Die Welternährungsorganisation FAO schätzt, dass weltweit ein

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Die Welternährungsorganisation FAO schätzt, dass weltweit ein Drittel
aller Lebensmittel weggeworfen werden, pro Jahr etwa 1,3 Milliarden
Tonnen. In Deutschland führt vor allem das Mindesthaltbarkeitsdatum
dazu, dass verwertbare Nahrungsmittel schon beim Discounter im Müll
landen. Einige Idealisten haben aus der Untugend ein Prinzip gemacht
und ernähren sich aus den Abfallcontainern. Annika Sophie Duhn hat
einen Mülltaucher bei seinem abendlichen Streifzug begleitet.
Fotos von Chiara Chessa
14 MISEREOR – Das Magazin 2013
Die Wettervorhersage für Düsseldorf stimmt: Temperaturen um elf Grad, Wind und Regen ab spätem
Nachmittag. Schnell noch beim nächsten Supermarkt
ein paar Kleinigkeiten einkaufen, dann ein gemütlicher
Abend zu Hause. Doch Sebastian Engbrocks geht nicht
durch die sich automatisch öffnende Ladentür ins Helle
und Warme der bunten Warenwelt, sondern schnurstracks
in den Hinterhof. Es ist 17.30 Uhr und der Kundenparkplatz
ist gut gefüllt, als er mit seinem großen Rucksack und ein
paar Plastiktüten ausgerüstet auf die Mülltonnen zusteuert.
Sebastian Engbrocks ist Mülltaucher oder Containerer,
wie der ein oder andere sagt. Der Tontechniker und Konzertveranstalter wühlt in den Abfällen der Supermärkte
und fischt einwandfreie Lebensmittel heraus. „Für mich
ist das Routine. Nach der Arbeit laufe ich noch bei zwei,
drei Supermärkten vorbei und schaue, was in den Tonnen
steckt“, erklärt der 36-Jährige. Erst nach der Suche in den
Tonnen betritt er den Supermarkt und kauft Produkte
dazu, die er nicht gefunden hat. Es gehe ihm dabei ums
Prinzip. „Es ist grotesk, welche Massen an Lebensmitteln
weggeschmissen werden!“ Containern ist für ihn ein Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft. „Meine Oma hat
dafür vollstes Verständnis! Die Kriegsgeneration hat ein anderes Bewusstsein dafür als unsere Generation.“
Ein grauer Metallverschlag steht hinter dem Supermarktkomplex. Die Tür steht sperrangelweit offen. Der
Wind wirbelt bunte Blätter durch die Luft und spielt mit
leeren Gemüsekisten Fangen. Vorsichtig lehnt Sebastian
die Tür an. Durch einen Spalt fällt schwaches Licht. Seine
Taschenlampe erhellt den Verschlag. Was er vor sich sieht,
macht selbst ihn noch fassungslos: stapelweise Kisten mit
Kartoffeln, Äpfeln, Weintrauben, Radieschen, Melone. Viel-
MISEREOR – Das Magazin 2013 15
leicht ist es doch eine Lagerhalle? Neugierig greift er sich
eine Tüte Weintrauben. Was ist da dran? Das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) ist in zwei Tagen erreicht. Doch dieses Datum bedeutet nicht: Achtung, ab jetzt gesundheitsgefährdend, weiß Sebastian Engbrocks. „Es sagt mir nur,
dass zum Beispiel ein Joghurt ab jetzt nicht mehr so cremig sein könnte“, erklärt er. Die Industrie bestimmt das
Datum, nicht eine Gesundheitsbehörde. Es ist ein Gütekriterium, mehr nicht. Eine andere Kiste ist voller abgepackter Blumensträuße. „Unglaublich, die Blumen stehen
sogar im Wasser!“ Ein Schlaraffenland für Containerer.
DIE SAISON BEGINNT IM SPÄTEN HERBST
Links an der Wand stehen in Reih und Glied acht quellendvolle Refood-Tonnen mit der Aufschrift: „Nicht für den
menschlichen Verzehr geeignet.“ Ihr Inhalt wartet darauf,
in Biogas umgewandelt zu werden. Sie sind die Fundgruben der Mülltaucher. Der süßliche Geruch von überreifen
er und wirft es kopfschüttelnd zurück. Noch sind keine Minusgrade, die Kühlkette ist unterbrochen. „Wenn im Winter minus zwei oder drei Grad sind, dann nehme ich auch
eine Packung Fleisch mit. Abends gibt es dann Schnitzel“,
erzählt der Mülltaucher. Seine Saison beginnt im späten
Herbst, wenn die Temperaturen ungemütlich werden.
„Letztes Jahr hatte ich den ganzen Winter frisch gepressten Orangensaft zum Frühstück.“ Im Sommer brauche
man einfach mehr Zeit, denn Obst und Gemüse werden in
der Hitze der Tonne schneller ungenießbar.
Zum Mülltaucher geworden ist Sebastian Engbrocks vor
elf Jahren während seiner Ausbildung zum Tontechniker.
Im selbstverwalteten Kulturverein bewirtete eine Gruppe
der weltweiten „Food not bombs“-Bewegung die Bands mit
einem großen Menü aus weggeworfenen Lebensmitteln.
„Ich war erstaunt, wie viel das war. So bin ich aus Interesse
mit denen losgezogen.“ Die „Food not bombs“-Bewegung
entstand in den 80er Jahren im amerikanischen Boston.
Die Gruppen sammelten schon damals aussortierte Lebensmittel von
Eier sind immer willkommen. Sebastian
Märkten und Händlern, um es dann
Engbrocks weiß nach
öffentlich zuzubereiten und zu verdem Wassertest sicher,
teilen. Ein Protest gegen die Verob sie noch genießbar sind oder nicht.
schwendung von Lebensmitteln. „Von
Schmecken, sehen,
einer Woche containern konnten wir
riechen, fühlen: Mehr
braucht ein guter Müllden Bands und Konzertgästen umtaucher nicht, um aussonst ein Buffet anbieten!“ Das war
machen, ob die Lebensmittel, die er findet,
damals. Und auch heute gilt: „Ein
noch haltbar sind.
bisschen Glück gehört einfach dazu.“
Die Verantwortung
für einwandfreie
Lebensmittel liegt in
Deutschland bei den
Einzelhändlern. Deshalb schmeißen sie
lieber weg, als die
Preise zu reduzieren.
Bananen liegt in der Luft. Schwungvoll öffnet Sebastian
Engbrocks die Deckel der Tonnen: Berge von Lebensmitteln lachen ihn an. Bananen, ein Dutzend Dreierpacks Paprika, ein paar Gurken. „Volltreffer! Das ist mehr als ich
tragen kann!“ Er begutachtet und prüft alles genau bevor
er Ausgewähltes in die mitgebrachten Plastiktüten stopft.
Mit bloßen Händen kämpft er sich durch das Gemüse und
zieht eine Packung Cornflakes und Milchschnitten heraus.
Seine Latex-Handschuhe benutzt er schon lange nicht
mehr, den Ekel vor dem Müll hat er verloren. „Zu Hause
wasche ich doch eh alles gründlich ab.“
Ein Kilo Muscheln, Sushi, Räucherlachs und einige
Fleischpackungen holt er aus einer anderen Tonne. „Das
ist mir bei den Temperaturen nicht ganz koscher“, erklärt
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SCHMECKEN, RIECHEN, SEHEN,
FÜHLEN
Engbrocks entdeckt im Licht der Taschenlampe eine Packung Eier. „Eier
sind immer gut!“, strahlt er und
prüft jedes einzelne. Ein, zwei, drei
sind zerquetscht, der Rest wandert
in die Tüte. „Einfach den Wassertest machen: Wenn sie
schwimmen sind sie faul, sonst braucht man sich keine
Gedanken machen!“ Schmecken, riechen, sehen, fühlen,
das ist seine Devise. Der Umgang mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum in Deutschland stört ihn. Die in wenigen
Tagen ablaufende Ware werde zu wenig reduziert. Das Problem in Deutschland sei, dass die Einzelhändler die Verantwortung dafür trügen, dass das Produkt einwandfrei
sei. Daher würden die Lebensmittel mit dem Ablauf des
MHD aus den Regalen genommen. Aber es gibt auch andere Beispiele. In Österreich gibt es extra Sozialmärkte, die
Produkte mit Schäden an der Verpackung oder ablaufendem MHD testen und anschließend für wenig Geld an
Menschen mit geringem Einkommen verkaufen. In den
USA werden Einzelhändler von ihrer Haftpflicht befreit,
wenn sie die kurz vor dem Ablauf stehenden Lebensmittel
spenden, und die Supermarktkette Jumbo in Holland erlaubt Kunden Produkte, die das MHD überschritten haben,
umsonst mitzunehmen. „Der Einzelhandel sollte für nicht
so finanzkräftige Kunden auch krummes und hässliches
Gemüse anbieten“, fordert Sebastian Engbrocks.
Plötzlich klappert eine Tür. Der Wind? Schritte. Engbrocks schaltet die Taschenlampe aus und schmunzelt in
sich hinein. Langsam bewegt er sich aus dem hintersten
Winkel Richtung Tür. Kniend späht er durch den Spalt
nach draußen, umklammert mit den Fingern den Türvorsprung, sodass der Wind nicht sofort die Tür aufreißt.
Zwei Supermarktmitarbeiter werfen leere Kartons in
einen Container, ein anderer schiebt rumpelnd einen
Wagen mit Kisten heran, die Männer unterhalten sich,
doch der Wind trägt ihre Sätze davon. Geduldig wartet der
Mülltaucher und schielt auf seine vier prall gefüllten EinBei seiner Suche nach
Essbarem stößt Sebastian Engbrocks immer
wieder auf ganze
Lebensmittellager.
Hier warten die weggeworfenen Nahrungsmittel darauf, von den
Entsorgungsfirmen
abgeholt zu werden.
Die Bio-Bananen sind
schon zwei Tage vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums im Müll des
Discounters gelandet.
Unbeschädigt und
originalverpackt. Der
Kunde kauft nur die
ganz frische Ware.
kaufstüten. Nach einer gefühlten Ewigkeit nähert sich ein
Mitarbeiter direkt dem Verschlag, Engbrocks stößt die Tür
auf und tritt lächelnd auf den Mann im weißen Kittel zu.
„Hallo, guten Abend! Da ist ja eine ganz schöne Menge an
Lebensmitteln im Müll. Können wir diese vier Tüten bitte
mitnehmen?“ „Nein, das geht nicht“, erwidert der Verkäufer knapp und greift energisch zur Türklinke des Verschlags. Engbrocks zeigt ihm seine leeren Hände. „Auch
hier im Rucksack ist nichts drin.“ Noch ein Blick auf die
verlorenen Tüten und schon knallt der Verkäufer die Tür
zu, zückt seinen Schlüsselbund und schließt ab. „Kommt
denn die Tafel zu Ihnen und holt das ab?“ Der Verkäufer
zuckt mit den Schultern und grummelt: „Heute nicht!“ Er
winkt ab und verschwindet ins Innere des Supermarkt-
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SPIELERISCH ESSEN TEILEN
Sebastian Engbrocks ist Initiator von „Foodsharing“, einer
Lebensmitteltauschbörse im Internet. Mit einer App für
Smartphones oder Tablet-Computer ist es möglich, überschüssige Lebensmittel nach einer Party oder vor dem Urlaub kostenlos anzubieten oder abzuholen. Mit dieser
spielerischen Möglichkeit, Essen miteinander zu teilen,
will die Online-Plattform vor allem die jüngere Generation
ansprechen. Laut einer Forsa-Umfrage schmeißen Singles
zwischen 25 und 35 Jahren am meisten Lebensmittel weg.
Genau diese Zielgruppe nutzt auch das mobile Internet.
Für Erzeuger, Händler und Tafelverbände gibt es die Möglichkeit, einen Filter anzulegen. Nur gemeinnützige Organisationen können so sehen, welche und wie viele Lebensmittel abzugeben sind. Finanziert wurde die Website ohne
Kredite und Banken durch sogenanntes „Crowdfunding“,
also über Internetnutzer.
lagers. Die zwei anderen Mitarbeiter räumen weiter stur
Pappkisten in einen großen Container. „Ich packe mit an
und helfe Ihnen! Dafür darf ich die Tüten mitnehmen,
okay?“ Keine Reaktion auf der anderen Seite.
JACKPOT HINTER SCHLOSS UND RIEGEL
Der Verkäufer kommt zurück. Neuer Versuch für das
Tauschangebot: Mithelfen für die Mülltüten? Zwar kann
er sich ein Lächeln abringen, aber er bleibt dabei: „Nein,
ich darf es nicht!“ „Kann ich wenigstens den Marktleiter
sprechen?“ Engbrocks bleibt hartnäckig. „Der ist heute
nicht im Haus!“ Ein letzter bittender Blick. Er tut sich
schwer, die fette Beute dalassen zu müssen. Muss sich aber
doch geschlagen geben und geht, die Hand in der Jacke
18 MISEREOR – Das Magazin 2013
zur Faust geballt: „Scheiße! Wo ist das Problem? Ihm kann
es doch egal sein, es wird doch eh alles weggeworfen!“ Wütend schüttelt er den Kopf. „Es ist einfach unglaublich!
Der Warenwert ist null Euro.“ Und trotzdem ist es verboten. Nach deutschem Recht ist Müll immer noch Eigentum. „In Österreich zum Beispiel ist der Müll herrenloses
Gut! Wegschmeißen bedeutet, dass du es nicht mehr
haben willst“, erklärt der Mülltaucher energisch. „So ein
Gesetz bräuchten wir in Deutschland auch.“ Bei den Fällen von Containerern vor Gericht sei es immer um Hausfriedensbruch gegangen. Das Delikt sei nicht der Müll,
sondern das sie über die Zäune klettern. Sebastian Engbrocks ist auf den guten Willen der Verkäufer und Marktleiter angewiesen. „Ich erwarte von den Supermärkten,
dass es geht! Das ist für mich eine Einstellungssache. Mein
Ziel ist es, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen und
eben nicht nachts klammheimlich herzukommen und zu
containern. Ich möchte einen sympathischen Eindruck
hinterlassen und versuchen, dass der
ein oder andere ein Auge zudrückt
Schon seine Mutter
hat vor dem Urlaub
und die Tür zum Müll offen lässt." Es
immer bei den Nachkomme immer auf die Menschen an.
barn geklingelt und die
Der Gewissensappell führt dieses
Lebensmittel, die übrig
waren, verschenkt. Mit
Mal nicht zum Erfolg. Der Containerseiner Website will
Jackpot bleibt hinter Schloss und RieSebastian Engbrocks
dieses ländliche Pringel. Aber der Abend ist noch jung.
zip wiederbeleben und
Die Tour durch die Straßen und Hinin die Großstädte transportieren. Der Müllterhöfe von Discountern und Supertaucher behauptet von
marktriesen geht weiter. Mal stehen
sich: „Ich bin nicht so
ein guter Koch, aber ich
die Mülltonnen hinter Gitter oder gehabe oft viel Lebensschlossene Einfahrtstore verhindern
mittel!“ Deshalb nutzt
den Zugang. „Nach Ladenschluss
er das Internet, um sich
zu vernetzen.
kommt man oft überhaupt nicht
mehr an den Müll ran.“ Noch ein
Grund, während der Öffnungszeiten
im Müll zu tauchen. Ein Dutzend
Adressen stehen auf Sebastian Engbrocks Einkaufliste. An der dritten Station hat er Glück
und zieht Pilze, Joghurt und einen Basilikumtopf aus dem
Dunkel der Tonne. „Eine kleine Entschädigung für das verdorbene Fest vorhin.“ Nach guten drei Stunden hat er alle
zugänglichen Container von genießbaren Schätzen befreit.
Vier Einkaufstüten sind rappelvoll. Sebastian rückt seine
Mütze zurecht, bis auf den Zwischenfall ist er zufrieden.
Nun ab nach Hause. In seiner WG-Küche breitet er die
ganze Beute auf dem Esstisch aus. „Das ist bestimmt ein
Einkauf im Wert zwischen 40 und 50 Euro.“ Doch vor dem
Kochen geht es an den Abwasch. Denn manches
Produkt klebt und schmiert. Auch will der Mülltaucher die Pilze im hellen Licht erneut durchsehen. Aber es bleibt dabei, heute gibt es Pilzrisotto.
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