„Mitgliederorientierung“ – Die zarteste Versuchung seit es Kirche gibt? Anmerkungen zum Leitbegriff des Reformpapiers der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) Im Vorwort der EKvW-Reformvorlage „Kirche mit Zukunft“ werden die Mitglieder aufgerufen, sich mit den angestellten Überlegungen kritisch auseinanderzusetzen. Wohlan! Wer versucht, sich zu diesem Zweck einen Überblick über die im appetitlichen Design daherkommenden Empfehlungen zu verschaffen, der/die merkt schnell, dass die Reformüberlegungen auf einen zentralen Referenzpunkt bezogen sind. Die grundsätzlich theologischen Erwägungen, die langfristig strategischen Planungen und die auf schnelle Umsetzung zielenden operativen Überlegungen haben einen Leitstern. Sein Name ist „Mitgliederorientierung“. Das ist zugleich die Überschrift des 3. Kapitels der „Zielorientierung für die EKvW“. Was bedeutet, was leistet, was verheißt „Mitgliederorientierung“ ? Mitgliederorientierung – die Perspektive, die dem wandernden Gottesvolk Orientierung gibt? Mitgliederorientierung – der ersehnte Weg, aus dogmatischer Altbackenheit und finanzieller Bedrängnis? Mitgliederorientierung – bekommt hier die Zukunft ein kirchliches Zuhause? Mitgliederorientierung – die goldene Pforte zwischen gestern und morgen? Draußen vor dem Tore in den Kapiteln l und 2 der Vorlage – stünde dann die knapp gehaltene dogmatische Besinnung zum „Wesen“ der Kirche. Hand in Hand mit ihr die Analyse der kirchlichen „Ausgangssituation“ (Profilkrise, Austritte, Finanzen, Reformstau etc.) Auf der anderen Seite – in den Kapiteln 4ff – leuchteten dann verheißungsvolle Aussichten für Ehrenamtliche, Pfarrerinnen, Kirchenleitung, Verwaltung, Strukturen, eine effektive SollIst-Kontrolle des Reformfortschritts etcpp. Mitgliederorientierung – das neue Kirchenportal, das aus den Fehlern des Kirchenalltags an den gedeckten Tisch des Herrn zu leiten verheißt? Was heißt Mitgliederorientierung (fortan: MO)? Wer sich – wie der Autor – den Spaß macht und einige Tage lang fast jede und jeden, die/der seinen Weg kreuzt, mit der Rheinisches aus AMOS 3-2000, S. 7f: reform- und zukunftsrelevanten Frage konfrontiert „Was heißt MO der Kirche?“, hat bald eine bunte Sammlung unterschiedlichster Vorstellungen beisammen. Da dieses Experiment leicht nachzuvollziehen ist, brauchen die Ergebnisse hier nicht ausgebreitet werden. Der Griff in den kirchensoziologischen Experimentierkasten führt zu der Erkenntnis, dass unterschiedliche, ja gegensätzliche Vorstellungen im Kirchenvolk mit der smarten Verlockung „MO“ assoziiert werden. Zwei Grundrichtungen der Assoziationen lassen sich unterscheiden: Zunächst ist man ja versucht, die Aussicht auf MO mit einem frohen „Na klar!“ auf den versprochenen guten Service zu begrüßen. MO wäre dann die Verheißung des immerwährenden großen kirchlichen Kundendienstes für alle. MO als die frohe Botschaft in nuce. Die Marketing-Slogans zum kirchlichen Rundum Service liegen bereit: „Kirche – das tut gut!“ „Jesus – hier tanken Sie auf.“ „Taufe – aus Freude am Leben.“ „Frauenhilfe – Alles Super.“ „Kirchlich Bestattet – Vorsprung durch Glaube.“ „Gott – der tut was!“ EKvW 15 Transparent 60/2001 Rheinisches – A class of its own? Das Stichwort MO platziert die kirchlichen Reformüberlegungen linguistisch geschickt in eine sympathische und marketingfreundliche Umgebung. Das dürfte gewollt sein. Andererseits kann die Orientierung an der MO auch stutzig machen. Die erwähnte unrepräsentative Erhebung forderte jedenfalls auch zurückhaltende Nachdenklichkeit zu Tage. Verstehen z.B. Mitglieder kleiner Freikirchen unter MO dasselbe wie solche großer Volkskirchen? MO – ein Teekesselwort? Wie erlaubt das Konzept MO, biblische Inhalte auch dann zu kommunizieren, wenn es ausgewählten Kirchenmitgliedern nicht passt? Was bedeutet MO in kirchlichen Konfliktsituationen? Hätte MO Orientierung gegeben in der Auseinandersetzung zwischen Bekennender Kirche und Deutschen Christen? Was bedeutet MO, wenn Rassismus oder Sexismus in einer Kirche etabliert ist? Was hilft MO, wenn Mitglieder von Kirchen teils mit teils ohne Waffen Frieden schaffen wollen? War MO ein Kriterium im Apostel Streit zwischen Paulus und Petrus (Gal 2, 11 ff)? Hätte das MO Konzept bei dem apostolischen Versuch geholfen, die Missachtung armer Mitglieder durch die in Saus und Braus lebenden Kirchgänger der Gemeinde in Korinth zu verhindern (l. Kor 11,17ff)? Hatte nicht Bonhoeffer in seiner Dissertation „Sanctorum Communio“ nachdrücklich und mit großer Wirkung dagegen plädiert die Zugehörigkeit zur Kirche in Analogie zu Mitgliedschaften in Vereinen zu konzipieren?1 Fragen über Fragen! Glasklar ist jedenfalls die Zielformulierung der Reform: Die EKvW will mittels MO „wachsen gegen den Trend“ (Kapitel 3.2). Allein – die theologischen Erörterungen des Papiers zu dem was MO bedeutet, bleiben im Rahmen dieser Unternehmensstrategie nebulös. Wer es unbedingt genau wissen will, stößt auf der Suche nach der Beschreibung von MO im Strukturpapier zweimal auf das Wort „alle“. Zitat der Reformvorlage: „MO bedeutet alle („alle 1“) christlich geprägten Einstellungen und Denkmuster, die dem eigenen Alltag Sinn geben, wahrzunehmen und zu respektieren.“ (Kap. 3.3.1). „Alle?“ Als hatten die Autorinnen diese skeptische und berühmte Frage geahnt, bemühen sie sich – ein „Nein!“ nachschiebend – zu versichern: „MO bedeutet … nicht es allem („alle 2“) und jedem recht machen zu wollen.“ Alle, nicht allem? Welches alle gilt? Auch wenn der Nebel sich nicht vollständig lichten lässt, bleibt doch der Eindruck, dass das MO-Modell dort an Grenzen stoßen wird, wo der Respekt vor der Mit- 1 Vgl. etwa D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, ThB Bd. 3, München 1954, S. 110: „Kirche entsteht nicht durch Zusammentritt (genetische Soziologie) sondern durch den in der Gemeinde wirklichen Geist besteht die Kirche und ist demgemäß aus Einzelwillen heraus nicht abzuleiten…“ Transparent 60/2001 16 enorm.“ In allen Bereichen der KundenKommunikation wird nur wachsen können, wer erkannt hat, dass der Marketingaspekt allmächtig geworden ist. Wer wachsen will, muss das „Marketing heiliger Informationen“ beherrschen. Bolz/Bosshart geben sich lernbereit: Sie raten, aus der „Bibel des 19. Jahrhunderts“ für den Marketingerfolg zu lernen, von Karl Marx4. Das Mysterium der Ware, das den Kunden faszinieren soll hat, demnach nichts mit den Bedürfnissen der Menschen zu tun, nichts mit den Inhalten, sondern allein mit dem Ködern von Begehren, dem Management von Abhängigkeit. Der Ausflug in die Konzeption des KULT-Marketing mag immerhin helfen, die entscheidende Frage schärfer zu fassen: Wäre die kritische Abwägung zwischen einem mitgliederorientierten kirchlichem „KundenModell“ und der evangelischen „Freiheit eines Christenmenschen“ vielleicht der ar- Rheinisches gliedschaft und das Für-Wahr-Nehmen der Botschaft in Konkurrenz treten. Kirchengeschichte, Zeitgeschichte, Bibel und last but not least die Geschichte des Ruhrgebietes liefern eine Fülle von Stories derartiger Konflikte. Vergessen?2 Das Reformpapier versucht MO sowohl als Kunden-Orientierung als auch als Evangeliums-Orientierung auszubuchstabieren. Wer es so möchte: MO = KO + EO. Allein, der Spagat misslingt, und nun hinken die Überlegungen auf beiden Seiten: der betriebswirtschaftlichen und der theologischen. Bringt die Orientierung am Trend die Reformvorlage aus dem Tritt? Jedenfalls wird offensichtlich, dass das Produkt der Kirche auf dem Markt der Sinn-Anbieter noch profiliert werden könnte. Hilfreich mag es hierbei sein, an das zu erinnern, was unter dem Eindruck der Trendforschung als „KULTMarketing“ 3 propagiert worden ist. Im Rückgriff auf kirchliches Vokabular wird von den Autorinnen von KULT-Marketing Kundenorientierung in einer Weise präzisiert, die im angestoßenen Reformprozess der EKvW davon abhalten dürfte, allzu gutgläubig die arglosen Schäfchen auf den Auen der betriebswirtschaftlich orientierten Marketingtheorie zu weiden. KULT-Marketing konzipiert erfolgreiches Marketing als Gottesdienst am Kunden (!). Die Verfasserinnen von KULT-Marketing lassen keinen Zweifel daran, dass Konsumgüter an gesättigten Märkten sich nur dann in einen Wachstumstrend (!) für Unternehmen ummünzen lassen, wenn es gelingt dem Kunden das Gefühl zu vermitteln, er sei der König – während es zugleich darum geht, ihn zum Junkie zu machen: total abhängig von dem ihm verheißenen Glücks- und Gemeinschaftsgefühl. Heute ein König – morgen ein Junkie! Wenn ein Unternehmen wachsen will – so die Kommunikationsexpertinnen -, dann gilt: Zu dieser Sorte Spiritualität des Konsums gibt es keine Alternative. In unternehmerischen Führungspositionen gilt selbst für nüchtern kalkulierende Manager: „Gerade in unserer so ‚coolen‘ Zeit ist der Götterbedarf chimedische Punkt bei dem Versuch der Kirchenleitung, Kirchen-Wachstum zu organisieren? Kundenorientierung der Kirche ein bisher unterschätztes heißes Thema für eine kirchliche Reform-Synode? Für das Papier der EKvW braucht jedenfalls nicht geworben werden: es ist umsonst. Aber nicht vergeblich, solange in Westfalen auch nach der Vorlage des Strukturreformpapiers gilt: semper reformanda! Dr. Wolfram Stierle, Mitglied der EKvW Dipl Ökonom und Pfarrer z.A., derzeit Wiss. Assistent an der Ruhr-Universität Bochum 2 Vgl. dazu den Beitrag von Achim Riggert ebenfalls in AMOS 3/2000! 3 N. Bolz / D. Bosshart, „Kult-Marketing – Die neuen Götter des Marktes“, Düsseldorf, 2. Aufl. 1995. (Vgl. dazu den Beitrag über dieses Buch von Franz Segbers: Kult-Marketing. Die Religion des Kapitalismus und der Kult der Ware, in: AMOS l / 1997, S. 11-15. Anm. d. R.) 4 A.a.O. 198. 17 Transparent 60/2001