1 Gemeinsinn und Selbstverwirklichung Prof. Dr. Bernd Schmidt Lehrstuhl für Operations Research und Systemtheorie Universität Passau Zusammenfassung Für ein ausgefülltes Leben scheint ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Gemeinsinn und Selbstverwirklichung wichtig zu sein. In der Auseinandersetzung zwischen Kollektivismus und Individualismus bietet sich eine Mittlerstellung an. In einer säkularisierten, permissiven, pluralistischen und durch Toleranz alternativen Lebensformen gegenüber charakterisierten Gesellschaft lassen sich die Ansprüche der Moral nicht mehr ausschließlich religiös oder rational begründen. Vielmehr muss man versuchen, den Nachweis zu führen, dass die vorgetragenen Vorstellungen allgemein konsensfähig sind. Dieser Nachweis wird möglich, wenn man zeigt, dass Gemeinsinn und die damit verknüpften Tugenden keine verstaubten Gängelungsversuche sind, die das wenige Vergnügen, das die Welt bietet, vermiesen wollen. Gemeinsinn und Bürgertugenden haben nichts mit antiquierter Rohrstockmentalität oder puritanischer Verzichtsethik zu tun. Sie sind vielmehr Hinweise und Richtlinien, die zu einem reicheren Leben und zu einem tiefer empfunden Glück führen können. Diese Überzeugung ist so weit, dass sie auch allgemein Zustimmung und Anerkennung finden kann. 2 1. Kollektivismus oder Individualismus? Ein übersteigerter Individualismus mit seiner ausgeprägten Betonung des Wertes der Selbstverwirklichung sieht sich bereits seit Längerem der Kritik ausgesetzt. Man beobachtet allgemein eine Rückbesinnung auf den Gemeinsinn und das Bemühen um eine Wiederherstellung von Bürgertugenden. Anstelle eines extremen Individualismus wird die Verantwortung für das Wohl der Gemeinschaft verstärkt in den Vordergrund gerückt. Ein Anzeichen dafür ist unter vielen das Aufleben des Kommunitarismus. Eine ausgezeichnete, leicht lesbare Darstellung gibt Amitai Etzioni in seinem inzwischen berühmt gewordenen Buch Die Entdeckung des Gemeinwesens /1/. Der Mensch ist ohne Zweifel sowohl Individuum als auch Gemeinschaftswesen. Er lebt in der Spannung zwischen der Entwicklung und Entfaltung als Person auf der einen Seite und der Verantwortung für die Gemeinschaft, in der er lebt, auf der anderen Seite. Das Leben in der Gemeinschaft vermittelt das Gefühl der Geborgenheit. Gleichzeitig wird dadurch der individuelle Handlungsspielraum des einzelnen eingeschränkt. Ein Zuwachs an persönlicher Freiheit ist zwangsläufig mit einem Verlust an Sicherheit und dem Gefühl der Zugehörigkeit verknüpft. Ein Schlagertext bringt das ganz naiv auf den Punkt: „Frei, das heißt allein ...“ Ein einfaches Bild vergleicht den Menschen mit Igeln. Igel sind auf Nähe und Wärme lebenswichtig angewiesen. Sie dürfen sich jedoch nicht zu nahe kommen, um sich nicht zu verletzen. Amitai Etzioni schreibt dazu /1/: „Wie ein Radfahrer, so muss auch eine Gemeinschaft die Balance halten. Sie darf weder zur Anarchie des Extremindividualismus und zur Vernachlässigung des Gemeinwohls tendieren noch zum Kollektivismus, der das Individuum moralisch abwertet. Daher muss man Gemeinschaften ständig dazu bringen, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Individualrechten und sozialen Pflichten herzustellen. ... Der Westen ist in der kalten Jahreszeit des exzessiven Individualismus und sehnt sich nach der Wärme der Gemeinschaft, die menschliche Beziehungen wieder erblühen läßt.“ Man muss davon ausgehen, dass die Wiederherstellung dieses Gleichgewichts nicht den Kräften des Marktes überlassen werden kann, sondern besonderer Bemühungen 3 bedarf. In einem auf Wettbewerb und Konkurrenzkampf basierenden Neoliberalismus besteht die Gefahr, dass die Werte des Gemeinsinns den Vorschriften des Zeitgeistes und den Zwängen der Wirtschaftsordnung zum Opfer fallen. Wichtige, grundlegende Einsichten zu diesem Sachverhalt findet man bei Anton Rauscher /2/. Ziel muss es sein, eigenständige Werte und unabhängige ethische Zielvorstellungen erneut und verstärkt zur Geltung zu bringen, auch wenn sie dem gegenwärtigen Zeitgeist nicht entsprechen. Der Zeitgeist hat eine Kehrtwendung in die richtige Richtung vollzogen, wenn nicht mehr Egoismus, Anspruchsdenken und individuelles Vergnügen im Vordergrund stehen, sondern wenn deutlich wird, dass auch die Hinwendung zum anderen, die Fähigkeit um des Gemeinwohls willen auf persönliche Vorteile zu verzichten, Rücksichtnahme und Kooperationsbereitschaft Werte sind, die ein erfüllteres und reicheres Leben versprechen und damit zu einem tieferen Glück führen. Was ist ein Badeurlaub in Tunesien im Vergleich zu dem Gefühl, das man erleben darf, wenn man eine Kinderhand schutzsuchend in der seinen spürt? Ist ein teurer Sportwagen wirklich erstrebenswerter als die Anerkennung, die z.B. dem Kassenwart eines Sportvereins für ehrenamtliche, engagierte Tätigkeit zuteil wird? Welche Bedeutung hat teuere Designerkleidung im Vergleich zu dem dankbaren Blick, den man erfährt, wenn man einem alten Menschen geholfen hat, etwas leichter mit seiner Einsamkeit fertig zu werden? Benötigt man wirklich eine Villa mit Doppelgarage, Swimming pool und Sauna oder erwirbt man sich reichere Erfahrungen, wenn man sich für den Umweltschutz einsetzt, ohne den persönlichen Vorteil dabei zu bedenken? An dieser Stelle erscheint das erste Mal der Skeptiker auf der Bildfläche. Er verweist darauf, dass sich erbauliche Sätze eher für eine Andacht eignen und daher zur Begründung von Ethik unbrauchbar seien. Psychokitsch und Sozialromantik hätten in einer philosophischen Diskussion keinen Platz. Außerdem zeige die Lebenserfahrung, dass die Selbstlosigkeit nur ein Trugbild sei, passend für Dumme, damit die Gescheiten umso sicherer und ungestörter ihren ichbezogenen Interessen nachgehen könnten. Im Gegensatz dazu wird behauptet, dass es sich eben nicht um Erbauungsliteratur handelt, sondern dass sich hinter diesen Aussagen tiefere Einsichten verbergen, die man nicht vorschnell als naiv, kleinkariert oder spießbürgerlich diffamieren sollte. Sie beinhalten in bildhafter Form die Kernaussagen der katholischen Morallehre. In einer sekularen Gesellschaft können moralische Forderungen nicht mehr ausschließlich religiös begründet werden. Es ist erforderlich, diese Forderungen so darzustellen, 4 dass sie allgemein akzeptiert werden können. Im Folgenden soll dies versucht werden. In diesem Zusammenhang kann auch der Einfluss der Wirtschaftsordnung nicht unberücksichtigt bleiben. Die moralischen Zielvorstellungen und die damit verbundenen Werte müssen die Wirtschaftsordnung bestimmen und nicht umgekehrt. Man muss dafür Sorge tragen, dass nicht die Wirtschaftsordnung die moralischen Vorbilder und die Formen des menschlichen Zusammenlebens diktiert. Die Wirtschaftsordnung hat eine zweitrangige, untergeordnete Funktion. 2. Der Gemeinsinn und seine Begründung Wenn man die Behauptung aufstellt, dass eigenständige Werte und unabhängige, ethische Zielvorstellungen die Form des menschlichen Zusammenlebens bestimmen sollen, steht man vor der schwierigen Frage, diese eigenständigen Werte und unabhängigen, ethischen Zielvorstellungen angeben und begründen zu müssen. In einer säkularisierten, permissiven, pluralistischen und durch Toleranz alternativen Lebensformen gegenüber charakterisierten Gesellschaft ist das nicht leicht. Es muss jedoch geleistet werden, wenn man sich dem Zeitgeist nicht unkritisch unterordnen will und wenn der Primat der Ethik gegenüber der Wirtschaftsordnung aufrecht erhalten werden soll. Es ist eine bereits tausendfach wiederholte Einsicht, dass der Radikalismus besonders in der jungen Generation eine Folge des Verlangens nach Orientierung, Zugehörigkeitsgefühl und sozialer Anerkennung ist. Man weiß das, aber es tut sich nichts. Die katholische Moralphilosophie geht davon aus, dass guter Wille und Absichtserklärungen allein nichts nützen. Man muss tiefer graben und die Ursachen der Mißstände bei der Wurzel zu erreichen suchen. Wiederum ist es ausreichend oft beschrieben worden, dass der Fundamentalismus in den Religionen zumindest zum Teil eine Reaktion auf die Wertelosigkeit einer konsum-orientierten Gesellschaft ist. Man sucht nach einem neuen, vertieften Lebenssinn. Man sieht den Menschen nicht nur als Käufer und Verbraucher von Gütern und oberflächlich befriedigenden Erlebnissen. Man weiß das alles, aber es tut sich nichts. Die katholische Soziallehre bemüht sich um eine neue Sinngebung. Sie möchte die Voraussetzungen zeigen, die es möglich machen, den Menschen nicht nur als gut funktionierendes Rädchen in einer auf Effizienz und Produktivität ausgerichteten Wirt- 5 schaftsordnung zu sehen, sondern als eigenständige Person mit vorrangigen ethischen Zielvorstellungen, denen sich die Wirtschaftsordnung unterzuordnen hat. Es ist interessant zu untersuchen, welche Begründung der Kommunitarismus in dieser Beziehung zu bieten vermag. Es zeigt sich, dass die Begründung, die der Kommunitarismus für seine eigenen Ziele und Forderungen liefert, eher dürftig ausfällt. Fast ausschließlich beschränkt er sich auf Proklamationen und Appelle. Selten erreicht er die Tiefe philosophischer Diskussion. Damit setzt er sich dem Vorwurf des Dogmatismus aus und gefährdet damit seine eigenen, ethischen Ansprüche. Anton Rauscher bemerkt zu Recht (Anmerkung 6 in /2/): „Etzioni weicht der Frage nach der inneren Begründung der Werte, ebenso der Institutionen und Gemeinschaftsbande aus.“ Etzioni beruft sich auf die Gewohnheit des Herzens (habits of the heart) /1/. Das liegt zu nahe am gesunden Volksempfinden, um im Angesicht historischer Erfahrungen wirklich überzeugend zu sein. Hier ist mehr nötig. An dieser Stelle wird der Versuch unternommen, einen Beitrag zur ethischen Begründung zu liefern, die sich nicht auf religiöse Voraussetzungen stützt, sondern allgemein anerkennbar sein soll. Wie soll dazu vorgegangen werden? Zunächst werden einige Grundsätze zur Diskussion gestellt, von denen man annehmen kann, dass sie allgemein und unabhängig von philosophischen oder religiösen Überzeugungen zustimmungsfähig sind. Hiermit soll eine neue, von den meisten anerkennbare Grundlage geschaffen werden, von der aus man weiter fortschreiten kann und von der aus eine Begründung möglich wird. Auf diese Weise wird eine Grundsatzdiskussion über die Begründbarkeit ethischer Forderungen umgangen, die das praktische Handeln behindern und lähmen würde. An einem Beispiel soll das Vorgehen erläutert werden. Es wird angenommen, dass es ein elementares menschliches Grundbedürfnis nach Zuwendung und sozialer Anerkennung gibt. Ethische Verpflichtungen sollen helfen, Lebensformen zu gewährleisten, in denen die Erfüllung dieses Bedürfnisses als Grundlage eines nicht oberflächlich verstandenen Glücks so gut wie möglich sichergestellt wird. Es ist die Hoffnung, dass dieser ethische Grundsatz soweit konsensfähig ist, dass sich gemeinsames politisches Handeln darauf aufbauen läßt. Es bleibt dabei offen, wie dieser ethische Grundsatz im Einzelnen begründet wird. Man kann ihn aus dem christlichen Glauben ableiten, man kann dabei utililaristisch vorgehen oder ihn als eigenständigen Wert ansehen. Man kann den kategorischen Imperativ als Grundlage 6 nehmen oder ihn als Rezept beim Problemlösen betrachten. Damit soll die Notwendigkeit ethischer Grundsatzdiskussion und die philosophische Frage nach der Begründbarkeit von Ethik nicht in den Hintergrund geschoben werden. Insbesondere soll damit nicht den Vorstellungen einer Diskursethik das Wort geredet werden. Die Grundsatzdiskussion darf jedoch praktisches Handeln nicht behindern, wenn es nicht erforderlich ist. 3. Die ethische Lebensführung Die Ethik hat die Aufgabe, Normen und Gebote zu entwickeln, die menschliches Handeln regulieren sollen. Man kann erwarten, unabhängig von weltanschaulichen Fixierungen Übereinstimmung darüber zu erzielen, dass sich die Ethik hierbei von den folgenden drei Aufgaben leiten lassen soll: * Befriedigung menschlicher Bedürfnisse Menschliche Bedürfnisse werden hier in einem sehr umfassenden Sinn verstanden. Sie umfassen den ganzen Menschen mit Körper, Psyche und Geist. Man kann sie, wenn man will in einer Hierarchie anordnen. (Siehe Bild 1, das /3/ entnommen wurde und sich an /4/ orientiert.) Ähnliche Vorstellungen findet man u.a. bei /8/. Wichtig ist an dieser Stelle die Einsicht, dass es sich um elementare und grundsätzliche und nicht um oberflächlich von der Kultur geprägte und beliebig austauschbare Bedürfnisse handelt. Es sind sozusagen anthropologische Grundkonstanten. * Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten und Anlagen Kultur beinhaltet Pflegen und Entwickeln. Der Mensch, der nicht nur Natur- sondern eben auch Kulturwesen ist, soll die in ihm angelegten und als wertvoll erkannten Möglichkeiten und Anlagen fördern und ausgestalten. Man sieht sehr schnell, dass die vorher beschriebene Befriedigung der Bedürfnisse allein nicht ausreicht. Der Blick auf das private Fernsehen, das sich um der Einschaltquoten und um der Werbeeinnahmen willen ausschließlich an den Bedürfnissen der Zuschauer orientiert, macht das deutlich. Die Entfaltung und Entwicklung von Möglichkeiten und Anlagen ist in der Regel mit Mühe und Anstrengung verbunden. Um eines späteren, höheren Gewinnes willen soll man auf sofortige Bedürfnisbefriedigung verzichten. 7 Transzendenz Spirituelle Bedürfnisse, sich mit dem Kosmos in Einklang zu fühlen. Selbstverwirklichung Bedürfnis, das eigene Potential auszuschöpfen, bedeutende Ziele zu haben. Ästhetische Bedürfnisse Bedürfnisse nach Ordnung, Schönheit Kognitive Bedürfnisse Bedürfnisse nach Wissen, Verstehen, nach Neuem Selbstwert Bedürfnisse nach Vertrauen und dem Gefühl, etwas wert zu sein und kompetent zu sein; Selbstwertgefühl und Anerkennung von anderen Bindung Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Verbindung mit anderen, zu lieben und geliebt zu werden Sicherheit Bedürfnisse nach Sicherheit, Behaglichkeit, Ruhe, Freiheit von Angst Biologische Bedürfnisse Bedürfnisse nach Nahrung, Wasser, Sauerstoff, Ruhe, Sexualität, Entspannung Bild 1: Die menschlichen Bedürfnisse Der Zeitgeist hört diese Forderung nicht gern. Anstrengung und Mühe sind verpönt. Spielerisch und vergnüglich muss alles sein. Infotainment hat einen höheren Stellenwert als das schwierige und beschwerliche Erarbeiten von Zusammenhängen. Die Werbung verspricht ein schneller verfügbares und leichter erreichbares Vergnügen als es der schwere Weg zu wahrem Glück durch die Entfaltung der Möglichkeiten 8 der eigenen Persönlichkeit bieten kann. Umso wichtiger ist es, dass die Ethik die Forderung nach der Entwicklung der menschlichen Möglichkeiten und Anlagen nicht aufgibt. Wiederum kann man davon ausgehen, dass diese Forderung allgemeine Anerkennung findet, unabhängig von den verschiedenen Möglichkeiten der Begründung. * Entwurf neuer Lebensformen Der Mensch ist als einziges Lebewesen in seinem Verhalten nicht vollständig instinktgebunden, sondern hat die Fähigkeit, neue und damit bessere oder humanere Formen des Miteinanderumgehens zu entwerfen. In diesen Bereich gehören soziale und gesellschaftliche Institutionen ebenso wie die Formen der Produktion und des Wirtschaftens. Ein Beispiel ist die Rechtsordnung, unter der wir in den westlichen Staaten leben. Diese Rechtsordnung ist nicht naturgegeben, sondern eine Kulturleistung. Ihre in der Zwischenzeit als selbstverständlich akzeptierten Vorgehensweisen wurden mühsam erarbeitet, zum Teil erkämpft. So bleibt es eine immer wieder neu sich stellende Aufgabe, bessere und humanere Lebensformen zu entwickeln und durchzusetzen. Sie müssen neue Antworten auf die sich ständig ändernden Rahmen- und Randbedingungen geben, unter denen wir leben und arbeiten. Wenn man von der Berechtigung dieser drei Aufgaben der Ethik ausgeht, hat man eine Basis gewonnen, von der aus sich bestehende Normensysteme beurteilen bzw. neue Normensysteme entwickeln lassen. Man kann z.B. überprüfen, in wie weit vorgeschlagenen Lebensformen und Verhaltensweisen tatsächlich zu einer besseren Erfüllung der ethischen Forderungen führen als alternative, auf Individualismus und Egoismus gestützte Normensysteme. An dieser Stelle sei noch einmal an die verabredete Vorgehensweise erinnert: Es genügt anzuerkennen, dass es darum geht, Normensysteme zu entwickeln, die den dargestellten ethischen Forderungen entsprechen. Der Versuch einer Begründung dieser Forderung wird zurückgestellt, da man hoffen und erwarten kann, dass die beschriebenen Forderungen allgemein konsensfähig sind. 4. Der Zeitgeist und die Produktionsverhältnisse Es ist der auf Egoismus, Anspruchdenken und Selbstverwirklichung ausgerichtete Zeitgeist, gegen den sich die katholische Soziallehre wendet. 9 Der Zeitgeist hat zahlreiche Väter und ist von vielen Gegebenheiten abhängig. Dazu gehören zweifelsohne auch die Produktionsverhältnisse und die Formen des Wirtschaftens. Man kann die Aussagen des Marxismus als widerlegt ansehen, dass die Produktionsverhältnisse ausschließlich und allein das Bewusstsein bestimmen. Man darf aber nicht die Augen davor verschließen, dass sie es auch tun. Stamokap-Vorstellungen haben sich erledigt. Ebenso ist es unsinnig, der sogenannten Burgeoisie als Gesellschaftsschicht alle negativen Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung in die Schuhe schieben zu wollen. Man kann, wenn man sich umsieht, nicht von einem Vorherrschen des Wirtschaftlichen über das Politische sprechen. Die Sozialgesetzgebung und die ökologischen Ansprüche machen beispielhaft deutlich, dass es noch lange nicht zu einem Ausverkauf politischer Zielvorstellungen zu Gunsten der Ökonomie gekommen ist. Einige weiterführende Gedanken dazu findet man bei Michael Wolffsohn /5/. Man darf aber auch nicht blind und gutgläubig annehmen, dass man nur alles dem Markt zu überlassen brauche, der es schon richten werde. Michael Wolffsohn schreibt dazu /5/: Die jeweiligen individuellen Anliegen oder Gruppenwünsche mögen noch so berechtigt sein, sie verursachen disproportionale Schäden. Die Optimierung der individuellen Wünsche führt eben nicht zum Allgemeinwohl. Ganz im Gegenteil. Der Gedanke ist auch auf Unternehmerseite anzuwenden: Beim funktionalen Modell gilt nicht mehr die Prämisse von Adam Smith, dass die „unsichtbare Hand“ alles zum Wohle aller lenke, durch Wahrnehmung und Optimierung der Interessen einzelner. Die Optimierung der Einzelinteressen kann durchaus der Gesamtheit schaden – und damit letztlich auch dem Einzelunternehmen. In einer Zeit, in der eine liberale Wirtschaftsordnung dominiert, besteht die Gefahr, dass die eben genannten ethischen Ziele in den Hintergrund treten. Anstelle dessen wird verlangt, dass sich der Mensch den Erfordernissen des Wettbewerbes und des Marktes anpaßt. Ein führender Vertreter der deutschen Wirtschaft schreibt: „Die Globalisierung wird mit Notwendigkeit kommen. Man kann sie ebensowenig aufhalten wie das Wetter des morgigen Tages.“ Hiermit wird für die wirtschaftliche Entwicklung eine Naturgesetzlichkeit behauptet, die der Mensch anerkennen muss und an die er sich nur anpassen kann. Es wird der Anspruch aufgegeben, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umstände nach menschlichen Bedürfnissen auszurichten. Eine derartige Behauptung ist eine Bankrott- 10 erklärung des sich an ethischen Zielvorstellungen orientierenden Handelns. Vor diesem Hintergrund ist es sicher lohnend, noch einmal das Kommunistische Manifest von Marx und Engels nachzulesen. In der Überzeichnung finden sich, so scheint es, sehr hellsichtige Erkenntnisse, die gerade heute erneut beachtenswert erscheinen. Nachdem der Kommunismus als Bedrohung zu existieren aufgehört hat, sollte es erlaubt sein, marxistische Grundgedanken neu zur Kenntnis zu nehmen. Die vorgeschlagene marxistische Therapie hat sich als furchtbarer, menschenverachtender Fehlschlag erwiesen. Das heißt nicht, dass nicht der eine oder andere Gedanke der Diagnose diskussionswürdig wäre. Papst Johannes Paul II, dem niemand eine besondere geistige Nähe zum Marxismus unterstellen würde, stellte fest /7/: Wenn der Sinn der Arbeit nur noch im möglichst hohen Verdienst besteht, das Glück des Einzelnen nur noch im Konsum gipfelt und Fortschritt nur durch den Gebrauch der Ellbogen gelingt, dann ist auch die Marktwirtschaft unangemessen und nicht akzeptabel. Der Liberalismus und damit teilweise auch die sich darauf gründende Marktwirtschaft sieht den Menschen vorrangig als Individuum. Nun sollen die Verdienste und Leistungen des Liberalismus in keiner Weise geschmälert werden. Die europäische Kultur- und Geistesgeschichte verdankt ihren Bestrebungen sehr viel. Die Rechte des Individuums wurden hier in unvergleichlicher Weise durchdacht, formuliert und durchgesetzt. Dennoch muss man sich fragen, ob das hier angesprochene Menschenbild vollständig ist. Man kann davon ausgehen, dass der Mensch nicht nur Individuum, sondern daneben auch ein Gemeinschafts- und Gesellschaftswesen ist. Damit erfahren sehr alte, in der europäischen Geistesgeschichte immer wieder virulent gewordene Einsichten eine notwendige Renaissance. Es ist müßig, sie alle aufzulisten. Schon Aristoteles hat den Menschen als zoon politikon gesehen und seine Ethik auf dieser Annahme aufgebaut. Noch sehr viel deutlicher hat die Stoa, gerade auch in ihrer Auseinandersetzung mit den nach individualistischem Glück strebenden Epikureern den Einsatz für das Gemeinwesen zum Kernpunkt ihrer Ethik gemacht. Cicero präsentiert griechisches Gedankengut in pragmatischem, römischem Gewand. Seine Schrift De re publica ist ein eindrückliches Plädoyer für die Forderungen nach Bürgertugend und Gemeinsinn. Auch die katholische Soziallehre mit ihrer sehr alten, wertvollen Tradition nimmt verblüfft zur Kenntnis, dass sie mit ihren Vorstellungen sehr aktuell geworden ist und im Brennpunkt der Aufmerksamkeit steht. 11 Aus dem Kommunistischen Manifest Karl Marx, Friedrich Engels Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchaischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung“. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die einer gewissenlosen Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt ... Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, das heißt Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde. 5. Menschliche Bedürfnisse Im folgenden sollen drei besonders wichtige Bereiche herausgestellt werden, die ethischen Forderungen entsprechen und von denen anzunehmen ist, dass sie konsensfähig sind und daher zur Begründung einer auf Gemeinsinn und Bürgertugend bezogenen Ethik herangezogen werden können. Eine ausführliche Darstellung dieser Argumente findet man unter /9/. 12 5.1 Zuwendung und Aufmerksamkeit Jeder Mensch benötigt Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit. Es ist eine Trivialeinsicht, dass es sich hier um elementare menschliche Grundbedürfnisse handelt, deren Nichterfüllung besonders im Kindesalter und in der Jugend zu schweren psychischen Schäden führt. Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit fallen jedoch nicht von selbst zu. Sie entwickeln sich nur in einem zwischenmenschlichen Umfeld. Man bekommt sie nicht geschenkt, sondern muss sie sich sorgsam erwerben. Insbesondere sind sie nicht käuflich. Sie sind nicht kommerzialisierbar und erscheinen deswegen in einer auf Angebot und Nachfrage, auf Produktion und Konsum ausgerichteten Wirtschaftsordnung nur am Rand. Wieder ist es lohnend, sich einen bekannten, angeblich von einem Indianerhäuptling stammenden Text ins Bewusstsein zurückzurufen. In sehr schönen, eindringlichen Bildern wird gezeigt, welche Bedeutung Werte haben, die nicht kommerzialisierbar sind. Aus der Erzählung nach einer angeblichen Rede des Häuptling Seattle vom Stamme der Duwanish Das Ansinnen des weißen Mannes, unser Land zu kaufen, werden wir bedenken. Aber mein Volk fragt, was denn will der weiße Mann kaufen? Wie kann man den Himmel oder die Wärme der Erde kaufen oder die Schnelligkeit der Antilope? Wie können wir Euch diese Dinge verkaufen – und wie könnt Ihr sie kaufen? Könnt Ihr denn mit der Erde tun, was Ihr wollt – nur weil der rote Mann ein Stück Papier unterzeichnet – und es dem weißen Manne gibt? Wenn wir nicht die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers besitzen – wie könnt Ihr sie von uns kaufen? Könnt Ihr die Büffel zurückkaufen, wenn der letzte getötet ist? 5.2 Soziale Anerkennung Neben Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit gibt es einen weiteren Bereich menschlichen Lebens, der sich nicht an den Menschen als Individuum sondern als Gemeinschaftswesen richtet. Es handelt sich um Achtung, Anerkennung, Ehre und soziale Stellung. Sind es nicht gerade diese Ziele, nach denen wir immer wieder streben und die den Hintergrund und die Motivation fast aller unserer Handlungen abgeben? Achtung, Anerkennung, Ehre und soziale Stellung müssen erarbeitet und erworben werden. Natürlich sind sie nicht käuflich, auch wenn die Werbung uns das immer wieder glauben machen will. Es ist eben nicht so, dass der Erwerb eines bestimmten Pro- 13 duktes zu dieser Einstellung der sozialen Umwelt führt. Der Kauf dieses Produktes ist nicht einmal Voraussetzung dafür. Achtung, Anerkennung, Ehre und soziale Stellung erwirbt man sich sehr viel eher durch Hilfsbereitschaft, Mitmenschlichkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Engagement für das Gemeinwohl und was dieser angeblich veralteten und in einer modernen Industrieund Kommunikationsgesellschaft unbrauchbar gewordenen Tugenden mehr sein mögen. An dieser Stelle soll der Skeptiker erneut zu Wort kommen, der gerade das anzweifelt. Er verweist auf die Wirklichkeit und das alltägliche Leben. Hier zeigt sich angeblich, dass eben doch ganz andere Dinge als Mitmenschlichkeit, Ehrlichkeit, usw. zu Anerkennung und geachteter, sozialer Stellung führen. Eine derartige Einstellung muss nun fragen dürfen, ob sie nicht zu oberflächlich ist und nur kurzfristig denkt. Ist das Leben eines gefeierten Popstars wirklich erstrebenswert? Findet ein rücksichtsloser und skrupelloser Geschäftemacher auf die Dauer wirklich das, was er sucht? Befriedigen Applaus und öffentliche Auszeichnungen auch dann, wenn sie nicht tatsächlich verdient sind? Kann Nietzsches rücksichtsloser Machtmensch glücklich sein und wird man ihm ein erfülltes Leben zuschreiben können? Es ist eine tiefe Einsicht, dass Lebenserfüllung und damit auch wahres, wirkliches Glück auf Dauer nicht in ichbezogener Selbstverwirklichung, sondern nur in der Bewährung als Gemeinschaftswesen gefunden werden können. Wer vertritt eine derartige Ansicht noch in einer Zeit, in der man Glück mit käuflichen Erlebnissen gleichsetzt? David Hume, der sich sehr ausführlich mit den menschlichen Beziehungen auseinandergesetzt hat, schreibt: Wenn alle Naturkräfte und Elemente sich verbänden, um einem Menschen zu dienen und zu gehorchen, wenn die Sonne auf seinen Befehl auf- oder unterginge, das Meer und die Flüsse nach seinem Belieben fluteten, wenn die Erde freiwillig alles hervorbrächte, was ihm nützlich oder angenehm ist, er würde doch elend sein, bis Ihr ihm wenigstens einen Menschen gebt, mit dem er sein Glück teilen und dessen Wertschätzung und Freundschaft er genießen kann. (Hume, David; A Treatise of Human Nature) 5.3 Das Dazugehörigkeitsgefühl Noch ein dritter, eigenständiger Aspekt bestimmt den Menschen als Gemeinschaftswesen. Der Mensch empfindet sich selbst nicht nur als Individuum sondern gleichzeitig immer als Angehöriger von Gruppen. Dieses Dazugehörigkeitsgefühl prägt sein Selbstverständnis und sein Selbstwertgefühl in entscheidender Weise. Wiederum sind die Ge- 14 die Gefährdungen, die aus Isolation und Bindungslosigkeit erwachsen, nur zu bekannt. Das Dazugehörigkeitsgefühl kann unterschiedliche Formen annehmen: Man kann sich als Angehöriger einer Nation oder eines Volkes empfinden. So ist man z.B. Deutscher oder Bayer. Zu gleicher Zeit gehört man z.B. einer bestimmten Berufsgruppe an. Man fühlt sich als Landwirt, Polizist, Arzt oder Mitarbeiter der Deutschen Bahn. Eine weitere Möglichkeit unter beliebig vielen anderen kann z.B. die Verbundenheit mit einem Vorstadtsportverein sein, bei dem man in der 2. Mannschaft Fußball spielt oder die Mitgliedschaft im Chor der Kirchengemeinde. Die grundsätzliche Behauptung ist, dass dieses Dazugehörigkeitsgefühl ganz wesentlich zur entwickelten, menschlichen Persönlichkeit gehört, deren Selbstwertgefühl beeinflußt und das Selbstbild bzw. das Selbstverständnis prägt. Die Suche nach der eigenen Identität wird erfolglos bleiben, wenn man nur und ausschließlich nach innen sieht und nur sein individuelles Ich im Blick hat. Identität heißt immer auch, sich seiner Stellung in der Gemeinschaft bewusst zu sein. Der Sachverhalt, dass dieses Zugehörigkeitsgefühl immer gefährdet ist und auch in Intoleranz und Aggression auf Nichtgruppenangehörige ausarten kann, darf nicht übersehen werden. Dadurch wird jedoch der Wert des sozialpsychologischen Tatbestandes des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit nicht beeinträchtigt. Dieses Dazugehörigkeitsgefühl muss in rechter Weise gestärkt und gefördert werden. Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, dieses elementare Bedürfnis in friedfertiger und humaner Weise auszuleben. Alle Entwicklungen wie z.B. der Zwang zu häufigem Wohnungs- oder Berufswechsel behindern die soziale Integration und die Stabilität der Persönlichkeit. Aus dieser Sicht gewinnt die Arbeitslosigkeit neue, schwerwiegende Bedeutung. Wiederum kennt man die sozial desintegrierende Funktion der Arbeitslosigkeit sehr genau. In einer Gesellschaft, die um eines immer höheren materiellen Konsums willen grundsätzliche menschliche Bedürfnisse mißachtet, müssen die Gewichte neu verteilt werden. Die Erhöhung des Bruttosozialproduktes ist willkommen. Sie darf jedoch nicht mehr höchster Wert sein. 6. Wirtschaft und Ethik Die neoliberal orientierten Wirtschaftswissenschaften sehen ihre grundlegende Aufgabe in der effizienten Produktion und der leistungsgerechten Verteilung von Gütern und Dienstleistungen. Diese Aufgaben haben die Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet gelöst und uns 15 damit einen unvergleichlich hohen Lebensstandard und eine bewunderungswürdige Befriedigung der materiellen Bedürfnisse beschert. Diese Leistung kann nur gering achten, wer nicht mehr weiß, was Armut und Not ist und die Verhältnisse in den unterentwickelten Ländern und in den ehemaligen Ostblockstaaten nicht kennt. Es wird jedoch übersehen, dass sich mit zunehmendem Wohlstand in den hochentwickelten Ländern nun nichtmaterielle Bedürfnisse in den Vordergrund schieben, nachdem die materiellen Bedürfnisse befriedigt zu sein scheinen. In Bezug auf die neue Herausforderung wirken die Wirtschaftswissenschaften eher hilflos, da ihr theoretischer Apparat nur die Erzeugung und Verteilung von Gütern kennt und die anderen Bedürfnisse in ihren Überlegungen noch keinen ausreichenden Platz gefunden haben. Ludwig Erhard Wirtschaftsminister /6/ Ich meine, dass die soziale Marktwirtschaft falsch gedeutet werden würde, wenn man sie nur betrachtet als eine wirtschaftliche Ordnung, die zum Gegenstand hat, die Mehrung des Volkswohlstandes, die Erhöhung der Produktion, Ausweitung des Sozialprodukts, Ausweitung des Außenhandels und was der gleichen mehr geschieht. Dass in dem gleichen Maße, wie der wirtschaftliche Aufschwung kommt, stellen wir doch objektiv fest, dass keine Gruppe mehr mit ihrem ökonomischen und sozialen Sein zufrieden ist. Der wachsende Wohlstand hat uns keine Beruhigung, sondern eine Beunruhigung gebracht. Und da ist doch irgendetwas nicht in Ordnung. Und deshalb möchte ich meinen: die soziale Marktwirtschaft muss noch etwas anderes deutlich machen, als nur wirtschaftlichen Fortschritt, und nur Wohlstand und nur soziale Sicherheit, verstanden in dem primitiv-materiellen Sinne. Sondern da muss noch irgendeine Deutung hereinkommen, das muss auch noch einen Aspekt erhalten, der mehr in den geistigen und seelischen Bereichen wurzelt. Und daran fehlt es uns heute. Ich glaube, jeder einzelne ist aufgerufen, Selbstbesinnung zu üben und etwas von der Verantwortung über den eigenen materiellen Lebensbereich hinaus dann auch deutlich zu machen. Dieses grundsätzliche Defizit wird in der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie kaschiert durch die Behauptung, dass es keine Grenzen für materielle Bedürfnisse gebe, jeder Mensch von Natur aus nach immer mehr materiellen Gütern strebe und daher die materielle Bedürfnisskala nach oben offen sei. Man könne sich daher auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse beschränken. 16 Die katholische Soziallehre widerspricht dieser Behauptung mit Entschiedenheit. Sie macht deutlich, dass es humane, auf die Gesellschaft bezogene Werte gibt, die sich nicht kommerzialisieren lassen und in einer bevorzugt dem Marktmechanismus unterstellten Gesellschaft der besonderen Pflege und Förderung bedürfen. Immer wieder werden Stimmen laut, die die Wirtschaftswissenschaften darauf hinweisen, dass die Befriedigung materieller Bedürfnisse zwar die Voraussetzung für andere Ziele sei, dass man daher aber nicht stehen bleiben dürfe. Bereits 1956 hat der damalige Wirtschaftsminister Ludwig Erhard auf diese Zusammenhänge hingewiesen. Es zeigt sich jedoch wieder, dass Appelle und die Beschwörung des guten Willens allein wenig Erfolg versprechen. Es müsste gelingen, die nichtmateriellen Bedürfnisse tiefer in der Theorie zu verankern und sie nicht nur als oberflächliche Verzierung zu betrachten, auf die man im Ernstfall doch lieber verzichtet und die man als vernachlässigbare Utopie weltfremder Moralisten glaubt abtun zu können. Gemeinsinn und Bürgertugenden sind keine verstaubten Gängelungsversuche, die uns das wenige Vergnügen, das die Welt uns bietet, vermiesen wollen. Gemeinsinn und Bürgertugenden haben nichts mit antiquierter Rohrstockmentalität oder puritanischer Verzichtsethik zu tun. Sie sind vielmehr Hinweise und Richtlinien, die zu einem reicheren Leben und zu einem tiefer empfundenen Glück führen sollen. 17 Literatur: /1/ Amitai Etzioni; Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus, Stuttgart 1995 /2/ Anton Rauscher; Gemeinsinn statt Egoismus. Für eine Stärkung der Sozialkultur; Kirche und Gesellschaft Nr. 243; J.P. Bachem Verlag 1997 /3/ Philip Zimbardo; Psychologie; Springer Verlag 1992 /4/ Abraham Maslow; Motivation und Persönlichkeit; Rowohlt Taschenbuch Verlag 1981 /5/ Michael Wolffsohn; Entmachtung der Politik – Primat der Wirtschaft?; Mut, April 1998, Nr. 368; Mut-Verlag /6/ Ludwig Erhard, Auszüge aus einer Rede, gehalten am 27. April 1956 vor dem Wirtschaftsbeirat der CSU, München /7/ Enzyklika Centesimus annus /8/ Steven Reiss; Who am I ?; Penguin Putnam Inc 2000 /9/ Bernd Schmidt; Die Brüchigkeit des Daseins oder dem Leben einen Sinn geben; http://www.fmi.uni-passau.de/schmidtb/philosophie/Ethik/Sinn/index.html