundzwanzig Engländern ist Träger der Zystischen Fibrose, soll es freiwillige oder vorgeschriebene pränatale oder präimplantive Untersuchungen geben, wie ist der Begriff 'verantwortliche Elternschaft' neu zu definieren angesichts der Möglichkeiten der Prävention schwerster Erbkrankheiten durch die 'Prävention' neuer Träger? [2; 9; 26]. In der Bundesrepublik ist durch das Embryonenschutzgesetz die Prämiplantationsdiagnostik verboten [3], die mit Erfolg bei Trägern von Zystischer Fibrose angewandt wurde [5], erlaubt ist aber für die gleichen Fälle den Schwangerschaftsabbruch mit allen sich daraus ergebenden ethischen und emotionalen Problemen. Diese Szenarien sind noch nicht genügend differenziert ethisch diskutiert worden. Wer soll entscheiden, der Staat durch Verbote oder Gebote oder im Sinne von Subsidiarität [13] Nächstbetroffene und Nächste, also Schwangere und ihre Partner und Familien? Das neue Wissen verlangt nicht nur vom Bürger in der Rolle des präsymptomatischen Patienten mehr Gesundheitsmündigkeit, sondern von potentiellen Eltern mehr Verantwortungskompetenz in verantwortlicher Elternschaft. VOM ETHOS UND DEN RISIKEN DER MANIPULATION Wir können nicht nur im Buch der Natur lesen, wir können in ihm schreiben und es umschreiben. Die indirekte genetische Manipulation von Natur durch den Menschen ist so alt wie die menschliche Kultur. Hege, Zucht und Selektion waren indirekte Manipulationen durch Modifikation von Natur Nutzpflanzen und Nutztiere zu schaffen. Die Manipulation natürlicher Biotope durch Ausrotten von Unkräutern und das Verbringen von Pflanzen in andere Zonen, der Reichtum an gezüchteten und gehegten Nutzpflanzen, die differenzierte Vielfalt der Hunde- und Rinderrassen und die Welt der Nutztiere überhaupt geben ein farbenkräftiges Zeugnis ab von der Modifikation roher Natur durch den Menschen hin zur Kulturlandschaft und zur kultivierten menschlichen Umwelt, zu der seit Jahrtausenden auch genetisch manipulierte Zierpflanzen wie Rosen und Bonsaibäume sowie genetisch extrem manipulierte Ziertiere wie die chinesischen 1 Goldfische gehören. Diese Manipulationen waren nicht immer ohne nachfolgende teils ökologische, teils ethische Risiken. Hierzu drei historische Beispiele. Die alttestamentliche Geschichte von Laban und Jakob beschreibt nicht nur technische Details genetischer Manipulation von Nutztieren, sondern auch daraus sich ergebende nachfolgende ethische Probleme für Wirtschafts- und Vertragsethik [1.Mose, 30]. Jakob hatte seinem Schwiegervater, dem geizigen Laban, jahrelang ohne Lohn gedient. Schließlich machte Jakob den, wie Laban dachte, bescheidenen Vorschlag, daß er ihm in Jahresfrist die nicht rassereinen Tieren als Lohn überlasse. Laban ging auf diesen Vorschlag ein und Jakob unternahm fortan alles, um die bis dahin getrennt gehaltenen Herden zusammen zu weiden und an die Tränke zu führen, damit es möglichst viele Kreuzungen zwischen den Herden gab: 'Gesprenkelte, Gefleckte und Bunte' [1.Mose 30,39]. Er brachte sogar frische Zweige an die Tränke, damit die Tiere länger blieben und somit mehr Zeit hatten, 'durcheinander zu laufen' und sich genetisch zu vermischen. Diese Geschichte setzt nicht nur eine sehr lange Tradition manipulierender und selektierender Hege und Züchtung voraus, sondern stellt auch die Frage nach den ethischen Grenzen und Verfehlungen im Umgang mit Manipulation, die nicht innerhalb des Manipulationshandelns liegen, sondern ihr als geschäftliches oder persönliches Ziel vorgegeben sind. Die Re-Manipulation von genetisch hochgezüchteten Nutztieren war für Jakob profitreich; schreibt die Bibel: 'daher ward der Mann über alle Maßen reich' [1.Mose 30,43]. Der Kommentator der Lutherübersetzung (1954) in der Württembergischen Bibelanstalt hat Probleme mit dem ethischen Verhalten des Stammesvaters und Patriarchen Jakob und spricht in theologischer Exkulpation von passivem Gewährenlassen, das er von aktivem Betrug unterscheidet: 'Jakob gebraucht eine List, indem er auf das sogenannte 'Versehen' der Tiere rechnet; Gott hat ihm solches nicht geheißen; aber er ließ es gelingen, um den geizigen Laban zu züchtigen'. 'Schuld' sind also die Tiere; aber Tiere können vor Gott nicht schuldig werden, sie begehen nur ein 'Versehen'. Eine negative ethische und ökologische Bilanz von Folgen einer Manipulation, diesmal einer Migrationsmanipulation, hat bis heute das Verbringen von Kaninchen nach Australien im vorigen Jahrhundert, weil es bei den dortigen optimalen Lebensbedingungen und wenig natürlichen Feinden zu häufigen Kananichenplagen führt. Eine große negative Bilanz in der ethischen Abschätzung von Manipulationsfolgen hat heute die Zucht von Dackeln, die in zunehmendem Alter von sehr schmerzhaften Bandscheibenschäden heimgesucht werden; die Zucht des Dackels für die Fuchs- und Dachsjagd war früher manipulationsstrategisch und ethisch gerechtfertigt. Heute Dackel zu züchten oder als Hausgenossen und Spieltiere für Kinder in Etagenwohnungen zu halten, dürfte demgegenüber ethisch nicht zu rechtfertigen sein, weil es auch andere Hunderassen mit weniger schmerzhaften Konstruktionsfehlern gibt, die zudem noch kinderfreundlicher und pflegeleichter sein könnten als Dackel. 1 Im Zeitalter direkter molekulargenetischer Manipulation deuten sich teils erweiterte und vertiefte Aufgaben für immer schon gefordertes verantwortliches Manipulationsethos an, teils neue und bisher nicht gekannte Aufgaben eines Hegeethos für natürliche Umwelten, natürliche Tiere und Pflanzen. Die genetische Stabilität des Produkts, die Biotopverträglichkeit, die nebenfolgenbestimmte Nutzbarkeit und die Kontrollierbarkeit von Migration und Multiplikation sind Kriterien [17:55], die mit traditionellen Zucht- und Hegeverantwortungen korrelieren und einer sowohl technischen wie kulturellen Folgeabschätzung unterworfen werden müssen. Darf man neu kombiniertes Leben patentieren, lautet eine vielgestellte ethische Frage von erheblicher ökonomischer Bedeutung. Auch für die Beantwortung dieser Frage gibt es klassische Modelle von Züchterschutz und Züchterprivilegien, welche Motivation zur Zucht und Rechte an dem Produkt stärken. Die schiere Zunahme kultivierter Lebewesen und die Verdrängung von nicht kultivierten Lebewesen und Biotopen verlangt sowohl aus technischen Gründen der Erhaltung eines weitgefächtern Reichtums an genetischem Erbe wie auch aus ethischen Gründen des Respekts und der Ehrfurcht vor natürlich Gewordenem, wo immer möglich, ein neues Hegeethos der Bewahrung und des Schutzes. Aber auch im Zeitalter molekulargenetischer Manipulation von Nutz- und Heilpflanzen, von Nutztieren, zu denen auch transgene Tiere als eine neue Form gehören und von nützlichen Mikroben und Proteinen zum Essen und zum Heilen für Mensch und Tier, zur Reinigung der Umwelt oder zur Produktion von Energie ist Kultur nicht denkbar ohne ein Ethos der Manipulation, das nicht nur die Grenzen sondern auch Ziele verantwortungsethisch diskutiert und verabredet. Insgesamt war und ist Naturmanipulation ein Teil menschlicher Kulturarbeit und Kulturverantwortung; die generelle und selektive ethische Diffamierung nur der direkten molekulargenetischen Manipulation unter weiterer kultureller Akzeptanz aller anderen Arten von indirekter züchterischer Manipulation von Natur oder pädagogischer Manipulation von Menschen ist ein ethischer Kunstfehler, dem nicht nur Hans Jonas [6] verfallen ist, sondern der weithin die öffentliche Diskussion über die Molekulargenetik beherrscht [1]. Deshalb formuliere ich als fünfte These: Das Ethos der Manipulation verlangt nach einer differenzierenden und konkreten technischen wie ethischen Güterabwägung beim Einsatz bekannter wie beim Einsatz neuer und fremder Technologien. Das Szenarium der molekulargenetischen Manipulation in der Humanmedizin zerfällt nach einer inzwischen akzeptierten Unterscheidung in das der heute zum Teil möglichen somatischen Therapie und in das heute nicht möglichen Keimbahntherapie. Ich schließe mich dieser Unterscheidung an, weil dadurch die Diskussion um die somatische Gentherapie erleichtert und entlastet wird [19]. Die sich für die somatische Gentherapie ergebenden ethischen Probleme unterscheiden sich nicht wesentlich von denen auf anderen Gebieten neuer und 1 innovativer Therapie. Es geht um Fragen der Sicherheit der Methode und Prognose, nach Nebenoder Folgerisiken, der Abwägung mit schon bestehenden Alternativen, der eigenen Qualifikation und der der Mitarbeiter. Neu sind die ethischen Risiken der Abwägung technischer Risiken in bezug auf Stabilität rekombinierter Zellen oder Medikamente und ihre Interaktion. Die ethischen Risiken scheinen aber nicht grundsätzlich anderer Natur zu sein als solche im Umgang mit neuer Medizin überhaupt. Für erste molekulargenetische Modifikationen wurden fünf Jahre vor den ersten Heilversuchen im Vorfeld schon ethische Checklisten entwickelt [24], an welchen später Forschungsdesign und ethische Akzeptanz geprüft wurden. Im September 1990 wurden am National Institute of Health der USA erstmals einem kleinen Mädchen, das an einer anderweitig nicht heilbaren angeborenen schweren kombinierten Immunschwäche litt, genetisch rekombinierte eigene weiße Blutkörperchen eingespritzt, die eine erfolgreiche Immunabwehr erlaubten. Hätte man die Gentherapie lieber verbieten oder wenigstens nicht fördern sollen? Dieser sensationellen Kompensation eines schweren genetischen Schadens werden sehr schnell weitere folgen. Im Falle der Gentherapie wird es ethisch und medizinisch so ausgehen wie auf vielen nicht nur ethisch umstrittenen Forschungsgebieten: Wer heilt, behält Recht. Die ethischen Parameter der Keimbahntherapie bewegen im Zuge selektiver technophober Empörungsmoden die Gemüter so stark, daβ es für Regierungen und Berufsverbände schon 'zum guten Ton' gehört, im Interesse der gesellschaftlichen Akzeptierung von somatischer Gentherapie schon die bloße Diskussion über die Manipulation in der Keimbahn zum Tabu und das mögliche Faktum zum absoluten Übel zu erklären [24]. Und in der Tat würde jede Manipulation des Erbgut zu Zwecken der Ausbeutung oder Berechnung der Würde des Menschen widersprechen und ist unter keinerlei ethischer Perspektive zu rechtfertigen. Mit Recht hat schon vor Jahren das Europäische Parlament in Straßburg einen Katalog von Bürgerrechten entworfen, der jedem Europäer das Recht auf ein unmanipuliertes Erbgut zusichert. Dieses generelle Recht schließt aber auch in der Stellungnahme des Europaparlaments nicht die Verantwortung aus, jemandem von einem schwersten Erbleiden zu befreien, wenn das technisch sicher möglich ist. Zur Menschenwürde gehört der Respekt vor der Unantastbarkeit der Person, aber nicht weniger die Verantwortung für den anderen, die in der Sicherstellung der individuellen und sozialen Sicherheit, der Gleichheit vor dem Gesetz, der genetischen, körperlichen und intellektuellen Unversehrtheit, sowie der Freiheit von staatlicher oder ideologischer Bevormundung und Ausbeutung sich ausdrückt. Nach dem Verständnis aller Verantwortlichen würde Keimbahntherapie nur bei einer kleinen von Parlamenten oder von ärztlichen Organisationen festzulegenden Liste von schwersten Erbkrankheiten infrage kommen, für die es keine andere Heilung oder Milderung gibt. Damit stellt sich hier die Frage nach der Pflicht und dem Recht verantwortlicher 1 Elternschaft in ähnlicher Weise wie sich diese Frage bei der Einführung der Schutzimpfung oder der Antibiotikabehandlung gestellt hat. Solange es keine wirksame Polio-Schluckimpfung gab, gehörte die ethische Diskussion über das Recht oder das Unrecht des Impfens mit 'rekombinierten' Krankheitserregern ähnlich in die Hörsäle der akademischen Philosophie wie die heutige Debatte über das Recht oder Unrecht der Keimbahntherapie. Erste Szenarien der Manipulation der menschlichen Keimbahn sind beschrieben worden, deren Differenzierung die bisherige generelle Diskussion um ein Menschenrecht auf ein unverändertes Erbgut erweitern wird um die Verantwortung des Heilens in Keimbahnzellen statt in somatischen Zellen, wo es möglich und indiziert ist [27] und wo es eine Alternative zum Sterbenlassen oder Töten von präimplantierten oder pränatalen Leben oder zu extrem teuren Defektbehandlungen wäre. Diese eng beschriebenen medizinischen Szenarien unterscheiden sich von den in der Öffentlichkeit diskutierten Dr. Mabuse Szenarien bis zur Unkenntlichkeit und verlangen nach einer ebenso eng und differenziert argumentierenden ethischen Abwägung im Vorlauf vor möglichen Heilversuchen, ähnlich wie das bei der somatischen Gentherapie der Fall war [27]. Ich sehe auch eine wachsende Verantwortung von Ethikern, die wirklichen medizinischen und nicht die phantastischen surrealistischen Szenarien in der Öffentlichkeit zu diskutieren; wir brauchen mehr Differentialethik und weniger generalisierenden Moralismus [22] Für sogenannte Dr. Mabuse Szenarien kommt die Keimbahnmanipulation wohl kaum jemals infrage; es dürfte auch wohl leichter sein, Menschen durch Erziehung als durch Genetik zu manipulieren. Da es sich jedoch um eine wichtige Grenzfrage im Umgang mit Technik handelt, sollten wir die Diskussionen um die Grenzen und die Methoden, diese Grenzen in einer Demokratie auszumessen, sehr intensiv und differenziert führen. Wir haben einen Nachholbedarf für differenzierende ethische Diskussionen in unserer öffentlichen Streitkultur. Sollte künftig die Keimbahntherapie auf sichere Weise von schwersten Erbleiden befreien können, dann sind Entscheidungen in verantwortlicher Elternschaft gefordert, für welche Ärzte und Juristen Hilfestellung geben sollten. Dann ist die Keimbahntherapie primär und konkret ein Thema für Eltern, nicht für bevormundende Staatsanwälte oder Politiker. Als sechste These formuliere ich daher: Über die ethische Akzeptanz der Gentherapie an somatischen wie an Keimbahnzellen darf heute nicht generell, sondern muß morgen speziell und differenziert abgewogen werden. VOM ETHOS UND DEN RISIKEN DER VERANTWORTUNG Hans Jonas gehört zu dem Kreis technophober Kulturkritiker, welche die Weiterentwicklung und Verbesserung und Anwendung von Gentechnik zusammen mit Informations- und Nukleartechnik mit staatlichen Mitteln reduzieren oder verhindern wollen [6]. 1 Das Argument ist, daß die ethischen Kapazitäten der Menschheit nicht mit den technischen Kapazitäten mithalten können und daß aus diesem Grunde Technik retardiert werden muß. Es ist den Kulturkritikern zuzustimmen, daß in der Tat mit der Gentechnik ebenso wie mit den Steinäxten Mißbrauch getrieben werden kann. Je differenzierter und leistungsfähiger die Technik, umso mehr an Verantwortungskompetenz und an Kompetenz für die Integration ethischer und technischer Gesichtspunkte in Analyse, Bewertung und Entscheidung muß verlangt werden. Aber es hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn wir insgesamt und generell Technik, unter Einschluß der Gentechnik, befürworten oder verwerfen wollten, statt jeweils speziell und differenziert unterschiedliche Szenarien der molekulargenetischen Diagnose und Therapie zu bewerten. Genmedizin und Gentechnologie sind kein geeigneter Schauplatz für den ideologischen Weltanschauungs- oder Gewissenskampf, sondern für die differenzierende Güterabwägung und Technikanwendung [1]. Solange es nicht genug Nahrung, Medikamente und ein Minimum an zivilisatorischem und kulturellem Komfort für viele Menschen gibt, ist es ein Kunstfehler verantwortungsethischer Diskussion, Techniken wie die Gentechnik generell zu diskutieren und mit dem Argument des worst case scenarios abzuqualifizieren. Nicht diese oder jene Technik generell, sondern generell jede Anwendung jeder Technik, ob alter und vertrauter oder neuer und unvertrauter, muß speziell und differenziert nach technischen wie nach ethischen und kulturellen Risiken, Unsicherheiten, Vorteilen und Nachteilen bewertet werden [11; 17; 18; 19; 22]. Solange die Genmedizin Prävention oder Heilung von Krankheiten erlaubt, die auf keinem anderen Weg erreicht werden können, steht der Gesundheitsauftrag im Vordergrund. Was von den Ethikern als Ethos und Service vom Bürger, den Experten und der Gesellschaft verlangt wird, ist eine differenzierte Dienstleistung für heilberuflich Tätige und Betroffene, bioethische Ziele, Risiken und Grenzen des Einsatzes neuer biomedizinischer Techniken, inklusive derer in der Molekulargenetik, ausmessen zu helfen. Ethische Differenzierung, nicht moralische Generalisierung ist von den Servicedisziplinen der Medizin zu fordern [22]. Naturwissenschaft und Biomedizin haben Forschungsfortschritte und medizinische Beiträge nicht durch generalisierende Wiederholung der Newtonschen oder Mendelschen Regeln, sondern durch Analyse, Differenzierung und Detailarbeit errungen. Von den Wertwissenschaften muß weniger generalisierender Moralismus und mehr differenzierende Detailarbeit bei der Interpretation klassischer ethischer und kultureller Traditionen in den neuen Szenarien von Molekulargenetik in Prädiktion und Manipulation gefordert und geleistet werden. Auch die wertwissenschaftliche Methodik der Güterabwägung bedarf nach dem Vorbild der naturwissenschaftlichen Methodik einer Differenzierung und Konkretisierung. Allgemeine und generelle Ethik muß Raum geben für Differentialethik. In der Differentialethik geht es wie in 1 der Differentialdiagnostik um das Sammeln der vielen einzelner ethischer und technischer Details eines bestimmten Falls oder Szenariums. Die so gesammelten technischen und ethischen Details werden dann zu Zwecken der Behandlung eines Einzelfalls oder der Analyse eines Szenariums integriert und bilden in ihrer Gesamtheit das Ensemble der Informationen, aus denen sich ethische Prognose und ethisch verantwortete Intervention oder Manipulation ergeben. In der Genforschung sehen die Szenarien unterschiedlich aus; also bedürfen sie einer jeweils neuen differentialethischen Abwägung. Unterschiedliche kulturelle Traditionen und individuelle Werthaltungen werden im Einzelfall unterschiedliche Güterabwägungen anstellen, dabei aber ein a priori des Ethos der Verantwortung trotz aller kulturellen und individuellen Unterschiede voraussetzen dürfen [16]. Die Einbeziehung klassischer Güterabwägungen aus der ethischen Tradition in aktuelle ethische Abschätzung von Theorie- und Technikfolgen wird unterschiedlich ausfallen, autoritativ für den Gläubigen, welcher dem Lehramt die Interpretationskompetenz für Tradition, Werte und Maßstäbe zuspricht [14], regulativ und exhortativ für denjenigen, der in eigener Gewissensentscheidung überkommene Lehren verantwortlich sich anzueignen bemüht [4] und informativ und adjuvantiv für denjenigen, welcher der Tradition gegenüber kritisch sich verhält und diese ebenso wie die neuen technischen und ethischen Herausforderungen verantwortungsethisch und diskursethisch kritisch auszumessen sucht [16; 17; 22]. Je elementarer die Verantwortungen mit Leben, Leid, Schmerz, Freiheit, Hoffnung und elementaren Menschenrechten zusammenhängen, umso geringer dürfte die Bandbreite der kulturellen Unterschiede sein und umso mehr treten Pflichten gegenüber Dritten in den Vordergrund der Güterabwägung. Zu den Grundelementen, welche die Würde des Menschen und das Ethos seines verantwortlichen Umgangs mit Wissen und Machen bestimmen, gehört das Gewissen, von dem Spinoza gesagt hat, daß es keine Gefahr für öffentliche Ordnung und Kultur darstelle, daβ aber seine Bedrohung oder Vernichtung auch eine Bedrohung oder Vernichtung von öffentlicher Ordnung und Kultur bedeuten würde. Deshalb möchte ich eine siebte und letzte These vom Ethos des Prinzips der Subsidiarität formulieren: Wo Politiker, Ethiker, Juristen und andere Experten sich um Recht oder Unrecht von Wissen oder Machen streiten, sollte im Sinne der Subsidiarität das Gewissen der direkt Handelnden und der zunächst Betroffenen entscheiden. Die Stärkung der Gewissenskompetenz und der Verantwortungsmündigkeit ist eine globale Herausforderung an uns alle, nicht nur wegen der Herausforderungen der neuen Szenarien von genetischer Diagnostik und Manipulation. VON DER GESCHICHTE DER NATUR IN DER KULTURGESCHICHTE 1 Die Geschichte des Lesens im Buch der Natur lehrt uns, daβ Naturgeschichte nie nur bloβe Geschichte der Natur ist, sondern immer auch Geschichte der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur oder, worauf Bacon 1670 im Novum Organon hinweist, 'nicht bloß eine Geschichte der freien und ungebundenen Natur, sondern weit mehr noch eine Geschichte der gebundenen und bezwungenen Natur, das heißt wenn sie durch die Kunst und die Tätigkeit des Menschen aus ihrem Zustand gedrängt, gepreßt und geformt wird'. Daß wir diese doppelte Geschichte der Natur nicht sehen und nicht die notwendigen verantwortungsethischen und ordnungsethischen Konsequenzen aus dieser Einsicht ziehen, ist eines der großen Risiken für Ethik und Medizinethik im Zeitalter von genetischer Diagnostik und Manipulation. Die Verwobenheit von Naturgeschichte und Menschengeschichte als der Geschichte menschlichen Kultivierens und Manipulierens wurde selten bildreicher als von Homer in der Schilderung des Gartens des Alkinoos beschrieben [7:51]: 'Gleich dem Strahle der Sonne und gleich dem Schimmer des Mondes blinkte des edelgesinnten Alkinoos prächtige Wohnung. Außer dem Hofe liegt ein Garten, nahe der Pforte, eine' Huf ins Gevierte, mit ringsumzogener Mauer. Allda strebten die Bäume mit laubichtem Wipfel gen Himmel, voll balsamischer Birnen, Granaten und grüner Oliven, oder voll süßer Feigen und rötlich gesprenkelter Äpfel. Diese tragen beständig und mangeln des lieblichen Obstes weder im Sommer noch Winter; vom linden Weste gefächelt blühen die Knospen dort, hier zeitigen schwellende Früchte. Allda prangt auch ein Feld von edlen Reben beschattet. Einige Trauben dorren auf weiter Ebne des Gartens, an der Sonne verbreitet, und andere schneidet der Winzer, andere keltert man schon. Hier stehen die Herling' in Reihen, dort erblühen sie erst, dort bräunen sich leise die Beeren. Am Ende des Gartens sind immerduftende Beete, voll balsamischer Kräuter und tausendfarbiger Blumen. Auch zwei Quellen sind dort: die eine durchschlängelt den Garten und die andere gießt sich unter die Schwelle des Hofes an den hohen Palast, allwo die Bürger sie schöpfen. Siehe, so reichlich schmückten Alkinoos Wohnung die Götter.' 1 LITERATUR 1. Altimore M (1982) The Social Construction of a Scientific Controversy, Science, Technology and Human Values, 7: 24-31 2. Asch DA, et al (1993) Reporting the Results of Cystic Fibrosis Carrier Screening, American Journal of Obstetrics and Gynecology, 168 (1.1): 1-6 3. Bundesrepublik Deutschland (1990) Embryonenschutzgesetz [ESchG], Bundesgesetzblatt, 13. Dezember 1993 4. Fuchs J (1984) Das Gottesbild und die Moral innerweltlichen Handelns, Stimmen der Zeit, 6: 363-382 5. 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ZUSAMMENFASSUNG: Technische und ethische Risiken von Information und Prädiktion und die Manipulation der Natur sind seit Menschengedenken wesentliche Bestandteile menschlicher Kultur und Kultivierung. Im Widerspruch zu modischen postmodernen technophoben Voraussagen stellen genetische Informationen und Manipulationen keine total neuen ethischen und bioethischen Herausforderungen für das menschliche Kulturverhalten der Natur gegenüber dar. Aber schärfere Instrumente verlangen nach schärferer Bewertung und sorgfältigerer Benutzung. In sieben Thesen wird der Rahmen des möglichen Nutzens und Schadens der Molekulargenetik für Natur, Kultur, Menschen und Mitmenschen ausgemessen. ISBN 3-927855-69-3 1 Heft 91 ETHISCHE UND BIOETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN MOLEKULARBIOLOGISCHER PRÄDIKTION UND MANIPULATION Hans-Martin Sass 1 Hans-Martin Sass ist Professor für Philosophie und Mitglied des Zentrums für Medizinische Ethik an der Ruhr-Universität Bochum; er ist zugleich Senior Research Fellow und Direktor des European Professional Ethics Program am Kennedy Institute of Ethics der Georgetown University, DC. Herausgeber: Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass Prof. Dr. med. Herbert Viefhues Prof. Dr. med. Michael Zenz Zentrum für Medizinische Ethik Bochum Ruhr-Universität Gebäude GA 3/53 44780 Bochum TEL (0234) 32-22750/49 FAX +49 234 3214 – 598 / 088 Email: [email protected] Internet: http://www.ruhr-uni-bochum.de/zme/ Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Schutzgebühr: DM 10,Bankverbindung:Sparkasse Bochum Kto. Nr. 133 189 035 BLZ: 430 500 01 ISBN 3-927855-69-3 [1. Auflage März 1994; 2. Auflage Juni 1994] 1 1 ISBN 3-927855-63-4 1 1994 1