SS-Führern besetzt wurde. Bei der Gründung des Lagers wurde Hans Hüttig am 31. März 1941 zum Lagerkommandanten ernannt. Als er im Januar 1942 nach Norwegen versetzt wurde, trat Egon Zill am 24. April 1942 seine Nachfolge an. Zill blieb nur kurze Zeit in Natzweiler und wurde Anfang Oktober 1942 in das KZ Flossenbürg in der Oberpfalz versetzt. An seine Stelle trat Josef Kramer, der bereits im April 1941 nach Natzweiler gekommen war und offiziell am 4. Oktober 1942 den Posten des Lagerkommandanten übernahm. Von allen fünf Kommandanten blieb er die längste Zeit in Natzweiler. Erst im Mai 1944 wurde Kramer zum Lagerkommandant von AuschwitzBirkenau bestimmt. Dort war er maßgeblich an der Ermordung von etwa 350.000 ungarischen Juden beteiligt. Kramers Nachfolger wurde Fritz Hartjenstein. Er begann am 12. Mai 1944 seinen Dienst in Natzweiler. Am 23. Januar 1945 wurde er aus disziplinarischen Gründen zu kämpfenden Einheiten der SS versetzt. An seine Stelle trat Heinrich Schwarz, der letzte Kommandant des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof. GESCHICHTE 20 Angesichts des Vormarsches der alliierten Truppen beschloss die SS im September 1944 die Auflösung des Hauptlagers. In drei Etappen wurden ab dem 2. September insgesamt 5.517 Häftlinge mit Zügen in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Mehr als ein Drittel von ihnen waren Kranke. Am 22. November verließen die letzten 20 SS-Männer und 16 Häftlinge das Hauptlager, das am folgenden Tag von Soldaten der 6. US-Armee erreicht wurde. Während das Hauptlager fortan nicht mehr existiert, bestanden zahlreiche Außenlager weiter – neue Außenlager wurden sogar gegründet. Mehr als 18.000 Häftlinge mussten dort unter unmenschlichen Bedingungen bis zum Kriegsende Zwangsarbeit leisten. Vom Gasthof „Zum Karpfen“ im badischen Guttenbach aus wurde die Organisation dieses Lagerkomplexes geleitet. Dorthin hatte der Kommandant Mitte November 1944 die Lagerverwaltung verlegt. Ab Januar 1945 besaß die Kommandantur schließlich keinen festen Sitz mehr. Trotzdem zeichnete sie verantwortlich für den Tod von Tausenden von Häftlingen, die angesichts der schnell vorrückenden Alliierten aus den Außenlagern auf so genannten Todesmärschen in Richtung Dachau getrieben wurden. Viele von ihnen starben unterwegs an Entkräftung oder wurden von den SS-Bewachern erschossen. Sinti und Roma im KZ Natzweiler-Struthof30 30 Die nachfolgend genannten Zahlenangaben beruhen, sofern nicht anders angegeben, auf einer Namensliste der Sinti- und RomaHäftlinge, die der Historiker Robert Steegmann für diese Publikation zur Verfügung stellte. Mindestens 501 Sinti und Roma wurden in das Konzentrationslager Natzweiler und seine Außenlager deportiert. Diese Zahl ließ sich anhand erhaltener Nummernbücher und Dokumente der Lagerverwaltung ermitteln. Berücksichtigt werden konnten dabei jedoch nur die Häftlinge, die von der SS in die Kategorie „Zigeuner“ eingruppiert wurden. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde eine unbekannte Anzahl weiterer Sinti und Roma anderen Häftlingskategorien zugeordnet. Ihre Namen konnten nicht mehr ermittelt werden. Auch über die individuellen Erfahrungen der Sinti und Roma im KZ Natzweiler lassen sich nur vereinzelte Aussagen treffen. Nach dem Kriegsende wurde den Überlebenden nicht nur bis in die 1980er Jahre hinein die politische und juristische Anerkennung des von den Nationalsozialisten rassisch begründeten Völkermords verwehrt. Auch eine wissenschaftliche Aufarbeitung der historischen Zusammenhänge und eine Dokumentation der individuellen Verfolgungsschicksale blieben aus. Die entstandenen Forschungsdefizite zur Situation der Sinti und Roma im KZ Natzweiler konnten trotz intensiver Bemühungen nicht mehr kompensiert werden. Fast alle Augenzeugen sind inzwischen verstorben, und nur wenige haben schriftliche Zeugnisse hinterlassen. Hingegen überliefert sind Informationen und Aussagen zum Ablauf der pseudowissenschaftlichen Experimente an Sinti und Roma. Dies ist allerdings weniger den Historikern als vornehmlich der deutschen Justiz zu verdanken, die gegen beteiligte Ärzte und Wissenschaftler ermittelte, Materialien sammelte und Zeugenaussagen von Überlebenden festhielt. Die folgenden Angaben stützen sich demnach auf vereinzelte Aussagen, die Nummernbücher des KZ Natzweiler und eine Zusammenstellung von Häftlingsnamen, die dem Dokumentationszentrum freundlicherweise vom französischen Historiker Robert Steegmann zur Verfügung gestellt wurden. GESCHICHTE 21 Die ersten zehn Sinti- und Roma-Häftlinge trafen am 26. Oktober 1941 mit einem Transport von 150 Häftlingen aus dem Konzentrationslager Buchenwald in Natzweiler-Struthof ein. Sie waren die ersten aus rassischen Gründen inhaftierten Insassen im Lager.31 Wie aus der nachfolgenden Übersicht hervor geht, wurden Sinti und Roma im Rahmen von mindestens 17 Transporten eingeliefert. Die Transporte nach der Auflösung des Hauptlagers im November 1944 erfolgten unmittelbar in die Außenlager. Transporte mit Sinti und Roma Ankunft 26.10.1941 14.03.1942 20.08.1942 15.12.1942 12.11.1943 08. bis 14.12.1943 21.03.1944 21.04.1944 27.04.1944 20.05.1944 01.10.1944 09.11.1944 nach dem 24.11.1944 nach dem 19.12.1944 20.01.1945 21. bis 28.01.45 nach dem 22.01.1945 von nach Buchenwald Buchenwald Dachau Buchenwald Auschwitz Auschwitz Dachau Dachau Groß-Rosen Metz-Queuleu Sachsenhausen (?) Stutthof Dachau Buchenwald Dachau Dachau Buchenwald Natzweiler Natzweiler Natzweiler Natzweiler Natzweiler Natzweiler Neckarelz Leonberg Neckargerach Natzweiler Natzweiler Neckarelz Schömberg/Schörzingen/Dautmergen Dautmergen Leonberg Leonberg Dautmergen Anzahl 10 5 1 2 100 89 1 6 2 1 1 1 231 6 13 4 1 Unter den Eingelieferten befanden sich Sinti und Roma mit deutscher, französischer, lettischer, österreichischer, polnischer, rumänischer, russischer, ungarischer und tschechischer Nationalität. Ungarische und deutsche Häftlinge bildeten die beiden größten nationalen Gruppen. 31 Steegmann, Struthof 2005, S. 46. Nachweislich waren Sinti und Roma in den folgenden 15 Außenlagern inhaftiert: Bisingen (2), Cochem (3), Dautmergen (134), Frommern (2), Iffezheim (1), Kochendorf (2), Leonberg32 (27), Neckarelz33 (76), Neckargerach (14), Obernai (2), Schömberg (185), Schörzingen (2), Sainte-Marieaux-Mines (3), Vaihingen/Enz (1), Zell-Harmersbach (2)34. GESCHICHTE 22 Von 501 Sinti- und Roma-Häftlingen starben mindestens 133 an Krankheiten, Entbehrungen oder wurden Opfer der pseudowissenschaftlichen Experimente: 75 starben in den Außenlagern Schömberg/Schörzingen, 40 im Hauptlager Natzweiler, 11 in Dautmergen, 6 in Leonberg und 1 Häftling im Außenlager Vaihingen. Todesfälle unter den Sinti- und Roma-Häftlingen 1941: 1942: 1943: 1944: 1945: Gesamt: 5Namen von Sinti- und RomaHäftlingen im Nummernbuch des Konzentrationslagers. 32 Die im Vergleich zu den ersten beiden Jahren der Lagerexistenz angestiegenen Opferzahlen der Jahre 1943 und 1944 sind vor allem auf die Todesfälle bei pseudowissenschaftlichen Experimenten zurückzuführen. Nachdem Ende 1944/Anfang 1945 der Anteil der Sinti und Roma an der Häftlingsgesellschaft nach der Überstellung von über 200 Sinti und Roma aus dem KZ Dachau in verschiedene Außenlager angestiegen war, führten die unmenschlichen Lebensbedingungen und die rücksichtlose Ausbeutung der Häftlingsarbeitskraft zu einem weiteren Anstieg der Opferzahl im Jahr 1945. Insgesamt starben von 1941 bis 1945 rund 26,5% (mehr als ein Viertel) der eingelieferten Sinti und Roma. Der Anteil der registrierten Opfer (120) an den insgesamt registrierten Toten (7.66135) betrug 1,6%. Ein hoher und überproportionaler Anteil, wenn man berücksichtigt, dass die registrierten Sinti- und Roma-Häftlinge (378) nur 0,8 Prozent der registrierten Gesamthäftlinge (44.599 36) ausmachten. Siehe dazu auch Baur/Wörner, 2001. 33 Siehe dazu auch Fischer/Huth, 2002. 34 Am 15. Juni 1944 wurde ein Kommando von sechs Häftlingen für einige Tage zu Bombenräumarbeiten nach Zell-Harmersbach bei Offenburg geschickt. Vgl. Steegmann, Struthof 2005, S. 251. 35 1 3 29 24 76 133 Steegmann, Struthof 2005, S. 195. 36 Ebenda, S. 142. 37 Siehe dazu auch Klee, 1997, S. 347ff. 38 Czech, 1989, S. 648. Sinti und Roma als Versuchsopfer37 Die Durchführung pseudowissenschaftlicher Experimente im KZ Natzweiler-Struthof erfolgte bewusst an Häftlingen, die nach der NS-Rassenideologie als „rassisch minderwertig“ angesehen wurden: Sinti und Roma, Juden sowie Angehörige slawischer Völker. Die ersten größeren Einlieferungen von Sinti und Roma in das KZ Natzweiler standen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Fleckfieberversuchen des Bakteriologen Prof. Dr. Eugen Haagen. Er hatte im Konzentrationslager Auschwitz 100 Häftlinge als „Versuchskaninchen“ angefordert, um einen neuen Impfstoff zu testen. Vermutlich am 9. November 1943 verließ der Transport Auschwitz.38 Die Jugendlichen und Männer mit deutscher, polnischer, tschechischer und ungarischer Nationalität waren im Alter zwischen 11 und 64 Jahren und befanden sich in einem derart schlechten gesundheitlichen Zustand, dass bereits 18 von ihnen während des Transports starben. Der ehemalige Häftling Udo Dietmar erinnert sich: GESCHICHTE 23 „Ich war an diesem Tage gerade in der Nähe des Lagertores beschäftigt und hörte das Brummen der bergauf fahrenden Transportautos. Bald sah man schon die Umrisse der Wagen aus dem Nebel hervortauchen. Sie fuhren vor das Tor, es wurde geöffnet, und sie rollten ins Lager hinein, um unten in der Nähe des Krematoriums zu halten. Das war etwas ganz Außergewöhnliches, denn üblicherweise hielten die Wagen stets vor dem Lagertor, worauf die Neuankömmlinge ausstiegen, sich aufstellten und ins Lager hineinmarschierten. [...] Drei Autos voller Häftlinge in Zebrakleidung, Zigeuner. Einige lagen oder saßen auf dem Boden, hohlwangig, fiebernd und vor Schwäche nicht mehr in der Lage, sich zu erheben, die anderen waren vor Hunger so schlapp, dass sie kaum noch kriechen konnten. Zwischen ihnen lagen einige Tote, die auf der Fahrt vom Bahnhof bis zum Lager hinauf gestorben waren. Das Bild im zweiten Wagen war das gleiche. Das dritte Auto war halb gefüllt mit Toten, die aufeinander geschichtet dalagen. Ein Beweis dafür, dass sie schon am Bahnhof tot ins Auto gepackt wurden.“39 Die noch lebenden 82 Häftlinge wurden am 12. November 1943 offiziell in Natzweiler registriert. Auch aus dem monatlichen Bericht des Lagerarztes Dr. Krieger geht der schlechte gesundheitliche Zustand der Gefangenen hervor.40 Nach einer Untersuchung wurden die Männer von Prof. Haagen als „Versuchskaninchen“ abgelehnt. Während von den Opfern keine Berichte und Aussagen überliefert sind, blieben einige Dokumente der Täter und Wissenschaftler erhalten. So auch ein Schreiben des Prof. Haagen vom 15.11.1943, in dem er sich über den schlechten gesundheitlichen Zustand „des Materials“ beschwerte und neue Häftlinge für seine Versuche anforderte: „Am 13.11.43 wurden die mir vom SS-Hauptamt zur Verfügung gestellten Häftlinge einer Besichtigung auf ihre Eignung für die geplanten Fleckfieberschutzimpfungen unterworfen. Von den 100 Häftlingen, welche in ihrem früheren Lager ausgewählt worden sind, sind auf dem Transport bereits 18 verstorben. Nur 12 Häftlinge befinden sich in einem Zustand, der sie für die Versuche geeignet erscheinen lässt. [...] Die übrigen Häftlinge scheiden infolge ihres Allgemeinzustandes überhaupt für den vorgesehenen Zweck aus. [...] Mit dem vorliegenden Häftlingsmaterial können daher brauchbare Ergebnisse nicht erwartet werden. [...] Es wird daher gebeten, mir 100 Häftlinge im Alter zwischen 20 und 40 Jahren zu schicken, die gesund und körperlich so beschaffen sind, dass sie vergleichbares Material liefern.“41 Nachdem zehn weitere Häftlinge in Natzweiler gestorben waren, wurden die noch lebenden 72 Männer vor Weihnachten 1943 im Austausch gegen gesunde Häftlinge wieder nach Auschwitz zurück geschickt.42 39 Dietmar, 1946, S. 53. 40 Steegmann, Struthof 2005, S. 54. 41 Schreiben von Prof. Haagen an Prof. Hirt vom 15.11.1943 in: Mitscherlich, 1985, S. 123. 42 Das genaue Transportdatum ist nicht mehr eindeutig zu bestimmen, da der Transport in Auschwitz am 20.12.1943 als Zugang verzeichnet wurde, im Nummernbuch des KZ Natzweiler jedoch erst am 24.12.1943 als Abgang dokumentiert ist. Alterszusammensetzung der Transporte von Auschwitz nach Natzweiler im November und Dezember 1943 24 GESCHICHTE November Alter < 20 < 30 < 40 < 50 < 60 < 70 Anzahl 43 26 16 6 6 3 Dezember Tote 5 4 9 3 5 2 Anzahl 9 61 19 - Auf seinen Protest hin erhielt Haagen neue Versuchsopfer. Am 4. Dezember 1943 wurde eine Anzahl von Sinti und Roma von Auschwitz-Birkenau in das Stammlager Auschwitz verlegt. Dort stellte die SS einen Transport mit 89 Männern, die teilweise erst kurz zuvor aus der Wehrmacht entlassen und nach Auschwitz gebracht worden waren, zusammen. Das genaue Transportdatum nach Natzweiler lässt sich aufgrund unterschiedlicher Aussagen nicht mehr ermitteln. Nach einer, auch in mehreren Häftlingsberichten geschilderten, unmenschlich langen Zugfahrt von etwa einer Woche wurden die Männer vermutlich am 10. und 11. Dezember in Natzweiler registriert.43 Die Altersstruktur der Männer war im Vergleich zum ersten Transport stark verändert: die meisten der Sinti und Roma waren zwischen 20 und 29 Jahre alt. Der Sinto Karl Kreutz befand sich in diesem Transport und beschrieb den Beginn der Fleckfieberversuche Ende Januar/Anfang Februar 1944 in einem Bericht:44 43 Eine handschriftliche Notiz im Nummernbuch 2 des KL Natzweiler deutet auf dieses Datum hin (Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg, Sign. B 162/1026). 44 Bericht von Karl Kreutz vom 22. April 1964 (Archiv Gedenkstätte Buchenwald, Sign. 31/21). „Streng waren wir von allen anderen Lagerinsassen isoliert. Unsere Verpflegung bestand 6 Wochen lang aus Kohlrüben und Kleinstbrotrationen. In der 7. Woche bekamen wir alle eine Spritze in die linke Brustseite, 4 Tage später eine in die rechte Brustseite. Diese Spritzen erhielten wir im Sanitätsraum. Schon einige Stunden nach der Einspritzung stellten wir eine starke Schwellung an der Einstichstelle fest. Nach weiteren 10 Tagen wurde uns aus dem linken Arm Blut entnommen. Infolge unserer völligen Entkräftung konnte das Blut nur mit größter Anstrengung entnommen werden. Nach der Blutentnahme verstrichen einige Tage, ohne dass an uns eine weitere Behandlung vorgenommen wurde. Wir vergingen alle in großer Angst. Eines Tages, es mag 10.00 Uhr gewesen sein, mussten wir alle in ein Arztzimmer kommen. Wir wurden von 2 Männern in weißen Arztkitteln zwar scheinheilig freundlich, aber mit eiskalten Augen in Empfang genommen. Die Namen dieser so genannten Ärzte konnte ich nie erfahren. Ohne Worte wurde mein linker Oberarm festgehalten und gitterähnlich aufgeritzt, bis er stark blutete. Diese Prozedur war sehr, sehr schmerzhaft. Auf die starke Blutung wurde bei mir fast ein Teelöffel voll Typhus-Gift geschüttet und verrieben. Dabei wurde der linke Oberarm so lange hochgehalten, bis sich das Gift mit meinem Blut vermischt hatte. Dadurch war für mich und die anderen eine Auswaschung des Giftes unmöglich gemacht worden. Nach diesem satanischen Werk bei allen 40 Kameraden wussten wir endgültig, dass wir diesen Henkern als Versuchskaninchen dienten. Schon nach sehr kurzer Zeit lagen wir alle in äußerst hohem Fieber. Es muss mindestens 39–40 Grad bei jedem gewesen sein – es wurde uns nicht gemessen. Das Fieber hielt sehr lange an. Später erfuhren wir, dass dieses Fieber mehr als 10 Tage ununterbrochen angehalten hatte. Leb- und kraftlos fielen wir aus den Betten [...]. Keiner kümmerte sich um uns.“ GESCHICHTE 25 Auch der norwegische Häftlingsarzt Leift Poulson erinnerte sich an die Durchführung der Fleckfieberversuche Anfang 1944: „Sie [die Sinti und Roma] wurden in zwei Gruppen von 40 Personen eingeteilt. Die erste wurde von Professor Haagen und seinen Assistenten geimpft. Nach einer gewissen Zeit übertrug man beiden Gruppen den Typhus, der sich durch Hautausschlag äußert, um die Wirkung der Impfung beurteilen zu können. Während dieses Versuchs waren die Zigeuner in zwei kleinen Zimmern eingeschlossen, 40 in jedem, und praktisch ohne Kleidung oder Decken, dem Hunger und der Kälte ausgesetzt. Sie erlitten fürchterliche Qualen, aber kein einziger starb. Bei einem von ihnen äußerte sich eine bösartige Psychose.“45 Die genaue Opferzahl der Fleckfieberversuche lässt sich nicht mehr ermitteln. Beim Nürnberger Ärzteprozess sagte der ehemalige niederländische Häftling Nales aus, dass es bei der Versuchsserie von Prof. Haagen zu über 29 Todesfällen gekommen sei.46 Otto Bickenbach, der zweite Wissenschaftler, der Sinti und Roma für Experimente missbrauchte, galt als Spezialist auf dem Gebiet der Forschung zu den Wirkungen von Kampfgasen. Während seiner Tätigkeit als Oberarzt in Heidelberg führte er an Katzen und Affen Experimente mit dem Gas Phosgen durch. Dabei stieß er im Jahr 1939 auf den Wirkstoff Urotropin als mögliches 5Eingang zur ehemaligen Gaskammer. 3Ehemaliges Nebengebäude des Hotels Struthof, in dem die Gaskammer eingebaut wurde. 45 Übersetzung der Aussage von Leift Poulson am 13. April 1947 (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien, Sign. 10003). 46 Mitscherlich, 1985, S. 124. Schutzmittel. Trotz der Weiterleitung seiner Forschungsergebnisse an höhere militärische Stellen bestand dort zunächst kein weiteres Interesse an seinen Arbeiten. Erst als die Befürchtung entstand, die westlichen Alliierten könnten auch Phosgengas als Kampfstoff einsetzen, fiel die Entscheidung, die Experimente an menschlichen Versuchspersonen durchzuführen. Otto Bickenbach war zwischenzeitlich im November 1941 zum Professor an der neugegründeten Reichsuniversität Straßburg berufen worden und fand sehr bald einen Ort für die Umsetzung seiner Experimente: das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof. GESCHICHTE 26 Foto Raum Raum zur zurIsolierung Isolierung der derVersuchsopfer Versuchsopfer im Krematorium im Krematorium Im April oder Mai 1943 führte Otto Bickenbach eine erste von mindestens zwei Versuchsreihen mit Phosgengas in der kurz davor fertig gestellten Gaskammer durch. Insgesamt 24 Häftlinge, darunter auch Sinti und Roma, wurden dafür bestimmt. Die Häftlingsgruppe wurde in Versuchssequenzen von 1 bis 10 aufgeteilt. Bickenbach rief alle Gefangenen vor dem Betreten der Gaskammer namentlich auf. Anschließend wurden die Versuchsopfer mit dem Mittel Urotropin geschützt, entweder durch mündliche Einnahme oder durch eine intravenöse Injektion. In der Gaskammer mussten die dort eingesperrten Männer eine Ampulle mit dem Gas zertreten und sich anschließend im Kreis bewegen, um eine starke Gaskonzentration an einer Stelle des Raums zu vermeiden. Der Versuch wurde bei allen zehn Gruppen von je zwei bis vier Häftlingen auf die gleiche Weise wiederholt und dauerte jeweils 20 Minuten. Zwei der Versuchsopfer starben am 7. und 25. Mai 1943. Als offizielle Todesursachen wurden „Lungenentzündung“ und „Herz- und Körperschwäche“ in den Todesurkunden genannt. August Hirt, der sich als „Meister“ aller medizinischen Experimente in Natzweiler ansah, missgönnte Bickenbach die Resultate seiner Versuche und stritt die Korrektheit der medizinischen Protokolle ab. Er verlangte eine Wiederholung der Versuche mit menschlichen Versuchsopfern, die nicht durch Urotropin geschützt werden sollten. Bickenbach lehnte dieses Experiment zunächst ab. Im Dezember 1943 führte Bickenbach vermutlich eine zweite Versuchsreihe mit 20 Sinti- und Roma-Häftlingen und „Berufsverbrechern“ durch, über die jedoch keine weiteren Informationen vorliegen. Am 15. Juni und 8. August 1944 wurde die vermutlich dritte Versuchsreihe mit geschützten und ungeschützten Versuchsopfern durchgeführt. Dieses Mal mit Sinti- und Roma-Häftlingen, die aus dem Transport ausgewählt wurden, der im Dezember 1943 von Auschwitz nach Natzweiler gekommen war, um die Experimente des Dr. Haagen „zu bedienen“. Am 15. Juni wurden 12 Gefangene zur Gaskammer gebracht, sechs wurden mit einer Dosis Urotropin geschützt. Am 8. August waren es vier, davon zwei geschützt. Insgesamt starben vier der Versuchspersonen einen qualvollen Tod in Folge eines Lungenödems. Zwei davon mit Schutz. Ihre Namen sind in den erhaltenen Dokumenten überliefert: Zirko Rebstock, geb. 28. Mai 1907, gest. 16. Juni 1944, Nr. 6516 Andreas Hodosy, geb. 12. Februar 1911, gest. 16. Juni 1944, Nr. 6587 Adalbert Eckstein, geb. 2. Februar 1924, gest. 18. Juni 1944, Nr. 6545 Josef Reinhardt, geb. 27. August 1913, gest. 9. August 1944, Nr. 6564 In einem Bericht für den Generalbevollmächtigten des Führers für das Sanitäts- und Gesundheitswesen vom 11. August 1944 fasste Bickenbach die Ergebnisse seiner Versuche zusammen:47 GESCHICHTE 27 „Von vier Versuchspersonen wurde die eine oral, die zweite intravenös geschützt, die dritte erhielt eine intravenöse Injektion nach der Vergiftung [...], die vierte blieb ohne jede Behandlung. Die vier Personen kamen in die Kammer, in der eine Ampulle mit 2,7g Phosgen zertrümmert wurde. Die Versuchspersonen blieben 25 Minuten in dieser Konzentration. Der Phosgengehalt wurde während der Einatmung dreimal gemessen. [...] Der intravenös Geschützte blieb gesund und zeigte nicht die geringsten Beschwerden oder Symptome, der oral Geschützte bekam ein leichtes Lungenödem, später eine Bronchopneumonie und Pleuritis, die er überwand. Eine Kontrollperson überlebte ihr Lungenödem ebenfalls, die zweite starb nach wenigen Stunden.“ Nach dem Ende der Versuche isolierte man die Gefangenen in Block 5 oder in der Krankenabteilung im Krematoriumsgebäude unter strenger Überwachung durch Ärzte und SS. Die noch lebenden Häftlinge wurden nach 15 Tagen in die Krankenbaracken des Lagers gebracht, wo sie von Häftlingsärzten mit den bescheidenen zur Verfügung stehenden Mitteln medizinisch versorgt werden konnten. Otto Bickenbach wurde 1952 von einem französischen Militärgericht in Metz zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Das Urteil wurde am 14. Januar 1954 vom Militärgerichtshof in Paris in eine 20-jährige Zwangsarbeit abgewandelt, doch schon 1955 wurde Bickenbach entlassen und nach Deutschland abgeschoben. Er arbeitete zuletzt als Internist in Siegburg und starb 1971.48 Vom Konzentrationslager zur Gedenkstätte49 Film Nach der Räumung im September 1944 wurden die leer stehenden Lagerbaracken noch etwa zwei Wochen lang als Unterkunft für rund 3.000 Mitglieder der mit den Nationalsozialisten kollaborierenden französischen Miliz bei ihrer Flucht ins Deutsche Reich benutzt. Als am 23. November 1944 die ersten amerikanischen Soldaten beim Struthof eintrafen, fanden sie das leere Konzentrationslager vor. Einige ehemalige Häftlinge, die sich noch in der näheren Umgebung aufhielten, kehrten ins Lager zurück und berichteten den Alliierten über die dort begangenen Gräueltaten der SS. Während erste Spuren der Verbrechen gesichert wurden, diente das vollständig und ohne Beschädigungen erhaltene Lager zunächst als Internierungslager für Kollaborateure und Kriegsgefangene. Im Frühjahr und Sommer 1945 wurden an den Orten, an denen die Asche der Ermordeten verstreut worden war, erste provisorische Gedenkstätten errichtet. An der Klärgrube, in die ebenfalls Asche geschüttet worden war, errichtete man ein großes Gedenkkreuz. Auf dem Hinrichtungsplatz wurden der originale Galgen und verschiedene Arbeitsgeräte der Häftlinge aufgestellt, Blumen wurden gepflanzt und erste Gedenktafeln angebracht. Provisorische Absperrungen sollten diese Orte schützen. Schon am 14. Oktober 1945 fand eine erste große Film KZ-Gedenkstätte Natzweiler-Struthof: Gelände des ehemaligen Häftlingslagers 47 Anklageschrift gegen Helmut Rühl vom 29. Juni 1983, S. 16 (Sammlung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma). 48 Steegmann, Struthof 2005, S. 403. 49 Die Ausführungen basieren auf: Das KZ Natzweiler-Struthof nach dem Abzug der Nazis, zusammengestellt von Erny Gillen im Januar 1987 (Sammlung Andreas Pflock).