Zentrum für Medizinische Ethik MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN Heft 175 FRITZ JAHR’S BIOETHISCHER IMPERATIV 80 Jahre Bioethik in Deutschland von 1927 bis 2007 Hans-Martin Sass Juli 2007 2. erweiterte Auflage August 2007 Hans-Martin Sass, Senior Research Scholar am Kennedy Institute of Ethics, Georgetown University, Washington DC, ist em. Professor für Philosophie an der Ruhr Universität, Bochum, und Gastprofessor am Research Center for Bioethics des Peking Union Medical College und der Chinese Academy of Medical Sciences, Beijing. Zu seinen neueren Publikationen gehören Differentialethik. Anwendungen in Medizin, Wirtschaft und Politik, Münster 2006 (Bibl. Seite 247-264) und Bioethics and Biopolicy (chin/engl), Xian 2007. WISSENSCHAFT UND ETHIK KATEGORISCHER IMPERATIV UND BIOETHISCHER IMPERATIV ETHIKUNTERRICHT UND ETHIK IN DER PRAXIS DIE WIEDER-‘GEBURT’ DER BIOETHIK IN DEN USA 1970 BIOETHIK IN DEUTSCHLAND NACH 1986 WORTSPIELE, NORMATIVE KONZEPTE UND PRAKTISCHES HANDELN LITERATUR ANHANG: Fritz Jahr: Bio-Ethik. Kosmos 24(1):2-4, 1927 Fritz Jahr: Drei Studien zum 5. Gebot. Ethik 11:183-187, 1934 1 3 12 14 18 25 30 33 36 Herausgeber: Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Prof. Dr. med. Michael Zenz Zentrum für Medizinische Ethik Bochum, Ruhr-Universität Bochum, Gebäude GA 3/53,44780 Bochum, TEL +49 234 32-22749/50, FAX +49 234 3214-598 Email: [email protected] Internet: http://www.medizinethik-bochum.de Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Das Copyright liegt beim Autor. ©Hans-Martin Sass 1. Auflage Juli 2007, 2.erweiterte August 2007 Schutzgebühr: € 6,00 Bankverbindung: Sparkasse Bochum BLZ: 430 500 00 ISBN:978-3-931993-56-6 Kto.-Nr. 133 189 035 FRITZ JAHR’S BIOETHISCHER IMPERATIV 80 Jahre Bioethik in Deutschland von 1927 bis 2007 Hans-Martin Sass ‚Bio-Ethik. Eine Umschau über die ethischen Beziehungen des Menschen zu Tier und Pflanze’ hieß der Titel der Einleitungsartikels im 24. Jahrgang der weit verbreiteten Wissenschaftszeitschrift ‚Kosmos. Handweise für Naturfreunde und Zentralblatt für das naturwissenschaftliche Bildungs- und Sammelwesen’ 1927, vor 80 Jahren. Der Beitrag, verfasst von Fritz Jahr, einem evangelischen Theologen in Halle an der Saale, AlbertSchmidt-Str. 8, endet mit der These: ‚die bio-ethische Forderung gilt: Achte jedes Lebewesen grundsätzlich als einen Selbstzweck, und behandle es nach Möglichkeit als solchen!’ [12:4] WISSENSCHAFT UND ETHIK Ethik und Expertise gehören zusammen. Wissenschaft und Technik als solche sind wertneutral. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Anwendungen können unser Handeln zum Guten oder zum Bösen verändern, ebenso die Dimensionen unserer Eingriffe in natürliche oder von Menschen gemachte Verhältnisse und Prozesse. Wissenschaftliche Erkenntnisse verändern aber auch unser Verstehen von ethischen Dringlichkeiten oder Überflüssigkeiten. Einsichten in die Fragilität natürlicher Umwelten und die Gefährdung vieler Tier- und Pflanzenarten durch menschliches Handeln haben in unserer Generation kulturelles Risikobewusstsein und ethische Verantwortung für natürliche Umwelten geschärft. Normatives und zweckorientiertes philosophisches, kulturelles und ethisches Räsonnieren folgt also auch neuen konzeptionellen Herausforderungen durch Wissenschaft und Technik. In der Regel handelt es sich um neue Schwerpunktsetzungen traditioneller ethischer Prioritäten im Gefolge neuer Techniken und Kenntnisse, seltener um die Eröffnung neuer Felder ethischer Verpflichtung und Verantwortung. Seit Aristoteles hatte die abendländische Philosophie zwischen den drei Wissenschaften der Physik, Ethik und Logik unterschieden. Zu den beiden ersteren bemerkte Kant in der ‚Grundlegung der Metaphysik der Sitten’: ‚Diese Gesetze sind entweder Gesetze der Natur oder der Freiheit. Die Wissenschaft von der ersteren heißt Physik, die der anderen ist Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt’ [BA III]. Die Fortschritte experimenteller Physiologie, insbesondere zum Nervensystem, bei Pflanze, Tier und Mensch von Wilhelm Wundt und anderen ließen es als sinnvoll erscheinen, naturwissenschaftlich zwischen ‚Physik’ und ‚Psychik’ zu unterscheiden, d. h. zwischen belebter und unbelebter Natur. Eine neue Wissenschaft war geboren, die physiologische Psychologie. Wilhelm Wundt’s ‚Grundzüge der physiologischen Psychologie’ erschienen in drei Bänden 1908-1911 in sechster Auflage; 1878 hatte er das erste experimentelle psychologische Labor in Leipzig gegründet. Für Mensch, Tier und Pflanze wurden vergleichbare physiologische nervale Empfindungen und entsprechende Reaktionen nachgewiesen. Fechner reflektierte philosophische und ethische Konsequenzen aus der neuen experimentellen Wissenschaft in den zwei Bänden der ‚Elemente der Psychophysik’ 1860, und in ‚Nana oder über das Seelenleben der Pflanzen’, 1848. Wundt’s ‚Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, 1863, zwei Jahre nach der deutschen Übersetzung von Darwin’s ‚Origin of Species’ in zwei Bänden erschienen, hatten bis 1919 sechs Auflagen. Was folgt aus dieser neuzeitlichen Unterteilung von Natur in Physik und Psychik für das Verhältnis von Wissenschaft und Ethik und eine mögliche Differenzierung von Ethik? Die Antwort von Fritz Jahr von 1927 lautet: ‚Die scharfe Scheidung zwischen Tier und Mensch, die seit Beginn unserer europäischen Kultur bis zum Ende des 18. Jahrhunderts herrschend war, kann heute nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Seele des europäischen Menschen rang bis zur französischen Revolution um die Einheit von religiöser, philosophischer und wissenschaftlicher Welterkenntnis, aber diese Einheit haben wir seitdem unter dem Druck der Erkenntnisfülle aufgeben müssen. – Es wird stets das Verdienst der modernen Naturwissenschaft bleiben, dass sie eine vorurteilsfreie Betrachtung des Weltgeschehens erst möglich gemacht hat. Wir würden uns heute als Wahrheitssucher aufgeben, wenn wir die Erfolge der Tierexperimente, Blutversuche, Serumforschung u.v.a. ablehnen wollten. Andererseits dürfen wir nicht verkennen, dass gerade diese wissenschaftlichen Triumphe des Menschengeistes dem Menschen selbst seine beherrschende Stellung im Weltganzen genommen haben. Die Philosophie, die früher der Naturwissenschaft ihre Leitgedanken vorschrieb, muss nun selbst ihre Systeme auf naturwissenschaftlichen Einzelerkenntnissen aufbauen ... – Was folgt aus dieser Umwälzung? Zunächst die grundsätzliche Gleichstellung von Mensch und Tier als Versuchsobjekt der Psychologie. Diese beschränkt sich heute nicht mehr auf den Menschen, sondern arbeitet mit denselben Methoden auch auf dem Gebiet des Tierischen, und wie es eine vergleichende anatomisch-zoologische Forschung gibt, so werden auch höchst lehrreiche Vergleiche zwischen Menschen- und Tierseele angestellt. Ja, sogar die Anfänge einer Pflanzenpsychologie machen sich bemerkbar, - die bekanntesten ihrer Vertreter sind: G. Th. Fechner in der Vergangenheit, R. H. France, Ad. Wagner oder der Inder Bose in der Gegenwart, sodass die moderne Psychologie alle Lebewesen in den Bereich ihrer Forschungen zieht. Unter diesen Umständen ist es nur folgerichtig, wenn R. Eisler zusammenfassend von einer Bio-Psychik (Seelenkunde allen Lebens) spricht. – Von der Bio- 2 Psychik ist es nur ein Schritt bis zur Bio-Ethik, d.h. zur Annahme sittlicher Verpflichtungen nicht nur gegen den Menschen, sondern gegen alle Lebewesen.’[12:2; vgl. 9]. Die besonderen Verantwortungen und ethischen Verpflichtungen der belebten Natur gegenüber gründet Jahr aber nicht bloß auf die wissenschaftsgeschichtlichen Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Ethik und die sich verändernde Rolle der Philosophie in der Folge naturwissenschaftlichen Fortschritts. ‚Als besonders anziehendes Beispiel aus der Vergangenheit’ erwähnt er Franz von Assisi, ‚der in seiner warmen Sympathie für alle Lebewesen der Rousseauschen Schwärmerei für die ganze Natur um Jahrhunderte vorauseilte’ [12:2]. Aber auch Herder, Schleiermacher und Schopenhauer, Eduard von Hartman und die indischen philosophischen Schulen haben die Ehrfurcht und die Verantwortung vor allem Leben schon früher und ohne wissenschaftstheoretische Reflexionen gefordert und vertreten. In drei Aufsätzen der Jahre 1927, 1928 und 1934 differenziert Jahr wissenschafts- und kulturtheoretisch, anthropologisch und theologisch seine argumentative Begründung der Bioethik als einer neuen akademischen Disziplin und einer neuen kultivierten, zivilisierten und ethischen Praxis [12; 13; 18]. Der zeitnächste konzeptionelle Aufsatz zur Etablierung von Bioethik als einer akademischen Disziplin erschien erst 1973 von Daniel Callahan im ersten Heft der ‚Hastings Center Studies’ [4] KANTS KATEGORISCHER UND JAHRS BIOETHISCHER IMPERATIV Die bioethische Maxime: Nach Kant’s ‚Kritik der praktischen Vernunft’, 1788, sind ‚praktische Grundsätze’ diejenigen, ‚welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv, oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird; objektiv aber, oder praktische Gesetze, wenn jene als objektiv, d. i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig anerkannt wird’ [A35]. Für Jahr ist der bioethische Imperativ eine handlungsleitende Maxime für das individuelle und kollektive Handeln. Diese Maxime ist im Einzelfall und in unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen jeweils genauer zu bestimmen und auch in praktische Gesetze zu überführen. Jahr zitiert Eduard von Hartmanns Kritik am Blumenpflücken: Die gepflückte Blume, ist ein zum Tode verwundeter Organismus, dessen Farben nur noch nicht beschädigt sind, ein noch lebendes und lächelndes Haupt‚ das von einem Rumpf getrennt ist. – Wenn ich aber die Rose im Wasserglas oder auf den Draht eines Buketts geflochten sehe, so kann ich mich des widerwärtigen Gedankens nicht erwehren, dass der Mensch ein Blumenleben gemordet hat, 3 damit es im Sterben sein Auge erfreue, das herzlos genug ist, den unnatürlichen Tod unter dem Schein des Lebens nicht herauszufühlen’ [zit. 12 :3]. Jahr argumentiert gegen von Hartmann, dass Blüten auch an der Pflanze absterben und dass viele Pflanzen gerade wegen ihrer Schnittblumen gehegt und gezüchtet werden und dass man in bezog auf Schnittblumen unterschiedlicher Meinung sein kann. Von dieser Kontroverse um Kultur oder Unkultur von Schnittblumen zu unterscheiden ist aber die gedankenlose oder willkürliche Verletzung und Zerstörung von Pflanzen: ‚Auf dem Gebiet der Pflanzenethik weist uns unser Gefühl den Weg, wenn es uns hindert, während eines Spaziergangs im Freien die Pflanzen rechts und links von unserem Wege mit dem Spazierstock zu köpfen, oder Blumen zu pflücken und sie nach kurzer Zeit achtlos wieder wegzuwerfen, oder wenn es uns mit Abscheu erfüllt über den blinden Zerstörungstrieb roher Burschen, welche die Kronen junger Bäume an der Landstrasse oder im Walde abknicken’ [13:102]. Jahr trennt normative Ethik von Ideologie und religiöser Dogmatik oder philosophischer Metaphysik. ‚Wir gehen’, schreibt Jahr, ‚von anderen Voraussetzungen aus als die indischen Schwärmer, die überhaupt kein Lebewesen antasten wollen. Auch unsere gesetzlichen und polizeilichen Bestimmungen über den Schutz einzelner Pflanzen oder Blumen in einer bestimmten Gegend (z.B. der Alpenpflanzen) beruhen auf einer ganz anderen Anschauung: Der Polizeistaat will die betreffenden Pflanzen schützen, damit sie in der Gegend nicht vernichtet werden und später auch noch andere Menschen erfreuen können. Wo eine Pflanze in ausreichender Menge vorhanden ist, denkt der Staat gar nicht daran, sie um ihrer selbst willen zu schützen’ [12:3]. Er kritisiert andere Extrempositionen ‚indischer Schwärmer, die überhaupt kein Lebewesen antasten wollen’: ‚Der Jogabüßer soll unter keinen Umständen auf Kosten seiner Mitgeschöpfe leben; er soll vor allem keine Tiere töten, aber auch Pflanzenkost nur unter gewissen Voraussetzungen genießen. Er muss ein Tuch vor dem Mund tragen, um beim Einatmen kein noch so kleines Lebewesen zu vernichten; aus demselben Grunde muss er das Trinkwasser filtern und darf nicht baden. Die Sucht, keinem Lebewesen bei der Selbsterhaltung zu schaden, führt auch noch heute gewisse indische Büßer dazu, sich von Pferdemist zu ernähren’ [12:2]. Und wenn jemand ‚selbst eine giftige Schlange nicht töten will, weil ‚auch die Schlangen unsere Brüder und Schwestern sind’, so haben wir für dieses Empfinden kein Verständnis, und wir halten es sogar für unsere Pflicht, schädliche Tiere zu töten, wenn wir können. Wir lassen unsere Haustiere vom Schlächter töten und harmloses Wild vom Jäger erlegen, weil wir Fleisch essen wollen, das manche Leute in unseren Gegenden nicht entbehren zu können glauben, während in tropischen Ländern pflanzliche Nahrungsmittel in überreicher Fülle zur Verfügung stehen. Unser Tierschutz findet also eine 4 Grenze an einem Nützlichkeitsgesichtspunkt, über den sich der Inder kühn hinwegsetzt, und wir begnügen uns damit, wenigstens unnütze Tierquälerei zu vermeiden’ [:3f]. Mitleid als kulturübergreifender kategorischer Imperativ: Für Jahr ist Mitleid ein kulturübergreifendes ethisches Prinzip und kann als solches kulturgeschichtlich empirisch belegt werden: ‚Das Mitleid mit den Tieren erscheint als ein empirisch gegebenes Phänomen der Menschenseele’, lautet der erste Satz in seinem 1928 erschienen Beitrag ‚Tierschutz und Ethik in ihren Beziehungen zueinander’ [13:100]. Jahr zitiert Schopenhauers ‚Über das Fundament der Moral’ und aus Richard Wagners ‚Offenen Brief’ an Ernst von Weber: ‚Jeder, der bei dem Anblicke der Qual eines Tieres sich empört, wird hierzu einzig vom Mitleiden angetrieben, und wer sich zum Schutze der Tiere mit anderen verbindet, wird hierzu ebenfalls nur vom Mitleiden bestimmt, und zwar von einem seiner Natur nach gegen alle Berechnungen der Nützlichkeit gleichgültigen und rücksichtslosen Mitleiden’ [zit. 13 :100] Mit dem auf Mitleid sich gründenden bioethischen Imperativ stellt sich Jahr nun allerdings gegen Kant, der Ethik auf eine nach seinem Verständnis nur dem Menschen ausschließlich zukommende reziproke Würde gründete: ‚Das moralische Gesetz ist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muss ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit’ [A156]. Kant gründete die Freiheit und die kategorische ethische Forderung auf ‚den Willen aller vernünftigen Wesen’: ‚Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum, in praktischer Rücksicht, wirklich frei’ [BA100]. Jahr gründet seinen bioethischen Imperativ auf die Würde alles Lebens, das leiden kann und das dem Leiden ausgesetzt ist. Insofern kann der bioethische Imperativ auch als Maxime des Mitleidens in der Absicht von Leidensvermeidung, Leidensverhinderung und Reduktion von Leiden verstanden werden. ‚Dass dieses Phänomen [Mitleid] in jeder normalen Menschenseele in größerem oder geringerem Masse vorhanden ist, nimmt auch das deutsche Strafgesetzbuch an, indem es in Paragraph 360,13 voraussetzt, dass Tierquälerei dazu angetan ist, Ärgernis zu erregen.’[13:100]. Wie für Peter Singer [40] ist für Fritz Jahr der auf Leidensfähigkeit begründete Respekt vor Tier und Pflanze selbstverständlicher und essentieller Teil jeder praktischen Ethik. Bioethik ist aber auch Teil einer bürgerlichen Rechtsordnung und Rechtskultur. Jahr verweist auf Schleiermachers ‚Philosophische Ethik’, besonders auch auf den in 5 iberoamerikanischen Kulturen bis heute einflussreich gebliebenen Karl Christian Friedrich Krause, der in seiner ‚Rechtsphilosophie’ fordert, ‚dass jedes Lebewesen als solches zu achten sei und zwecklos nicht zerstört werden dürfe. Denn sie alle, die Pflanzen und die Tiere, ebenso wie der Mensch, seinen gleichberechtigt; allerdings nicht zu gleichem, sondern ein jedes nur zu dem, was ein notwendiges Erfordernis zur Erreichung seiner Bestimmung ist’ [13:101]. Es gibt also nicht nur ethische Pflichten gegen Mitmenschen, sondern auch gegen alle Lebewesen: ‚Die Tatsache des engen Zusammenhanges zwischen Tierschutz und Ethik beruht letztlich darauf, dass wir nicht nur gegen die Mitmenschen, sondern auch gegen die Tiere, ja sogar gegen die Pflanzen – kurz gesagt gegen alle Lebewesen – ethische Verpflichtungen haben, so dass wir geradezu von einer Bio-Ethik sprechen können’ [13:101]. Weil Mitleid ein ‚empirisch gegebenes Phänomen der Menschenseele’ ist - also ein menschliches ethisches Prinzip und eine menschliche ethische Tugend zugleich - deshalb hat der Respekt vor allen nichtmenschlichen Lebewesen auch eine zwischenmenschliche und gesellschaftliche Funktion innerhalb einer auf Mitmenschen bezogenen Ethik und Kultur. Und deshalb kann Jahr seinen Artikel über Tierschutz und Ethik wie folgt abschließen: ‚Nach alledem ergibt sich als Richtschnur für unser sittliches Handeln der bio-ethische Imperativ: Achte jedes Lebewesen, also auch die Tiere, als einen Selbstzweck, und behandle es nach Möglichkeit als solchen! Und wenn man die absolute Geltung dieses Grundsatzes, soweit er sich eben auf die Tiere und Pflanzen bezieht, nicht anerkennen will, so möge man ihn, um schon Gesagtes zu wiederholen, mit Rücksicht auf die sittliche Verpflichtung gegen die gesamte menschliche Gesellschaft dennoch befolgen’ [13:102]. Anders als in dem Artikel von 1927, in dem er von einer ‚bioethischen Forderung’ sprach, bezieht er sich nunmehr 1928 auch in der Wortwahl des ‚bioethischen Imperativs’ auf Kant. Jahr muss sich in der Ausweitung des bioethischen Imperativs auf Tiere und Pflanzen mit dem Argument einer möglichen Reduktion von Solidarität und Mitleid mit dem Mitmenschen auseinandersetzen. Von Eduard von Hartmann greift er das Beispiel der ‚versauerten alten Jungfer’ auf, ‚die ihren fetten Mops mit Braten und Süßigkeiten überfüttert, während sie ihre Dienstboten darben lässt’ [13:100]. Er nennt das eine ‚falsche Tierliebe’, deren Pendant ‚falsche Liebe’ unter Menschen sich in Vetternwirtschaft, widerlicher Verhätschelung oder ungerechter Bevorzugung äußert: ‚Ist aber solche falsche Menschenliebe kein durchschlagendes Argument gegen die Ethik, so ist auch die zuweilen auftretenden falsche Tierliebe kein Beweis gegen die Berechtigung des Tierschutzes. – Vielmehr liegt die Sache so: Wenn wir ein fühlendes Herz auch für die Tiere in der Brust hegen, dann werden wir leidenden Menschen unser Mitleid und unsere Hilfe ebenfalls nicht vorenthalten. Wessen 6 Liebe so groß ist, dass sie über die Grenzen des Nur-Menschlichen hinausgehend, noch im armseligsten Geschöpf etwas Heiliges sieht, der wird auch in dem ärmsten und geringsten seiner Menschenbrüder dieses Heilige zu finden und hoch zu achten wissen und sich dabei nicht auf einen begrenzten Teil derselben, etwa einer Menschenklasse, einen Interessenverband, eine Partei und was sonst noch in Betracht kommen mag, beschränken. Umgekehrt ist gefühllose Grausamkeit gegen Tiere ein Zeichen für einen rohen Charakter, der auch seiner menschlichen Umgebung gefährlich werden kann. Auf diese Tatsache von höchster Bedeutung für die Gesellschaftsethik weist neben vielen anderen Denkern der Philosoph Kant nachdrücklichst hin, und im Hinblick auf sie bezeichnet er in den ‚Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre’ die schonende und barmherzige Behandlung der Tiere geradezu als eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst. Ein Ausspruch des Grafen Leo Tolstoi: ‚Vom Tiermord zum Menschenmord ist es nur ein Schritt’ mag in dieser Formulierung vielleicht übertrieben sein’ [13:100f]. Jahr weist darauf hin, dass nicht selten Tierschutzparagraphen in Strafgesetzbüchern mit solchen kantischen Argumenten begründet werden. Insgesamt lässt sich bezüglich eines möglichen Konflikts zwischen Ethik und Tierschutz also festhalten: ‚Ist es nun tatsächlich so, dass der richtig verstandene und richtig betriebene Tierschutz fördernd auf die Ethik einwirkt, stimmt es, dass er volkserziehenden und volksbildenden Wert hat, dann darf er unter keinen Umständen vernachlässigt werden. Andererseits wird ein jeder, der tierschützerisch eingestellt ist, allgemein ethische Bestrebungen, die ja, wie gesagt, auch an der Tierethik nicht ablehnend oder schweigend vorübergehen dürfen, nach Kräften zu fördern suchen, weil er damit indirekt zugleich für den Tierschutz arbeitet’ [13:101]. Wie selbstverständlich muss der normative bioethische Imperativ bedenken, dass wir Menschen sterbliche und von Essen und Trinken abhängige Lebewesen sind, - nicht nur vernünftige Wesen, sondern auch physiologische Wesen mit physiologischen Bedürfnissen, unter anderem dem Naturgesetz des Essens und Trinkens verpflichtet. Zum Verzehr kommen im Wesentlichen nur pflanzliche und tierische Gewebe, also ‚Lebewesen’ infrage und das erfordert für die Ausweitung des kategorischen Imperativs auf den Respekt vor der Würde und Verletzlichkeit der Pflanzen- und Tierwelt eine Modifizierung der Rigorosität unter Beibehaltung des Kategorischen. ‚Praktische Grundsätze’, wie wir aus der Analytik der reinen praktischen Vernunft zitiert haben, enthalten ‚mehrere praktische Regeln unter sich’ [A35], also gestaffelt auch solche für das Verzehren oder nutzlose Wegwerfen von Pflanzen, das Schlachten oder Quälen von Tieren, ethische Regeln für die Tierhaltung und die Forschung an und mit Tieren. Als Maxime wie bei Kant, nicht als objektives Prinzip, kann also auch für die 7 Jahrsche Erweiterung der kategorische Imperativ Geltung haben: ‚Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde’ [BA52]. Der Vorbildcharakter einer solchen Maxime liegt im rigorosen formalen Anspruch und in der Anmutung, diesen formalen Anspruch inhaltlich im Respekt vor Würde des Lebenden und potentiell Leidenden zu füllen. Die besondere Würde, von Kant nur dem Menschen zugesprochen, als Würde und Verantwortung vor dem Sittengesetz als praktischem Gesetz kann der nichtmenschlichen Lebenswelt allerdings nicht zugesprochen werden. Was die zweite Version des kategorischen Imperativs betrifft, so ist sie darauf hin zu prüfen, ob ihre inhaltliche Füllung, im Sinne Jahrs nicht missverstanden werden könnte als Regeldespotismsus: ‚Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte’ [BA52]. Verantwortung vor Menschen und allem Leben kann als allgemeines Sittengesetz verstanden werden, rigoristische und heteronome Regeln gegen oder für vegetarisches Essen würden der moralischen Freiheit und kulturtelen Vielfalt widersprechen; der Verzicht auch auf pflanzliche Nahrung kann nicht als Ausdruck menschlicher Freiheit verstanden werden, es wäre Unsinn und Unvernunft, deren nur der Mensch fähig wäre. Kants kategorischer Imperativ ist formal und formuliert formale Maxime in Achtung vor dem objektiven Sittengesetz; Jahrs bioethischer Imperativ ist inhaltlich und nicht weniger orientiert an einem objektiven normativen Sittengesetz des Respekts vor der Würde alles Lebenden. Deshalb argumentiert Jahr bioethischer Imperativ differenzierter. Kant kann sich demgegenüber den Luxus einer nichtinhaltlichen Generalisierung des kategorischen Imperativs erlauben. Jahr differenziert zwischen unterschiedlichen ethischen Verpflichtungen gegenüber nichtmenschlichem Leben, die ‚sich praktisch nach dessen ‚Bedürfnissen’ (Herder) bzw. nach seiner ‚Bestimmung’ (Krause) richten. Nun sind ja die Bedürfnisse der Tiere an Zahl weit geringer und an Inhalt weniger kompliziert als die des Menschen. In erhöhtem Masse gilt dies für die Pflanze, so dass die praktischen sittlichen Verpflichtungen, die schon gegen die Tiere (wenn auch nicht grundsätzliche, so doch praktisch) geringer sind, gegen sie noch viel weniger Schwierigkeiten bereiten. Des Weiteren ist hier noch das Prinzip des Kampfes ums Dasein von Einfluss, ein Grundsatz, der auch unsere ethischen Pflichten gegen unsere Mitmenschen in gewisser Weise modifiziert, so sehr wir dies auch bedauern mögen. Denn unser ganzes Leben und Treiben in der Politik, im Wirtschaftsleben, im Kontor, im Laboratorium, in der Werkstatt, auf dem Acker, ist, wie Naumann sehr richtig betont, in seinen Beweggründen und Zielen keineswegs in erster Linie auf Liebe eingestellt, vielfach aber auf Kampf mit irgendwelchen Mitbewerbern. Wir werden uns dessen oft nur nicht bewusst, solange dieser Kampf ohne Hass in ehrlicher, gesetzlich erlaubter Weise geführt 8 wird. Ebenso wenig wie wir nun den Kampf mit unseren Mitmenschen ganz vermeiden können, ebenso unvermeidlich ist auch der Kampf ums Dasein mit anderen Lebewesen. Trotzdem aber werden wir weder im ersteren noch im letzteren Falle das Ideal ethischen Verpflichtetseins als Richtungspunkt aus dem Auge verlieren’ [13:101]. Insgesamt hat das Modell des bioethischen Imperativs also nicht nur eine Funktion für einen neuen Respekt vor der leidensfähigen belebten außermenschlichen Welt, sondern auch für ein breiteres and differenziertes Verständnis der zwischenmenschlichen sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen. In einer Studie zu Wagner’s ‚Parsival’ und im Vergleich des leidenden Jesus und des leidenden Gralskönig unterstreicht der Pastor Jahr die Kulturen und Religionen übergreifende Tugend des ‚Mitleids’, die er hier ‚Liebe’ nennt: ‚ Nach dem bisherigen erscheint die religiöse Gedankenwelt des ‚Parsifal’ zunächst als buddhistische Mitleidsreligion, durch die Anschauungen Schopenhauers vermittelt. Schopenhauer sieht in dieser Religiosität einen Gegensatz zum Christentum. Das trifft jedoch nicht zu. Ja, wir befinden uns bei dieser Hochschätzung des Mitleids sogar im Mittelpunkt der christlichen Gedankenkreise. Wird doch auch im Christentum die Liebe (das Mitleid ist ja nur eine Form derselben) höher geschätzt als alles, was sich sonst Erkenntnis, Wissen, Weisheit nennen mag (1. Kor. 13). Dass es sich hier im eigentlichen Grunde um christliche Anschauungen handelt, wird durch Nietzsche bestätigt, der infolge seiner gegensätzlichen Einstellung zum Christentum Wagner und d den „Parsifal’ auf das schärfste angreift. Es trifft eben auch für die christliche Religion zu: Die Liebe (die sich als Mitgefühl, als Mitleid zeigt) ist Grundlage und Voraussetzung jede Erkenntnis der Wahrheit’ [19a:364]. ‚Du sollst nicht töten’ als bioethisches Sittengesetz: Der Theologe und Pädagoge Jahr nutzt 1934 in der Zeitschrift ‚Ethik, Sexual- und Gesellschaftsethik’ die Interpretation des 5. Gebotes ‚Du sollst nicht töten’ zur Verdeutlichung der universalen und normativen Funktion des bioethischen Imperativs in drei unterschiedlichen Ansätzen: (a) das 5. Gebot als Ausdruck des allgemeinen Sittengesetzes; (b) die ethische Pflicht der Selbsterhaltung und Selbstverantwortung; (c) der bio-ethische Imperativ. A:‚Wie tun wir Gutes? – Auf diese Frage gibt die so genannte ‚Goldene Regel’ Antwort: Alles was Ihr wollt, dass es Euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch (Matth 7,12; Luk 6,31). Kant’s ‚Kategorischer Imperativ’: Handle so, dass die Maxime Deines Handelns zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne, bedeutet im Grunde genau dasselbe. – Jedoch geben solche Formulierungen eben nur ein formales Kennzeichen einer ‚guten’ Handlungsweise. Das Motiv könnte trotz dieses Kennzeichens sogar krasser 9 Egoismus sein, nämlich eine Art Vertrag auf Gegenseitigkeit: Tue mir nichts, dann tue ich Dir auch nichts. Das zeigt Schopenhauer in seiner ‚Grundlage der Moral’)’ [18:183f]. Dem kantischen Formalismus der Goldenen Regel und der reziproken utilitaristischen Vertragsethik entgeht man, indem man auf das Motiv, ‚dass die Liebe die Erfüllung des Sittengesetzes sei (Röm. 13,10)’, hinweist und auf die konkrete inhaltliche Ausgestaltung, für die Schopenhauer ‚die beste, konkrete Beschreibung einer moralischen Handlungsweise’ genannt hat: ‚Neminem laedo, imo omnes, quantum potes, juva! (Verletze niemanden, sondern hilf allen, soweit Du irgend vermagst)’ [18:184] Jahr fügt hinzu: ‚Mehr als zwei Jahrtausende vor Schopenhauer hat bereits das 5. Gebot solche Erkenntnis gebracht, und zwar unter einem größeren Gesichtspunkte, als Nutzen oder Schaden, nämlich unter dem Gesichtspunkt der Heiligkeit des Lebens und der Lebensäußerungen. Wir wissen durch Jesus, dass das 5. Gebot nicht nur das Morden verbietet, sondern alle bösen Taten gegen die Anderen, ja sogar das böse Wort, die böse Gesinnung. Das bedeutet: Er verbietet nicht nur die böswillige oder fahrlässige Vernichtung des Lebens, sondern alles, was irgendwie störend oder hemmend auf ein Leben einzuwirken geeignet ist … Aus allem ergibt sich, dass das 5. Gebot einen ganz besonders guten Ausdruck dessen, was sittlich gut praktisch bedeutet, darstellt’ [18:184]. Für den evangelischen Pastor Fritz Jahr ist der Unsterblichkeitsglaube eine zusätzliche Motivation für ethisches Handeln, nicht aus Furch vor Strafe, sondern weil auch Gott das Leben achtet und nicht vergehen lässt [19]. An anderer Stelle versucht er die Möglichkeit eines neuen Weiter- Lebens nach dem irdischen Tode durch den Vergleich mit den Schmerzens- und Enderfahrungen des Fötus vor und in der Geburt zu plausibilisieren, der sich nicht denken kann, dass es nach diesen schrecklichen Erfahrungen unter der Geburt erst richtig mit dem Leben los- und weitergeht, - ähnlich und zu vergleichen mit den Schmerzensund Enderfahrungen des sterbenden und hoffnungslosen Menschen [20]. B: Pflichten gegen Leben schließt auch Pflichten gegen sich selbst ein, wie Jahr in Erinnerung an Luther’s Erklärung zum 5. Gebot – ‚Du sollst niemandem an seinem Leben Schaden oder Leid tun, sondern ihm helfen und fördern in allen Nöten seines Leibes und Lebens, wo Du irgend vermagst’ - unterstreicht. In Anlehnung an 1. Kor 3,16f formuliert Jahr: ‚Erhaltung des Lebens – auch das eigene Leben nicht ausgenommen – ist Pflicht. Und Vernichtung oder Schädigung von Leben – wiederum auch des eigenen Lebens – ist ethische Sünde’ [18:184]. Diese differentialethische Konkretisierung der Pflicht zu Selbsterhaltung und Selbstverantwortung beschreibt der konservative Theologe kultur- und zeitkritisch wie folgt: ‚Wie haben sich die im fünften Gebot gegebenen ethischen Verpflichtungen gegen das 10 eigene Leben im Einzelnen praktisch auszuwirken? Dadurch, dass man sich nicht selbst das Leben nimmt, dass man es nicht abkürzt, schädigt oder gefährdet, indem man seine Gesundheit durch Unkeuschheit, Unmäßigkeit, im Essen und Trinken, heftigen Zorn, leichtsinnige Tollkühnheit und Waghalsigkeit u. dgl. schwächt. Besonders wichtig ist die Bewahrung der geschlechtlichen Reinheit sowie die Vermeidung des Missbrauchs geistiger Getränke. – Was das erstere anbetrifft, so ist dabei das neutestamentliche Urteil besonders deutlich: ‚Wer Unzucht treibt, der sündigt gegen das eigene leben’ (nach 1. Kor 6,18). Aber nicht nur die unzüchtige Tat zu unterlassen, ist ethische Pflicht, sondern auch die Vermeidung alles dessen, was zur Unkeuschheit verleitet: unehrbare Blicke, unreine oder zweideutige Reden, Scherze und Lieder, unsittliche Schriften und Bilder, unanständige Spiele, Tänze, Kleider u.dgl’ [18:184f]. Unkeuschheit und übermäßiger Alkoholkonsum schädigt aber nicht nur das eigene Leben, sondern potentiell auch das Anderer, insbesondere das der eigenen Nachkommen. ‚Wer seine sittlichen Pflichten gegen sich selbst recht erfüllt, der vermeidet eben dadurch viele Schädigungen anderer Menschen. .. Hat er Nachkommenschaft, so schädigt er auch diese, indem er ihr eine schwächliche und kranke Natur vererbt, wodurch dann in der weiteren Folge der Allgemeinheit wiederum Belastung und Schaden erwächst. Wer in dieser Hinsicht sein eigenes Leben vor Schaden bewahrt, der tut damit zugleich auch seine Pflicht gegen die Allgemeinheit. Ähnlich verhält es sich mit dem Alkohol. Auch der dem Alkoholgenuss Ergebene setzt sich unter Umständen den schwersten körperlichen und geistigen Gefahren aus. Auch er schädigt dann nicht etwa nur sich selbst, sondern seine Familie, seine Nachkommenschaft, sein Volk, seine Rasse’ [18:185; vgl. auch 14 und 15]. Ähnlich hatte Jahr an anderer Stelle sozial- und gesellschaftsethisch argumentiert, dass die Tierethik der Ethik unter Menschen nicht zuwiderlaufe, sondern sie ergänze und stärke. Jahr’s Ansatz verbindet methodisch den erweiterten ethischen Imperativ allem Leben gegenüber mit neuen und verbindenden Perspektiven auf die Individual- und Gesellschaftsethik unter Menschen. In Abwägung zwischen ‚zwei ethischen Grundproblemen in ihrem Gegensatz und in ihrer Vereinigung im sozialen Leben’, Egoismus und Altruismus, beschreibt er die Extreme beider Positionen als unerwünscht, unterstreicht aber die Rolle eines gesunden Miteinander beider Prinzipien für die Entwicklung des Individuums wie auch für Aufbau und Entwicklung von Kulturen und Gesellschaften. Insbesondere die Mitgliedschaft in Organisationen scheint für ihn als "kollektiver Egoismus" auch der Gemeinschaft insgesamt zugute zu kommen und ist deshalb für diese auch eine Form von Altruismus [16]. C: Den dritten und längsten Abschnitt unter der Überschrift ‚Der bio-ethische Imperativ’ leitet Jahr wie folgt ein: ‚‚Du sollst nicht töten’, so mahnt das fünfte Gebot. Nun 11 bezieht sich das Begriff des Tötens immer auf etwas Lebendiges. Lebewesen sind aber nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere und Pflanzen. Da nun das fünfte gebot nicht ausdrücklich nur das Töten von Menschen verbietet, sollte es dann nicht sinngemäß auch auf Tiere und Pflanzen anzuwenden sein?’ [18:185]. In Beantwortung dieser Frage zitiert Jahr die schon genannten zeitgenössischen Autoren, auch den notwendigen Schritt von der BioPsychik zur Bio-Ethik. Es folgen im Wesentlichen die Argumente aus den beiden anderen Artikeln und auch der Hinweis auf die ‚Tierschutzparagraphen in den Gesetzbüchern der verschiedenen Kulturländer’ [18:187]. Jahr schließt diesen Aufsatz wie folgt: ‚In all dem zeigt sich der universale Geltungsbereich des fünften Gebots, das in Beziehung auf alles Leben angewendet zu werden verlangt. Als Umschreibung des fünften Gebots ergibt sich der bioethische Imperativ: ‚Achte jedes Lebewesen grundsätzlich als einen Selbstzweck und behandle es nach Möglichkeit als solchen!’’ [18:187] ETHIKUNTERRICHT UND ETHIK IN DER PRAXIS ‚Gesinnungsunterricht’: Für Jahr ist der bioethische Imperativ nicht nur ein Gegenstand der interdisziplinären akademischen Disziplin, sondern auch eine Verpflichtung und Tugend, zu der hin erzogen werden muss, ein Praktischwerden von Verantwortung und ‚Gesinnung’. In einem engagierten Artikel von 1930 diskutiert der Pädagoge Jahr, wie schon in seinem Aufsatz von 1927, noch einmal das Verhältnis von Ethik und Wissenschaft, diesmal unter der Frage ‚Gesinnungsdiktatur oder Gedankenfreiheit?’. Er unterscheidet zwischen Gesinnungsurteil und wissenschaftlichem Urteil: ‚Die Gesinnung geht stets in irgendeiner Weise auf ein als sittlich empfundenes Werturteil zurück. Im Gegensatz zu jeder Gesinnung steht die Wissenschaft, indem sie solche Werturteile nicht als Grundlage ihrer Arbeit anerkennt. Freilich kann die Wissenschaft eine Gesinnung begründen, bzw. das Material für eine solche liefern. Und das ist ohne Zweifel zu begrüßen’ [17:200]. In den Umbruchsjahren der Weimarer Zeit vor dem Dritten Reich plädiert er konsequent im Sinne reformpädagogischer Bemühungen für eine liberale Gestaltung des Gesinnungsunterrichts und die Schulung differentialethischen Abwägens und Urteilens im Unterricht: ‚nicht Dressur, sondern Liberalisierung bzw. ‚Demokratisierung’ der Gesinnung’. Die ersten sieben seiner zehn Thesen lauten: ‚1. Keine feststehende Gesinnung ist zu lehren. – 2. Streng zu vermeiden ist es, eine vorgefasste Meinung mit einer angeblichen Objektivität und einem Anstrich von fälschlich so genanntem Arbeitsunterricht zu verschleiern. – 3. Es ist methodisch unzulässig, nur Passendes zu berücksichtigen und unbequeme Tatsachen zu verschweigen, abzuleugnen oder nach Bedarf zu verdrehen. – 4. Stets sind verschiedene Gesinnungseinstellungen zu 12 berücksichtigen. – 5. Auch einander widersprechende Gesinnungen sind in ihren Vorzügen und Fehlern gleichmäßig-tendenzlos zu behandeln. (Nicht die eine durch eine rosige, die andere durch eine schwarze Brille betrachten). – 6. Wenn man eine persönliche Anschauung mitteilt, so sollte das stets unverbindlich geschehen. Auch darf man nicht vergessen, die Problematik dieser eigenen Gesinnung aufzuzeigen. – 7. An Stelle jeder tendenziösen Gesinnungsmacherei ist den Schülern Gelegenheit zu geben, sich eine eigene Gesinnung zu bilden, bzw. ihnen das objektive Material für eine spätere eigene Gesinnungsbildung zu geben’ [17:201]. Die didaktischen Erwägungen von Jahr gehen über die engere methodische Kontroverse zwischen Reformpädagogik und traditioneller paternalistischer Erziehung hinaus, insofern sie das inhaltliche und methodische Ziel von Ethikunterricht und auch von Ethikdiskurs angeben. Ethik besteht für Jahr nicht in einer philosophischen, theologischen oder politischen Verordnung oder gar Diktatur von Verhaltensweisen; Ethik ist für ihn Streitkultur, Diskurskultur, Kommunikation nicht so sehr über Theoriehandeln, sondern über Praxishandeln. Diese Liste liest sich wie ein methodischer Kanon für die bioethische Politikberatung des 21. Jahrhunderts und für eine moderne medizinethische und klinikethische Arzt-Patient Kommunikation und jede Form partnerschaftlicher Konfliktlösung in der säkularen und globalen Gesellschaft und hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Jahr’s Artikel erschien in der Zeitschrift ‚Die neue Erziehung. Monatsschrift für entschiedene Schulreform und freiheitliche Schulpolitik’; sie wurde 1933 mit dem Beginn der verschärften Gesinnungsdiktatur der Nationalsozialisten eingestellt, vermutlich verboten. Tagespresse: An der Schwelle des Informationsalters mit seinen Massenmedien und der schnellen Verbreitung des Radios ist Pastor Jahr sich des verhaltens- und gesinnungsprägenden Einflusses moderner Medien sehr bewusst. In einem Aufsatz über ‚Soziale und sexuelle Ethik in der Tageszeitung’ würdigt er zwar durchaus die Fachpresse und das gesprochene Wort in öffentlichen Vorträgen und Kursen, beklagt jedoch einen zunehmend schlechteren Besuch solcher Veranstaltungen: ‚Größeren Einfluss dürfte vielleicht der Rundfunk haben’ [14:149]. Sein besonderes Interesse als Ethiker und Erzieher gilt jedoch der Tagespresse: ‚Millionen von Augen überfliegen Tag für Tag die Abermillionen Spalten der Zeitungen. Auch die bedeutendste Fachpresse und das meistgelesene Buch können da nicht mit’. Jahr diskutiert die Kontroverse, ob die Tageszeitung Ausdruck der öffentlichen Meinung sei oder ob sie diese erst schaffe. Wie immer man darüber denke, eins ist für ihn festzuhalten: Informationsmedien prägen so oder so öffentliche Meinung und Gesinnung: ‚Und glaubt man, in den Spalten der Presse allein das Motiv zu finden, eine öffentliche 13 Meinung erst zu bilden oder wenigstens einen entscheidenden Einfluss auf sie auszuüben, dann wird es vom ethischen Standpunkte aus betrachtet sogar zur Pflicht, sich an dieser Gesinnungsbildung nach bestem Wissen und Gewissen aktiv zu beteiligen. Dass man solche zunächst bei besonders geeigneten Tageszeitungen beginnt, ist ein Gebot der Zweckmäßigkeit. Ebenso wichtig ist es, mit einer passenden Korrespondenz in Verbindung zu treten. Im übrigen sind praktische Winke Sache von Fachleuten auf ethischem und zugleich zeitungstechnischem Gebiet. Diese letzte Möglichkeit zu benutzen, ist im Interesse der guten Sache, bei der es sich in der Sozial- und Sexualethik handelt, sehr zu empfehlen’ [14:150]. Kommunikationsregeln in der Fachpresse und in der Tagespresse sind verschieden; daran hat der Ethiker und Aufklärer sich anzupassen und soweit wie möglich selbst Kommunikationsexperte zu werden: ‚Indem die Tagespresse nur ab und zu als ethisch deutlich erkennbare Aufsätze bringt, die nicht zu lang sind die durch ihre feuilletonistische Form dem Laien Interesse und Verständnis abzugewinnen vermögen, so ist auch von diesem Standpunke aus die Bedeutung der Presse für die Ethik, einschließlich der Sozial- und Sexualethik, nicht zu übersehen’ [14:150]. DIE WIEDER-‘GEBURT’ DER BIOETHIK IN DEN USA 1970/1971 Düwell und Steigleder referieren im Suhrkamp Taschenbuch ‚Bioethik’ den derzeitigen Stand des Wissens um Geschichte, Begriff, Bedeutung und Aufgaben von Bioethik wie folgt: ‚Die Geschichte der ‚Bioethik’ ist noch recht jung. Sie beginnt erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im engeren Sinn erst in den sechziger Jahren. Der Name ‚Bioethik’ wurde erst zu Beginn der siebziger Jahre eingeführt’ [5:12]. Im Jahre 2001 feierte man in den USA und in der ganzen Welt den 30. Geburtstag der ‚Bioethik’ als einer neuen Disziplin. Als Geburtsdatum wurden von Warren Reich nach intensiven Studien das Erscheinen des Buches von Van Rensselaer Potter ‚Bioethics. Bridge to the Future’ 1971 [22; vgl. 23] und die Gründung des Kennedy Institute of Bioethics an der Georgetown Universität durch Andre Hellegers mit Unterstützung der Kennedy Familie angegeben [11]. Reich spricht insofern auch von einem ‚bilocal birth’ [24; 25]. Die Arbeiten von Fritz Jahr waren bis heute unbekannt; insofern müsste man ab jetzt besser von einer Wiedergeburt der Bioethik in den USA im Jahre 1971 sprechen. Potter selbst hielt sich für den ‚Erfinder’ des Begriffs Bioethik [5:21; 21]. Wie aus den Arbeiten von Reich hervorgeht, lassen sich sowohl bei Potter wie auch bei Hellegers ähnliche Argumente für das Konzept von Bioethik als einer neuen wertwissenschaftlichen Disziplin finden wie bei Fritz Jahr: 1. Neue wissenschaftliche 14 Erkenntnis und Fortschritte – bei Potter auf vielen Gebieten der modernen Wissenschaft, bei Hellegers und Sargent Shriver, der mit seiner Frau Eunice, einer Schwester von John F. Kennedy und seinen Brüdern, an den Planungen und Gründungen beteiligt war, die Fortschritte insbesondere der modernen klinischen Medizin und Humangenetik – sind Anlass für neue und intensive wertwissenschaftliche philosophische und ethische Analysen und Konzepte zur Steuerung und Anwendung des neuen Wissen. – 2. Die gegenwärtige Zeit ist in einem gesellschaftlichen und moralischen Umbruch, der von den neuen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten ermöglicht und mitverursacht ist. - 3. Bioethik ist nicht nur eine neue wertwissenschaftliche Disziplin im interdisziplinären Umfeld, sondern auch eine auf Praxis gerichtete Tugend und Charakterhaltung, eine persönliche sowohl wie professionelle Gesinnungskultur, die auch einer Pflege, Unterweisung und Unterrichtung bedarf. Shriver hatte ursprünglich den Plan, das neu zu gründende Institut im Plural als ‚Institutes of Bioethics’ zu benennen, um die Notwendigkeit von eng mit den jeweiligen Fachdisziplinen erforderlicher ethischer Expertise und Differentialethik in ebensolcher konkreten Problemnähe zu entwickeln und anzuwenden, so wie es für die jeweiligen Fachdisziplinen selbstverständlich war und ist [35]. Der Name des Instituts lautete schließlich ‚Kennedy Institute of Ethics’. Es war aber nach Hellegers’ und Shrivers’ Konzept einer sach- und problemnahen angewandten Ethik in drei Institute aufgeteilt. Das ‘Josef and Rose Kennedy Institute for the Study of Human Reproduction and Bioethics’ hatte 1974 drei selbstständige Zentren: Center for Bioethics, Center for Population Research, and the Laboratory for Reproductive Biology [35]. Auf den Neubegriff Bioethik wurde wohl aus Gründen eines leichteren Fundraising verzichtet. Heute ist das ‚Kennedy Institute of Ethics’ im wesentlichen ein akademisches Forschungs- und Beratungsinstitut; neben ihm existiert auf dem Campus der Georgetown Universität ein ‚Center for Clinical Bioethics’, deren Mitglieder neben der klinisch-ethischen Forschung vor allem beratend und lehrend an der Georgetown Medical School tätig sind. 1969 hatten Daniel Callahan und Willard Gaylord in Hastings on the Hudson nördlich von New York City das ‚Institute of Society, Ethics and the Life Sciences’ gegründet, heute ‚Hastings Center’ genannt, mit einem ähnlichen Schwerpunkt auf wertwissenschaftlichen Forschungen und Begleitungen der Wissenschaften vom Leben, d. h. Biologie und Medizin, allerdings ohne den Begriff Bioethik zu benutzen; erst 1973 erschien Callahan’s Aufsatz ‚Bioethics as a Discipline’ [4]. Unabhängig von den Namensgebungen der beiden ersten und bis heute führenden bioethischen Institute in den USA machten jedoch der Begriff und das Konzept von Bioethik 15 sehr schnell ihren Siegeszug um die Welt, nicht nur in den akademischen Hallen, sondern auch in nationalen und internationalen Beratungsgremien und in Intensive Bioethics Courses, wie beispielsweise an der Georgetown Universität seit über 25 Jahren. Die UNESCO hat seit 1993 ein International Bioethics Committee; es gibt eine Europäische Bioethik Konvention, bioethische Forschungsinstitute an vielen Universitäten überall in der Welt, auch internationale Zeitschriften mit Titeln wie ‚Bioethics’ und ‚Eubios Journal of Asian and International Bioethics’. In Münster gibt es seit einiger Zeit ein ‚Centrum für Bioethik’, das sich bisher aber im Wesentlichen mit Themen beschäftigt, die auch unter den Begriff Medizinethik fallen würden. Interessant und unterstreichenswert ist, dass alle diese Zentren und Aktivitäten sich nicht um Bioethik im originalen und breiten Sinne des Wortes bemühen, sondern um Medizinethik, Ethik in der klinischen Forschung, Ethik des Arzt-Patient Verhältnisses und um Themen wie Wahrhaftigkeit am Krankenbett, Informed Consent, Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, Fragen der Humangenetik, Euthanasie, und Schwangerschaftsabbruch behandeln. Reich unterstreicht sowohl bei Hellegers wie vor allem bei Potter den Ansatz einer weltweiten Anstrengung in Zeiten abnehmender Verbindlichkeit von tradierten Werten und Werthaltungen sich erneut um die Sicherung und Übertragung von ethischen Werten und Tugenden in die neuen technischen und biomedizinischen Welten zu bemühen; er definiert Bioethik als ‘the systematic study of human conduct in the area of the life sciences and health care, in as far as this conduct is examined in the light of moral values and principles’[27:29] und schlägt zur terminologischen Präzisierung und ‚Rettung’ des Begriffs von Bioethik einen Salvadorischen Kompromiss vor, in dem der Begriff Bioethik jeweils mit einem differenzierenden Adjektiv versehen wird: ‚ to use the term bioethics in its original, global sense, as referring to the ethics of the life sciences and health care; and then use adjectives to specify particular areas of concern with bioethics. For example, one might speak of medical bioethics, environmental bioethics, clinical bioethics, or nursing bioethics without implying, with these terms, any particular approach’ [27:30]. Wir werden auf diese seltsame Faszinierung des Begriffs Bioethik in der Bezeichnung von etwas, für das er im engeren Sinne definitorisch gerade nicht steht, abschließend noch eingehen müssen. Denn präzise und klare Begrifflichkeit in der Ethik und den Wertwissenschaften ist die Voraussetzung für klare und präzise Analysen und Werten, nicht anders als in den Naturwissenschaften. Unbeschadet von diesen terminologischen Verwerfungen, kann Engelhardt aber 1986 in ‚Foundations of Bioethics’ nur 15 Jahre nach der Gründung des Kennedy Institute of Ethics und des Hastings Center feststellen: ‘The moral and conceptual problems associated with 16 health care and the biomedical sciences have called philosophy back to puzzles that are part of everyday life, even if it is the life of a society characterized by new and expensive medical technologies. In medical schools from Germany to the United States and from Sweden to Argentina and Beijing, philosophers have been invited to participate in forming public policy bearing on health care, to serve on ethics committees, or to participate in teaching medical students. Bioethics has taken a shape as a philosophical discipline recognized across the globe’ [7:VIII]. Es ist Engelhardt zuzustimmen, dass die konkrete Arbeit an medizinethischen Problemen auch für die Selbstfindung und Selbstbestimmung von Philosophie im Übergang in eine wertplurale und globale Welt von großer Bedeutung ist. Ähnlich haben wir bei Jahr beobachten können, wie die Ausweitung des kantischen formalen kategorischen Imperativs und seine inhaltliche Füllung mit dem Respekt vor der gesamten Welt des bios anregend und befruchtend auch für einen neuen und frischen Blick auf klassische Verantwortungen und Konflikte im gesellschaftlichen und sozialen Leben sein kann. In einem Bericht ‚Medizinethik in den USA. Bestandsaufnahme nach 12 Jahren’ in der ‚Münchener Medizinischen Wochenschrift’ 1985 [29] benutzte ich nicht den Begriff Bioethik, sondern den präziseren und in Deutschland vertrauteren Begriff ‚Medizinethik’; der Begriff Bioethik kommt in diesem Artikel nur einmal vor an der Stelle, an der ich über das Graduate Programm in ‚Bioethik und Philosophie’ an der Georgetown Universität berichte. Im übrigen nannte ich dort als Gründe für das Entstehen und Ausbreiten der Medizinethik (a) die Ausweitung technischer Möglichkeiten der modernen Medizin und die damit zusammenhängenden kulturellen und ethischen Konsequenzen, (b) die höheren Ansprüche an Normbegründungen und -durchsetzungen für alle heilberuflich Tätigen in einer sich rasch differenzierenden pluralistischen Gesellschaft und (c) die Notwendigkeit einer höheren Sprach- und Reflexionskompetenz für Ärzte in der Interaktion mit Patienten und Mitarbeitern in einem sich entwickelnden neuen Partnerschaftsverhältnis [29]. Jahr, Hellegers und Potter haben die beiden ersten Argumente ähnlich vorgebracht und hätten dem letzteren mit Sicherheit zugestimmt. In einem Beitrag ‚Bioethics is Emerging in West Germany’ im Newsletter des Kennedy Institute of Ethics verwendete ich dann 1987 allerdings den dort gebräuchlicheren Begriff Bioethik, um über die Gründung der ‚Akademie für Ethik in der Medizin’ und des Bochumer ’Zentrum für Medizinische Ethik’ zu berichten [Vol 1, No 12; vgl. 31]. 17 BIOETHIK IN DEUTSCHLAND NACH 1985 Bioethik in unserem heutigen Verständnis fand ihren Weg nach Deutschland von den USA erst vor gut 20 Jahren. Fritz Jahr’s Definition und Konzept von Bioethik war bis heute unbekannt und medizinische Ethik wurde als das bezeichnet, was sie ist und war: Ethik im medizinischen Handeln, Arztethik, Ethik in der klinischen Forschung. Meine erste Begegnung mit ‚Bioethik’ erfolgte 1978 anlässlich einer Gastprofessur im Philosophy Department der Georgetown Universität. Seit dem Jahr 1980 arbeitete ich am Kennedy Institute of Ethics, zunächst mit einem Stipendium der Stiftung Volkswagenwerk, später als Senior Research Scholar. Das erste ‚bioethische Institut’ im Sinne von Hellegers und Potter wurde in Deutschland 1986 von Herbert Viefhues, mir und anderen Kollegen vorwiegend aus der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität als ‚Zentrum für Medizinische Ethik’ in Form eines gemeinnützigen Vereins gegründet [3]. Wenige Monate später erfolgte die Gründung der ‚Akademie für Ethik in der Medizin’ [39], ebenfalls unter dem Einfluss von Eduard Seidler, dem späteren Präsidenten der Akademie, nicht den Namen Bioethik benutzend. Die von Bochumer Zentrum herausgegebene Schriftenreihe, die bis heute auf über 170 Titel angewachsen ist, trägt den Namen ‚Medizinethische Materialien’, nicht ‚Bioethische Materialien’. Es gab und gibt Unterschiede zur amerikanischen Medizinethik, respektive Bioethik. Der von Viefhues und mir 1985/1986 entwickelte ‚Bochumer Arbeitsbogen für die medizinethische Praxis’, eine normative, aber weltanschaulich offene Checkliste für die patientenorientierte Vorbereitung und Nachprüfung einer individualisierten Behandlung orientierte sich, wie Jahr sicher positiv hervorgehoben hätte, in ihrem ethischen Mittelteil an der Methode der klassischen klinischen Befunderhebung, die den Medizinern bekannt war, und fragte unter dem Stichwort ‚Selbstbestimmung des Patienten’: ‚Was ist über das Wertsystem des Patienten bekannt? Welche Einstellungen hat der Patient intensivmedizinischen, palliativen oder reanimierenden Behandlungsformen gegenüber? Ist der Patient über Diagnose, Prognose und Therapie hinreichend informiert? Wie weit kann der Patient in die Bewertung einbezogen werden oder inwieweit kann sie ihm ganz überlassen werden? Wer kann sonst stellvertretende Entscheidungen für den Patienten fällen? Stimmt der Patient der Therapie zu?’. Insbesondere unsere Frage nach der Einbeziehbarkeit des Patienten in die Entscheidung wurde von unseren Kollegen am Kennedy Institute of Ethics als alteuropäisch und als Soft-Paternalismus kritisiert, blieb sie doch hinter dem Georgetown Mantra von ‚Autonomy, Nonmaleficence, Beneficence, Justice’ als Benchmark für eine moderne patientenorientierte Medizin zurück [vgl. 2]. Inzwischen wurde der Bochumer 18 Arbeitsbogen in mehr als 10 Sprachen übersetzt und spielt vor allem in der klinischen Ausbildung eine wichtige Rolle. Natürlich war die Auswahl unserer Fragen und ihre Gewichtung nicht wertneutral, sondern entsprach den normativen Ansätzen der angloamerikanischen Bioethik und hätte sich auch auf die methodischen Hinweise von Jahr zum Gesinnungsunterricht berufen können, wenn diese 1985 bekannt gewesen wären. Diese nahe Bindung an das in den USA entwickelte Modell einer partnerschaftlichen Arzt-Patient Interaktion zeigt sich heute vor allem bei dem Versuch der Übertragung in asiatische Einstellungs- und Medizinkulturen unter Nichtrespektierung dortiger kultureller und ethischer Schwerpunktsetzungen [1]. Ab 1987 führte ich für einige Jahre in Washington einen Intensive European Bioethics Course durch, der die Teilnehmer mit dem Ansatz der Prinzipienethik von Autonomy, Nonmaficence, Beneficence und Justice [2] vertraut machte und gleichzeitig erlaubte die nur bedingte Übertragbarkeit dieses Ansatzes in die europäischen Arzt- und Gesundheitskulturen zu übertragen. Aus der Bundesrepublik haben unter anderem an diesen Kursen teilgenommen Herbert Viefhues, Hanns-Peter Wolff, Eduard Seidler, Hans-Bernhard Wuermeling, Dieter Birnbacher, Wolfgang Wagner, Gerd Richter, Oswald Schwemmer, Kurt Bayertz, Ludger Honnefelder, Anton Leist, Ruth Mattheis, Hermann Pohlmeier, Ingeborg Retzlaff, Rainer Floehl, Udo Schlaudraff, Gabriele Wolfslast, Hans Lenk, Stephan Sahm, Johannes Meran, Stella Reiter-Theil, Carmen Kaminsky, Rita Kielstein, Werner-Karl Raff; Bettina SchoeneSeifert und Peter Schroeder haben akademische Examen in Bioethik abgelegt; Jochen Vollmann aber auch Kollegen aus China wie Qiu Renzong und aus anderen Ländern haben längere Zeit selbständig am Kennedy Institute of Ethics gearbeitet. Diese persönlichen Kontakte haben vermutlich mehr noch als Publikationen zu einer raschen Entwicklung von Medizinethik und Bioethik in Deutschland und zur Integration in den internationalen Dialog beigetragen. Eine erste Diskussion über Begriff und Konzept von Bioethik fand in Deutschland in einem von mir herausgegebenen Schwerpunktheft von ‚Medizin, Mensch, Gesellschaft’ 1986 statt. Im Editorial berichtete ich, dass es 1986 in den USA bereits mehr als 60 Forschungsinstitute zur Bioethik und Pflichtkurse in Bioethik in den Curricula an fast allen Medical Schools gab. Ich fuhr fort: ‚In Deutschland ist der griffige Begriff Bioethik noch nicht eingedrungen. Die Zukunft wird darüber zu entscheiden haben, ob wir das, was mit bioethics gemeint ist, künftig unter dem Begriff Bioethik diskutieren werden oder unter Medizinische Ethik, Ethik der Heilberufe oder Ethik in den Lebenswissenschaften. Wie auch immer der Name sein wird, die Sache ist zu wichtig und zu brennend, als dass sie nicht mit 19 Intensität und Hartnäckigkeit aufgegriffen werden muss. Die Fragestellungen und Lösungsmöglichkeiten der modernen Bioethik werden für die gesellschaftliche Bedeutung, die moralische Rechtfertigung und die medizinische Leistung der Heilberufe der Zukunft die gleiche Rolle spielen wie die Biologie und Naturwissenschaften für die Medizin und die Lebenswissenschaften in den letzten 150 Jahren’ [29:230]. – Eduard Seidler, später Präsident der ‚Akademie für Ethik in der Medizin’ plädiert unter der provokanten Fragestellung ‚Bioethik oder Ethik der Heilberufe?’ für den letzteren Begriff: ‚Es gibt historische Gründe für die unterschiedliche Stellung der medizinischen Ethik in den USA und der Bundesrepublik; ein wachsendes Interesse an ethischen Fragenstellungen für Heilberufe ist jedoch unübersehbar. Überall in der medizinischen Praxis finden wir ethische Fragestellungen; sie müssen nicht erst von außen an die Heilberufe herangetragen werden. Die Erziehung zur Ethikfähigkeit muss sich phasengerecht an den Stufen der medizinischen Ausbildung und Fortbildung orientieren. .. Eine Grundsatzdiskussion, wie sie in den großen Zentren von Georgetown und Hastings stattgefunden hat, ist weder in der Bundesrepublik noch auf europäischer Ebene gelaufen. .. Unverkennbar ist auch die - sicher nicht unberechtigte – Scheu, in den Fakultäten einen ‚Ethiker’ zu akzeptieren, dem nach den hiesigen Verhältnissen eher die Funktion eines Alibis oder Zensors statt eines Vermittlers zuwachsen könnte. Gleiches gilt für die Übernahme des im Deutschen sprachlogisch problematischen Begriffs ‚Bioethik’, der vorzugeben scheint, ein Problemfeld zu spezialisieren und zu systematisieren, welches grundsätzlich die Aufgabe der gesamten Heilkunde zu sein hat’ [38:258]. – Josef Fuchs SJ von der Gregoriana Universität in Rom ist sich ebenfalls der Kontroverse um den Begriff Bioethik bewusst, vermutet aber einen damit verbundenen Übergang zu einer mehr patientenorientierten partnerschaftliche Ethik der Heilberufe, die sich von der früheren paternalistischen Arztethik entfernt: ‚Das Wort Bioethik ist neueren Datums. Es wird vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika gebraucht. In Deutschland kannten wir früher (und kennen wir auch heute noch) das Wort ‚Medizinische Ethik’ oder auch ‚Ärztliche Deontologie’. Vor allem die letzte Formulierung lässt verstehen, dass es dabei vor allem um die ethischen Fragen im Verhältnis zwischen Arzt und Patient geht. .. Das Grundproblem der Bioethik ist: Verfügen über menschliches Leben – in welcher Weise auch immer’[8:242]. Tristram Engelhardt diagnostiziert die grundsätzliche Funktion der Bioethik im Übergang von der traditionellen paternalistischen hippokratischen Arztethik hin zu posthippokratischen ethischen und vertraglichen Regelungen in säkularen und pluralistischen Gesellschaften und hin zu einem komplex organisierten und finanzierten Medizinbetrieb : ‚Die Berufsethik der 20 heute im Gesundheitswesen Tätigen wird in gleichem Masse durch die Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen an der Kostenbeschränkung und an der Vorhaltung verschiedener Modalitäten der Behandlung bestimmt wie durch die Interessen einzelner Patienten und Ärzte. Die Bioethik bildet sich als Sprache der nicht-religiös bestimmten politischen Entscheidungen für die Gesundheitsberufe heraus, und die medizinische Berufsethik ist eng verknüpft mit der Ethik der politischen Meinungsbildung, Entscheidung und Durchsetzung’ [6:236]. - Reich thematisiert die unter der Vorreiterrolle des Kennedy Institute of Ethics entwickelte Prinzipienethik und fordert ‚die ethische Pflichtenlehre ist zwar für Untersuchungen in der Bioethik von wesentlicher Bedeutung, aber eine Ethik des Ethos sowie einer Wertethik sollte verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die auf Prinzipien beruhende Pflichtethik, die bisher das Fach beherrscht hat, sollte in ein fruchtbares Verhältnis mit den anderen zwei Paradigmen gebracht werden’[24:231]. Kimura und Qiu schließlich reißen schon 1986 die globale und transkulturelle Herausforderung der Bioethik an. Qiu Renzong schreibt: ‚Die Bioethik kennzeichnet den Schnittpunkt zwischen politischen Prioritäten und menschlichen Werten. Die gegenwärtig drängendste Frage ist die nach der gerechten Verteilung von begrenzten medizinischen Ressourcen. Konfuzianismus und Marxismus haben medizinische und bioethische Wertvorstellungen in China beeinflusst. Güte und Hilfe sind zwei der wichtigsten konfuzianischen Werte; das hätte zum Aufbau eines öffentlichen Systems der Gesundheitspflege mit gleichen Zugangschancen für alle führen können’[23a:253]. Und Rihito Kimura, gleichzeitig tätig am Kennedy Institut und der Waseda Universität in Tokio so wie ich gleichzeitig an der Ruhr Universität und am Kennedy Institut arbeitete, entwickelt die menschenrechtliche Dimension der Bioethik für das 21. Jahrhundert: ‚ Die Bioethik ist eine völlig neue Disziplin, die auch über die bisherigen Formen von Interdisziplinaritaet hinausgeht. Sie ist metainterdisziplinär; sie entprofessionalisiert die Medizin; sie ist eine Buergerrechtsbewegung. Eine neue Form von Solidarität mit allen Formen von Leben (eine alte konfuzianische Idee) wird uns in das nächste Jahrtausend leiten müssen’ [21:247]. Keine der skizzierten Positionen aus dieser ersten bioethischen Diskussion in deutscher Sprache von Jahr 1986 hat heute an Aktualität verloren, insgesamt sollten sie an aktuellen und künftigen Diskursen zu ‚Quo vadis, Bioethik?’, ebenso wie die Entwürfe von Fritz Jahr, auch im neuen Jahrhundert beteiligt werden. In konkreten Details wurde die ‚Bioethik in den USA’ in einem von mir 1987 herausgegeben Buch mit dem gleichnamigen Titel vorgestellt [32]. Auf knapp 300 Seiten werden die damaligen Methoden, Themen und Positionen von Autoren wie Cook-Deegan, Engehardt, Faden, Pellegrino, Pinkard, Veatch und Walters vorgestellt. 21 Dieses Buch und zwei andere ebenfalls bei Springer 1991 herausgegebene Bücher mit deutschen wie nichtdeutschen Autoren zu ‚Genomanalyse und Gentherapie. Ethische Probleme der Humanmedizin’ und ‚Güterabwägung und Medizin. Ethische und technische Probleme’, beide auf Tagungen des Bochumer Zentrum für Medizinische Ethik beruhend, haben methodisch und inhaltlich zum Beginn einer international vernetzten medizinethischen und bioethischen Forschung und Lehre in deutscher Sprache beigetragen. In dem Vorwort zu ‚Bioethik in den USA’ definierte Pellegrino wie folgt: ‚ ‚Bioethik’ ist ein umfassender Begriff, der die ethischen Probleme in Zusammenhang mit der Anwendung biologischen Wissens auf menschliche Angelegenheiten betrifft – sei es im Rahmen der Behandlung eines einzelnen Patienten oder im Rahmen eines Gemeinwesens, eines Volkes oder der Menschheit insgesamt. Die ärztliche Berufsethik nach unserer Definition befasst sich mit der Art, wie Entscheidungen über die Anwendung von Technologien getroffen werden, also eher mit der Art von Persönlichkeit, die der Arzt sein sollte, als mit der Lösung eines speziellen bioethischen Dilemmas oder Puzzles. Die ärztliche Berufsethik stimmt strukturell mit der traditionellen medizinischen Ethik überein, die die moralische Natur des Arzt-Patient Verhältnisses betont’ [32:2]. Diese Schwerpunktsetzung entspricht insgesamt den heutigen Verständnis von Bioethik in den USA und schließt auch die ethischen Aspekte von Public Health in nationaler und globaler Perspektive ein, enthält aber nicht den breiteren bioethischen Ansatz von Jahr, der für die vergrößerten Verantwortungsdimensionen des 21. Jahrhunderts erst noch konkretisiert werden müsste. Nicht überall wurden allerdings Begriff und Konzept von Bioethik in der bundesrepublikanischen Kultur des Endes des 20. Jahrhundert positiv aufgenommen oder gar wie in der Vision von Kimura als Buergerrechtsbewegung verstanden. Im Gegenteil, Begriff und Konzept wurden als fremde us-amerikanische Einmischung und Indoktrinierung verstanden. Als ein Beispiel unter vielen sei die für den Sommer 1990 in Bochum geplante Tagung der ‚European Society for Philosophy and Health Care’ genannt zum Thema ‚Consensus Formation und Moral Judgment in Health Care’ [33; 36]. Im Vorfeld der Tagung erschien ein der Bochumer Studentenzeitschrift ‚Boriss’ eine Artikel ‚Bioethik – die Ethik der Technokraten’: ‚Am 15./16. Juni findet in Bochum ein internationaler Kongress zur Medizinethik statt, veranstaltet von einer europäischen Philosophenvereinigung und dem an der Ruhr-Uni ansässigen ‚Zentrum für Medizinische Ethik’. Titel des Treffens: Konsensbildung und moralische Urteilsfindung im Gesundheitswesen. Diskutieren wollen die sich selbst als ‚Bioethiker’ bezeichnenden Philosophen und Mediziner u.a. zu Euthanasie, Reproduktionstechniken und Todeskriterien. Ein überregionaler Zusammenschluss von 22 Behinderten- und Reproduktionsgegnerinnen will diesen Kongress verhindern und plant für den 9. Juni einen Gegenkongress. .. Am institutionellen Rahmen, in dem der Ruhr-Uni Professor Hans-Martin Sass arbeitet (er ist der maßgebliche Organisator des Kongresses) lässt sich veranschaulichen, dass im Falle der Bioethik von wertfreier Wissenschaft nicht gesprochen werden kann. Sein ‚Zentrum für Medizinische Ethik’ wird finanziell von der Pharmaindustrie unterstützt. Es ist der bundesdeutsche Ableger des Kennedy Instituts für Ethik in Washington, wo Sass die Hälfte des Jahres als Direktor eines europäischen EthikProgramms verbringt. Das Kennedy Institut ist das größte Ethik-Institut in den USA und hat bedeutenden Einfluss als Beraterin der US Regierung. Etliche der dort tätigen Professoren sitzen zugleich in diversen Ausschüssen der US-Administration, wo an der Vorbereitung und Ausarbeitung von Gesetzentwürfen und Richtlinien zur Technologie- und Gesundheitspolitik gearbeitet wird. .. Bei dem Vorhaben, den Kongress zu verhindern, handelt es sich nicht darum, Diskussionen über ethische Fragestellungen zu verbieten. ‚Ethik’ ist aber nun mal ein reichlich schwammiger Begriff und vielseitig interpretierbar. Bioethik dagegen ist eindeutig eine Dienstleistungsethik – um einen Begriff von Hans Jonas gegenüber Singer zu verwenden. Sie zielt auf die Akzeptanzbeschaffung für riskante Technologien, die möglichst reibungslose Durchsetzung einer Tote in Kauf nehmenden Gesundheitspolitik und die Verwirklichung von auf Kosten-Nutzen-Kalkülen beruhenden Tötungsutopien. – Dem soll entschiedener Widerstand entgegengesetzt werden’ [36:35f]. Schon bei der Tagung über Genomanalyse und Gentherapie im Jahr davor war es auf dem Bochumer Campus zu Belagerungen gekommen. Wir hatten die Protestierer jedoch zu Teilnahme und Diskussion eingeladen, auch das Verteilen von Info-Material erlaubt. Diesmal hörten wir jedoch, dass ‚die alternative Szene’ aus der Hamburger Hafenstrasse und aus Frankfurt Busse und Bezahlung für eine große Zahl von gewaltbereiten Randalierern bereitgestellt hatten. In den Universitäten Bochum, Essen, Düsseldorf fanden sich massenweise Flugblätter und Skizzen des Bochumer Uni-Campus mit Einladungen wie ‚Verhindern wir den Kongress’, ‚Es gilt jetzt zu verhindern, dass unter dem Deckmantel von Toleranz und unter Berufung auf Demokratie und Liberalität Vernichtungsstrategien diskutiert werden. Aus diesem Grunde werden wir versuchen, den Bochumer Kongress zu verhindern’, ‚Der Kongress beginnt mit einer Eröffnungsveranstaltung am Freitag … Für alle, die schon am Donnerstag anreisen können, wird am Donnerstag abends in Bochum ein Plenum mit allen Beteiligten stattfinden’, und in Vorfreude auf das Treffen ‚Ob die Elite des ‚Ethic-engineering’ im Rampenlicht des öffentlichen Interesses Berührungsängste zeigen wird, darauf darf wohl mit Spannung gewartet werden’ [36:43-46]. Am 10. Januar 1990 hatte 23 die Berliner taz-Zeitung eine Erklärung einiger Dutzend ‚Berliner PhilosophInnen’ und von Verbänden mit dem Titel ‚Wider den tödlichen philosophischen Liberalismus’ veröffentlich und unter Bezug auf eine gestörte Veranstaltung des Australischen Bioethikers Peter Singer geschrieben ‚wir halten die Störungen für berechtigt’ [36:38]. Herbert Viefhues und ich sagten telegraphisch und per Eilboten 10 Tage vorher den Kongress ab und führten ihn kurzerhand zum gleichen Zeitpunkt auf Einladung von Henk ten Have in Maastricht in einer harmonischen und diskussionsfreudigen Atmosphäre durch. Viefhues und ich schrieben: ‚Wegen einer Hetzkampagne regionaler und überregionaler Gruppen aus der ‚alternativen Szene’ gegen Bioethik im allgemeinen und der Themen unserer Doppelkonferenz im besonderen sind wir zum heutigen Zeitpunkt leider nicht in der Lage, die äußeren Vorsetzungen für die geplanten Diskussionen und für Ihre eigene Sicherheit zu garantieren’ [36:34]. Abstracts und Tagungsunterlagen wurden nach Maastricht mitgenommen; die Kongressbeiträge hatten keine der von den Verhinderern vermuteten Themen zum Gegenstand sondern beschäftigten sich, wie aus dem Programm ersichtlich war, mit methodischen Fragen der Konsensfindung in der Klinik und wurden, für jeden nachlesbar, von Henk ten Have und mir in einem Band ‚Consensus Formation in Health Care Ethics’ [10] publiziert. Heute, 21 Jahre nach der ersten Thematisierung von Bioethik im deutschen Raum in ‚Mensch, Medizin, Gesellschaft’, sind Bioethik und Medizinethik in Deutschland mündig geworden, nicht mehr von ‚Importen’ abhängig, sind mit Lehrstühlen in den Medizinischen und auch in einigen anderen Fakultäten vertreten, ebenfalls in den medizinischen Curricula und in der Fort- und Weiterbildung der Heilberufe, auch in Firmen, Fakultäten und Krankenhäusern in Ethikkomitees und Ethikkonsilen. Einige der Sponsoren und Unterzeichner der Erklärung ‚Wider den tödlichen philosophischen Liberalismus’ von 1990 sind Mitglieder in bioethischen Beratungsgremien und Autoren zu bioethischen Themen; das ist insofern auch gut so. Was die Zukunft der Bioethik betrifft, so ist die Zusammenfassung von Pellegrino, derzeit Vorsitzender der President’s Commission on Bioethics in den USA, in ‚Bioethik in den USA’ von 1987 nach wie vor aktuell auch als Ausblick auf die Zukunft: ‚Es ist höchst unwahrscheinlich, dass über die verschiedenen, von der derzeitigen Metamorphose der biomedizinischen Ethik aufgeworfenen Fragen – besonders die fundamentalen, das menschliche Leben betreffenden Fragen – eine Einigung erzielt werden kann. Wir können deshalb nur einen verkleinerten Kanon wirklich allgemein verbindlicher Moralvorstellungen und eine Pluralismus von Regelwerken und Gebotstafeln erwarten. – Die Dinge, die am ehesten allgemein anerkannt sein werden, entspringen der Natur der Medizin selbst – ihrer 24 ‚inneren Moralität’. Einiges wird sich ändern: die Grundsätze der Kompetenz, des Mitgefühls, der vertraulichen Beziehung (mit gewissen Einschränkungen), des Wohls des Patienten und der Beförderung des medizinischen Wissens. Einige der neueren Grundsätze werden eingebaut werden, wie Achtung vor der Patientenautonomie, Akzeptanz der moralischen Geltung von vertretungsweise gefällten Entscheidungen, Einigung über Abbruch sinnloser, unwirksamer Behandlungen bei terminal kranken Patienten, Berücksichtigung von testamentarischen Verfügungen, Einrichtung von Ethikkomitees, eine größere Beteiligung an der Gestaltung der Politik und eine intensivere und offenere Überwachung der Ärzte hinsichtlich ihrer Kompetenz. Nur auf welche Weise in welchem Ausmaß diese Vorstellungen realisiert werden, ist problematisch. – Wir können eine große Variationsbreite und einen geringen Konsens der Meinungen über Fragen erwarten, wie Tötung auf Verlangen, Schwangerschaftsabbruch, Sterilisation, Reproduktionstechniken, Gentechnik usw. Durch die Ärzteschaft werden, wie durch andere Berufsgruppen, in dieser Frage scharfe Trennlinien gehen, weil es auch dort tiefe und schier unüberbrückbare Unterschiede in den religiösen und philosophischen Weltanschauungen gibt. - Vielleicht werden die größten Turbulenzen von der unterschiedlichen Interpretation dessen ausgehen, was einen Beruf ausmacht, insbesondere welcher Art persönlicher Verpflichtung die Medizin verlangt’[32:14f]. Ein ausführliches Workshop über diese nunmehr fast 20 Jahre alte Prognose von Pellegrino könnte sehr viel an Reflexion und Prognostik beitragen zum heutigen Stand und zu künftigen Aufgaben von Bioethik, Medizinethik, Klinischer Ethik, Public Health Ethik und nicht zuletzt zu der bei Edmund Pellegrino nicht vorkommende Bioethik im umfassenderen Sinne von Fritz Jahr. WORTSPIELE, NORMATIVE KONZEPTE UND PRAKTISCHES HANDELN Das bringt uns abschließend zurück zu der Frage, warum Modifikationen und Verschiebungen in Inhalt und Methode der klassischen Arztethik und Medizinethik sowohl in den USA wie auch danach weltweit unter dem Begriff Bioethik stattfanden und stattfinden. Seidler [38], und in seinem Gefolge Düwell und Steigleder [5], fanden den Begriff Bioethik zu schwammig und nicht für die deutsche Tradition und Diskussion geeignet. Die Zahl von Zentren, die sich bioethisch nennen, ist in der Bundesrepublik im Gegensatz zum Ausland weltweit eher gering, auch wenn sich die Missverständnisse ungebildeter ‚alternativer’ Don Quichotte’s und ideologischer ‚Weltverbesserer’ weitgehend gelegt haben. Ich habe seit 1992 den Begriff Differentialethik in Anlehnung an Methode und Ethos der Differentialdiagnose benutzt, um die Interaktion von normativen Werten mit konkreten Realitäten differenzierend ausmessen und technische wie ethische, kulturelle und andere normative Variablen unter dem 25 Primat der Durchsetzung ethischer Verantwortungen praxisorientiert einbeziehen zu können [37; 34]. Der Jahrsche Ansatz, von der Bio-Psychik her komplementär die Bio-Ethik als interdisziplinäre Disziplin und als ‚Gesinnungspraxis’ für Individuen und Gesellschaften zu entwickeln und zu praktizieren, kommt diesem Modell nahe und man wird mit Pellegrino festhalten müssen, dass im Respekt vor der Würde anderer individueller religiöser oder ethischer oder kultureller Überzeugungen und Prioritätssetzungen innerhalb der Grenzen, die vom Menschenrecht auf Würde und Selbstverantwortung bestimmt werden, unterschiedliche Entscheidungen möglich sind und toleriert werden müssen [34:9 u. öfter]. Ähnlich wie der Begriff Differentialethik betont der Begriff Bioethik im umfassenden Sinne von Fritz Jahr, also unter Einschluss nicht nur von nichtmenschlichen Lebewesen, sondern auch von lebenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen als Corporate Persons, eine sachnahe normative Analyse von und Interaktion in komplexen Verantwortungszusammenhängen des modernen Lebens. Der salvadorischen Klausel, mit der Reich den Begriff Bioethik als Oberbegriff auch für die Bereiche der biomedizinischen Ethik retten will, scheint eine ähnliche Überlegung zugrunde zu liegen. Düwell und Steigleder, die Angewandte Ethik als eine Oberbegriff für praktisch Ethik favorisieren, monieren die begriffliche Unklarheit des Begriffs Bioethik: ‚Häufig wird der Begriff ‚Bioethik’ inzwischen als Oberbegriff für die Medizin-, Tier- und Umweltethik verwendet. Unter ‚Bioethik’ werden dann alle ethischen Fragen subsumiert, die mit ‚dem Lebendigen’ zu tun haben, im Unterschied etwa zur Wirtschaftsethik, politischen Ethik oder Medienethik. Es lässt sich allerdings nicht übersehen, dass der begriff dadurch unscharf wird und die Einordnungen innerhalb der Angewandten Ethik nicht recht klar ist. Bioethik im Sinne von Ethik im Umgang dem Lebendigen trifft etwa nur einen teil der Medizinethik. So hat beispielsweise die Frage nach dem Arzt-Patienten-Verhältnis oder die Prioritätensetzung im Gesundheitssystem mit dem ‚Lebendigen’ kaum mehr zu tun als Fragen der Friedenssicherung in der Politischen Ethik’ [5:24]. Der Begriff Bioethik scheint mir aber dem der Angewandten Ethik deshalb überlegen zu sein, weil er nicht so sehr den Unterschied zwischen theoretischer Analyse und auf die Theorie folgender Anwendung betont – vermutlich ein nicht sehr geeignetes Modell des Verhältnisses von Überlegung, Gesinnung, Entwerfen, Verantworten und Handeln – sondern die Grenzen und Möglichkeiten der Beeinflussbarkeit von Lebendem und der Verantwortung jedem Leben gegenüber. Das Modell der vorlaufenden theoretischen Reflexion und der nachfolgenden praktischen Anwendung ist zu schlicht und zu einfach für die komplexen Herausforderungen des Umgangs mit Verantwortungen, Gesinnungen, Prozessen und 26 Kulturen. Schon Hegel hatte das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis, allerdings in einem transzendentalphilosophischen sprachlichen Umfeld, differenzierter gesehen. Wir haben seitdem vieles aus der modernen Umwelt- und Biotopforschung und aus den kulturellen Sozialwissenschaften über die Verhältnisbeziehungen unter Menschen und von Menschen mit ihren natürlichen und kultivierten Umwelten gelernt, um schlichte EntwurfAnwendung Modelle vermeidbar zu machen. Sinnvoller wäre die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Ethik, also zwischen Ethik in der Theorie und Ethik in der Praxis. Erstere würde die verschiedenen methodischen und philosophischen Ansätze von Wert- und Risikotheorien enthalten, letztere sowohl die Bilanzierungen und Interaktionen zwischen ethischen, technischen und anderen Normen, wie auch faktische Tugendhaltungen, private und professionelle Tugendpraxis und Unterrichtungen in ethischem Verhalten. Ethisch abwägen und ethisch handeln kann nach der übereinstimmenden Meinung von Kant und Jahr nur der Mensch. Aber alles Leben, auch das nichtmenschliche natürliche und das vom Menschen verantwortete, hat nach Jahr eine Würde, die Respekt und die Achtung vor dem Eigenleben und dem Selbstzweck verlangt. Jedes Leben hat auch sein Eigenleben, bei Menschen, Tieren, Pflanzen und korporativen Personen oft unerwünschte und ärgerliche Egoismen und Verhärtungen [vgl. 34: Kap. III.2]. Jedes Leben bedarf auch der Hege und Pflege, des Respekts vor der Würde und dem Recht auf Eigenleben, auf Selbstsein, auf ‚artgerechtes’ Leben und Entwickeln. Wer mit Leben umgeht, stößt auch auf die ‚artgerechte’ Grenze des jeweiligen Lebenden, die begrenzte Lebenslänge, die begrenzte Veränderbarkeit, die begrenzte Anpassungsfähigkeit. Ich hatte versucht mit dem Begriff der Differentialethik die jeweilige szenarienspezifische Differenzierung der grundsätzlichen normativen ethischen Forderung in Bezug auf Durchsetzbarkeit, dem Verständnis und dem Respekt vor dem Eigenleben von Prozessen, Individuen und Handlungspartners deutlich zu machen. Der Begriff der Bioethik legt dagegen mehr als der Begriff der Differentialethik das Gewicht auf die Verantwortungen in der Interaktion mit Lebendem in allen seinen Formen und Schattierungen. Bioethik als Oberbegriff von wertwissenschaftlichen Analysen und Beurteilungen wissenschaftlicher und technischer Herausforderungen, als individuelle und professionelle Tugend und Charakterhaltung und als gesellschaftliche Zielsetzung und Verpflichtung kann nach dem Vorschlag von Reich insbesondere auch deshalb genutzt werden, um die von Jahr mehrfach unterstrichene Verschränktheit von individueller, sozialer und wirtschaftlicher Ethik unter uns Menschen mit unserem Respekt und unserer Verantwortung für die Welt des Bios deutlich zu machen. Im Modell von Jahr sind gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale und 27 politische Beziehungen im ordnungsethischen Sinne vergleichbar zu sehen wie die Beziehungen des Menschen zu Tier, Pflanze und zum Kosmos als ebenfalls belebten Wesen mit Eigenleben, Eigenentwicklungen und Interaktionen mit uns und untereinander. Nehmen wir Bioethik als einen Oberbegriff für menschliche Verantwortungen dem menschlichen und nichtmenschlichen Leben gegenüber, so kann diese Verantwortung als kategorisch formuliert werden, insofern sie sich nicht von einer Reziprozität durch andere Menschen abhängig macht, sondern allein von der Würde des eigenen Gewissens, des Mitgefühls und der Verantwortung für sich und anderes Leben. Von nichtmenschlichem Leben kann eine Reziprozität ethischer Verhaltensweisen nach der Argumentation von Kant, der sich ja auch Jahr anschließt, schlechterdings nicht erwartet werden. – Unterhalb dieses Oberbegriffs von Bioethik würden wir dem Vorschlag von Warren Reich folgend Medizinethik, Forschungsethik, Klinische Ethik, Ethik des Gesundheitswesen und nachgeordnet spezielle situative Ethikszenarien wie den Schwangerschaftsabbruch, die Euthanasie, die genetische Manipulation bei Mensch, Tier und Pflanze, usw. ansiedeln. Sondergebiete wären die intergenerationelle Gerechtigkeit und die nicht auf einzelne Tiere und Pflanzen, sondern auf natürliche oder durch Kultur oder Unkultur gestaltete Umwelten und Biotope gerichtete Ethik diesen Formen gemeinsamen Lebens und Miteinander- und Voneinanderlebens gegenüber. Jahr, von der Leidensfähigkeit der individuellen Pflanze und des individuellen Tieres ausgehend, hat die ökologische Verbundenheit alles Lebenden als Zusammenleben und Umleben in belebten Um- und Mitwelten unter Einschluss auch von physikalischen und klimatischen Umwelten als multifunktionaler Ökolebewesen noch nicht so gesehen wie unsere heutigen Wissenschaften vom Leben. Ganz zweifellos gehört auch eine erst jetzt im Zusammenhang mit Umweltsünden und natürlicher Erderwärmung ins Blickfeld rückende Geo-Ethik dazu, die Verantwortung unserer Mutter Gea gegenüber und die Akzeptanz, dass auch sie ein Eigenleben hat, teils messbar in Jahrmillionen, teils erfahrbar in den Jahreszeiten und ihrer relativen Berechenbarkeit/Unberechenbarkeit und längeren oder kürzeren von uns zu akzeptierenden und kulturell zu beantwortenden und zu gestaltenden klimatischen Schwankungen, ein Eigenleben in Entwicklung und Veränderung, das im Großen-Ganzen kaum von uns Menschen beeinflussbar ist, das uns an ihre Würde erinnert und von uns Respekt abverlangt, in Bezug auf das wir nicht von uns aus noch mit von uns verantwortbaren Schwierigkeiten und Belastungen beitragen sollen und dürfen, - auch eine Anwendung des bioethischen Imperativs durchaus im Jahrschen Sinne. In Anschluss an Kant und Jahr lässt sich daher wie folgt ein geoethischer Imperativ formulieren: Achte die Mutter Erde und alles 28 natürliche und von Menschen verantwortete Leben auch als Selbstzweck und behandele es nach Möglichkeit als solchen. In den Respekt vor den vielen reichen Formen des Lebendigen gehören auch die Um- und Mitwelten zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und physikalischer Natur sowie von Menschen geschaffenen organisierten und korporativen Lebensformen unter Einschluss von Netzwerken für Gesundheits-, Sozial-, Beschäftigungs-, Ausbildungs-, Informations- und Forschungsorganisation. Wie immer die künftige Entwicklung von Bioethik, Differentialethik und anderen Formen von Angewandter Ethik auch im globalen Dialog der alten Kulturen und Traditionen mit den neuen und neuesten Techniken und Erkenntnissen sein wird, die Prognose von Pellegrino aus dem Jahre 1987 dürfte weiterhin gelten: ‚Man kann risikolos voraussagen, dass die sich in jedem einzelnen Land auf der ganzen Welt vollziehenden Veränderungen in der Bioethik von den Historikern dereinst als Schlüsselereignisse der Medizin- und Menschheitsgeschichte gewertet werden’ [32:17]. Fritz Jahr aus Halle an der Saale nimmt mit einer Unterbrechung und Verzögerung von 80 Jahren an diesem künftigen Dialog teil. 29 LITERATUR 1. Anderweit, Sabine; Ilkilic, Ilhan; Meier-Almendinger, Diana; Sass, Hans-Martin; Tai, Michael Cheng-tek; Zhai, Xiaomei. 2006. Checklisten in der klinisch-ethischen Konsultation. Bochum: ZME, Heft Nr. 168 2. Beauchamp Tom L., Childress James F. 2001 Principles of Biomedical Ethics. 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Heft 122: Schmitz, Dagmar; Bauer, Axel W.: Evolutionäre Ethik und ihre Rolle bei der Begründung einer zukünftigen Medizin- und Bioethik. März 2000. Heft 123: Hartmann, Fritz: Chronisch Kranksein als Grenzlage für Kranke und ihre Ärzte. März 2000. Heft 124: Baberg, Henning T.; Kielstein, Rita; Sass, Hans-Martin (Hg.): Der Behandlungsverzicht im Blick des Bochumer Inventars zur medizinischen Ethik (BIME). April 2000. Heft 125: Spittler, Johann F.: Locked-in-Syndrom und Bewusstsein – in dubio pro vita. August 2000. Heft 126: Ilkiliç, Ilhan: Das muslimische Glaubensverständnis von Tod, Gericht, Gottesgnaden und deren Bedeutung für die Medizinethik. September 2000. Heft 127: Maio, Giovanni: Ethik und die Theorie des "minimalen Risikos" in der medizinischen Forschung. September 2000. Heft 128: Zenz, Michael; Illhardt, Franz Josef: Ethik in der Schmerztherapie. November 2000. Heft 129: Godel-Ehrhardt, Petra; May, Arnd T.: Kommunikation und Qualitätssicherung im Betreuungsrecht – Ergebnisse einer Befragung zur Mailingliste [email protected]. März 2001. Heft 130: Dabrock, Peter; Klinnert, Lars: Würde für verwaiste Embryonen? Ein Beitrag zur ethischen Debatte um embryonale Stammzellen. Juli 2001. Heft 131: Meyer, Frank P.: Ethik der Verantwortung. Verkommt »Evidence Based Medicine« zu »Money Based Medicine«? März 2002. Heft 132: Sass, Hans-Martin: Menschliche Ethik im Streit der Kulturen. März 2002. Heft 133: Knoepffler, Nikolaus: Menschenwürde als Konsensprinzip für bioethische Konfliktfälle in einer pluralistischen Gesellschaft. März 2002. Heft 134: Quante, Michael: Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und Menschenwürde. März 2002Heft 135: Köchy, Kristian: Philosophische Grundlagenreflexion in der Bioethik. März 2002. Heft 136: Hengelbrock, Jürgen: Ideengeschichtliche Anmerkungen zu einer Ethik des Sterbens. Juli 2002. Heft 137: Schröder, Peter: Vom Sprechzimmer ins Internetcafé: Medizinische Informationen und ärztliche Beratung im 21. Jahrhundert. Juli 2002. Heft 138: Zühlsdorf, Michael T.; Kuhlmann, Jochen: Klinische und ethische Aspekte der Pharmakogenetik. August 2002. Heft 139: Frey, Christofer; Dabrock, Peter: Tun und Unterlassen beim klinischen Entscheidungskonfliktfall. Perspektiven einer (nicht nur) theologischen Identitätsethik. August 2002. Heft 140: Meyer, Frank P.: Placeboanwendung – die ethischen Perspektiven. März 2003. Heft 141: Putz, Wolfgang; Geißendörfer, Sylke; May, Arnd: Therapieentscheidung am Lebensende - Ein "Fall" für das Vormundschaftsgericht? 2. Auflage August 2003. Heft 142: Neumann, Herbert A.; Hellwig, Andreas: Ethische und praktische Überlegungen zur Einführung der Diagnosis Related Groups für die Finanzierung der Krankenhäuser. Januar 2003. Heft 143: Hartmann, Fritz: Der Beitrag erfahrungsgesicherter Therapie (EBM) zu einer ärztlichen Indikationen-Lehre. August 2003. Heft 144: Strätling, Meinolfus; Sedemund-Adib, Beate; Bax, Sönke; Scharf, Volker Edwin; Fieber, Ulrich; Schmucker, Peter: Entscheidungen am Lebensende in Deutschland. Zivilrechtliche Rahmenbedingungen, disziplinübergreifende Operationalisierung und transparente Umsetzung. August 2003. Heft 145: Hartmann, Fritz: Kranke als Gehilfen ihrer Ärzte. 2. Auflage Dezember 2003. Heft 146: Sass, Hans-Martin: Angewandte Ethik in der Pharmaforschung. Januar 2004. Heft 147: Joung, Phillan: Ethische Probleme der selektiven Abtreibung: Die Diskussion in Südkorea. Januar 2004. Heft 148: May, Arnd T; Brandenburg, Birgitta: Einstellungen medizinischer Laien zu Behandlungsverfügungen. Januar 2004. Heft 149: Hartmann, Fritz: Sterbens-Kunde als ärztliche Menschen-Kunde. Was heißt: In Würde sterben und Sterben-Lassen? Januar 2004. Heft 150: Reiter-Theil, Stella: Ethische Probleme der Beihilfe zum Suizid. Die Situation in der Schweiz im Lichte internationaler Perspektiven. Februar 2004. Heft 151: Sass, Hans-Martin: Ambiguities in Biopolitics of Stem Cell Resarch for Therapy. März 2004. Heft 152: Ilkilic, Ilhan: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in islamischen Traditionen. 3. Auflage März 2005. Heft 153: Omonzejele, Peter F.: African Concepts of Health, Disease and Treatment [A Future for Traditional Medicines and Spiritual Healings? A Postscript on Peter F Omonzeleje by Hans-Martin Sass]. April 2004. Heft 154: Lohmann, Ulrich: Die neuere standesethische und medizinrechtliche Entwicklung in Deutschland – Wandel des Menschenbildes? Mai 2004. Heft 155: Friebel, Henning; Krause, Dieter; Lohmann, Georg und Meyer, Frank P.: Verantwortungsethik. Interessenkonflikte um das Medikament - Wo steht das Medikament? Juni 2004. Heft 156: Kreß, Hartmut: Sterbehilfe - Geltung und Reichweite des Selbstbestimmungsrechts in ethischer und rechtspolitischer Sicht.1. Auflage September 2004, 3. Auflage März 2005. Heft 157: Fröhlich, Günter und Rogler, Gerhard: Das Regensburger Modell zur Ausbildung in klinischer Ethik. Dezember 2004. Heft 158: Ilkilic, Ilhan; Ince, Irfan und Pourgholam-Ernst, Azra: E-Health in muslimischen Kulturen. Dezember 2004. Heft 159: Lenk, Christian; Jakovljevic, Anna-Karina: Ethik und optimierende Eingriffe am Menschen. 2.Auflage Februar 2005. Heft 160: Ilkilic, Ilhan: Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Eine Handreichung für die Gesundheitsberufe. 1. Auflage Juli 2003 (Tübingen), 5. Auflage April 2005. Heft 161: Hartmann, Fritz: Vom Diktat der Menschenverachtung 1946 zur "Medizin ohne Menschlichkeit" 1960; Zur frühen Wirkungsgeschichte des Nürnberger Ärzteprozesses. 1. Auflage Februar 2005, 2. Auflage März 2005. Heft 162: Strätling, Meinolfus u.a.: Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung in Deutschland. Juni 2005. Heft 163: Sass, Hans- Martin: Abwägungsprinzipien zum Cloning menschlicher Zellen. Januar 2006. Heft 164: Vollmann, Jochen: Klinische Ethikkomitees und klinische Ethikberatung im Krankenhaus. Ein Praxisleitfaden über Strukturen, Aufgaben, Modellen und Implementierungsschritte. Januar 2006. Heft 165: Sass, Hans- Martin: Medizinische Ethik bei Notstand, Krieg und Terror. Verantwortungskulturen bei Triage, Endemien und Terror. Februar 2006. Heft 166: Sass, Hans-Martin: Gesundheitskulturen im Internet. E-Health-Möglichkeiten, Leistungen und Risiken. 1. Auflage Februar 2006, 2. Auflage März 2006. Heft 167: May, Arnd T.; Kohnen, Tanja: Körpermodifikation durch Piercing: Normalität, Subkultur oder Modetrend? Mai 2006 Heft 168: Anderweit, Sabine; Ilkilic, Ilhan; Meier-Allmendinger, Diana; Sass, Hans-Martin; Cheng-tek Tai, Michael: Checklisten in der klinisch-ethischen Konsultation. Mai 2006 Heft 169: Kielstein, Rita; Kutzer, Klaus; May, Arnd; Sass, Hans-Martin: Die Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis. April 2006 Heft 170: Brenscheidt, Juliane; May, Arnd T.; May, Burkard; Kohnen, Tanja; Roovers, Anna; Sass, Hans-Martin: Zentrum für Medizinische Ethik Bochum 1986 – 2006. Heft 171: Dabrock, Peter; Schröder, Peter: Public Health Gen-Ethik. 1. Auflage August 2006. Heft 172: Berg, Michael: Lebensbeendende Behandlungsbegrenzung bei Wachkomapatienten – „passiver Suizid“ im Spannungsfeld von pflegerischem Berufsethos und Selbstbestimmungsrecht des Patienten am Beispiel des „Kiefersfeldener-Falles“ 1. Auflage Oktober 2006 Heft 173: Hofheinz, Marco: Apokalyptik im biomedizinethischen Diskurs. Eine theologische Analyse der aktuellen Debatte. Mai 2007 Heft 174: Sass, Hans-Martin: Lassen sich Reziprozitätsmodelle bei der Gewebe und Organtransplantation ethisch begründen und praktisch realisieren? Juli 2007. Heft 175: Hans-Martin Sass: Fritz Jahrs bioethischer Imperativ. 80 Jahre Bioethik in Deutschland von 1927 bis 2007. Juli 2007. 2. Auflage August 2007. Heft 176: Lohmann, Ulrich: Informed Consent und Ersatzmöglichkeiten bei Einwilligungsunfähigkeit in Deutschland – Ein Überblick. August 2007. Heft 177: Neitzke, Gerald: Ethische Konflikte im Klinikalltag – Ergebnisse einer empirischen Studie. August 2007. Bestellschein An das Zentrum für Medizinische Ethik Ruhr-Universität Bochum Gebäude GA 3/53 44780 Bochum Tel: (0234) 32 22749 FAX: (0234) 3214 598 Email: [email protected] Homepage: http://www.medizinethik-bochum.de Bankverbindung: Konto Nr. 133 189 035, BLZ 430 500 01 Sparkasse Bochum Name oder Institut: Adresse: ( ) Hiermit abonniere(n) wir/ich die Reihe MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN zum Sonderpreis von € 4,00 pro Stück ab Heft Nr.____. Dieser Preis schließt die Portokosten mit ein. ( ) Hiermit bestelle(n) wir/ich die folgenden Einzelhefte der Reihe MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN zum Preis von € 6,00 (bei Abnahme von 10 und mehr Exemplaren € 4,00 pro Stück). Hefte Nummer: _____________________________________________ ZUSAMMENFASSUNG Begriff und Konzept der Bioethik als einer akademischen Disziplin und als Tugendhaltung wurden 1927 von Fritz Jahr, einem protestantischen Theologen in Halle an der Saale, in einem Leitartikel in der Zeitschrift ‚Kosmos’ vorgestellt. In Anlehnung an Kant formuliert Jahr als bioethischen Imperativ ‚Achte jedes Lebewesen grundsätzlich als einen Selbstzweck, und behandle es nach Möglichkeit als solchen!’. Er erweitert damit den kantischen Ansatz in Reaktion auf physiologische Studien von Wilhelm Wundt und anderen und nach eigenen sozialethischen Überlegungen zu einem breiten Begriff von Bioethik. Der engere Begriff von Bioethik als Ablösung klassischer Arztethik durch partnerschaftliche Ethik in den Heilberufen wurde seit 1970 in den USA entwickelt und hat sich sehr schnell global ausgebreitet. Hans-Martin Sass skizziert das bioethische Modell von Jahr und zeichnet den verschlungenen Weg der Bioethik in Deutschland für die letzten 80 Jahre nach. Er regt an, angesichts neuerer wissenschaftlicher ökologischer Erkenntnisse den bioethischen Imperativ zu einem geoethischen auszuweiten und plädiert für terminologische Klarheit bei der Benutzung der Begriffe Bioethik, Medizinethik, Differentialethik, Angewandter Ethik und Ethik in der Praxis. Der Leitartikel von Fritz Jahr von 1927 ist im Anhang abgedruckt. ABSTRACT The term and concept of Bioethics as an academic discipline and as a human virtue and character trait was first developed by Fritz Jahr, a Protestant theologian in Halle an der Saale, in an Editorial in the widely read science journal ‘Kosmos’. Jahr presents, in reference to Kant, a Bioethical Imperative ‘Respect every living being on principle as an end in itself and treat it, if possible, as such !’ In the light of physiological and neurological research by Wilhelm Wundt and others and based on his own observations in social ethics, Jahr extends the Kantian Imperative towards a broadly based concept of Bioethics. A more narrowly focused model of Bioethics, replacing classical paternalistic physician’s ethics by new partnership ethics in the healing professions, was developed in the USA by Potter, Hellegers and others 1970 and has since successfully influenced biomedical ethics around the globe. Hans-Martin Sass reviews Jahr’s original concept of bioethics and subsequent German debates in bioethics and medical ethics during the last 80 years. He suggests, in light of modern scientific ecological knowledge of living environments, to extend the Bioethical Imperative towards a Geoethical Imperative and calls for clarity in the terminology of Bioethics, Medical Ethics, Differential Ethics, Applied Ethics and Practical Ethics. Fritz Jahr’s 1927 editorial ‘Bio-Ethik’ is reprinted as an appendix. ISBN: 978-3-931993-56-6