Sehstörungen nach Schlaganfall – Rehabilitationsmöglichkeiten

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03.09.2004 15:34 Uhr
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Sehstörungen nach Schlaganfall –
Rehabilitationsmöglichkeiten
Iris Reckert
Orthoptistin
Humaine Klinik, Fachklinik
für neurologische Rehabilitation
CH 8588 Zihlschlacht (Schweiz)
[email protected]
Gemäß Erlanger Schlaganfall-Register erleiden pro 100 000 Einwohner 182 Menschen pro Jahr einen ersten Schlaganfall. Insgesamt sind somit in Deutschland
pro Jahr 300 000 bis 350 000 Patienten von einem ersten Hirnschlag betroffen,
etwa 70 000 sterben daran. Nach dem ersten Schlaganfallereignis gilt ein etwa
10%iges Reinfarktrisiko pro Jahr. Der Hirnschlag rangiert auf Platz 3 der Todesursachen-Statistik und ist außerdem eine häufige Ursache für eine neurologische
Behinderung.
Warum dieses Thema an einem „Lowvision-Kongress“? Die Sehbahn und das komplexe System der Augenbewegungssteuerung erstrecken sich im Gehirn über weitläufige Areale und sind somit durch einen Gefäßverschluss (ischämischer Insult)
nicht selten betroffen. Kerkhoff und Schindler gehen davon aus, dass zentrale visuelle Wahrnehmungsstörungen und Okulomotorikstörungen bei 20-40% der Patienten in neurologischen Rehabilitationseinrichtungen vorhanden sind, jedoch
häufig unterschätzt oder zu wenig diagnostiziert und behandelt werden. (2)
In unserer Rehabilitationsklinik mit dem Therapieschwerpunkt „Sehen“ waren im
Jahr 2003 144 Patienten mit der Diagnose „cerebraler Ischämie“ registriert. 71 dieser Patienten, also knapp 50%, litten an einem durch den Hirnschlag verursachten visuellen Defizit, wenn man den visuellen Neglect (Störung der visuellen Aufmerksamkeit) mit einbezieht.
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Wir fanden bei unseren Schlaganfallpatienten vor allem Gesichtsfelddefekte, so z.
B. bei 28 Patienten (19,5%) relevante Gesichtsfeldausfälle im Sinne einer Hemianopsie oder Quadrantenanopsie. Bei 5 weiteren Patienten (3,5%) fanden sich partielle Gesichtsfelddefekte, die keine wesentliche Einschränkung im Alltag zur Folge
hatten. 25 (17%) unserer Patienten zeigten einen visuellen Neglect (19 links,
6 rechts). 13 Patienten (9%) der Schlaganfall-Gruppe 2003 hatten eine Störung der
Okulomotorik. Entsprechend der Infarktlokalisation im Hirnstamm oder Kleinhirn
fanden wir vor allem Abducensparesen oder die so genannte Skew-Deviation (zentralvestibulär bedingter Höherstand eines Auges mit Verkippung der subjektiven
Horizontalen). Bei 3 dieser Patienten bestand nach Mittelhirn- bzw. Thalamus-Infarkten zusätzlich eine vertikale Blicklähmung, die es verunmöglichte die Augen
nach unten zu bewegen. Dass Aktivitäten wie Essen, Lesen oder (Treppen-) Laufen
dadurch erheblich erschwert sind, liegt auf der Hand.
Ziel jeder Rehabilitation – so auch der visuellen – ist ein höchstmögliches Maß an
Selbständigkeit und Lebensqualität der betroffenen Patienten.
Verbesserungsmöglichkeiten bei unseren Gesichtsfeld-Neglect-Patienten sehen
wir vor allem in einem okulomotorischen Kompensationstraining (3).
Die visuelle Exploration ist bei 70% der Hemianopsie-Patienten ungenügend (2),
woraus sich erhebliche Alltagsprobleme ergeben: mangelnde Orientierung, Übersehen von Gegenständen, Sturzgefahr und Selbstgefährdung im Straßenverkehr.
Ziel des kompensatorischen Trainings ist es, durch Blicksakkaden in das blinde
Gesichtsfeld einen ausreichenden Überblick zu gewinnen, oder anders gesagt:
„immer wieder dahin zu schauen, wo man nichts sieht“. Diese Strategie setzt neben der Einsicht in das eigene Defizit ein hohes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit voraus, so dass die kognitive Leistungsfähigkeit eines Patienten eine
wesentliche Komponente in Bezug auf das Ergebnis ist. Schwer betroffene Patienten brauchen sicher ein längeres und intensiveres Training, als andere, insbesondere wenn neben einer ausgeprägten motorischen Behinderung noch ein
Neglect-Syndrom hinzukommt. Trotz aller Schwierigkeiten lohnt sich ein kompensatorisches Gesichtsfeldtraining unbedingt, lässt sich doch bei ca. 90% eine
alltagsrelevante Verbesserung erreichen. (2)
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Die Möglichkeiten für ein okulomotorisches Gesichtsfeldtraining sind vielfältig.
Neben zahlreichen Papier u. Bleistiftaufgaben unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades (1, 5), steht das sehr systematische Therapiematerial von Münßinger und
Kerkhoff (4) zur Verfügung. Auf die individuelle Ausgangssituation eines Patienten
abgestimmt, variieren wir zu Beginn Übungen zur Augenbeweglichkeit am
Computer, im freien Raum und mit Papiervorlagen. Können Augenbewegungen
sinnvoll durchgeführt werden, kommen Suchaufgaben verschiedenen Schwierigkeitsgrades hinzu, wobei wir gern mit Dias als möglichst natürlichen und großformatigen Vorlagen arbeiten, um den Transfer der erlernten Strategien in den
Alltag zu erleichtern. Aus demselben Grund versuchen wir alltagsrelevante Aufmerksamkeitsleistungen und auch motorische Anforderungen in das Hemianopsie-Training mit einzubeziehen: z.B. Rollstuhlmanövrieren, Wege suchen, ergotherapeutisch begleitete Aktivitäten in der Küche, im Badezimmer und im
Supermarkt.
Dieses Alltagstraining ist im Hinblick auf tägliche Sehanforderungen sehr wichtig,
da nicht ein ausschließliches Beachten der betroffenen Seite antrainiert werden
soll, sondern ein sinnvolles und rasches Explorieren des Raumes oder einer Lesevorlage, auch in einem möglicherweise anspruchsvollen Handlungskontext.
Okulomotorische Störungen sind nach einem Hirnschlag weniger häufig als Gesichtsfelddefekte und werden leider häufig übersehen oder nicht adäquat behandelt. Im eigenen Klientel sind bei Schlaganfallpatienten Augenbewegungsstörungen mit knapp 10% vertreten. Folgen einer Augenbewegungsstörung sind
intermittierende oder ständige Doppelbilder, falsche Lokalisationsleistungen und
eine generelle Unsicherheit bis hin zu Schwindelempfindungen. Abgesehen von diesen unangenehmen Empfindungen stellen Augenbewegungsstörungen ein deutliches Handicap in der allgemeinen Rehabilitation dar. Doppelbilder im Abblick sind
sicher nicht günstig, wenn ein Hemiplegiker wieder laufen lernen soll. Eine Blicklähmung nach unten behindert Tätigkeiten wie Treppenlaufen, Lesen oder Essen.
Die Zeit zwischen dem Auftreten einer Augenmuskelparese und der Rückbildung
bzw. definitiven Maßnahmen, gilt es möglichst gut zu überbrücken. Wenn Schielwinkelgröße und -Inkomitanz es zulassen, korrigieren wir die Augenstellung mit
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Press-on-Prismen, die im Verlauf angepasst und möglichst abgeschwächt werden.
Bei großen Schielwinkeln und deutlicher Inkomitanz wird das paretische bzw. visusschwächere Auge okkludiert. Im Erwachsenenalter ist das Wechseln des Klebers nicht nötig, da keine Amblyopiegefahr besteht. Die Rückbildung der Parese
wird weder durch eine einseitige Okklusion noch durch eine Prismenkorrektur verhindert, da Bewegungsimpulse im Sinne der doppelseitigen Innervation an beide
Augen gehen. Besteht keine ausreichende Spontanheilung der Parese, so lohnt es
sich unbedingt, die Patienten an orthoptische Zentren oder spezialisierte Augenärzte zu einer Schieloperation zu überweisen.
Bifokal- und insbesondere Gleitsichtgläser sind für Patienten nach einer Hirnschädigung oft schwierig zu nutzen, vor allem wenn Gesichtsfelddefekte oder Augenbewegungseinschränkungen bestehen. Hier hilft häufig das Verordnen einer
Einstärkenbrille.
Ziel unserer Rehabilitationsmaßnahmen ist es, den Patienten – ihrer visuellen
Störung entsprechend – die nötigen optischen Hilfsmittel, Trainingsverfahren oder
medizinischen Maßnahmen zur Verfügung zu stellen.
Literatur:
1.
Kasten E.: Übungsbuch Hirnleistungstraining. Borgmann publishing, Dortmund 1998
2. Kerkhoff G., Schindler I.: Neurovisuelle Störungen. In: Frommelt P., Grötzbach H.
(Hrsg.): Neurorehabilitation. Blackwell Wissenschaftsverlag Berlin, Wien 1999
3. Kommerell G, Lieb B, Münßinger U. Rehabilitation bei homonymer Hemianopsie. Z
prakt. Augenheilkd 1999; 20: 344-352
4. Münssinger U., Kerkhoff G.: Therapiematerial zur Behandlung visueller Explorationsstörungen bei homonymen Gesichtsfeldausfällen und visuellem Neglect. EKN Materialien für die Rehabilitation, borgmann publishing, Dortmund (1995)
5. Paul Ch.: Reha-Sehtraining. Verlag Hans Joachim Praefcke, Ravensburg 1995
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