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Zentrum für Medizinische Ethik
MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN
Heft 175
FRITZ JAHR’S BIOETHISCHER IMPERATIV
80 Jahre Bioethik in Deutschland von 1927 bis 2007
Hans-Martin Sass
Juli 2007
2. erweiterte Auflage August 2007
Hans-Martin Sass, Senior Research Scholar am Kennedy Institute of Ethics, Georgetown
University, Washington DC, ist em. Professor für Philosophie an der Ruhr Universität,
Bochum, und Gastprofessor am Research Center for Bioethics des Peking Union Medical
College und der Chinese Academy of Medical Sciences, Beijing. Zu seinen neueren
Publikationen gehören Differentialethik. Anwendungen in Medizin, Wirtschaft und Politik,
Münster 2006 (Bibl. Seite 247-264) und Bioethics and Biopolicy (chin/engl), Xian 2007.
WISSENSCHAFT UND ETHIK
KATEGORISCHER IMPERATIV UND BIOETHISCHER IMPERATIV
ETHIKUNTERRICHT UND ETHIK IN DER PRAXIS
DIE WIEDER-‘GEBURT’ DER BIOETHIK IN DEN USA 1970
BIOETHIK IN DEUTSCHLAND NACH 1986
WORTSPIELE, NORMATIVE KONZEPTE UND PRAKTISCHES HANDELN
LITERATUR
ANHANG:
Fritz Jahr: Bio-Ethik. Kosmos 24(1):2-4, 1927
Fritz Jahr: Drei Studien zum 5. Gebot. Ethik 11:183-187, 1934
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Herausgeber:
Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass
Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann
Prof. Dr. med. Michael Zenz
Zentrum für Medizinische Ethik Bochum,
Ruhr-Universität Bochum, Gebäude GA 3/53,44780 Bochum,
TEL +49 234 32-22749/50, FAX +49 234 3214-598
Email: [email protected]
Internet: http://www.medizinethik-bochum.de
Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR
MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Das Copyright liegt beim
Autor.
©Hans-Martin Sass
1. Auflage Juli 2007, 2.erweiterte August 2007
Schutzgebühr: € 6,00
Bankverbindung:
Sparkasse Bochum
BLZ: 430 500 00
ISBN:978-3-931993-56-6
Kto.-Nr. 133 189 035
FRITZ JAHR’S BIOETHISCHER IMPERATIV
80 Jahre Bioethik in Deutschland von 1927 bis 2007
Hans-Martin Sass
‚Bio-Ethik. Eine Umschau über die ethischen Beziehungen des Menschen zu Tier und
Pflanze’ hieß der Titel der Einleitungsartikels im 24. Jahrgang der weit verbreiteten
Wissenschaftszeitschrift ‚Kosmos. Handweise für Naturfreunde und Zentralblatt für das
naturwissenschaftliche Bildungs- und Sammelwesen’ 1927, vor 80 Jahren. Der Beitrag,
verfasst von Fritz Jahr, einem evangelischen Theologen in Halle an der Saale, AlbertSchmidt-Str. 8, endet mit der These: ‚die bio-ethische Forderung gilt: Achte jedes Lebewesen
grundsätzlich als einen Selbstzweck, und behandle es nach Möglichkeit als solchen!’ [12:4]
WISSENSCHAFT UND ETHIK
Ethik und Expertise gehören zusammen. Wissenschaft und Technik als solche sind
wertneutral. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Anwendungen können
unser Handeln zum Guten oder zum Bösen verändern, ebenso die Dimensionen unserer
Eingriffe in natürliche oder von Menschen gemachte Verhältnisse und Prozesse.
Wissenschaftliche Erkenntnisse verändern aber auch unser Verstehen von ethischen
Dringlichkeiten oder Überflüssigkeiten. Einsichten in die Fragilität natürlicher Umwelten und
die Gefährdung vieler Tier- und Pflanzenarten durch menschliches Handeln haben in unserer
Generation kulturelles Risikobewusstsein und ethische Verantwortung für natürliche
Umwelten geschärft. Normatives und zweckorientiertes philosophisches, kulturelles und
ethisches Räsonnieren folgt also auch neuen konzeptionellen Herausforderungen durch
Wissenschaft und Technik. In der Regel handelt es sich um neue Schwerpunktsetzungen
traditioneller ethischer Prioritäten im Gefolge neuer Techniken und Kenntnisse, seltener um
die Eröffnung neuer Felder ethischer Verpflichtung und Verantwortung.
Seit
Aristoteles
hatte
die
abendländische
Philosophie
zwischen
den
drei
Wissenschaften der Physik, Ethik und Logik unterschieden. Zu den beiden ersteren bemerkte
Kant in der ‚Grundlegung der Metaphysik der Sitten’: ‚Diese Gesetze sind entweder Gesetze
der Natur oder der Freiheit. Die Wissenschaft von der ersteren heißt Physik, die der anderen
ist Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt’ [BA III]. Die Fortschritte
experimenteller Physiologie, insbesondere zum Nervensystem, bei Pflanze, Tier und Mensch
von Wilhelm Wundt und anderen ließen es als sinnvoll erscheinen, naturwissenschaftlich
zwischen ‚Physik’ und ‚Psychik’ zu unterscheiden, d. h. zwischen belebter und unbelebter
Natur. Eine neue Wissenschaft war geboren, die physiologische Psychologie. Wilhelm
Wundt’s ‚Grundzüge der physiologischen Psychologie’ erschienen in drei Bänden 1908-1911
in sechster Auflage; 1878 hatte er das erste experimentelle psychologische Labor in Leipzig
gegründet. Für Mensch, Tier und Pflanze wurden vergleichbare physiologische nervale
Empfindungen
und
entsprechende
Reaktionen
nachgewiesen.
Fechner
reflektierte
philosophische und ethische Konsequenzen aus der neuen experimentellen Wissenschaft in
den zwei Bänden der ‚Elemente der Psychophysik’ 1860, und in ‚Nana oder über das
Seelenleben der Pflanzen’, 1848. Wundt’s ‚Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele,
1863, zwei Jahre nach der deutschen Übersetzung von Darwin’s ‚Origin of Species’ in zwei
Bänden erschienen, hatten bis 1919 sechs Auflagen.
Was folgt aus dieser neuzeitlichen Unterteilung von Natur in Physik und Psychik für das
Verhältnis von Wissenschaft und Ethik und eine mögliche Differenzierung von Ethik? Die
Antwort von Fritz Jahr von 1927 lautet: ‚Die scharfe Scheidung zwischen Tier und Mensch,
die seit Beginn unserer europäischen Kultur bis zum Ende des 18. Jahrhunderts herrschend
war, kann heute nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Seele des europäischen Menschen
rang bis zur französischen Revolution um die Einheit von religiöser, philosophischer und
wissenschaftlicher Welterkenntnis, aber diese Einheit haben wir seitdem unter dem Druck der
Erkenntnisfülle aufgeben müssen. – Es wird stets das Verdienst der modernen
Naturwissenschaft bleiben, dass sie eine vorurteilsfreie Betrachtung des Weltgeschehens erst
möglich gemacht hat. Wir würden uns heute als Wahrheitssucher aufgeben, wenn wir die
Erfolge der Tierexperimente, Blutversuche, Serumforschung u.v.a. ablehnen wollten.
Andererseits dürfen wir nicht verkennen, dass gerade diese wissenschaftlichen Triumphe des
Menschengeistes dem Menschen selbst seine beherrschende Stellung im Weltganzen
genommen haben. Die Philosophie, die früher der Naturwissenschaft ihre Leitgedanken
vorschrieb, muss nun selbst ihre Systeme auf naturwissenschaftlichen Einzelerkenntnissen
aufbauen ... – Was folgt aus dieser Umwälzung? Zunächst die grundsätzliche Gleichstellung
von Mensch und Tier als Versuchsobjekt der Psychologie. Diese beschränkt sich heute nicht
mehr auf den Menschen, sondern arbeitet mit denselben Methoden auch auf dem Gebiet des
Tierischen, und wie es eine vergleichende anatomisch-zoologische Forschung gibt, so werden
auch höchst lehrreiche Vergleiche zwischen Menschen- und Tierseele angestellt. Ja, sogar die
Anfänge einer Pflanzenpsychologie machen sich bemerkbar, - die bekanntesten ihrer Vertreter
sind: G. Th. Fechner in der Vergangenheit, R. H. France, Ad. Wagner oder der Inder Bose in
der Gegenwart, sodass die moderne Psychologie alle Lebewesen in den Bereich ihrer
Forschungen zieht. Unter diesen Umständen ist es nur folgerichtig, wenn R. Eisler
zusammenfassend von einer Bio-Psychik (Seelenkunde allen Lebens) spricht. – Von der Bio-
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Psychik ist es nur ein Schritt bis zur Bio-Ethik, d.h. zur Annahme sittlicher Verpflichtungen
nicht nur gegen den Menschen, sondern gegen alle Lebewesen.’[12:2; vgl. 9].
Die besonderen Verantwortungen und ethischen Verpflichtungen der belebten Natur
gegenüber gründet Jahr aber nicht bloß auf die wissenschaftsgeschichtlichen Überlegungen
zum Verhältnis von Wissenschaft und Ethik und die sich verändernde Rolle der Philosophie
in der Folge naturwissenschaftlichen Fortschritts. ‚Als besonders anziehendes Beispiel aus der
Vergangenheit’ erwähnt er Franz von Assisi, ‚der in seiner warmen Sympathie für alle
Lebewesen der Rousseauschen Schwärmerei für die ganze Natur um Jahrhunderte
vorauseilte’ [12:2]. Aber auch Herder, Schleiermacher und Schopenhauer, Eduard von
Hartman und die indischen philosophischen Schulen haben die Ehrfurcht und die
Verantwortung vor allem Leben schon früher und ohne wissenschaftstheoretische
Reflexionen gefordert und vertreten. In drei Aufsätzen der Jahre 1927, 1928 und 1934
differenziert Jahr wissenschafts- und kulturtheoretisch, anthropologisch und theologisch seine
argumentative Begründung der Bioethik als einer neuen akademischen Disziplin und einer
neuen kultivierten, zivilisierten und ethischen Praxis [12; 13; 18]. Der zeitnächste
konzeptionelle Aufsatz zur Etablierung von Bioethik als einer akademischen Disziplin
erschien erst 1973 von Daniel Callahan im ersten Heft der ‚Hastings Center Studies’ [4]
KANTS KATEGORISCHER UND JAHRS BIOETHISCHER IMPERATIV
Die bioethische Maxime: Nach Kant’s ‚Kritik der praktischen Vernunft’, 1788, sind
‚praktische Grundsätze’ diejenigen, ‚welche eine allgemeine Bestimmung des Willens
enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv, oder Maximen,
wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird;
objektiv aber, oder praktische Gesetze, wenn jene als objektiv, d. i. für den Willen jedes
vernünftigen Wesens gültig anerkannt wird’ [A35]. Für Jahr ist der bioethische Imperativ eine
handlungsleitende Maxime für das individuelle und kollektive Handeln. Diese Maxime ist im
Einzelfall und in unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen jeweils genauer zu bestimmen und auch in praktische Gesetze zu
überführen.
Jahr zitiert Eduard von Hartmanns Kritik am Blumenpflücken: Die gepflückte Blume, ist
ein zum Tode verwundeter Organismus, dessen Farben nur noch nicht beschädigt sind, ein
noch lebendes und lächelndes Haupt‚ das von einem Rumpf getrennt ist. – Wenn ich aber die
Rose im Wasserglas oder auf den Draht eines Buketts geflochten sehe, so kann ich mich des
widerwärtigen Gedankens nicht erwehren, dass der Mensch ein Blumenleben gemordet hat,
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damit es im Sterben sein Auge erfreue, das herzlos genug ist, den unnatürlichen Tod unter
dem Schein des Lebens nicht herauszufühlen’ [zit. 12 :3]. Jahr argumentiert gegen von
Hartmann, dass Blüten auch an der Pflanze absterben und dass viele Pflanzen gerade wegen
ihrer Schnittblumen gehegt und gezüchtet werden und dass man in bezog auf Schnittblumen
unterschiedlicher Meinung sein kann. Von dieser Kontroverse um Kultur oder Unkultur von
Schnittblumen zu unterscheiden ist aber die gedankenlose oder willkürliche Verletzung und
Zerstörung von Pflanzen: ‚Auf dem Gebiet der Pflanzenethik weist uns unser Gefühl den
Weg, wenn es uns hindert, während eines Spaziergangs im Freien die Pflanzen rechts und
links von unserem Wege mit dem Spazierstock zu köpfen, oder Blumen zu pflücken und sie
nach kurzer Zeit achtlos wieder wegzuwerfen, oder wenn es uns mit Abscheu erfüllt über den
blinden Zerstörungstrieb roher Burschen, welche die Kronen junger Bäume an der
Landstrasse oder im Walde abknicken’ [13:102].
Jahr trennt normative Ethik von Ideologie und religiöser Dogmatik oder philosophischer
Metaphysik. ‚Wir gehen’, schreibt Jahr, ‚von anderen Voraussetzungen aus als die indischen
Schwärmer, die überhaupt kein Lebewesen antasten wollen. Auch unsere gesetzlichen und
polizeilichen Bestimmungen über den Schutz einzelner Pflanzen oder Blumen in einer
bestimmten Gegend (z.B. der Alpenpflanzen) beruhen auf einer ganz anderen Anschauung:
Der Polizeistaat will die betreffenden Pflanzen schützen, damit sie in der Gegend nicht
vernichtet werden und später auch noch andere Menschen erfreuen können. Wo eine Pflanze
in ausreichender Menge vorhanden ist, denkt der Staat gar nicht daran, sie um ihrer selbst
willen zu schützen’ [12:3]. Er kritisiert andere Extrempositionen ‚indischer Schwärmer, die
überhaupt kein Lebewesen antasten wollen’: ‚Der Jogabüßer soll unter keinen Umständen auf
Kosten seiner Mitgeschöpfe leben; er soll vor allem keine Tiere töten, aber auch Pflanzenkost
nur unter gewissen Voraussetzungen genießen. Er muss ein Tuch vor dem Mund tragen, um
beim Einatmen kein noch so kleines Lebewesen zu vernichten; aus demselben Grunde muss
er das Trinkwasser filtern und darf nicht baden. Die Sucht, keinem Lebewesen bei der
Selbsterhaltung zu schaden, führt auch noch heute gewisse indische Büßer dazu, sich von
Pferdemist zu ernähren’ [12:2]. Und wenn jemand ‚selbst eine giftige Schlange nicht töten
will, weil ‚auch die Schlangen unsere Brüder und Schwestern sind’, so haben wir für dieses
Empfinden kein Verständnis, und wir halten es sogar für unsere Pflicht, schädliche Tiere zu
töten, wenn wir können. Wir lassen unsere Haustiere vom Schlächter töten und harmloses
Wild vom Jäger erlegen, weil wir Fleisch essen wollen, das manche Leute in unseren
Gegenden nicht entbehren zu können glauben, während in tropischen Ländern pflanzliche
Nahrungsmittel in überreicher Fülle zur Verfügung stehen. Unser Tierschutz findet also eine
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Grenze an einem Nützlichkeitsgesichtspunkt, über den sich der Inder kühn hinwegsetzt, und
wir begnügen uns damit, wenigstens unnütze Tierquälerei zu vermeiden’ [:3f].
Mitleid als kulturübergreifender kategorischer Imperativ: Für Jahr ist Mitleid ein
kulturübergreifendes ethisches Prinzip und kann als solches kulturgeschichtlich empirisch
belegt werden: ‚Das Mitleid mit den Tieren erscheint als ein empirisch gegebenes Phänomen
der Menschenseele’, lautet der erste Satz in seinem 1928 erschienen Beitrag ‚Tierschutz und
Ethik in ihren Beziehungen zueinander’ [13:100]. Jahr zitiert Schopenhauers ‚Über das
Fundament der Moral’ und aus Richard Wagners ‚Offenen Brief’ an Ernst von Weber: ‚Jeder,
der bei dem Anblicke der Qual eines Tieres sich empört, wird hierzu einzig vom Mitleiden
angetrieben, und wer sich zum Schutze der Tiere mit anderen verbindet, wird hierzu ebenfalls
nur vom Mitleiden bestimmt, und zwar von einem seiner Natur nach gegen alle Berechnungen
der Nützlichkeit gleichgültigen und rücksichtslosen Mitleiden’ [zit. 13 :100]
Mit dem auf Mitleid sich gründenden bioethischen Imperativ stellt sich Jahr nun allerdings
gegen Kant, der Ethik auf eine nach seinem Verständnis nur dem Menschen ausschließlich
zukommende reziproke Würde gründete: ‚Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich).
Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muss ihm heilig
sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag,
auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige
Geschöpf ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes,
welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit’ [A156]. Kant gründete die Freiheit
und die kategorische ethische Forderung auf ‚den Willen aller vernünftigen Wesen’: ‚Ein
jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum, in
praktischer Rücksicht, wirklich frei’ [BA100]. Jahr gründet seinen bioethischen Imperativ auf
die Würde alles Lebens, das leiden kann und das dem Leiden ausgesetzt ist. Insofern kann der
bioethische
Imperativ
auch
als
Maxime
des
Mitleidens
in
der
Absicht
von
Leidensvermeidung, Leidensverhinderung und Reduktion von Leiden verstanden werden.
‚Dass dieses Phänomen [Mitleid] in jeder normalen Menschenseele in größerem oder
geringerem Masse vorhanden ist, nimmt auch das deutsche Strafgesetzbuch an, indem es in
Paragraph 360,13 voraussetzt, dass Tierquälerei dazu angetan ist, Ärgernis zu
erregen.’[13:100]. Wie für Peter Singer [40] ist für Fritz Jahr der auf Leidensfähigkeit
begründete Respekt vor Tier und Pflanze selbstverständlicher und essentieller Teil jeder
praktischen Ethik.
Bioethik ist aber auch Teil einer bürgerlichen Rechtsordnung und Rechtskultur. Jahr
verweist auf Schleiermachers ‚Philosophische Ethik’, besonders auch auf den in
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iberoamerikanischen Kulturen bis heute einflussreich gebliebenen Karl Christian Friedrich
Krause, der in seiner ‚Rechtsphilosophie’ fordert, ‚dass jedes Lebewesen als solches zu achten
sei und zwecklos nicht zerstört werden dürfe. Denn sie alle, die Pflanzen und die Tiere,
ebenso wie der Mensch, seinen gleichberechtigt; allerdings nicht zu gleichem, sondern ein
jedes nur zu dem, was ein notwendiges Erfordernis zur Erreichung seiner Bestimmung ist’
[13:101]. Es gibt also nicht nur ethische Pflichten gegen Mitmenschen, sondern auch gegen
alle Lebewesen: ‚Die Tatsache des engen Zusammenhanges zwischen Tierschutz und Ethik
beruht letztlich darauf, dass wir nicht nur gegen die Mitmenschen, sondern auch gegen die
Tiere, ja sogar gegen die Pflanzen – kurz gesagt gegen alle Lebewesen – ethische
Verpflichtungen haben, so dass wir geradezu von einer Bio-Ethik sprechen können’ [13:101].
Weil Mitleid ein ‚empirisch gegebenes Phänomen der Menschenseele’ ist - also ein
menschliches ethisches Prinzip und eine menschliche ethische Tugend zugleich - deshalb hat
der Respekt vor allen nichtmenschlichen Lebewesen auch eine zwischenmenschliche und
gesellschaftliche Funktion innerhalb einer auf Mitmenschen bezogenen Ethik und Kultur.
Und deshalb kann Jahr seinen Artikel über Tierschutz und Ethik wie folgt abschließen: ‚Nach
alledem ergibt sich als Richtschnur für unser sittliches Handeln der bio-ethische Imperativ:
Achte jedes Lebewesen, also auch die Tiere, als einen Selbstzweck, und behandle es nach
Möglichkeit als solchen! Und wenn man die absolute Geltung dieses Grundsatzes, soweit er
sich eben auf die Tiere und Pflanzen bezieht, nicht anerkennen will, so möge man ihn, um
schon Gesagtes zu wiederholen, mit Rücksicht auf die sittliche Verpflichtung gegen die
gesamte menschliche Gesellschaft dennoch befolgen’ [13:102]. Anders als in dem Artikel von
1927, in dem er von einer ‚bioethischen Forderung’ sprach, bezieht er sich nunmehr 1928
auch in der Wortwahl des ‚bioethischen Imperativs’ auf Kant.
Jahr muss sich in der Ausweitung des bioethischen Imperativs auf Tiere und Pflanzen mit
dem Argument einer möglichen Reduktion von Solidarität und Mitleid mit dem Mitmenschen
auseinandersetzen. Von Eduard von Hartmann greift er das Beispiel der ‚versauerten alten
Jungfer’ auf, ‚die ihren fetten Mops mit Braten und Süßigkeiten überfüttert, während sie ihre
Dienstboten darben lässt’ [13:100]. Er nennt das eine ‚falsche Tierliebe’, deren Pendant
‚falsche Liebe’ unter Menschen sich in Vetternwirtschaft, widerlicher Verhätschelung oder
ungerechter
Bevorzugung
äußert:
‚Ist
aber
solche
falsche
Menschenliebe
kein
durchschlagendes Argument gegen die Ethik, so ist auch die zuweilen auftretenden falsche
Tierliebe kein Beweis gegen die Berechtigung des Tierschutzes. – Vielmehr liegt die Sache
so: Wenn wir ein fühlendes Herz auch für die Tiere in der Brust hegen, dann werden wir
leidenden Menschen unser Mitleid und unsere Hilfe ebenfalls nicht vorenthalten. Wessen
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Liebe so groß ist, dass sie über die Grenzen des Nur-Menschlichen hinausgehend, noch im
armseligsten Geschöpf etwas Heiliges sieht, der wird auch in dem ärmsten und geringsten
seiner Menschenbrüder dieses Heilige zu finden und hoch zu achten wissen und sich dabei
nicht
auf
einen
begrenzten
Teil
derselben,
etwa
einer
Menschenklasse,
einen
Interessenverband, eine Partei und was sonst noch in Betracht kommen mag, beschränken.
Umgekehrt ist gefühllose Grausamkeit gegen Tiere ein Zeichen für einen rohen Charakter, der
auch seiner menschlichen Umgebung gefährlich werden kann. Auf diese Tatsache von
höchster Bedeutung für die Gesellschaftsethik weist neben vielen anderen Denkern der
Philosoph Kant nachdrücklichst hin, und im Hinblick auf sie bezeichnet er in den
‚Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre’ die schonende und barmherzige
Behandlung der Tiere geradezu als eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst. Ein
Ausspruch des Grafen Leo Tolstoi: ‚Vom Tiermord zum Menschenmord ist es nur ein Schritt’
mag in dieser Formulierung vielleicht übertrieben sein’ [13:100f]. Jahr weist darauf hin, dass
nicht selten Tierschutzparagraphen in Strafgesetzbüchern mit solchen kantischen Argumenten
begründet werden. Insgesamt lässt sich bezüglich eines möglichen Konflikts zwischen Ethik
und Tierschutz also festhalten: ‚Ist es nun tatsächlich so, dass der richtig verstandene und
richtig betriebene Tierschutz fördernd auf die Ethik einwirkt, stimmt es, dass er
volkserziehenden und volksbildenden Wert hat, dann darf er unter keinen Umständen
vernachlässigt werden. Andererseits wird ein jeder, der tierschützerisch eingestellt ist,
allgemein ethische Bestrebungen, die ja, wie gesagt, auch an der Tierethik nicht ablehnend
oder schweigend vorübergehen dürfen, nach Kräften zu fördern suchen, weil er damit indirekt
zugleich für den Tierschutz arbeitet’ [13:101].
Wie selbstverständlich muss der normative bioethische Imperativ bedenken, dass wir
Menschen sterbliche und von Essen und Trinken abhängige Lebewesen sind, - nicht nur
vernünftige Wesen, sondern auch physiologische Wesen mit physiologischen Bedürfnissen,
unter anderem dem Naturgesetz des Essens und Trinkens verpflichtet. Zum Verzehr kommen
im Wesentlichen nur pflanzliche und tierische Gewebe, also ‚Lebewesen’ infrage und das
erfordert für die Ausweitung des kategorischen Imperativs auf den Respekt vor der Würde
und Verletzlichkeit der Pflanzen- und Tierwelt eine Modifizierung der Rigorosität unter
Beibehaltung des Kategorischen. ‚Praktische Grundsätze’, wie wir aus der Analytik der reinen
praktischen Vernunft zitiert haben, enthalten ‚mehrere praktische Regeln unter sich’ [A35],
also gestaffelt auch solche für das Verzehren oder nutzlose Wegwerfen von Pflanzen, das
Schlachten oder Quälen von Tieren, ethische Regeln für die Tierhaltung und die Forschung an
und mit Tieren. Als Maxime wie bei Kant, nicht als objektives Prinzip, kann also auch für die
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Jahrsche Erweiterung der kategorische Imperativ Geltung haben: ‚Handle nur nach
derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz
werde’ [BA52]. Der Vorbildcharakter einer solchen Maxime liegt im rigorosen formalen
Anspruch und in der Anmutung, diesen formalen Anspruch inhaltlich im Respekt vor Würde
des Lebenden und potentiell Leidenden zu füllen. Die besondere Würde, von Kant nur dem
Menschen zugesprochen, als Würde und Verantwortung vor dem Sittengesetz als praktischem
Gesetz kann der nichtmenschlichen Lebenswelt allerdings nicht zugesprochen werden.
Was die zweite Version des kategorischen Imperativs betrifft, so ist sie darauf hin zu
prüfen, ob ihre inhaltliche Füllung, im Sinne Jahrs nicht missverstanden werden könnte als
Regeldespotismsus: ‚Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum
allgemeinen Naturgesetz werden sollte’ [BA52]. Verantwortung vor Menschen und allem
Leben kann als allgemeines Sittengesetz verstanden werden, rigoristische und heteronome
Regeln gegen oder für vegetarisches Essen würden der moralischen Freiheit und kulturtelen
Vielfalt widersprechen; der Verzicht auch auf pflanzliche Nahrung kann nicht als Ausdruck
menschlicher Freiheit verstanden werden, es wäre Unsinn und Unvernunft, deren nur der
Mensch fähig wäre. Kants kategorischer Imperativ ist formal und formuliert formale Maxime
in Achtung vor dem objektiven Sittengesetz; Jahrs bioethischer Imperativ ist inhaltlich und
nicht weniger orientiert an einem objektiven normativen Sittengesetz des Respekts vor der
Würde alles Lebenden. Deshalb argumentiert Jahr bioethischer Imperativ differenzierter. Kant
kann sich demgegenüber den Luxus einer nichtinhaltlichen Generalisierung des kategorischen
Imperativs erlauben. Jahr differenziert zwischen unterschiedlichen ethischen Verpflichtungen
gegenüber nichtmenschlichem Leben, die ‚sich praktisch nach dessen ‚Bedürfnissen’ (Herder)
bzw. nach seiner ‚Bestimmung’ (Krause) richten. Nun sind ja die Bedürfnisse der Tiere an
Zahl weit geringer und an Inhalt weniger kompliziert als die des Menschen. In erhöhtem
Masse gilt dies für die Pflanze, so dass die praktischen sittlichen Verpflichtungen, die schon
gegen die Tiere (wenn auch nicht grundsätzliche, so doch praktisch) geringer sind, gegen sie
noch viel weniger Schwierigkeiten bereiten. Des Weiteren ist hier noch das Prinzip des
Kampfes ums Dasein von Einfluss, ein Grundsatz, der auch unsere ethischen Pflichten gegen
unsere Mitmenschen in gewisser Weise modifiziert, so sehr wir dies auch bedauern mögen.
Denn unser ganzes Leben und Treiben in der Politik, im Wirtschaftsleben, im Kontor, im
Laboratorium, in der Werkstatt, auf dem Acker, ist, wie Naumann sehr richtig betont, in
seinen Beweggründen und Zielen keineswegs in erster Linie auf Liebe eingestellt, vielfach
aber auf Kampf mit irgendwelchen Mitbewerbern. Wir werden uns dessen oft nur nicht
bewusst, solange dieser Kampf ohne Hass in ehrlicher, gesetzlich erlaubter Weise geführt
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wird. Ebenso wenig wie wir nun den Kampf mit unseren Mitmenschen ganz vermeiden
können, ebenso unvermeidlich ist auch der Kampf ums Dasein mit anderen Lebewesen.
Trotzdem aber werden wir weder im ersteren noch im letzteren Falle das Ideal ethischen
Verpflichtetseins als Richtungspunkt aus dem Auge verlieren’ [13:101]. Insgesamt hat das
Modell des bioethischen Imperativs also nicht nur eine Funktion für einen neuen Respekt vor
der leidensfähigen belebten außermenschlichen Welt, sondern auch für ein breiteres and
differenziertes Verständnis der zwischenmenschlichen sozialen und gesellschaftlichen
Beziehungen.
In einer Studie zu Wagner’s ‚Parsival’ und im Vergleich des leidenden Jesus und des
leidenden Gralskönig unterstreicht der Pastor Jahr die Kulturen und Religionen übergreifende
Tugend
des ‚Mitleids’, die er hier ‚Liebe’ nennt: ‚ Nach dem bisherigen erscheint die
religiöse Gedankenwelt des ‚Parsifal’ zunächst als buddhistische Mitleidsreligion, durch die
Anschauungen Schopenhauers vermittelt. Schopenhauer sieht in dieser Religiosität einen
Gegensatz zum Christentum. Das trifft jedoch nicht zu. Ja, wir befinden uns bei dieser
Hochschätzung des Mitleids sogar im Mittelpunkt der christlichen Gedankenkreise. Wird
doch auch im Christentum die Liebe (das Mitleid ist ja nur eine Form derselben) höher
geschätzt als alles, was sich sonst Erkenntnis, Wissen, Weisheit nennen mag (1. Kor. 13).
Dass es sich hier im eigentlichen Grunde um christliche Anschauungen handelt, wird durch
Nietzsche bestätigt, der infolge seiner gegensätzlichen Einstellung zum Christentum Wagner
und d den „Parsifal’ auf das schärfste angreift. Es trifft eben auch für die christliche Religion
zu: Die Liebe (die sich als Mitgefühl, als Mitleid zeigt) ist Grundlage und Voraussetzung jede
Erkenntnis der Wahrheit’ [19a:364].
‚Du sollst nicht töten’ als bioethisches Sittengesetz: Der Theologe und Pädagoge Jahr
nutzt 1934 in der Zeitschrift ‚Ethik, Sexual- und Gesellschaftsethik’ die Interpretation des 5.
Gebotes ‚Du sollst nicht töten’ zur Verdeutlichung der universalen und normativen Funktion
des bioethischen Imperativs in drei unterschiedlichen Ansätzen: (a) das 5. Gebot als Ausdruck
des allgemeinen Sittengesetzes; (b) die ethische Pflicht der Selbsterhaltung und
Selbstverantwortung; (c) der bio-ethische Imperativ.
A:‚Wie tun wir Gutes? – Auf diese Frage gibt die so genannte ‚Goldene Regel’ Antwort:
Alles was Ihr wollt, dass es Euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch (Matth 7,12; Luk
6,31). Kant’s ‚Kategorischer Imperativ’: Handle so, dass die Maxime Deines Handelns
zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne, bedeutet im Grunde genau
dasselbe. – Jedoch geben solche Formulierungen eben nur ein formales Kennzeichen einer
‚guten’ Handlungsweise. Das Motiv könnte trotz dieses Kennzeichens sogar krasser
9
Egoismus sein, nämlich eine Art Vertrag auf Gegenseitigkeit: Tue mir nichts, dann tue ich Dir
auch nichts. Das zeigt Schopenhauer in seiner ‚Grundlage der Moral’)’ [18:183f].
Dem
kantischen Formalismus der Goldenen Regel und der reziproken utilitaristischen
Vertragsethik entgeht man, indem man auf das Motiv, ‚dass die Liebe die Erfüllung des
Sittengesetzes sei (Röm. 13,10)’, hinweist und auf die konkrete inhaltliche Ausgestaltung, für
die Schopenhauer ‚die beste, konkrete Beschreibung einer moralischen Handlungsweise’
genannt hat: ‚Neminem laedo, imo omnes, quantum potes, juva! (Verletze niemanden,
sondern hilf allen, soweit Du irgend vermagst)’ [18:184] Jahr fügt hinzu: ‚Mehr als zwei
Jahrtausende vor Schopenhauer hat bereits das 5. Gebot solche Erkenntnis gebracht, und zwar
unter einem größeren Gesichtspunkte, als Nutzen oder Schaden, nämlich unter dem
Gesichtspunkt der Heiligkeit des Lebens und der Lebensäußerungen. Wir wissen durch Jesus,
dass das 5. Gebot nicht nur das Morden verbietet, sondern alle bösen Taten gegen die
Anderen, ja sogar das böse Wort, die böse Gesinnung. Das bedeutet: Er verbietet nicht nur die
böswillige oder fahrlässige Vernichtung des Lebens, sondern alles, was irgendwie störend
oder hemmend auf ein Leben einzuwirken geeignet ist … Aus allem ergibt sich, dass das 5.
Gebot einen ganz besonders guten Ausdruck dessen, was sittlich gut praktisch bedeutet,
darstellt’ [18:184].
Für den evangelischen Pastor Fritz Jahr ist der Unsterblichkeitsglaube eine zusätzliche
Motivation für ethisches Handeln, nicht aus Furch vor Strafe, sondern weil auch Gott das
Leben achtet und nicht vergehen lässt [19]. An anderer Stelle versucht er die Möglichkeit
eines neuen Weiter- Lebens nach dem irdischen Tode durch den Vergleich mit den
Schmerzens- und Enderfahrungen des Fötus vor und in der Geburt zu plausibilisieren, der sich
nicht denken kann, dass es nach diesen schrecklichen Erfahrungen unter der Geburt erst
richtig mit dem Leben los- und weitergeht, - ähnlich und zu vergleichen mit den Schmerzensund Enderfahrungen des sterbenden und hoffnungslosen Menschen [20].
B: Pflichten gegen Leben schließt auch Pflichten gegen sich selbst ein, wie Jahr in
Erinnerung an Luther’s Erklärung zum 5. Gebot – ‚Du sollst niemandem an seinem Leben
Schaden oder Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Nöten seines Leibes und
Lebens, wo Du irgend vermagst’ - unterstreicht. In Anlehnung an 1. Kor 3,16f formuliert
Jahr: ‚Erhaltung des Lebens – auch das eigene Leben nicht ausgenommen – ist Pflicht. Und
Vernichtung oder Schädigung von Leben – wiederum auch des eigenen Lebens – ist ethische
Sünde’ [18:184]. Diese differentialethische Konkretisierung der Pflicht zu Selbsterhaltung
und Selbstverantwortung beschreibt der konservative Theologe kultur- und zeitkritisch wie
folgt: ‚Wie haben sich die im fünften Gebot gegebenen ethischen Verpflichtungen gegen das
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eigene Leben im Einzelnen praktisch auszuwirken? Dadurch, dass man sich nicht selbst das
Leben nimmt, dass man es nicht abkürzt, schädigt oder gefährdet, indem man seine
Gesundheit durch Unkeuschheit, Unmäßigkeit, im Essen und Trinken, heftigen Zorn,
leichtsinnige Tollkühnheit und Waghalsigkeit u. dgl. schwächt. Besonders wichtig ist die
Bewahrung der geschlechtlichen Reinheit sowie die Vermeidung des Missbrauchs geistiger
Getränke. – Was das erstere anbetrifft, so ist dabei das neutestamentliche Urteil besonders
deutlich: ‚Wer Unzucht treibt, der sündigt gegen das eigene leben’ (nach 1. Kor 6,18). Aber
nicht nur die unzüchtige Tat zu unterlassen, ist ethische Pflicht, sondern auch die Vermeidung
alles dessen, was zur Unkeuschheit verleitet: unehrbare Blicke, unreine oder zweideutige
Reden, Scherze und Lieder, unsittliche Schriften und Bilder, unanständige Spiele, Tänze,
Kleider u.dgl’ [18:184f]. Unkeuschheit und übermäßiger Alkoholkonsum schädigt aber nicht
nur das eigene Leben, sondern potentiell auch das Anderer, insbesondere das der eigenen
Nachkommen. ‚Wer seine sittlichen Pflichten gegen sich selbst recht erfüllt, der vermeidet
eben dadurch viele Schädigungen anderer Menschen. .. Hat er Nachkommenschaft, so
schädigt er auch diese, indem er ihr eine schwächliche und kranke Natur vererbt, wodurch
dann in der weiteren Folge der Allgemeinheit wiederum Belastung und Schaden erwächst.
Wer in dieser Hinsicht sein eigenes Leben vor Schaden bewahrt, der tut damit zugleich auch
seine Pflicht gegen die Allgemeinheit. Ähnlich verhält es sich mit dem Alkohol. Auch der
dem Alkoholgenuss Ergebene setzt sich unter Umständen den schwersten körperlichen und
geistigen Gefahren aus. Auch er schädigt dann nicht etwa nur sich selbst, sondern seine
Familie, seine Nachkommenschaft, sein Volk, seine Rasse’ [18:185; vgl. auch 14 und 15].
Ähnlich hatte Jahr an anderer Stelle sozial- und gesellschaftsethisch argumentiert, dass die
Tierethik der Ethik unter Menschen nicht zuwiderlaufe, sondern sie ergänze und stärke. Jahr’s
Ansatz verbindet methodisch den erweiterten ethischen Imperativ allem Leben gegenüber mit
neuen und verbindenden Perspektiven auf die Individual- und Gesellschaftsethik unter
Menschen. In Abwägung zwischen ‚zwei ethischen Grundproblemen in ihrem Gegensatz und
in ihrer Vereinigung im sozialen Leben’, Egoismus und Altruismus, beschreibt er die Extreme
beider Positionen als unerwünscht, unterstreicht aber die Rolle eines gesunden Miteinander
beider Prinzipien für die Entwicklung des Individuums wie auch für Aufbau und Entwicklung
von Kulturen und Gesellschaften. Insbesondere die Mitgliedschaft in Organisationen scheint
für ihn als "kollektiver Egoismus" auch der Gemeinschaft insgesamt zugute zu kommen und
ist deshalb für diese auch eine Form von Altruismus [16].
C: Den dritten und längsten Abschnitt unter der Überschrift ‚Der bio-ethische
Imperativ’ leitet Jahr wie folgt ein: ‚‚Du sollst nicht töten’, so mahnt das fünfte Gebot. Nun
11
bezieht sich das Begriff des Tötens immer auf etwas Lebendiges. Lebewesen sind aber nicht
nur die Menschen, sondern auch die Tiere und Pflanzen. Da nun das fünfte gebot nicht
ausdrücklich nur das Töten von Menschen verbietet, sollte es dann nicht sinngemäß auch auf
Tiere und Pflanzen anzuwenden sein?’ [18:185]. In Beantwortung dieser Frage zitiert Jahr die
schon genannten zeitgenössischen Autoren, auch den notwendigen Schritt von der BioPsychik zur Bio-Ethik. Es folgen im Wesentlichen die Argumente aus den beiden anderen
Artikeln und auch der Hinweis auf die ‚Tierschutzparagraphen in den Gesetzbüchern der
verschiedenen Kulturländer’ [18:187]. Jahr schließt diesen Aufsatz wie folgt: ‚In all dem zeigt
sich der universale Geltungsbereich des fünften Gebots, das in Beziehung auf alles Leben
angewendet zu werden verlangt. Als Umschreibung des fünften Gebots ergibt sich der bioethische Imperativ: ‚Achte jedes Lebewesen grundsätzlich als einen Selbstzweck und
behandle es nach Möglichkeit als solchen!’’ [18:187]
ETHIKUNTERRICHT UND ETHIK IN DER PRAXIS
‚Gesinnungsunterricht’: Für Jahr ist der bioethische Imperativ nicht nur ein
Gegenstand der interdisziplinären akademischen Disziplin, sondern auch eine Verpflichtung
und Tugend, zu der hin erzogen werden muss, ein Praktischwerden von Verantwortung und
‚Gesinnung’. In einem engagierten Artikel von 1930 diskutiert der Pädagoge Jahr, wie schon
in seinem Aufsatz von 1927, noch einmal das Verhältnis von Ethik und Wissenschaft, diesmal
unter der Frage ‚Gesinnungsdiktatur oder Gedankenfreiheit?’. Er unterscheidet zwischen
Gesinnungsurteil und wissenschaftlichem Urteil: ‚Die Gesinnung geht stets in irgendeiner
Weise auf ein als sittlich empfundenes Werturteil zurück. Im Gegensatz zu jeder Gesinnung
steht die Wissenschaft, indem sie solche Werturteile nicht als Grundlage ihrer Arbeit
anerkennt. Freilich kann die Wissenschaft eine Gesinnung begründen, bzw. das Material für
eine solche liefern. Und das ist ohne Zweifel zu begrüßen’ [17:200]. In den Umbruchsjahren
der Weimarer Zeit vor dem Dritten Reich plädiert er konsequent im Sinne
reformpädagogischer Bemühungen für eine liberale Gestaltung des Gesinnungsunterrichts
und die Schulung differentialethischen Abwägens und Urteilens im Unterricht: ‚nicht Dressur,
sondern Liberalisierung bzw. ‚Demokratisierung’ der Gesinnung’. Die ersten sieben seiner
zehn Thesen lauten: ‚1. Keine feststehende Gesinnung ist zu lehren. – 2. Streng zu vermeiden
ist es, eine vorgefasste Meinung mit einer angeblichen Objektivität und einem Anstrich von
fälschlich so genanntem Arbeitsunterricht zu verschleiern. – 3. Es ist methodisch unzulässig,
nur Passendes zu berücksichtigen und unbequeme Tatsachen zu verschweigen, abzuleugnen
oder nach Bedarf zu verdrehen. – 4. Stets sind verschiedene Gesinnungseinstellungen zu
12
berücksichtigen. – 5. Auch einander widersprechende Gesinnungen sind in ihren Vorzügen
und Fehlern gleichmäßig-tendenzlos zu behandeln. (Nicht die eine durch eine rosige, die
andere durch eine schwarze Brille betrachten). – 6. Wenn man eine persönliche Anschauung
mitteilt, so sollte das stets unverbindlich geschehen. Auch darf man nicht vergessen, die
Problematik dieser eigenen Gesinnung aufzuzeigen. – 7. An Stelle jeder tendenziösen
Gesinnungsmacherei ist den Schülern Gelegenheit zu geben, sich eine eigene Gesinnung zu
bilden, bzw. ihnen das objektive Material für eine spätere eigene Gesinnungsbildung zu
geben’ [17:201].
Die didaktischen Erwägungen von Jahr gehen über die engere methodische Kontroverse
zwischen Reformpädagogik und traditioneller paternalistischer Erziehung hinaus, insofern sie
das inhaltliche und methodische Ziel von Ethikunterricht und auch von Ethikdiskurs angeben.
Ethik besteht für Jahr nicht in einer philosophischen, theologischen oder politischen
Verordnung oder gar Diktatur von Verhaltensweisen; Ethik ist für ihn Streitkultur,
Diskurskultur, Kommunikation nicht so sehr über Theoriehandeln, sondern über
Praxishandeln. Diese Liste liest sich wie ein methodischer Kanon für die bioethische
Politikberatung des 21. Jahrhunderts und für eine moderne medizinethische und
klinikethische Arzt-Patient Kommunikation und jede Form partnerschaftlicher Konfliktlösung
in der säkularen und globalen Gesellschaft und hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Jahr’s
Artikel erschien in der Zeitschrift ‚Die neue Erziehung. Monatsschrift für entschiedene
Schulreform und freiheitliche Schulpolitik’; sie wurde 1933 mit dem Beginn der verschärften
Gesinnungsdiktatur der Nationalsozialisten eingestellt, vermutlich verboten.
Tagespresse: An der Schwelle des Informationsalters mit seinen Massenmedien und der
schnellen
Verbreitung
des
Radios
ist
Pastor
Jahr
sich
des
verhaltens-
und
gesinnungsprägenden Einflusses moderner Medien sehr bewusst. In einem Aufsatz über
‚Soziale und sexuelle Ethik in der Tageszeitung’ würdigt er zwar durchaus die Fachpresse
und das gesprochene Wort in öffentlichen Vorträgen und Kursen, beklagt jedoch einen
zunehmend schlechteren Besuch solcher Veranstaltungen: ‚Größeren Einfluss dürfte vielleicht
der Rundfunk haben’ [14:149]. Sein besonderes Interesse als Ethiker und Erzieher gilt jedoch
der Tagespresse: ‚Millionen von Augen überfliegen Tag für Tag die Abermillionen Spalten
der Zeitungen. Auch die bedeutendste Fachpresse und das meistgelesene Buch können da
nicht mit’. Jahr diskutiert die Kontroverse, ob die Tageszeitung Ausdruck der öffentlichen
Meinung sei oder ob sie diese erst schaffe. Wie immer man darüber denke, eins ist für ihn
festzuhalten: Informationsmedien prägen so oder so öffentliche Meinung und Gesinnung:
‚Und glaubt man, in den Spalten der Presse allein das Motiv zu finden, eine öffentliche
13
Meinung erst zu bilden oder wenigstens einen entscheidenden Einfluss auf sie auszuüben,
dann wird es vom ethischen Standpunkte aus betrachtet sogar zur Pflicht, sich an dieser
Gesinnungsbildung nach bestem Wissen und Gewissen aktiv zu beteiligen. Dass man solche
zunächst
bei
besonders
geeigneten
Tageszeitungen
beginnt,
ist
ein
Gebot
der
Zweckmäßigkeit. Ebenso wichtig ist es, mit einer passenden Korrespondenz in Verbindung zu
treten. Im übrigen sind praktische Winke Sache von Fachleuten auf ethischem und zugleich
zeitungstechnischem Gebiet. Diese letzte Möglichkeit zu benutzen, ist im Interesse der guten
Sache, bei der es sich in der Sozial- und Sexualethik handelt, sehr zu empfehlen’ [14:150].
Kommunikationsregeln in der Fachpresse und in der Tagespresse sind verschieden; daran hat
der
Ethiker
und
Aufklärer
sich
anzupassen
und
soweit
wie
möglich
selbst
Kommunikationsexperte zu werden: ‚Indem die Tagespresse nur ab und zu als ethisch
deutlich erkennbare Aufsätze bringt, die nicht zu lang sind die durch ihre feuilletonistische
Form dem Laien Interesse und Verständnis abzugewinnen vermögen, so ist auch von diesem
Standpunke aus die Bedeutung der Presse für die Ethik, einschließlich der Sozial- und
Sexualethik, nicht zu übersehen’ [14:150].
DIE WIEDER-‘GEBURT’ DER BIOETHIK IN DEN USA 1970/1971
Düwell und Steigleder referieren im Suhrkamp Taschenbuch ‚Bioethik’ den derzeitigen
Stand des Wissens um Geschichte, Begriff, Bedeutung und Aufgaben von Bioethik wie folgt:
‚Die Geschichte der ‚Bioethik’ ist noch recht jung. Sie beginnt erst in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts, im engeren Sinn erst in den sechziger Jahren. Der Name ‚Bioethik’ wurde
erst zu Beginn der siebziger Jahre eingeführt’ [5:12]. Im Jahre 2001 feierte man in den USA
und in der ganzen Welt den 30. Geburtstag der ‚Bioethik’ als einer neuen Disziplin. Als
Geburtsdatum wurden von Warren Reich nach intensiven Studien das Erscheinen des Buches
von Van Rensselaer Potter ‚Bioethics. Bridge to the Future’ 1971 [22; vgl. 23] und die
Gründung des Kennedy Institute of Bioethics an der Georgetown Universität durch Andre
Hellegers mit Unterstützung der Kennedy Familie angegeben [11]. Reich spricht insofern
auch von einem ‚bilocal birth’ [24; 25]. Die Arbeiten von Fritz Jahr waren bis heute
unbekannt; insofern müsste man ab jetzt besser von einer Wiedergeburt der Bioethik in den
USA im Jahre 1971 sprechen. Potter selbst hielt sich für den ‚Erfinder’ des Begriffs Bioethik
[5:21; 21].
Wie aus den Arbeiten von Reich hervorgeht, lassen sich sowohl bei Potter wie auch bei
Hellegers ähnliche Argumente für das Konzept von Bioethik als einer neuen
wertwissenschaftlichen Disziplin finden wie bei Fritz Jahr: 1. Neue wissenschaftliche
14
Erkenntnis und Fortschritte – bei Potter auf vielen Gebieten der modernen Wissenschaft, bei
Hellegers und Sargent Shriver, der mit seiner Frau Eunice, einer Schwester von John F.
Kennedy und seinen Brüdern, an den Planungen und
Gründungen beteiligt war, die
Fortschritte insbesondere der modernen klinischen Medizin und Humangenetik – sind Anlass
für neue und intensive wertwissenschaftliche philosophische und ethische Analysen und
Konzepte zur Steuerung und Anwendung des neuen Wissen. – 2. Die gegenwärtige Zeit ist in
einem gesellschaftlichen und moralischen Umbruch, der von den neuen wissenschaftlichen
und wirtschaftlichen Möglichkeiten ermöglicht und mitverursacht ist. - 3. Bioethik ist nicht
nur eine neue wertwissenschaftliche Disziplin im interdisziplinären Umfeld, sondern auch
eine auf Praxis gerichtete Tugend und Charakterhaltung, eine persönliche sowohl wie
professionelle Gesinnungskultur, die auch einer Pflege, Unterweisung und Unterrichtung
bedarf.
Shriver hatte ursprünglich den Plan, das neu zu gründende Institut im Plural als ‚Institutes
of Bioethics’ zu benennen, um die Notwendigkeit von eng mit den jeweiligen Fachdisziplinen
erforderlicher
ethischer
Expertise
und
Differentialethik
in
ebensolcher
konkreten
Problemnähe zu entwickeln und anzuwenden, so wie es für die jeweiligen Fachdisziplinen
selbstverständlich war und ist [35]. Der Name des Instituts lautete schließlich ‚Kennedy
Institute of Ethics’. Es war aber nach Hellegers’ und Shrivers’ Konzept einer sach- und
problemnahen angewandten Ethik in drei Institute aufgeteilt. Das ‘Josef and Rose Kennedy
Institute for the Study of Human Reproduction and Bioethics’ hatte 1974 drei selbstständige
Zentren: Center for Bioethics, Center for Population Research, and the Laboratory for
Reproductive Biology [35]. Auf den Neubegriff Bioethik wurde wohl aus Gründen eines
leichteren Fundraising verzichtet. Heute ist das ‚Kennedy Institute of Ethics’ im wesentlichen
ein akademisches Forschungs- und Beratungsinstitut; neben ihm existiert auf dem Campus
der Georgetown Universität ein ‚Center for Clinical Bioethics’, deren Mitglieder neben der
klinisch-ethischen Forschung vor allem beratend und lehrend an der Georgetown Medical
School tätig sind. 1969 hatten Daniel Callahan und Willard Gaylord in Hastings on the
Hudson nördlich von New York City das ‚Institute of Society, Ethics and the Life Sciences’
gegründet, heute ‚Hastings Center’ genannt, mit einem ähnlichen Schwerpunkt auf
wertwissenschaftlichen Forschungen und Begleitungen der Wissenschaften vom Leben, d. h.
Biologie und Medizin, allerdings ohne den Begriff Bioethik zu benutzen; erst 1973 erschien
Callahan’s Aufsatz ‚Bioethics as a Discipline’ [4].
Unabhängig von den Namensgebungen der beiden ersten und bis heute führenden
bioethischen Institute in den USA machten jedoch der Begriff und das Konzept von Bioethik
15
sehr schnell ihren Siegeszug um die Welt, nicht nur in den akademischen Hallen, sondern
auch in nationalen und internationalen Beratungsgremien und in Intensive Bioethics Courses,
wie beispielsweise an der Georgetown Universität seit über 25 Jahren. Die UNESCO hat seit
1993 ein International Bioethics Committee; es gibt eine Europäische Bioethik Konvention,
bioethische Forschungsinstitute an vielen Universitäten überall in der Welt, auch
internationale Zeitschriften mit Titeln wie ‚Bioethics’ und ‚Eubios Journal of Asian and
International Bioethics’. In Münster gibt es seit einiger Zeit ein ‚Centrum für Bioethik’, das
sich bisher aber im Wesentlichen mit Themen beschäftigt, die auch unter den Begriff
Medizinethik fallen würden. Interessant und unterstreichenswert ist, dass alle diese Zentren
und Aktivitäten sich nicht um Bioethik im originalen und breiten Sinne des Wortes bemühen,
sondern um Medizinethik, Ethik in der klinischen Forschung, Ethik des Arzt-Patient
Verhältnisses und um Themen wie Wahrhaftigkeit am Krankenbett, Informed Consent,
Gerechtigkeit
im
Gesundheitswesen,
Fragen
der
Humangenetik,
Euthanasie,
und
Schwangerschaftsabbruch behandeln.
Reich unterstreicht sowohl bei Hellegers wie vor allem bei Potter den Ansatz einer
weltweiten Anstrengung in Zeiten abnehmender Verbindlichkeit von tradierten Werten und
Werthaltungen sich erneut um die Sicherung und Übertragung von ethischen Werten und
Tugenden in die neuen technischen und biomedizinischen Welten zu bemühen; er definiert
Bioethik als ‘the systematic study of human conduct in the area of the life sciences and health
care, in as far as this conduct is examined in the light of moral values and principles’[27:29]
und schlägt zur terminologischen Präzisierung und ‚Rettung’ des Begriffs von Bioethik einen
Salvadorischen Kompromiss vor, in dem der Begriff Bioethik jeweils mit einem
differenzierenden Adjektiv versehen wird: ‚ to use the term bioethics in its original, global
sense, as referring to the ethics of the life sciences and health care; and then use adjectives to
specify particular areas of concern with bioethics. For example, one might speak of medical
bioethics, environmental bioethics, clinical bioethics, or nursing bioethics without implying,
with these terms, any particular approach’ [27:30]. Wir werden auf diese seltsame
Faszinierung des Begriffs Bioethik in der Bezeichnung von etwas, für das er im engeren
Sinne definitorisch gerade nicht steht, abschließend noch eingehen müssen. Denn präzise und
klare Begrifflichkeit in der Ethik und den Wertwissenschaften ist die Voraussetzung für klare
und präzise Analysen und Werten, nicht anders als in den Naturwissenschaften.
Unbeschadet von diesen terminologischen Verwerfungen, kann Engelhardt aber 1986 in
‚Foundations of Bioethics’ nur 15 Jahre nach der Gründung des Kennedy Institute of Ethics
und des Hastings Center feststellen: ‘The moral and conceptual problems associated with
16
health care and the biomedical sciences have called philosophy back to puzzles that are part of
everyday life, even if it is the life of a society characterized by new and expensive medical
technologies. In medical schools from Germany to the United States and from Sweden to
Argentina and Beijing, philosophers have been invited to participate in forming public policy
bearing on health care, to serve on ethics committees, or to participate in teaching medical
students. Bioethics has taken a shape as a philosophical discipline recognized across the
globe’ [7:VIII]. Es ist Engelhardt zuzustimmen, dass die konkrete Arbeit an medizinethischen
Problemen auch für die Selbstfindung und Selbstbestimmung von Philosophie im Übergang
in eine wertplurale und globale Welt von großer Bedeutung ist.
Ähnlich haben wir bei Jahr beobachten können, wie die Ausweitung des kantischen
formalen kategorischen Imperativs und seine inhaltliche Füllung mit dem Respekt vor der
gesamten Welt des bios anregend und befruchtend auch für einen neuen und frischen Blick
auf klassische Verantwortungen und Konflikte im gesellschaftlichen und sozialen Leben sein
kann. In einem Bericht ‚Medizinethik in den USA. Bestandsaufnahme nach 12 Jahren’ in der
‚Münchener Medizinischen Wochenschrift’ 1985 [29] benutzte ich nicht den Begriff
Bioethik, sondern den präziseren und in Deutschland vertrauteren Begriff ‚Medizinethik’; der
Begriff Bioethik kommt in diesem Artikel nur einmal vor an der Stelle, an der ich über das
Graduate Programm in ‚Bioethik und Philosophie’ an der Georgetown Universität berichte.
Im übrigen nannte ich dort als Gründe für das Entstehen und Ausbreiten der Medizinethik (a)
die Ausweitung technischer Möglichkeiten der modernen Medizin und die damit
zusammenhängenden kulturellen und ethischen Konsequenzen, (b) die höheren Ansprüche an
Normbegründungen und -durchsetzungen für alle heilberuflich Tätigen in einer sich rasch
differenzierenden pluralistischen Gesellschaft und (c) die Notwendigkeit einer höheren
Sprach- und Reflexionskompetenz für Ärzte in der Interaktion mit Patienten und Mitarbeitern
in einem sich entwickelnden neuen Partnerschaftsverhältnis [29]. Jahr, Hellegers und Potter
haben die beiden ersten Argumente ähnlich vorgebracht und hätten dem letzteren mit
Sicherheit zugestimmt. In einem Beitrag ‚Bioethics is Emerging in West Germany’ im
Newsletter des Kennedy Institute of Ethics verwendete ich dann 1987 allerdings den dort
gebräuchlicheren Begriff Bioethik, um über die Gründung der ‚Akademie für Ethik in der
Medizin’ und des Bochumer ’Zentrum für Medizinische Ethik’ zu berichten [Vol 1, No 12;
vgl. 31].
17
BIOETHIK IN DEUTSCHLAND NACH 1985
Bioethik in unserem heutigen Verständnis fand ihren Weg nach Deutschland von den
USA erst vor gut 20 Jahren. Fritz Jahr’s Definition und Konzept von Bioethik war bis heute
unbekannt und medizinische Ethik wurde als das bezeichnet, was sie ist und war: Ethik im
medizinischen Handeln, Arztethik, Ethik in der klinischen Forschung. Meine erste Begegnung
mit ‚Bioethik’ erfolgte 1978 anlässlich einer Gastprofessur im Philosophy Department der
Georgetown Universität. Seit dem Jahr 1980 arbeitete ich am Kennedy Institute of Ethics,
zunächst mit einem Stipendium der Stiftung Volkswagenwerk, später als Senior Research
Scholar. Das erste ‚bioethische Institut’ im Sinne von Hellegers und Potter wurde in
Deutschland 1986 von Herbert Viefhues, mir und anderen Kollegen vorwiegend aus der
Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität als ‚Zentrum für Medizinische Ethik’ in Form
eines gemeinnützigen Vereins gegründet [3]. Wenige Monate später erfolgte die Gründung
der ‚Akademie für Ethik in der Medizin’ [39], ebenfalls unter dem Einfluss von Eduard
Seidler, dem späteren Präsidenten der Akademie, nicht den Namen Bioethik benutzend. Die
von Bochumer Zentrum herausgegebene Schriftenreihe, die bis heute auf über 170 Titel
angewachsen ist, trägt den Namen ‚Medizinethische Materialien’, nicht ‚Bioethische
Materialien’.
Es gab und gibt Unterschiede zur amerikanischen Medizinethik, respektive Bioethik. Der
von Viefhues und mir 1985/1986 entwickelte ‚Bochumer Arbeitsbogen für die
medizinethische Praxis’, eine normative, aber weltanschaulich offene Checkliste für die
patientenorientierte Vorbereitung und Nachprüfung einer individualisierten Behandlung
orientierte sich, wie Jahr sicher positiv hervorgehoben hätte, in ihrem ethischen Mittelteil an
der Methode der klassischen klinischen Befunderhebung, die den Medizinern bekannt war,
und fragte unter dem Stichwort ‚Selbstbestimmung des Patienten’: ‚Was ist über das
Wertsystem
des
Patienten
bekannt?
Welche
Einstellungen
hat
der
Patient
intensivmedizinischen, palliativen oder reanimierenden Behandlungsformen gegenüber? Ist
der Patient über Diagnose, Prognose und Therapie hinreichend informiert? Wie weit kann der
Patient in die Bewertung einbezogen werden oder inwieweit kann sie ihm ganz überlassen
werden? Wer kann sonst stellvertretende Entscheidungen für den Patienten fällen? Stimmt der
Patient der Therapie zu?’. Insbesondere unsere Frage nach der Einbeziehbarkeit des Patienten
in die Entscheidung wurde von unseren Kollegen am Kennedy Institute of Ethics als
alteuropäisch und als Soft-Paternalismus kritisiert, blieb sie doch hinter dem Georgetown
Mantra von ‚Autonomy, Nonmaleficence, Beneficence, Justice’ als Benchmark für eine
moderne patientenorientierte Medizin zurück [vgl. 2]. Inzwischen wurde der Bochumer
18
Arbeitsbogen in mehr als 10 Sprachen übersetzt und spielt vor allem in der klinischen
Ausbildung eine wichtige Rolle. Natürlich war die Auswahl unserer Fragen und ihre
Gewichtung
nicht
wertneutral,
sondern
entsprach
den
normativen
Ansätzen
der
angloamerikanischen Bioethik und hätte sich auch auf die methodischen Hinweise von Jahr
zum Gesinnungsunterricht berufen können, wenn diese 1985 bekannt gewesen wären. Diese
nahe Bindung an das in den USA entwickelte Modell einer partnerschaftlichen Arzt-Patient
Interaktion zeigt sich heute vor allem bei dem Versuch der Übertragung in asiatische
Einstellungs- und Medizinkulturen unter Nichtrespektierung dortiger kultureller und ethischer
Schwerpunktsetzungen [1].
Ab 1987 führte ich für einige Jahre in Washington einen Intensive European Bioethics
Course durch, der die Teilnehmer mit dem Ansatz der Prinzipienethik von Autonomy,
Nonmaficence, Beneficence und Justice [2] vertraut machte und gleichzeitig erlaubte die nur
bedingte Übertragbarkeit dieses Ansatzes in die europäischen Arzt- und Gesundheitskulturen
zu übertragen. Aus der Bundesrepublik haben unter anderem an diesen Kursen teilgenommen
Herbert Viefhues, Hanns-Peter Wolff, Eduard Seidler, Hans-Bernhard Wuermeling, Dieter
Birnbacher, Wolfgang Wagner, Gerd Richter, Oswald Schwemmer, Kurt Bayertz, Ludger
Honnefelder, Anton Leist, Ruth Mattheis, Hermann Pohlmeier, Ingeborg Retzlaff, Rainer
Floehl, Udo Schlaudraff, Gabriele Wolfslast, Hans Lenk, Stephan Sahm, Johannes Meran,
Stella Reiter-Theil, Carmen Kaminsky, Rita Kielstein, Werner-Karl Raff; Bettina SchoeneSeifert und Peter Schroeder haben akademische Examen in Bioethik abgelegt; Jochen
Vollmann aber auch Kollegen aus China wie Qiu Renzong und aus anderen Ländern haben
längere Zeit selbständig am Kennedy Institute of Ethics gearbeitet. Diese persönlichen
Kontakte haben vermutlich mehr noch als Publikationen zu einer raschen Entwicklung von
Medizinethik und Bioethik in Deutschland und zur Integration in den internationalen Dialog
beigetragen.
Eine erste Diskussion über Begriff und Konzept von Bioethik fand in Deutschland in
einem von mir herausgegebenen Schwerpunktheft von ‚Medizin, Mensch, Gesellschaft’ 1986
statt. Im Editorial berichtete ich, dass es 1986 in den USA bereits mehr als 60
Forschungsinstitute zur Bioethik und Pflichtkurse in Bioethik in den Curricula an fast allen
Medical Schools gab. Ich fuhr fort: ‚In Deutschland ist der griffige Begriff Bioethik noch
nicht eingedrungen. Die Zukunft wird darüber zu entscheiden haben, ob wir das, was mit
bioethics gemeint ist, künftig unter dem Begriff Bioethik diskutieren werden oder unter
Medizinische Ethik, Ethik der Heilberufe oder Ethik in den Lebenswissenschaften. Wie auch
immer der Name sein wird, die Sache ist zu wichtig und zu brennend, als dass sie nicht mit
19
Intensität und Hartnäckigkeit aufgegriffen werden muss. Die Fragestellungen und
Lösungsmöglichkeiten der modernen Bioethik werden für die gesellschaftliche Bedeutung,
die moralische Rechtfertigung und die medizinische Leistung der Heilberufe der Zukunft die
gleiche Rolle spielen wie die Biologie und Naturwissenschaften für die Medizin und die
Lebenswissenschaften in den letzten 150 Jahren’ [29:230]. – Eduard Seidler, später Präsident
der ‚Akademie für Ethik in der Medizin’ plädiert unter der provokanten Fragestellung
‚Bioethik oder Ethik der Heilberufe?’ für den letzteren Begriff: ‚Es gibt historische Gründe
für die unterschiedliche Stellung der medizinischen Ethik in den USA und der
Bundesrepublik; ein wachsendes Interesse an ethischen Fragenstellungen für Heilberufe ist
jedoch unübersehbar. Überall in der medizinischen Praxis
finden wir ethische
Fragestellungen; sie müssen nicht erst von außen an die Heilberufe herangetragen werden.
Die Erziehung zur Ethikfähigkeit muss sich phasengerecht an den Stufen der medizinischen
Ausbildung und Fortbildung orientieren. .. Eine Grundsatzdiskussion, wie sie in den großen
Zentren von Georgetown und Hastings stattgefunden hat, ist weder in der Bundesrepublik
noch auf europäischer Ebene gelaufen. .. Unverkennbar ist auch die
- sicher nicht
unberechtigte – Scheu, in den Fakultäten einen ‚Ethiker’ zu akzeptieren, dem nach den
hiesigen Verhältnissen eher die Funktion eines Alibis oder Zensors statt eines Vermittlers
zuwachsen könnte. Gleiches gilt für die Übernahme des im Deutschen sprachlogisch
problematischen Begriffs ‚Bioethik’, der vorzugeben scheint, ein Problemfeld zu
spezialisieren und zu systematisieren, welches grundsätzlich die Aufgabe der gesamten
Heilkunde zu sein hat’ [38:258]. – Josef Fuchs SJ von der Gregoriana Universität in Rom ist
sich ebenfalls der Kontroverse um den Begriff Bioethik bewusst, vermutet aber einen damit
verbundenen Übergang zu einer mehr patientenorientierten partnerschaftliche Ethik der
Heilberufe, die sich von der früheren paternalistischen Arztethik entfernt: ‚Das Wort Bioethik
ist neueren Datums. Es wird vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika gebraucht. In
Deutschland kannten wir früher (und kennen wir auch heute noch) das Wort ‚Medizinische
Ethik’ oder auch ‚Ärztliche Deontologie’. Vor allem die letzte Formulierung lässt verstehen,
dass es dabei vor allem um die ethischen Fragen im Verhältnis zwischen Arzt und Patient
geht. .. Das Grundproblem der Bioethik ist: Verfügen über menschliches Leben – in welcher
Weise auch immer’[8:242].
Tristram Engelhardt diagnostiziert die grundsätzliche Funktion der Bioethik im Übergang
von der traditionellen paternalistischen hippokratischen Arztethik hin zu posthippokratischen
ethischen und vertraglichen Regelungen in säkularen und pluralistischen Gesellschaften und
hin zu einem komplex organisierten und finanzierten Medizinbetrieb : ‚Die Berufsethik der
20
heute im Gesundheitswesen Tätigen wird in gleichem Masse durch die Berücksichtigung
gesellschaftlicher Interessen an der Kostenbeschränkung und an der Vorhaltung verschiedener
Modalitäten der Behandlung bestimmt wie durch die Interessen einzelner Patienten und Ärzte.
Die Bioethik bildet sich als Sprache der nicht-religiös bestimmten politischen Entscheidungen
für die Gesundheitsberufe heraus, und die medizinische Berufsethik ist eng verknüpft mit der
Ethik der politischen Meinungsbildung, Entscheidung und Durchsetzung’ [6:236]. - Reich
thematisiert die unter der Vorreiterrolle des Kennedy Institute of Ethics entwickelte
Prinzipienethik und fordert ‚die ethische Pflichtenlehre ist zwar für Untersuchungen in der
Bioethik von wesentlicher Bedeutung, aber eine Ethik des Ethos sowie einer Wertethik sollte
verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die auf Prinzipien beruhende Pflichtethik, die
bisher das Fach beherrscht hat, sollte in ein fruchtbares Verhältnis mit den anderen zwei
Paradigmen gebracht werden’[24:231].
Kimura und Qiu schließlich reißen schon 1986 die globale und transkulturelle
Herausforderung der Bioethik an. Qiu Renzong schreibt: ‚Die Bioethik kennzeichnet den
Schnittpunkt zwischen politischen Prioritäten und menschlichen Werten. Die gegenwärtig
drängendste Frage ist die nach der gerechten Verteilung von begrenzten medizinischen
Ressourcen. Konfuzianismus und Marxismus haben medizinische und bioethische
Wertvorstellungen in China beeinflusst. Güte und Hilfe sind zwei der wichtigsten
konfuzianischen
Werte;
das
hätte
zum Aufbau
eines
öffentlichen
Systems
der
Gesundheitspflege mit gleichen Zugangschancen für alle führen können’[23a:253]. Und
Rihito Kimura, gleichzeitig tätig am Kennedy Institut und der Waseda Universität in Tokio so
wie ich gleichzeitig an der Ruhr Universität und am Kennedy Institut arbeitete, entwickelt die
menschenrechtliche Dimension der Bioethik für das 21. Jahrhundert: ‚ Die Bioethik ist eine
völlig neue Disziplin, die auch über die bisherigen Formen von Interdisziplinaritaet
hinausgeht. Sie ist metainterdisziplinär; sie entprofessionalisiert die Medizin; sie ist eine
Buergerrechtsbewegung. Eine neue Form von Solidarität mit allen Formen von Leben (eine
alte konfuzianische Idee) wird uns in das nächste Jahrtausend leiten müssen’ [21:247].
Keine der skizzierten Positionen aus dieser ersten bioethischen Diskussion in deutscher
Sprache von Jahr 1986 hat heute an Aktualität verloren, insgesamt sollten sie an aktuellen und
künftigen Diskursen zu ‚Quo vadis, Bioethik?’, ebenso wie die Entwürfe von Fritz Jahr, auch
im neuen Jahrhundert beteiligt werden. In konkreten Details wurde die ‚Bioethik in den USA’
in einem von mir 1987 herausgegeben Buch mit dem gleichnamigen Titel vorgestellt [32].
Auf knapp 300 Seiten werden die damaligen Methoden, Themen und Positionen von Autoren
wie Cook-Deegan, Engehardt, Faden, Pellegrino, Pinkard, Veatch und Walters vorgestellt.
21
Dieses Buch und zwei andere ebenfalls bei Springer 1991 herausgegebene Bücher mit
deutschen wie nichtdeutschen Autoren zu ‚Genomanalyse und Gentherapie. Ethische
Probleme der Humanmedizin’ und ‚Güterabwägung und Medizin. Ethische und technische
Probleme’, beide auf Tagungen des Bochumer Zentrum für Medizinische Ethik beruhend,
haben methodisch und inhaltlich zum Beginn einer international vernetzten medizinethischen
und bioethischen Forschung und Lehre in deutscher Sprache beigetragen. In dem Vorwort zu
‚Bioethik in den USA’ definierte Pellegrino wie folgt: ‚ ‚Bioethik’ ist ein umfassender
Begriff, der die ethischen Probleme in Zusammenhang mit der Anwendung biologischen
Wissens auf menschliche Angelegenheiten betrifft – sei es im Rahmen der Behandlung eines
einzelnen Patienten oder im Rahmen eines Gemeinwesens, eines Volkes oder der Menschheit
insgesamt. Die ärztliche Berufsethik nach unserer Definition befasst sich mit der Art, wie
Entscheidungen über die Anwendung von Technologien getroffen werden, also eher mit der
Art von Persönlichkeit, die der Arzt sein sollte, als mit der Lösung eines speziellen
bioethischen Dilemmas oder Puzzles. Die ärztliche Berufsethik stimmt strukturell mit der
traditionellen medizinischen Ethik überein, die die moralische Natur des Arzt-Patient
Verhältnisses betont’ [32:2]. Diese Schwerpunktsetzung entspricht insgesamt den heutigen
Verständnis von Bioethik in den USA und schließt auch die ethischen Aspekte von Public
Health in nationaler und globaler Perspektive ein, enthält aber nicht den breiteren
bioethischen Ansatz von Jahr, der für die vergrößerten Verantwortungsdimensionen des 21.
Jahrhunderts erst noch konkretisiert werden müsste.
Nicht
überall
wurden
allerdings
Begriff
und
Konzept
von
Bioethik
in
der
bundesrepublikanischen Kultur des Endes des 20. Jahrhundert positiv aufgenommen oder gar
wie in der Vision von Kimura als Buergerrechtsbewegung verstanden. Im Gegenteil, Begriff
und Konzept wurden als fremde us-amerikanische Einmischung und Indoktrinierung
verstanden. Als ein Beispiel unter vielen sei die für den Sommer 1990 in Bochum geplante
Tagung der ‚European Society for Philosophy and Health Care’ genannt zum Thema
‚Consensus Formation und Moral Judgment in Health Care’ [33; 36]. Im Vorfeld der Tagung
erschien ein der Bochumer Studentenzeitschrift ‚Boriss’ eine Artikel ‚Bioethik – die Ethik der
Technokraten’: ‚Am 15./16. Juni findet in Bochum ein internationaler Kongress zur
Medizinethik statt, veranstaltet von einer europäischen Philosophenvereinigung und dem an
der Ruhr-Uni ansässigen ‚Zentrum für Medizinische Ethik’. Titel des Treffens:
Konsensbildung und moralische Urteilsfindung im Gesundheitswesen. Diskutieren wollen die
sich selbst als ‚Bioethiker’ bezeichnenden Philosophen und Mediziner u.a. zu Euthanasie,
Reproduktionstechniken und Todeskriterien. Ein überregionaler Zusammenschluss von
22
Behinderten- und Reproduktionsgegnerinnen will diesen Kongress verhindern und plant für
den 9. Juni einen Gegenkongress. .. Am institutionellen Rahmen, in dem der Ruhr-Uni
Professor Hans-Martin Sass arbeitet (er ist der maßgebliche Organisator des Kongresses) lässt
sich veranschaulichen, dass im Falle der Bioethik von wertfreier Wissenschaft nicht
gesprochen werden kann. Sein ‚Zentrum für Medizinische Ethik’ wird finanziell von der
Pharmaindustrie unterstützt. Es ist der bundesdeutsche Ableger des Kennedy Instituts für
Ethik in Washington, wo Sass die Hälfte des Jahres als Direktor eines europäischen EthikProgramms verbringt. Das Kennedy Institut ist das größte Ethik-Institut in den USA und hat
bedeutenden Einfluss als Beraterin der US Regierung. Etliche der dort tätigen Professoren
sitzen zugleich in diversen Ausschüssen der US-Administration, wo an der Vorbereitung und
Ausarbeitung von Gesetzentwürfen und Richtlinien zur Technologie- und Gesundheitspolitik
gearbeitet wird. .. Bei dem Vorhaben, den Kongress zu verhindern, handelt es sich nicht
darum, Diskussionen über ethische Fragestellungen zu verbieten. ‚Ethik’ ist aber nun mal ein
reichlich schwammiger Begriff und vielseitig interpretierbar. Bioethik dagegen ist eindeutig
eine Dienstleistungsethik – um einen Begriff von Hans Jonas gegenüber Singer zu
verwenden. Sie zielt auf die Akzeptanzbeschaffung für riskante Technologien, die möglichst
reibungslose Durchsetzung einer Tote in Kauf nehmenden Gesundheitspolitik und die
Verwirklichung von auf Kosten-Nutzen-Kalkülen beruhenden Tötungsutopien. – Dem soll
entschiedener Widerstand entgegengesetzt werden’ [36:35f].
Schon bei der Tagung über Genomanalyse und Gentherapie im Jahr davor war es auf dem
Bochumer Campus zu Belagerungen gekommen. Wir hatten die Protestierer jedoch zu
Teilnahme und Diskussion eingeladen, auch das Verteilen von Info-Material erlaubt. Diesmal
hörten wir jedoch, dass ‚die alternative Szene’ aus der Hamburger Hafenstrasse und aus
Frankfurt Busse und Bezahlung für eine große Zahl von gewaltbereiten Randalierern
bereitgestellt hatten. In den Universitäten Bochum, Essen, Düsseldorf fanden sich
massenweise Flugblätter und Skizzen des Bochumer Uni-Campus mit Einladungen wie
‚Verhindern wir den Kongress’, ‚Es gilt jetzt zu verhindern, dass unter dem Deckmantel von
Toleranz und unter Berufung auf Demokratie und Liberalität Vernichtungsstrategien
diskutiert werden. Aus diesem Grunde werden wir versuchen, den Bochumer Kongress zu
verhindern’, ‚Der Kongress beginnt mit einer Eröffnungsveranstaltung am Freitag … Für alle,
die schon am Donnerstag anreisen können, wird am Donnerstag abends in Bochum ein
Plenum mit allen Beteiligten stattfinden’, und in Vorfreude auf das Treffen ‚Ob die Elite des
‚Ethic-engineering’ im Rampenlicht des öffentlichen Interesses Berührungsängste zeigen
wird, darauf darf wohl mit Spannung gewartet werden’ [36:43-46]. Am 10. Januar 1990 hatte
23
die Berliner taz-Zeitung eine Erklärung einiger Dutzend ‚Berliner PhilosophInnen’ und von
Verbänden mit dem Titel ‚Wider den tödlichen philosophischen Liberalismus’ veröffentlich
und unter Bezug auf eine gestörte Veranstaltung des Australischen Bioethikers Peter Singer
geschrieben ‚wir halten die Störungen für berechtigt’ [36:38]. Herbert Viefhues und ich
sagten telegraphisch und per Eilboten 10 Tage vorher den Kongress ab und führten ihn
kurzerhand zum gleichen Zeitpunkt auf Einladung von Henk ten Have in Maastricht in einer
harmonischen und diskussionsfreudigen Atmosphäre durch. Viefhues und ich schrieben:
‚Wegen einer Hetzkampagne regionaler und überregionaler Gruppen aus der ‚alternativen
Szene’ gegen Bioethik im allgemeinen und der Themen unserer Doppelkonferenz im
besonderen sind wir zum heutigen Zeitpunkt leider nicht in der Lage, die äußeren
Vorsetzungen für die geplanten Diskussionen und für Ihre eigene Sicherheit zu garantieren’
[36:34]. Abstracts und Tagungsunterlagen wurden nach Maastricht mitgenommen; die
Kongressbeiträge hatten keine der von den Verhinderern vermuteten Themen zum
Gegenstand sondern beschäftigten sich, wie aus dem Programm ersichtlich war, mit
methodischen Fragen der Konsensfindung in der Klinik und wurden, für jeden nachlesbar,
von Henk ten Have und mir in einem Band ‚Consensus Formation in Health Care Ethics’ [10]
publiziert. Heute, 21 Jahre nach der ersten Thematisierung von Bioethik im deutschen Raum
in ‚Mensch, Medizin, Gesellschaft’, sind Bioethik und Medizinethik in Deutschland mündig
geworden, nicht mehr von ‚Importen’ abhängig, sind mit Lehrstühlen in den Medizinischen
und auch in einigen anderen Fakultäten vertreten, ebenfalls in den medizinischen Curricula
und in der Fort- und Weiterbildung der Heilberufe, auch in Firmen, Fakultäten und
Krankenhäusern in Ethikkomitees und Ethikkonsilen. Einige der Sponsoren und
Unterzeichner der Erklärung ‚Wider den tödlichen philosophischen Liberalismus’ von 1990
sind Mitglieder in bioethischen Beratungsgremien und Autoren zu bioethischen Themen; das
ist insofern auch gut so.
Was die Zukunft der Bioethik betrifft, so ist die Zusammenfassung von Pellegrino, derzeit
Vorsitzender der President’s Commission on Bioethics in den USA, in ‚Bioethik in den USA’
von 1987 nach wie vor aktuell auch als Ausblick auf die Zukunft: ‚Es ist höchst
unwahrscheinlich, dass über die verschiedenen, von der derzeitigen Metamorphose der
biomedizinischen Ethik aufgeworfenen Fragen – besonders die fundamentalen, das
menschliche Leben betreffenden Fragen – eine Einigung erzielt werden kann. Wir können
deshalb nur einen verkleinerten Kanon wirklich allgemein verbindlicher Moralvorstellungen
und eine Pluralismus von Regelwerken und Gebotstafeln erwarten. – Die Dinge, die am
ehesten allgemein anerkannt sein werden, entspringen der Natur der Medizin selbst – ihrer
24
‚inneren Moralität’. Einiges wird sich ändern: die Grundsätze der Kompetenz, des Mitgefühls,
der vertraulichen Beziehung (mit gewissen Einschränkungen), des Wohls des Patienten und
der Beförderung des medizinischen Wissens. Einige der neueren Grundsätze werden
eingebaut werden, wie Achtung vor der Patientenautonomie, Akzeptanz der moralischen
Geltung von vertretungsweise gefällten Entscheidungen, Einigung über Abbruch sinnloser,
unwirksamer Behandlungen bei terminal kranken Patienten, Berücksichtigung von
testamentarischen Verfügungen, Einrichtung von Ethikkomitees, eine größere Beteiligung an
der Gestaltung der Politik und eine intensivere und offenere Überwachung der Ärzte
hinsichtlich ihrer Kompetenz. Nur auf welche Weise in welchem Ausmaß diese Vorstellungen
realisiert werden, ist problematisch. – Wir können eine große Variationsbreite und einen
geringen Konsens der Meinungen über Fragen erwarten, wie Tötung auf Verlangen,
Schwangerschaftsabbruch, Sterilisation, Reproduktionstechniken, Gentechnik usw. Durch die
Ärzteschaft werden, wie durch andere Berufsgruppen, in dieser Frage scharfe Trennlinien
gehen, weil es auch dort tiefe und schier unüberbrückbare Unterschiede in den religiösen und
philosophischen Weltanschauungen gibt. - Vielleicht werden die größten Turbulenzen von der
unterschiedlichen Interpretation dessen ausgehen, was einen Beruf ausmacht, insbesondere
welcher Art persönlicher Verpflichtung die Medizin verlangt’[32:14f]. Ein ausführliches
Workshop über diese nunmehr fast 20 Jahre alte Prognose von Pellegrino könnte sehr viel an
Reflexion und Prognostik beitragen zum heutigen Stand und zu künftigen Aufgaben von
Bioethik, Medizinethik, Klinischer Ethik, Public Health Ethik und nicht zuletzt zu der bei
Edmund Pellegrino nicht vorkommende Bioethik im umfassenderen Sinne von Fritz Jahr.
WORTSPIELE, NORMATIVE KONZEPTE UND PRAKTISCHES HANDELN
Das bringt uns abschließend zurück zu der Frage, warum Modifikationen und
Verschiebungen in Inhalt und Methode der klassischen Arztethik und Medizinethik sowohl in
den USA wie auch danach weltweit unter dem Begriff Bioethik stattfanden und stattfinden.
Seidler [38], und in seinem Gefolge Düwell und Steigleder [5], fanden den Begriff Bioethik
zu schwammig und nicht für die deutsche Tradition und Diskussion geeignet. Die Zahl von
Zentren, die sich bioethisch nennen, ist in der Bundesrepublik im Gegensatz zum Ausland
weltweit eher gering, auch wenn sich die Missverständnisse ungebildeter ‚alternativer’ Don
Quichotte’s und ideologischer ‚Weltverbesserer’ weitgehend gelegt haben. Ich habe seit 1992
den Begriff Differentialethik in Anlehnung an Methode und Ethos der Differentialdiagnose
benutzt, um die Interaktion von normativen Werten mit konkreten Realitäten differenzierend
ausmessen und technische wie ethische, kulturelle und andere normative Variablen unter dem
25
Primat der Durchsetzung ethischer Verantwortungen praxisorientiert einbeziehen zu können
[37; 34]. Der Jahrsche Ansatz, von der Bio-Psychik her komplementär die Bio-Ethik als
interdisziplinäre Disziplin und als ‚Gesinnungspraxis’ für Individuen und Gesellschaften zu
entwickeln und zu praktizieren, kommt diesem Modell nahe und man wird mit Pellegrino
festhalten müssen, dass im Respekt vor der Würde anderer individueller religiöser oder
ethischer oder kultureller Überzeugungen und Prioritätssetzungen innerhalb der Grenzen, die
vom Menschenrecht auf Würde und Selbstverantwortung bestimmt werden, unterschiedliche
Entscheidungen möglich sind und toleriert werden müssen [34:9 u. öfter]. Ähnlich wie der
Begriff Differentialethik betont der Begriff Bioethik im umfassenden Sinne von Fritz Jahr,
also unter Einschluss nicht nur von nichtmenschlichen Lebewesen, sondern auch von
lebenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen als Corporate Persons, eine
sachnahe normative Analyse von und Interaktion in komplexen Verantwortungszusammenhängen des modernen Lebens.
Der salvadorischen Klausel, mit der Reich den Begriff Bioethik als Oberbegriff auch
für die Bereiche der biomedizinischen Ethik retten will, scheint eine ähnliche Überlegung
zugrunde zu liegen. Düwell und Steigleder, die Angewandte Ethik als eine Oberbegriff für
praktisch Ethik favorisieren, monieren die begriffliche Unklarheit des Begriffs Bioethik:
‚Häufig wird der Begriff ‚Bioethik’ inzwischen als Oberbegriff für die Medizin-, Tier- und
Umweltethik verwendet. Unter ‚Bioethik’ werden dann alle ethischen Fragen subsumiert, die
mit ‚dem Lebendigen’ zu tun haben, im Unterschied etwa zur Wirtschaftsethik, politischen
Ethik oder Medienethik. Es lässt sich allerdings nicht übersehen, dass der begriff dadurch
unscharf wird und die Einordnungen innerhalb der Angewandten Ethik nicht recht klar ist.
Bioethik im Sinne von Ethik im Umgang dem Lebendigen trifft etwa nur einen teil der
Medizinethik. So hat beispielsweise die Frage nach dem Arzt-Patienten-Verhältnis oder die
Prioritätensetzung im Gesundheitssystem mit dem ‚Lebendigen’ kaum mehr zu tun als Fragen
der Friedenssicherung in der Politischen Ethik’ [5:24].
Der Begriff Bioethik scheint mir aber dem der Angewandten Ethik deshalb überlegen zu
sein, weil er nicht so sehr den Unterschied zwischen theoretischer Analyse und auf die
Theorie folgender Anwendung betont – vermutlich ein nicht sehr geeignetes Modell des
Verhältnisses von Überlegung, Gesinnung, Entwerfen, Verantworten und Handeln – sondern
die Grenzen und Möglichkeiten der Beeinflussbarkeit von Lebendem und der Verantwortung
jedem Leben gegenüber. Das Modell der vorlaufenden theoretischen Reflexion und der
nachfolgenden praktischen Anwendung ist zu schlicht und zu einfach für die komplexen
Herausforderungen des Umgangs mit Verantwortungen, Gesinnungen, Prozessen und
26
Kulturen. Schon Hegel hatte das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis, allerdings in
einem transzendentalphilosophischen sprachlichen Umfeld, differenzierter gesehen. Wir
haben seitdem vieles aus der modernen Umwelt- und Biotopforschung und aus den
kulturellen Sozialwissenschaften über die Verhältnisbeziehungen unter Menschen und von
Menschen mit ihren natürlichen und kultivierten Umwelten gelernt, um schlichte EntwurfAnwendung Modelle vermeidbar zu machen. Sinnvoller wäre die Unterscheidung zwischen
theoretischer und praktischer Ethik, also zwischen Ethik in der Theorie und Ethik in der
Praxis. Erstere würde die verschiedenen methodischen und philosophischen Ansätze von
Wert- und Risikotheorien enthalten, letztere sowohl die Bilanzierungen und Interaktionen
zwischen ethischen, technischen und anderen Normen, wie auch faktische Tugendhaltungen,
private und professionelle Tugendpraxis und Unterrichtungen in ethischem Verhalten. Ethisch
abwägen und ethisch handeln kann nach der übereinstimmenden Meinung von Kant und Jahr
nur der Mensch. Aber alles Leben, auch das nichtmenschliche natürliche und das vom
Menschen verantwortete, hat nach Jahr eine Würde, die Respekt und die Achtung vor dem
Eigenleben und dem Selbstzweck verlangt.
Jedes Leben hat auch sein Eigenleben, bei Menschen, Tieren, Pflanzen und korporativen
Personen oft unerwünschte und ärgerliche Egoismen und Verhärtungen [vgl. 34: Kap. III.2].
Jedes Leben bedarf auch der Hege und Pflege, des Respekts vor der Würde und dem Recht
auf Eigenleben, auf Selbstsein, auf ‚artgerechtes’ Leben und Entwickeln. Wer mit Leben
umgeht, stößt auch auf die ‚artgerechte’ Grenze des jeweiligen Lebenden, die begrenzte
Lebenslänge, die begrenzte Veränderbarkeit, die begrenzte Anpassungsfähigkeit. Ich hatte
versucht mit dem Begriff der Differentialethik die jeweilige szenarienspezifische
Differenzierung der grundsätzlichen normativen ethischen Forderung in Bezug auf
Durchsetzbarkeit, dem Verständnis und dem Respekt vor dem Eigenleben von Prozessen,
Individuen und Handlungspartners deutlich zu machen. Der Begriff der Bioethik legt dagegen
mehr als der Begriff der Differentialethik das Gewicht auf die Verantwortungen in der
Interaktion mit Lebendem in allen seinen Formen und Schattierungen.
Bioethik als Oberbegriff von wertwissenschaftlichen Analysen und Beurteilungen
wissenschaftlicher und technischer Herausforderungen, als individuelle und professionelle
Tugend und Charakterhaltung und als gesellschaftliche Zielsetzung und Verpflichtung kann
nach dem Vorschlag von Reich insbesondere auch deshalb genutzt werden, um die von Jahr
mehrfach unterstrichene Verschränktheit von individueller, sozialer und wirtschaftlicher Ethik
unter uns Menschen mit unserem Respekt und unserer Verantwortung für die Welt des Bios
deutlich zu machen. Im Modell von Jahr sind gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale und
27
politische Beziehungen im ordnungsethischen Sinne vergleichbar zu sehen wie die
Beziehungen des Menschen zu Tier, Pflanze und zum Kosmos als ebenfalls belebten Wesen
mit Eigenleben, Eigenentwicklungen und Interaktionen mit uns und untereinander.
Nehmen wir Bioethik als einen Oberbegriff für menschliche Verantwortungen dem
menschlichen und nichtmenschlichen Leben gegenüber, so kann diese Verantwortung als
kategorisch formuliert werden, insofern sie sich nicht von einer Reziprozität durch andere
Menschen abhängig macht, sondern allein von der Würde des eigenen Gewissens, des
Mitgefühls und der Verantwortung für sich und anderes Leben. Von nichtmenschlichem
Leben kann eine Reziprozität ethischer Verhaltensweisen nach der Argumentation von Kant,
der sich ja auch Jahr anschließt, schlechterdings nicht erwartet werden. – Unterhalb dieses
Oberbegriffs von Bioethik würden wir dem Vorschlag von Warren Reich folgend
Medizinethik, Forschungsethik, Klinische Ethik, Ethik des Gesundheitswesen und
nachgeordnet spezielle situative Ethikszenarien wie den Schwangerschaftsabbruch, die
Euthanasie, die genetische Manipulation bei Mensch, Tier und Pflanze, usw. ansiedeln.
Sondergebiete wären die intergenerationelle Gerechtigkeit und die nicht auf einzelne Tiere
und Pflanzen, sondern auf natürliche oder durch Kultur oder Unkultur gestaltete Umwelten
und Biotope gerichtete Ethik diesen Formen gemeinsamen Lebens und Miteinander- und
Voneinanderlebens gegenüber.
Jahr, von der Leidensfähigkeit der individuellen Pflanze und des individuellen Tieres
ausgehend, hat die ökologische Verbundenheit alles Lebenden als Zusammenleben und
Umleben in belebten Um- und Mitwelten unter Einschluss auch von physikalischen und
klimatischen Umwelten als multifunktionaler Ökolebewesen noch nicht so gesehen wie
unsere heutigen Wissenschaften vom Leben. Ganz zweifellos gehört auch eine erst jetzt im
Zusammenhang mit Umweltsünden und natürlicher Erderwärmung ins Blickfeld rückende
Geo-Ethik dazu, die Verantwortung unserer Mutter Gea gegenüber und die Akzeptanz, dass
auch sie ein Eigenleben hat, teils messbar in Jahrmillionen, teils erfahrbar in den Jahreszeiten
und ihrer relativen Berechenbarkeit/Unberechenbarkeit und längeren oder kürzeren von uns
zu akzeptierenden und kulturell zu beantwortenden und zu gestaltenden klimatischen
Schwankungen, ein Eigenleben in Entwicklung und Veränderung, das im Großen-Ganzen
kaum von uns Menschen beeinflussbar ist, das uns an ihre Würde erinnert und von uns
Respekt abverlangt, in Bezug auf das wir nicht von uns aus noch mit von uns verantwortbaren
Schwierigkeiten und Belastungen beitragen sollen und dürfen, - auch eine Anwendung des
bioethischen Imperativs durchaus im Jahrschen Sinne. In Anschluss an Kant und Jahr lässt
sich daher wie folgt ein geoethischer Imperativ formulieren: Achte die Mutter Erde und alles
28
natürliche und von Menschen verantwortete Leben auch als Selbstzweck und behandele es
nach Möglichkeit als solchen. In den Respekt vor den vielen reichen Formen des Lebendigen
gehören auch die Um- und Mitwelten zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und
physikalischer Natur sowie von Menschen geschaffenen organisierten und korporativen
Lebensformen unter Einschluss von Netzwerken für Gesundheits-, Sozial-, Beschäftigungs-,
Ausbildungs-, Informations- und Forschungsorganisation.
Wie immer die künftige Entwicklung von Bioethik, Differentialethik und anderen Formen
von Angewandter Ethik auch im globalen Dialog der alten Kulturen und Traditionen mit den
neuen und neuesten Techniken und Erkenntnissen sein wird, die Prognose von Pellegrino aus
dem Jahre 1987 dürfte weiterhin gelten: ‚Man kann risikolos voraussagen, dass die sich in
jedem einzelnen Land auf der ganzen Welt vollziehenden Veränderungen in der Bioethik von
den Historikern dereinst als Schlüsselereignisse der Medizin- und Menschheitsgeschichte
gewertet werden’ [32:17]. Fritz Jahr aus Halle an der Saale nimmt mit einer Unterbrechung
und Verzögerung von 80 Jahren an diesem künftigen Dialog teil.
29
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Zentrum für Medizinische Ethik
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(BIME). April 2000.
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Heft 136: Hengelbrock, Jürgen: Ideengeschichtliche Anmerkungen zu einer Ethik des
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Identitätsethik. August 2002.
Heft 140: Meyer, Frank P.: Placeboanwendung – die ethischen Perspektiven. März 2003.
Heft 141: Putz, Wolfgang; Geißendörfer, Sylke; May, Arnd: Therapieentscheidung am
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Fieber, Ulrich; Schmucker, Peter: Entscheidungen am Lebensende in Deutschland.
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Heft 145: Hartmann, Fritz: Kranke als Gehilfen ihrer Ärzte. 2. Auflage Dezember 2003.
Heft 146: Sass, Hans-Martin: Angewandte Ethik in der Pharmaforschung. Januar 2004.
Heft 147: Joung, Phillan: Ethische Probleme der selektiven Abtreibung: Die Diskussion in
Südkorea. Januar 2004.
Heft 148: May, Arnd T; Brandenburg, Birgitta: Einstellungen medizinischer Laien zu
Behandlungsverfügungen. Januar 2004.
Heft 149: Hartmann, Fritz: Sterbens-Kunde als ärztliche Menschen-Kunde. Was heißt: In
Würde sterben und Sterben-Lassen? Januar 2004.
Heft 150: Reiter-Theil, Stella: Ethische Probleme der Beihilfe zum Suizid. Die Situation in
der Schweiz im Lichte internationaler Perspektiven. Februar 2004.
Heft 151: Sass, Hans-Martin: Ambiguities in Biopolitics of Stem Cell Resarch for Therapy.
März 2004.
Heft 152: Ilkilic, Ilhan: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in islamischen
Traditionen. 3. Auflage März 2005.
Heft 153: Omonzejele, Peter F.: African Concepts of Health, Disease and Treatment [A
Future for Traditional Medicines and Spiritual Healings? A Postscript on Peter F
Omonzeleje by Hans-Martin Sass]. April 2004.
Heft 154: Lohmann, Ulrich: Die neuere standesethische und medizinrechtliche Entwicklung
in Deutschland – Wandel des Menschenbildes? Mai 2004.
Heft 155: Friebel, Henning; Krause, Dieter; Lohmann, Georg und Meyer, Frank P.:
Verantwortungsethik. Interessenkonflikte um das Medikament - Wo steht das
Medikament? Juni 2004.
Heft 156: Kreß, Hartmut: Sterbehilfe - Geltung und Reichweite des Selbstbestimmungsrechts
in ethischer und rechtspolitischer Sicht.1. Auflage September 2004, 3. Auflage
März 2005.
Heft 157: Fröhlich, Günter und Rogler, Gerhard: Das Regensburger Modell zur Ausbildung in
klinischer Ethik. Dezember 2004.
Heft 158: Ilkilic, Ilhan; Ince, Irfan und Pourgholam-Ernst, Azra: E-Health in muslimischen
Kulturen. Dezember 2004.
Heft 159: Lenk, Christian; Jakovljevic, Anna-Karina: Ethik und optimierende Eingriffe am
Menschen. 2.Auflage Februar 2005.
Heft 160: Ilkilic, Ilhan: Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Eine
Handreichung für die Gesundheitsberufe. 1. Auflage Juli 2003 (Tübingen), 5.
Auflage April 2005.
Heft 161: Hartmann, Fritz: Vom Diktat der Menschenverachtung 1946 zur "Medizin ohne
Menschlichkeit" 1960; Zur frühen Wirkungsgeschichte des Nürnberger
Ärzteprozesses. 1. Auflage Februar 2005, 2. Auflage März 2005.
Heft 162: Strätling, Meinolfus u.a.: Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung in
Deutschland. Juni 2005.
Heft 163: Sass, Hans- Martin: Abwägungsprinzipien zum Cloning menschlicher Zellen.
Januar 2006.
Heft 164: Vollmann, Jochen: Klinische Ethikkomitees und klinische Ethikberatung im
Krankenhaus. Ein Praxisleitfaden über Strukturen, Aufgaben, Modellen und
Implementierungsschritte. Januar 2006.
Heft 165: Sass, Hans- Martin: Medizinische Ethik bei Notstand, Krieg und Terror.
Verantwortungskulturen bei Triage, Endemien und Terror. Februar 2006.
Heft 166: Sass, Hans-Martin: Gesundheitskulturen im Internet. E-Health-Möglichkeiten,
Leistungen und Risiken. 1. Auflage Februar 2006, 2. Auflage März 2006.
Heft 167: May, Arnd T.; Kohnen, Tanja: Körpermodifikation durch Piercing: Normalität,
Subkultur oder Modetrend? Mai 2006
Heft 168: Anderweit, Sabine; Ilkilic, Ilhan; Meier-Allmendinger, Diana; Sass, Hans-Martin;
Cheng-tek Tai, Michael: Checklisten in der klinisch-ethischen Konsultation. Mai
2006
Heft 169: Kielstein, Rita; Kutzer, Klaus; May, Arnd; Sass, Hans-Martin: Die Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis. April 2006
Heft 170: Brenscheidt, Juliane; May, Arnd T.; May, Burkard; Kohnen, Tanja; Roovers, Anna;
Sass, Hans-Martin: Zentrum für Medizinische Ethik Bochum 1986 – 2006.
Heft 171: Dabrock, Peter; Schröder, Peter: Public Health Gen-Ethik. 1. Auflage August 2006.
Heft 172: Berg, Michael: Lebensbeendende Behandlungsbegrenzung bei Wachkomapatienten
– „passiver Suizid“ im Spannungsfeld von pflegerischem Berufsethos und
Selbstbestimmungsrecht des Patienten am Beispiel des „Kiefersfeldener-Falles“
1. Auflage Oktober 2006
Heft 173: Hofheinz, Marco: Apokalyptik im biomedizinethischen Diskurs. Eine theologische
Analyse der aktuellen Debatte. Mai 2007
Heft 174: Sass, Hans-Martin: Lassen sich Reziprozitätsmodelle bei der Gewebe und
Organtransplantation ethisch begründen und praktisch realisieren? Juli 2007.
Heft 175: Hans-Martin Sass: Fritz Jahrs bioethischer Imperativ. 80 Jahre Bioethik in
Deutschland von 1927 bis 2007. Juli 2007. 2. Auflage August 2007.
Heft 176: Lohmann, Ulrich: Informed Consent und Ersatzmöglichkeiten bei
Einwilligungsunfähigkeit in Deutschland – Ein Überblick. August 2007.
Heft 177: Neitzke, Gerald: Ethische Konflikte im Klinikalltag – Ergebnisse einer empirischen
Studie. August 2007.
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ZUSAMMENFASSUNG
Begriff und Konzept der Bioethik als einer akademischen Disziplin und als Tugendhaltung
wurden 1927 von Fritz Jahr, einem protestantischen Theologen in Halle an der Saale, in
einem Leitartikel in der Zeitschrift ‚Kosmos’ vorgestellt. In Anlehnung an Kant formuliert
Jahr als bioethischen Imperativ ‚Achte jedes Lebewesen grundsätzlich als einen Selbstzweck,
und behandle es nach Möglichkeit als solchen!’. Er erweitert damit den kantischen Ansatz in
Reaktion auf physiologische Studien von Wilhelm Wundt und anderen und nach eigenen
sozialethischen Überlegungen zu einem breiten Begriff von Bioethik. Der engere Begriff von
Bioethik als Ablösung klassischer Arztethik durch partnerschaftliche Ethik in den
Heilberufen wurde seit 1970 in den USA entwickelt und hat sich sehr schnell global
ausgebreitet. Hans-Martin Sass skizziert das bioethische Modell von Jahr und zeichnet den
verschlungenen Weg der Bioethik in Deutschland für die letzten 80 Jahre nach. Er regt an,
angesichts neuerer wissenschaftlicher ökologischer Erkenntnisse den bioethischen Imperativ
zu einem geoethischen auszuweiten und plädiert für terminologische Klarheit bei der
Benutzung der Begriffe Bioethik, Medizinethik, Differentialethik, Angewandter Ethik und
Ethik in der Praxis. Der Leitartikel von Fritz Jahr von 1927 ist im Anhang abgedruckt.
ABSTRACT
The term and concept of Bioethics as an academic discipline and as a human virtue and
character trait was first developed by Fritz Jahr, a Protestant theologian in Halle an der Saale,
in an Editorial in the widely read science journal ‘Kosmos’. Jahr presents, in reference to
Kant, a Bioethical Imperative ‘Respect every living being on principle as an end in itself and
treat it, if possible, as such !’ In the light of physiological and neurological research by
Wilhelm Wundt and others and based on his own observations in social ethics, Jahr extends
the Kantian Imperative towards a broadly based concept of Bioethics. A more narrowly
focused model of Bioethics, replacing classical paternalistic physician’s ethics by new
partnership ethics in the healing professions, was developed in the USA by Potter, Hellegers
and others 1970 and has since successfully influenced biomedical ethics around the globe.
Hans-Martin Sass reviews Jahr’s original concept of bioethics and subsequent German
debates in bioethics and medical ethics during the last 80 years. He suggests, in light of
modern scientific ecological knowledge of living environments, to extend the Bioethical
Imperative towards a Geoethical Imperative and calls for clarity in the terminology of
Bioethics, Medical Ethics, Differential Ethics, Applied Ethics and Practical Ethics. Fritz
Jahr’s 1927 editorial ‘Bio-Ethik’ is reprinted as an appendix.
ISBN: 978-3-931993-56-6
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