Autismus-Spektrum-Störung in der DSM-5 Autismus-Spektrum-Störung in der DSM-5 Prof. Dr. I. Kamp-Becker Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Psychosomatik und Psychotherapie, PhilippsUniversität, Marburg 1. Hintergründe und Argumente für DSM-5 I. diagnostische Validität der Kategorie PDD-NOS II. Unterscheidung der Subtypen III. Anzahl der definierten Bereiche IV. hohe Heterogenität von autistischen Störungen V. Beginn der Störung (age of onset) VI. Begleitende Erkrankungen 2. DSM-5 Kriterien 3. Konsequenzen und Kritikpunkte www.asd-netz.de ASD= Autism Spectrum Disorder = Autismus 7. Irseer Symposium für Kinder- und Jugendpsychiatrie 16.11.2016 Diagnose = Klassifizierung von klinisch relevanten Symptomen/ Beeinträchtigungen zu einer Kategorie (z.B. nach ICD oder DSM) Sinn und Zweck von Diagnosen • deskriptive diagnostische Kategorien schaffen • klinische Phänomene in ihrer Komplexität zu reduzieren • Grundlage für die Indikationsstellung und Einleitung von Behandlungsmaßnahmen sowie Überprüfung des Therapieerfolges • kurz- wie langfristige Prognosen ermöglichen • Basis für Kostenabrechnung (!) • Patientengruppen in Therapie- und Verlaufsstudien charakterisieren • Grundlage für empirischer Untersuchungen von Ätiologie und Verläufen und für die Entwicklung, Dokumentation und Überprüfung therapeutischer Interventionen • Keine Klassifikation von Individuen, sondern von Störungen, die bei Personen vorliegen! Historisches zum DSM: Autism • DSM-I (1952) & DSM-II (1968): Keine Nennung “Autism” oder “Pervasive Developmental Disorder”, ähnlíchster Begriff: “Schizophrenic Reaction (Childhood Type)” • DSM-III (1980): Pervasive Developmental Disorders (PDD): Childhood Onset PDD, Infantile Autism, Atypical Autism • DSM-III-R (1987): PDD-NOS, Autistic Disorder • DSM-IV (1994): Asperger Disorder, Childhood Disintegrative Disorder, Rett syndrome • DSM-IV-TR (2000): Text Korrekturen für PDD-NOS 1 Pervasive Developmental Disorders Klassifikation DSM-IV 299.0 299.10 299.80 Autistic Disorder Childhood Disintegrative Disorder Pervasive Developmental Disorders not other specified „category should be used where there is a severe and pervasive impairment of reciprocal social interaction or verbal and nonverbal communication skills, or when stereotyped behavior, interests, and activities are present” (DSM-IV, p 77). Pervasive Developmental Disorders not other specified 97% der Probanden mit PDD-NOS zeigen keine repetitiven, stereotypen Verhaltensweisen Mandy et al. 2011; s.a.Walker et al. 2004 Sehr geringe Interrater-Reliabilität - selbst unter Experten (0.18)! Mandy et al. 2011 Sensitivität =.98, Sepzifität=. 26 Volkmar et al., 2000 Stabilität der Diagnose insbesondere bei jüngeren Kindern fraglich Berry 2009; Helt et al. 2008; Lord et al. 2006 Rondeau et al. 2011; van Daalen et al.,, 2009; Woolfenden et al., 2012; Brennan et al., 2015 Mehr allgemeine Verhaltensprobleme, geringere Intensität der ASDSymptomatik Greaves-Lord et al., 2013 299.80 Rett´s Disorder 299.80 Asperger´s Disorder Unterscheidung der Subtypen Diagnostische Validität der Kategorie PDD-NOS • Deutliche Zunahme der Prävalenz-Angaben, begründet durch – Ausweitung der diagnostischen Kriterien, insbesondere PDDNOS siehe auch DSM-5, p. 16 – Deutliche Präsenz von ASD in den Medien und im Bewusstsein von Klinikern und Wissenschaftlern – Zugang zu Hilfesystemen • Deutlich eingeschränkte Validität der Diagnose PDD-NOS oder anderer „Restkategorien“! – Vorhandensein von repetitiven, stereotypen Verhaltensweisen erhöht die Abgrenzbarkeit/Spezifität der Diagnose Kim & Lord, 2010; Le Couteur et al., 2008; McChonachie et al., 2005 → Ziel DSM-5: Erhöhung der Spezifität der Diagnose ohne Sensitivität zu gefährden Kategorialer Ansatz im ICD-10 und DSM-IV • • • eng definierte diagnostische Kategorien, hohe Spezifität! Annahme der Diskontinuität zwischen den einzelnen Störungen Annahme der diagnostischen Homogenität trotz Überlappung von Symptomen Frühkindl. Autismus AspergerSyndrom PDD-NOS/Atypischer Autismus nicht autistisch 2 Unterscheidung der Subtypen Empirische Daten • Viele Studien konnten keine qualitativen Unterschiede zwischen den Subtypen identifizieren Bennett et al., 2008; Cederlund et al. 2008; Kamp-Becker et al., 2010; Klin & Volkmar 2003; Leekam et al. 2000; Mayes et al. 2001; Miller & Ozonoff 2000; Sanders 2009; South et al., 2005; WoodburySmith et al., 2005; Szatmari et al. 2009 Unterscheidung der Subtypen Klinische Daten • Nur geringe Übereinstimmung hinsichtlich der Differenzierung: Autismus, PDD-NOS oder Asperger Syndrom auch unter Experten (Kappa 0.31) Lord et al., 2012; Williams et al., 2008 Unterscheidung der Subtypen Klinische Daten Desintegrative Störung des Kindesalters • Regression: von Eltern berichtete Regression in 32% der Fälle von ASD Barger et al., 2013 – Häufig eher das Erreichen eines Entwicklungsplateus, reduzierte Beteiligung, Unvermögen weitere zu erwartende sozial-emotionale Fertigkeiten zu zeigen, als tatsächliche Regression Brian et al., 2014, Ozonoff et al., 2010 • Desintegrative Störung extrem selten und Abgrenzbarkeit zu anderen ASD fraglich • Kriterien für Diagnose waren: „idiosyncratic and complex“ Lord et al., 2012, p. 313 Unterscheidung der Subtypen DSM-5 → Ziele DSM-5 – DSM-5 entsprechend der empirischen Evidenz Anzahl der definierten Bereiche → Ziel: DSM-5 entsprechend der empirischen Evidenz = zwei Bereiche • Aufgabe der Subtypen! Autismus-Spektrum-Störung=Singular – Erhöhung der „Validität und klinischen Nützlichkeit“ DSM-5, p 17 – Kategoriale Diagnosen bleiben weiter bestehen, da „es wissenschaftlich verfrüht ist, derartige alternative Definitionen für viele Störungen einzuführen“ DSM-5, p 18 – „Neugruppierung von verwandten Störungen innerhalb der bestehenden kategorialen Ordnung“ DSM-5, p 17 • Gemeinsame neuronale Korrelate, familiäre Aggregation, genetische Risikofaktoren, spezifische umweltbezogene Risikofaktoren, Biomarker, dem Störungsbeginn vorausgehende Temperamentsmerkmale, Auffälligkeiten der emotionalen und kognitiven Informationsverarbeitung, Ähnlichkeit des Symptombildes, Krankheitsverlauf, Komorbiditätsmuster, gemeinsames Ansprechen auf Therapien • „Neurodevelopmental Disorders / Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung Störung der sozialen Kommunikation Autismus Begrenzte Interessen & stereotype Verhaltensmuster auch: Sprachauffälligkeiten (Echolalie, stereotyper Sprachgebrauch, verbale Rituale) Constantino et al., 2004; Frazier et al., 2008, Georgiades et al., 2013; Gotham et al., 2007; Kamp-Becker, et al., 2009; Lecavalier et al., 2006; Mandy et al., 2012 3 Hohe Heterogenität von autistischen Störungen • Symptomatik unterscheidet sich hinsichtlich – Alter – Entwicklungsstand • Beispiele – Keine Reaktion auf Rufen des Namens oder fehlendes oder verringertes Verfolgen der Blickrichtung einer anderen Person Sind bei jüngeren Kindern relevante Symptome, nicht jedoch bei älteren Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen – Keine Freundschaftlichen Beziehungen Ist bei Schulkindern und Erwachsenen ein relevantes Symptom, nicht jedoch bei jüngeren Kindern • Geschlecht • kultureller Hintergrund → Ziel DSM-5: umfassendere Kriterien definieren Hohe Heterogenität von autistischen Störungen Verlauf/Outcome insgesamt • Intelligenz, insbesondere Verbal-IQ • Sprachfähigkeit im Alter von 6 Jahren • Schwere der Symptomatik • komorbide Störungen Ziel DSM-5: Spezifizierung der ASD Kamp-Becker et al., 2009; Taylor et al., 2009; Kjellmer et al., 2012; Gotham et al. 2012; Magiati et al., 2014; Lord et al., 2015; Gillberg et.al., 2016 Outcome der Therapie • Funktionsniveau zu Beginn • kognitive, verbale, adaptive Fähigkeiten zu Beginn der Intervention Fountain et al., 2012; Strauss et al., 2013; Vivanti et al., 2014; Lord et al., 2015 Verschiedene Genotypen /Phänotypen (?) Eapen et al., 2013, Lord et al., 2015 Hohe Heterogenität von autistischen Störungen Beginn der Störung • Kein Zweifel an der empirisch gesicherten Erkenntnis, dass ASD eine Störung ist, deren Beginn bereits im zweiten Lebensjahr oder früher zu beobachten ist. Ausprägung der ASD-Symptomatik nicht linear zu IQ Charman et al., 2011;Wang et al., 2013; KampBecker et al., 2010 Ellis Weismer et al., 2010; Constantino & Charman, 2016, Guthrie et al., 2013; Landa et al., 2006; Messinger et al., 2013; Mitchell et al., 2006; Lord et al., 2012; Ozonoff et al., 2011, 2014; Warren & Jones, 2013; Zwaigenbaum et al., 2005 Ziel DSM-5: • Schweregrad der Ausprägung eines Symptoms berücksichtigen! • Genaue Phänotypische Charakterisierung Kamp-Becker et al., 2010, p.926 4 Störungskonzept Beginn der Störung (age of onset ≠ age of recognition) Abnormale genetische Codes für die Hirnentwicklung / Umweltfaktoren („Second hits“) • erste Sorge der Eltern von Kindern mit autistischen Störungen schon im Alter von 12 bis 18 Monaten Fombonne, 2009; Howlin & Asgharian, 1999; Zwaigenbaum et al., 2009; Chawarska, et al., 2007 Abnormale Mechanismen für die Hirnentwicklung • Faktoren, die zu einer frühen diagnostischen Untersuchung führen: • Strukturelle und funktionale Abnormalitäten im Gehirn • • • niedrige Intelligenz männliches Geschlecht Rückschritte in der Entwicklung Sprachentwicklungsverzögerung Shattuck et al., 2009; Wolf 2013; Lord & Bishop 2015 Neuropsychologische Auffälligkeiten Symptome Beginn der Störung • Das Vorliegen von Sprachentwicklungsverzögerungen ist kein spezifisches Kennzeichen von ASD und differenziert nicht zwischen Subtypen von ASD • Retrospektive Elterngaben bezüglich Sprachbeginn, sozialer Fertigkeiten sowie Regression in der Entwicklung nicht valide Hus et al., 2011; Jones et al., 2014; Ozonoff et al., 2011 • Diagnosestellung kann aus verschiedenen Gründen erst später erfolgen – Ethnizität und sozioökonomischer Status – Zugang zu angemessener Versorgung/Diagnosemöglichkeiten – Sprachhindernisse – Regionale Versorgung Begleitende Erkrankungen • Intellektuelle Beeinträchtigung: IQ<70 bei 65 – 71 % der Kinder mit ASD Nice Guidelines, 2011, S3 Leitlinien Autismus • Sprachentwicklungsstörung ca. 63% der Fälle Levy et al., 2010 • Elternangaben zu sozial-kommunikativen Fertigkeiten werden beeinflusst durch Sprachniveau, IQ und allgemeine Verhaltensprobleme der Kinder Charman et al., 2007 Hus et al., 2011, 2013; Hus & Lord 2014; Jones et al., 2014; Ozonoff et al., 2011 • Selbstbeurteilungsinstrumente in der differentialdiagnostischen Einschätzung nicht geeignet! Lehnhardt et al. 2013; ; Matsuo et al., 2015; Nishiyama et al., 2014; Sizoo et al., 2015 • Vielzahl von möglichen begleitenden Erkrankungen, genetischen oder Umweltbedingungen Ziele DSM-5: – Störungsbeginn liegt in der frühen Kindheit, aber age of onset ≠ age of recognition – Informationen sollten auf mehreren Informationsquellen beruhen, einschließlich klinischer Beobachtungen s.a. Nice Guidelines, 2011, S3 Leitlinien Autismus Veenstra-VanderWeele & Blakely, 2012, p. 197 5 Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätstörung (ADHS) Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätstörung (ADHS) Gemeinsamkeiten mit ASD • Zwischen 21- 41% der Patienten mit ASD haben ADHS Nice Guidelines, 2011; Simonoff et al., 2008, Levy et al., 2010 • Ca. ein Drittel der Patienten mit ADHS haben einige autistische Symptome van der Meer et al., 2012 • genetischer Hintergrund – Rommelse et al., 2010; Rommelse et al., 2011 Deutliche genetische Gemeinsamkeiten für kommunikative Defizite und ADHS-Symptome, (genetic correlations = .47-.51), moderate für repetitives Verhalten (.12-.33) und weniger für soziale Defizite (.05-.11) Taylor et al., 2015 • neuronale Korrelate Brieber et al., 2007; Gargaro et al., 2011 • Defizte in der Inhibitionskontrolle Xiao et al., 2012, Sinzig et al., 2008 • Defizite in den sozialen Kognitionen (Emotionserkennung, Theory of Mind, Empathie) ADHS ist mögliche Komorbidität und mögliche Differentialdiagnose Buhler et al., 2011; Nyden et al., 2010; Rumpf et al., 2012; Uekermann et al., 2010; Reiersen, 2011; Bons et al., 2013: • Defizite in der Fähigkeit zur sozialen Interaktion/sozialen Kompetenz Ames & White, 2011; Reiersen, 2011; Green et al., 2015, Green et al., 2016 • ADHS: 21% über ADOS cut-off, 30% über ADI cut-off – Nur ADOS-Items „Qualität der sozialen Annäherungen, Blickkontakt, mimischer Ausdruck und Ausmaß der wechselseitigen sozialen Kommunikation des ADOS differenzieren zu ASD Gradzinski et al., 2016 Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätstörung (ADHS) Unterschiede im Vergleich zu ASD • weniger Defizite in der sozialen Reziprozität, nonverbalen Kommunikation und repetitive, stereotype Verhaltensweisen Dickerson Mayes et al., 2012 • Defizite der „Theory of mind“ entwickeln sich erst im Verlauf Bühler et al., 2011 • Wenn Autismus+ADHS, dann deutlichere Autismus-Symptomatik und schlechtere Prognose Yers et al., 2009, Sprenger et al. 2015, Kamp-Becker et al., submitted, Craig Begleitende Erkrankungen weitere psychiatrische Störungen 70 – 80% haben mindestens eine, ca. 40% zwei komorbide Störungen Ziel DSM-5: Individuelle Variation abbilden und entsprechende Behandlungsmöglichkeiten anzeigen et al., 2015 Konsequenz für die Praxis • Symptomatik des ADHS leitliniengetreu behandeln • ASD-Diagnostik erst nach Behandlung der ADHS! Nice Guidelines, 2011; S3 Leitlinie Autismus-Spektrum-Störungen http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-018.html 6 Autism Spectrum Disorder (ASD) Autismus-Spektrum-Störung „New name for category, autism spectrum disorder, which includes • autistic disorder (autism), • Asperger’s disorder, • childhood disintegrative disorder, and • pervasive developmental disorder not otherwise specified”. Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung • Gruppe von Störungen, die gebunden an umschriebene Entwicklungsphasen auftreten • manifestieren sich früh, oft vor dem Schulbeginn • treten oft gemeinsam auf, z.B. ASD & intellektuelle Beeinträchtigung DSM-5, p 39 Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung • Intellektuelle Beeinträchtigungen – Intellektuelle Beeinträchtigung – Allgemeine Entwicklungsverzögerung (nur bei Kindern unter 5 Jahren) – Intellektuelle Entwicklungsstörung (nur bei Kindern über 5 Jahre, die akutell nicht testbar sind) • Kommunikationsstörung – Sprachstörung – Artikulationsstörung – Redeflussstörung – Soziale (Pragmatische) Kommunikationsstörung – Nicht näher bezeichnete Kommunikationsstörung • Autismus-Spektrum-Störung • Aufmkersamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – ADHS – Andere Näher Bezeichnete ADHS – Nicht Näher bezeichnetet ADHS • Spezifische Lernstörung • Motorische Störungen – Entwicklungsbezogene Koordinationsstörung – Stereotype Bewegungsstörung – Tic-Störungen Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung • Diagnose darf nur vergeben werden, wenn – Kriterien aufgrund lebensgeschichtlicher Informationen erfüllt sind, in der aktuellen Erscheinung können einige Symptome durch die Entwicklung verändert sein und durch „kompensatorische Mechanismen“ verdeckt sein – aktuelles Erscheinungsbild muss jedoch bedeutsame Beeinträchtigung aufweisen, DSM-5, p 40 • subklinische Symptomatik rechtfertigt keine Diagnose • Diagnose dient nicht dem besseren Verständnis der eigenen Person → Störungsbeginn in der frühen Kindheit muss gesichert sein 7 Klassifikation nach DSM-5 Autismus-Spektrum-Störung F84.0 A Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg B Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten C,D Seit der frühen Kind und beeinträchtigen das alltägliche Funktionsniveau Erscheinungsformen variieren in Abhängigkeit mit der Schwere der ASD, Entwicklungsstand und Alter → daher Spektrums-Begriff Klassifikation nach DSM-5 Autismus-Spektrum-Störung F84.0 A Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg: 1. Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit, z.B. • Abnorme soziale Kontaktaufnahme • Fehlen von normaler wechselseitiger Konversation • Verminderter Austausch von Interessen, Gefühlen und Affekten • Unvermögen, auf soziale Interaktionen zu reagieren bzw. diese zu initiieren Klassifikation nach DSM-5 Autismus-Spektrum-Störung F84.0 A Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg: 2. Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten, das in sozialen Interaktionen eingesetzt wird, z.B. • schlecht aufeinander abgestimmten verbalen und nonverbalen Kommunikation • abnormer Blickkontakt und abnormer Körpersprache • Defizite im Verständnis und Gebrauch von Gestik • vollständiges Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation Klassifikation nach DSM-5 Autismus-Spektrum-Störung F84.0 A Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg: 3. Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen, z.B. • Schwierigkeiten das eigene Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anzupassen • Schwierigkeiten sich in Rollenspielen auszutauschen oder Freundschaften zu schließen • Fehlen von Interesse an Gleichaltrigen 8 Klassifikation nach DSM-5 Autismus-Spektrum-Störung F84.0 B Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens zwei der folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen manifestieren: 1. Stereotype oder repetitive motorische Bewegungsabläufe, stereotyper oder repetitiver Gebrauch von Objekten oder der Sprache, z.B. • • • • • einfache motorische Stereotypien Aufreihen von Spielzeug Hin- und Herbewegen von Objekten Echolalie idiosynkratrischer Sprachgebrauch Klassifikation nach DSM-5 Autismus-Spektrum-Störung F84.0 B Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens zwei der folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen manifestieren: 3. Hochgradig begrenzte, fixierte Interessen, die in ihrer Intensität oder ihrem Inhalt abnorm sind, z.B. • Starke Binding an oder Beschäftigung mit ungewöhnlichen Objekten • Extrem umschriebene und perseverierende Interessen Klassifikation nach DSM-5 Autismus-Spektrum-Störung F84.0 B Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens zwei der folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen manifestieren: 2. Festhalten an Gleichbleibendem, unflexibles Festhalten an Routinen oder an ritualisierten Mustern verbalen oder nonverbalen Verhaltens, z.B. • • • • Extremes Unbehagen bei kleinen Veränderungen Schwierigkeiten bei Übergängen Rigide Denkmuster oder Begrüßungsrituale Bedürfnis täglich den gleichen Weg zu gehen oder das gleiche Essen zu sich zu nehmen Klassifikation nach DSM-5 Autismus-Spektrum-Störung F84.0 B Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens zwei der folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen manifestieren: 4. Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliche Interessen an Umweltreizen, z.B. • scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber Schmerz/Temperatur • ablehnende Reaktion auf spezifische Geräusche, Strukturen oder Oberflächen • exzessives Beriechen oder Berühren von Objekten • visuelle Faszination für Licht oder Bewegungen 9 Klassifikation nach DSM-5: Autismus-Spektrum-Störung Klassifikation nach DSM-5: Schweregrade A. Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg (alle drei) 1. Defizite in der sozio-emotionalen Gegenseitigkeit 2. Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten 3. Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen B. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, mindestens zwei 1. Stereotype motorische Bewegungsabläufe, stereotyper oder repetititver Gebrauch von Objekten oder von Sprache 2. Festhalten von Gleichbleibendem, unflexibles Festhalten an Routinen oder an ritualisierten Mustern verbalen und nonverblaen Verhalten 3. Hochgradig begrenzte, fixierte Interessen, die in ihrer Intensität oder ihrem Inhalt abnorm sind 4. Hyper- oder Hporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen Klassifikation nach DSM-5: Autismus-Spektrum-Störung C. Die Symptome müssen bereits in der frühen Entwicklungsphase vorliegen Sie manifestieren sich möglicherweise aber erst dann, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Möglichkeiten überschreiten. In späteren Lebensjahren können sie auch durch erlernte Strategien überdeckt werden. D. Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen Klassifikation nach DSM-5: Autismus-Spektrum-Störung E. Diese Störungen können nicht besser durch eine intellektuelle Beeinträchtigung…. oder eine allgemeine Entwicklungsverzögerung erklärt werden. Intellektuelle Beeinträchtigungen und ASD treten häufig gemein auf. Um die Diagnosen ASD und intellektuelle Beeinträchtigung gemeinsam stellen zu können, sollte die soziale Kommunikationsfertigkeit unter dem aufgrund der allgemeinen Entwicklung erwarteten Niveau liegen Informationen sollten auf mehreren Informationsquellen beruhen, einschließlich klinischen Beobachtungen, Schilderungen von Bezugspersonen und, wenn möglich, Selbsteinschätzungen. Standardisierte Instrumente zur Verhaltensdiagnostik mit guten psychometrischen Eigenschaften, wie Interviews mit Bezugspersonen, Fragebögen und klinische Beobachtungsverfahren liegen vor und können die Reliabilität der Diagnose im Verlauf und zwischen Untersuchern verbessern. 10 Sozial (pragmatische) Kommunikationsstörung F80.89 Weitere Differentialdiagnosen der Autismus-Spektrum-Störung • Intellektuelle Beeinträchtigung ohne ASD • Rett Syndrom • Selektiver Mutismus • Stereotype Bewegungsstörung • ADHS • Schizophrenie • Sprachstörungen und sozial (pragmatische) Kommunikationsstörung Personen, die deutliche Defizite in der sozialen Kommunikation haben, jedoch nicht die Kriterien für ASD erfüllen, sollte die Diagnose Soziale (Pragmatische) Kommunikationsstörung erwogen werden Sozial (pragmatische) Kommunikationsstörung F80.89 • Häufig assoziiert mit Sprachstörungen, Vermeiden von sozialen Interaktionen, ADHS, Verhaltensprobleme und Spezifische Lernstörungen • Verlauf variabel • Genetische und physiologische Faktoren: ASD, Kommunikationsstörungen oder Spezifische Lernstörungen in der Familiengeschichte = Risiko • Differentialdiagnosen: ASD, ADHS, Soziale Phobie, Intellektuelle Beeinträchtigung oder allgemeine Entwicklungsverzögerung • Sozial (pragmatische) Kommunikationsstörung ≠ ASD, sondern eine Kommunikationsstörung! A Anhaltende Schwierigkeiten im sozialen Gebrauch verbaler und nonverbaler Kommunikation, die sich in den folgenden Merkmalen zeigen: 1. 2. Defizite im Gebrauch von Kommunikation für soziale Zwecke Beeinträchtigung der Fähigkeit, den Kommunikationsstil an den Kontext oder die Bedürfnisse des Zuhörers anzupassen 3. Schwierigkeiten, Regeln für Konversationen und beim Erzählen zu beachten 4. Schwierigkeiten im Verständnis von nichtexpliziten Botschaften und von nicht wörtlicher oder mehrdeutiger Sprache B Schwierigkeiten führen zu funktionellen Beeinträchtigungen C Beginn der Störung liegt in der frühen Entwicklungsphase D Symptome können nicht durch ASD, intellektuelle Beeinträchtigung, allgemeines Entwicklungsstörung oder andere psychische Störung erklärt werden. Klassifikation nach DSM-5: Autismus-Spektrum-Störung Zusätzliche Spezifizierungen: • Bestimme, ob – Mit oder ohne Begleitende Intellektuelle Beeinträchtigung • z.B. F71 mittelgradige Intelligenzminderung • DSM-5 betont die Notwendigkeit einer differenzierten Einschätzung der verbalen und nonverbalen Fähigkeiten (auch ohne Zeitmessung) – Mit oder ohne Begleitende Sprachliche Beeinträchtigung • z.B. F80.2 Sprachstörung • Mit spezifischer Beschreibung, z.B. keine verständliche Sprache, Ein-WortÄußerungen, sowohl rezeptiv als auch expressive Aspekte – In Verbindung mit einer Bekannten Körperlichen Erkrankung, Genetischen oder Umweltbedingung • z.B. Trisomie 21, Epilepsie, Frühgeburt – In Verbindung mit einer Anderen Störung der Neuronalen und Mentalen Entwicklung oder einer Anderen Psychischen oder Verhaltensstörung • z.B.F90.2 ADHS gemischtes Erscheinungsbild 11 Konsequenzen der DSM-5-Diagnose ASD Kritikpunkte • Geringere Sensitivität ↓ Prävalenz (insbesondere PDD-NOS) Kulage et al., 2014 • Höhere Spezifität ↑ bessere Abgrenzbarkeit zu anderen Störungen Gibbs et al.2012; McPartland et al. 2012; Worley and Matson 2012 • keine ASD-Diagnose nach DSM-5 insbesondere für Personen mit PDD-NOS, Asperger-Syndrom, IQ> 70 • Rückgang bis zu 70% Smith, Reichow & Volkmar 2015, p 2547 • Prävalenz der Autismus-Spektrum-Störung: 50-70 auf 10.000 • Formulierung von „umfassenden Kriterien“ lässt viel Spielraum für Interpretationen – Halo-Effekt einzelner Symptome • z.B. Veränderungsängstlichkeit • Begriff „Spektrum“ sehr missverständlich – DSM-5 = kategoriale Diagnosen, die Dimensionalität der Ausprägung wird berücksichtigt – Kategoriale Diagnosen bleiben weiter bestehen, da „es wissenschaftlich verfrüht ist, derartige alternative Definitionen für viele Störungen einzuführen“ DSM-5, p 18 – „autistic like traits“ bei vielen Störungen Williams et al. 2014 Fazit: Abgrenzbarkeit von anderen Störungen • Abgrenzbarkeit zu anderen Störungen möglich - jedoch manchmal schwierig - und notwendig! – Klinisch relevanter Störungsbeginn in der frühen Kindheit – Symptomkonstellation – Grad der Beeinträchtigung – Differentialdiagnostische Abklärung: Symptomatik ist nicht durch das Vorliegen anderer Störungen ausreichend erklärbar Dimensionaler und störungsübergreifender Ansatz: • auf Initiative des National Institute of Mental Health (NIMH) • Im Gegensatz zu DSM, sollen die RDoC´s biologisch validierte Kriterien darstellen • “RDoC is a research framework for new ways of studying mental disorders. It integrates many levels of information (from genomics to self-report) to better understand basic dimensions of functioning underlying the full range of human behavior from normal to abnormal.“https://www.nimh.nih.gov/research-priorities/rdoc/index.shtml • für Forschungszwecke konzipiert, basierend auf dimensionalen Verhaltens- und neurobiologischen Daten • Identifizierung von grundlegenden und störungsübergreifenden Dimensionen 12 weitere Kritikpunkte am DSM-5 • Symptome „manifestieren sich in folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen“ – Reduziert Spezifität, insbesondere, da dieses auch für den Bereich der sozialen Kommunikation gilt! – DSM-5 wertet Sensitivität höher als Spezifität, was kritisch gesehen wird Frances 2013 • Sensorische Auffälligkeiten als Kriterium – Sind nicht spezifisch für dieses Störungsbild , eher mit kognitiver Beeinträchtigung assoziiert und im Entwicklungsverlauf rückläufig Baranek et al., 2013; Boyd et al., 2010; weitere Kritikpunkte am DSM-5 • Schweregradeinteilungen: Unklar wie diese eingeschätzt werden soll, nicht erprobt, keine Richtlinien zu Einschätzung – Dennoch sinnvoll, um die Ausprägung der Symptomatik zu beschreiben – ADOS-2 Vergleichswerte nutzen? – Sprachniveau und IQ jedoch ebenso wichtig Weitlauf et al., 2014 • Sozial (pragmatische) Kommunikationsstörung ?? Norbury 2014 • Asperger-Syndrom als „identitätsstiftende“ Entität fehlt ? Carcani-Rathwell et al., 2006; Lord et al., 2015 – Werden eher von (high-functioning) Betroffenen-Vereinigungen berichtet und haben bedeutsame Rolle im Selbstbild – In aktueller ICD-11 Draft-Version nicht enthalten Autismus-Spektrum-Störung in der DSM-5 Zusammenfassung • ASD sind früh beginnende Störungen, die durch anhaltende und situationsübergreifende Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion in Kombination mit repetitiven, stereotypen Verhaltensweisen gekennzeichnet sind und bedeutsame Beeinträchtigungen verursachen • Sie sind häufig mit kognitiven Beeinträchtigungen und Sprachstörungen sowie mit weiteren psychischen Störungen assoziiert • Autismus-Spektrum-Störung ist eine kategoriale Diagnose • Jenseits der Frage der „Güte“ eines Klassifikationssystems ist für die Güte einer Diagnose entscheidend: – – – – die Erfahrung des Anwenders mit dem gesamten Spektrum von Autismus die Erfahrung mit sämtlichen Differentialdiagnosen falsch negative, ebenso wie falsch positive Diagnose sind problematisch aktuell eher die „Gefahr“ von falsch positiven Diagnosen; langfristige Folge: Diagnose wird unglaubwürdig! 13