By Annuscha Wassmann

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Annuscha Wassmann
Tagung zum Thema «Säkulares Judentum?»
Protokoll der Podiumsdiskussion „Säkularismus und jüdische Erziehung“
3 Protokoll der Podiumsdiskussion „Säkularismus und jüdische Erziehung“
Datum: Di.17. Juni
Uhrzeit: 14:30-15:45
Chair: Brigitta Rotach
DiskussionsteilnehmerInnen:
Valérie Rhein (Mitbegründerin Ofek und Jom Ijun, Schweiz)
Reuven Bar Ephraim (Rabbiner)
Henny van het Hoofd (Nederlands Israelitisch Kerkgenootschap)
Mendel Goldstein (Centre Communautaire Laïque Juif, Belgium)
Rabbi Ira Goldberg (Progressive Judaism Netherlands)
Die Moderatorin Brigitta Rotach stellt zu Beginn die PodiumsdiskussionTeilnehmenden vor. Valérie Rhein ist seit 2011 Doktorandin am Institut für Judaistik
in Bern und arbeitet am Thema „Die Religionspraxis der jüdischen Frau im Spannungsfeld zwischen Halacha und sozialer Konvention.“ Sie ist Mitbegründerin von
Ofek und Jom Ijun der Schweiz. Reuven Bar Ephraim wurde in Amsterdam geboren,
wanderte nach Israel aus, studierte in Jerusalem und liess sich als Rabbiner ausbilden. Er arbeitete und arbeitet in Israel, den Niederland und in Zürich als Rabbiner.
Henny van het Hoofd arbeitet beim Nederlands Israelitisch Kerkgenootschap (NIK),
welches ähnlich funktioniert wie das SIG der Schweiz. Sie ist zudem im Bildungsdepartement für das Curriculum zuständig und arbeitet aktuell an einem ELearningProjekt. Van het Hoofd arbeitet international vernetzt und schreibt aktuell an einer
Doktorarbeit über jüdische Erziehung in Holland. Mendel Goldstein wanderte nach
dem Abitur nach Israel aus, studierte dort Politikwissenschaften und Geschichte und
kam 1991 nach Amsterdam und Brüssel. Er wirkte als EU-Botschafter, ist seit 2011
zurück in Brüssel und fungiert dort als Vizepräsident des Centre Communautaire
Laïque Juif. Rabbi Ira Goldberg wurde in Chicago geboren und absolvierte einen
Master in Public Administration. Er arbeitet in Indien, Ungarn, USA und den Niederlanden, wo er für Erziehung zuständig war und ist.
Rotach weist darauf hin, dass die Podiumsdiskussion-Teilnehmenden alle im Bereich
der Bildung arbeiten, welcher auf diesem Podium in einem ersten Teil bearbeitet
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wird. Das säkulare Judentum und die Verbindung zur Bildungsarbeit werden in einem zweiten Teil untersucht.
Rotach fragt nach der Art und Weise der Bildungsarbeit. Goldberg erklärt, dass sie
170 Kinder für zweieinhalb Stunden am Sonntag unterrichten. Wenn die Kinder acht
Jahre lang an die Schule gebunden seien, könne eine starke Verbindung zu den Familien aufgebaut werden. Nach dem Bnei Mizwa bleibe diese Bindung bestehen. Es sei
ein Fehler, wenn nur geredet und gebetet, aber nicht viel getan werde. Entscheidend
sei in Bezug auf die Bildung, Modelle für Wertvorstellungen zu entwickeln. In Bezug auf Bnei Mizwa seien sie daran, die Idee zu entwickeln, ein InnovationsProgramm aufzubauen, um den jungen Leuten die Idee des Unternehmertums zu
ermöglichen. Dabei stehe soziale Innovation in der jüdischen Gemeinde im Fokus.
Auf junge und frische Art aufgezogene Kurse werden zudem angeboten. Die Idee
sei, dass die Jugendlichen merken, dass sie erfolgreich sein können. „Business
ethics“ sei dabei der zweite wichtige Aspekt. Der Fokus liege bei diesen Projekten
darauf, die Welt zu einem besseren Platz zu machen. Dieser Ansatz sei eine Art von
angewandtem Judentum.
Rhein beschreibt den Verein Offek, welcher in der israelitischen Gemeinde Basel
wirkt. Die Idee sei, dass alle Mitglieder der Gemeinde, egal wo sie stehen, praktizieren können. Der Verein wurde 1990 gegründet und gewann in kürzester Zeit über
200 Mitglieder. Am Anfang stand das Bedürfnis nach niederschwelligen Angeboten.
In schweizerischen Einheitsgemeinden, aus verschiedenen Jüdinnen und Juden bestehend, fühlen sich gemäss Rhein viele unorthodoxe Jüdinnen und Juden unsicher
gegenüber den orthodoxen Jüdinnen und Juden. Auch wer ein jüdisch orthodoxes
Leben praktiziere, müsse jedoch nicht zwingend viel wissen. Unorthodoxe Jüdinnen
und Juden würden sich oft nicht in orthodoxe Bildungsangebote trauen, aus Angst,
zu wenig Vorwissen mitzubringen oder sich blosszustellen. Nicht politisches Engagement sondern Bildung für Erwachsenen sei dabei ein zentrales Anliegen. Rhein
fühlt sich, auf eine entsprechende Frage von Zwiep eingehend, dazu angetrieben,
solche Angebote aufzubauen, dass allen ermöglicht wird zu lernen. Lernen habe auch
einen verbindenden Charakter, es könne dabei auch gemeindeunabhängig gewirkt
werden. Es gehe nicht um das Umsetzen und das Leben, sondern um das Lernen, was
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eine verbindende Wirkung habe. Alle sollten sich im Bildungsangebot des Offek
willkommen fühlen und keine Angst haben, sich blosszustellen.
Rotach fragt nach dem speziell jüdischen Erziehungsfeld, welches die Podiumsdiskussion-Teilnehmenden beschäftigt. Für Bar Ephraim ist das Lernen der Kern des
Judentums. Oft werde gefragt, ob die Tat oder das Lernen wichtiger sei, für einige
gehe das eine nicht ohne das andere. Es gehe jedoch nicht ohne lernen, das Lernen
höre nie auf, insistiert Bar Ephraim. Die besten Momente für das Lehren seien nicht
in erster Linie oder nicht nur die organisierten formellen Studien. So gebe es Chancen, während einem Gespräch oder während einem Anlass jemandem etwas zu erklären, indem man „in einer Nussschale“ Wissen vermittle, welches vielleicht besser bei
den Leuten bleibe, als wenn sie eine Stunde ein Programm durcharbeiten würden.
Trotzdem bestehe eine Abhängigkeit von organisierten Momenten. Bar Ephraims
betont, dass die Realität sei, dass die Kinder, die in den Umzgi gehen, aus verschiedenen Orten aus Zürich und der Umgebung kommen, da eingebunden seien und das
Judentum für sie weniger eine Alltagssache sei. Während eineinhalb Stunden werde
im Umzgi versucht, ihnen die ganze Rabbiner-Arbeit beizubringen. Am wichtigsten
sei ihm dabei, dass die Kinder eine durchaus positive Erfahrung in einem jüdischen
Umfeld machen. Wenn man fünf bis sechs Jahre dabei sei, identifiziere das, was verstärkend in Bezug auf die jüdische Identität wirke.
Rotach bringt ein, dass van het Hoofd oft als „Miss Jewish Education“ benannt werde und fragt sie, was sie mache vor allem in Bezug Elearning. Van het Hoofd führt
aus, dass es sich um ein Programm handle, welches neu starten werde. Die meisten
Kinder der Umgebung leben in kleineren Gemeinden auf dem holländischen Land,
führen kaum einen orthodoxen Lebenswandel und gehen nicht in eine jüdische Schule. Van het Hoofds Idee sei es, dass die Eltern und Kinder sich in einem jüdischen
Umfeld wohl fühlen, nicht nur in der Synagoge, sondern auch an kulturellen und
ähnlichen Plätzen. Rotach verweist darauf, dass für Bar Ephraim das Wichtigste sei,
dass die Kinder sich wohlfühlen und fragt van het Hoofd, ob sie das ähnlich sehe.
Van het Hoofd bestätigt dies und erzählt von der Entwicklung eines Curriculums,
wie man sich in einem jüdischen Umfeld benimmt und fühlt, auch gegenüber den
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Eltern. Der Unterricht solle etwas enthalten, was Eltern zu hause auch umsetzen
können. Das NIK habe eine Website, auf welcher Eltern sehen können, was ihre
Kinder gelernt haben und was zu hause umgesetzt und getan werden könne, ausgestattet mit Downloadmöglichkeiten und ausdruckbaren Dokumenten. Einzelne Dokumente der 10-jährigen Website seien bis zu 1500 Mal gedownloadet worden, auch
Leute ausserhalb der Gemeinde nutzen die Dokumente. Bar Ephraim erzählt, dass er
zwei Mal jährlich einen Lernsonntag mit einem jüdischen Thema organisiere, an
welchem die Kinder in Begleitung mindestens eines Erwachsenen teilnehmen, die
Eltern also nach Möglichkeit eingebunden werden. Es handle sich um einen Lernevent, bei welchem man lerne und eine gute Zeit zusammen verbringe. Van het Hoofd
will kleine Gruppen von gleichaltrigen Kindern gründen, welche aus verschiedenen
Dörfern kommen. Diese Kinder lernen in einem virtuellen Klassenraum jeweils eine
Stunde pro Woche. Alle sechs Wochen findet ein reales Treffen statt, an welchem
diese Gruppe an einem Ort zusammenkommt und zusammen lernt.
Rotach fordert Goldstein auf, von der Wirkungsweise der Institution „Centre Communautaire Laïque Juif“ in Belgien zu erzählen. Gemäss Goldstein besteht dieses
Zentrum seit über 50 Jahren in Brüssel. Dessen Ziel ist es, die Beibehaltung des Judentums zu unterstützen im Kampf gegen die Assimilation. Die Leitidee sei, dass
dies am besten erreicht wird, wenn das Judentum geöffnet wird für alle die, die aus
verschiedenen Gründen nicht in die klassischen jüdischen Zentren gehen. Die Mitglieder des Zentrums seien bewusste Jüdinnen und Juden, welche Bildung und Erziehung als Schlüssel zur Erreichung der gesetzten Zielsetzungen sehen. Das Zentrum sehe sich als Ergänzung oder als Stellvertreter und vertrete ein säkulares Judentum. Es sei auf die westliche Realität gemünzt. Das Zentrum bietet auch Bildungsprogramme für Kinder, Jugendliche, Eltern und alle Semester an. Es bestehe ein
reichhaltiges Programm über das Jahr hinweg mit Vorlesungen von Rabbinern, Philosophiekursen, Jugendarbeit, Kindertagesstätten usw. 200 Kinder seien Teil der Jugendbewegung, in welcher auch Israel zentral thematisiert werde. Es werde nicht
gebetet, aber jüdischer Inhalt vermittelt, ohne auf den rein religiösen Aspekten zu
bestehen. Rotach fragt nach den Gründen für eine jüdische Erziehung ohne Religion.
Goldstein nennt die Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Tradition und einer Ge-
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schichte. Religion spiele dabei eine wichtige Rolle. Viele Jüdinnen und Juden leben
jedoch die Religion nicht, wollen aber doch ein jüdisches Leben führen. Kulturelle
Feste, ist Goldstein überzeugt, gehören allen Jüdinnen und Juden, auch den Nichtgläubigen. Also sollten solche Anlässe auch ohne religiöse Riten angegangen werden. Besonders wichtig sei dies bei Bnei Mizwa. Feste seien Anlässe, um über das
Judentum zu lernen im Zusammenhang mit Interpretationen in moralischem, nicht in
religiösem Sinne. Beispielsweise durch das Erstellen von Stammbäumen werden sich
die Kinder ihres Platzes in ihrer Familie bewusst, sie machen zudem Sozialeinsätze,
beispielsweise in Altersheimen. Rotach fragt die zwei anwesenden Rabbiner, wie sie
auf dieses neue Konzept reagieren. Bar Ephraim fragt daraufhin nach dem Unterschied zwischen Moral und „religiös“. Goldstein entgegnet, dass das Zentrum den
Mensch in den Mittelpunkt der Arbeit stellt und dass sie auch Leute haben, die glauben. Der Glaube sei aber etwas, was jede und jeder für sich entscheiden könne.
Goldberg betont, dass er wisse, dass 80 Prozent der Leute, die in seine Synagoge
kommen, nicht an Gott glauben. So gross sei die Distanz zwischen Goldsteins Zentrum und seiner Synagoge also nicht. Seine Gemeinde habe ein neues Gebäude als
Gemeinde-Zentrum gebaut. Alle Rabbiner in Niederlanden seien der Meinung, dass
Aspekte des Sozialen und der Tradition und nicht die Religion die meisten Leute in
die Synagoge treibe. Er lobt auch das Lernniveau von Goldsteins Zentrum. Verantwortung sei auch ihm wichtig. Einer der ersten Akte als junger Erwachsener sei seiner Meinung nach, das Leben vor Ort besser zu gestalten, die Ziele seien also ähnlich. Rhein betont, dass im Vergleich der Institutionen diesen die Auseinandersetzung mit dem Judentum und das Lernen zum Judentum gemeinsam sei. Die Situation
in der Schweiz zeige, dass die Gefässe, in denen Wissen vermittelt werde, manchmal
auch eine Hürde seien, eine Schwellenangst und Rollenmodelle auferstehen lassen
oder wahren. Wenn der Lehrkörper eine bestimmte Richtung des Judentums fördere,
habe ein anderer Teil der Gemeinde keine Vorbilder. Die Auseinandersetzung ohne
religiösen Hintergrund sei ein System, über das nachgedacht werden müsse. Der familiäre und praktizierende Hintergrund müsse einen Platz haben, aber der könne
auch in den Hintergrund treten. Was die Zukunft anbelangt und wenn sich Menschen
entscheiden müssten, wie sie in Zukunft leben möchten, sei das Wissen, wie man
Entscheidungen treffe, entscheidend. Goldberg ist der Meinung, dass Menschen nicht
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für Geld arbeiten, sondern für die Selbstentwicklung, die Kontrolle über die eigene
Arbeit. Für Jüdinnen und Juden sei Bildung wichtig. Es gehe dabei darum, das Potenzial gut gebildeter Jüdinnen und Juden zu nutzen in einer Umgebung, welche eine
Selbstverwirklichung ermögliche. Der Schlüssel zu guter jüdischer Bildung sei, „skills“ zu vermitteln. Van het Hoofd ist der Meinung, dass säkulare und orthodoxe Institutionen nebeneinander bestehen und die Menschen vielseitig inspirieren sollten. Es
sei wichtig, mit den Leuten und auch den Eltern zur reden und sie zu fragen, was sie
ihren Kindern beibringen wollen. Ihr sei aufgefallen, dass viele unorthodox lebende
Eltern sich wünschen, dass ihre Kinder die orthodoxe Lebensweise kennenlernen.
Dies, weil die Kinder vielleicht Häuser besuchen, deren Bewohnende orthodox leben, sie orthodox lebende Freunde haben oder einen Menschen heiraten werden, der
orthodox lebt.
Rotacht stellt eine Verbindung zur Säkularismusdebatte her und bringt zum Ausdruck, dass interessant sei, dass das Spirituelle eine immer wichtigere Rolle zu spielen scheine. Rotacht fragt Goldstein, ob das der alten Säkularismustheorie wiederspreche, dass es keine religiöse Verbindung brauche. Goldstein betont, dass seiner
Meinung nach alle Initiativen, um Jüdinnen und Juden zusammenzubringen, willkommen seien. Es sei wichtig, mit der Zeit zu gehen. Sein Zentrum biete auch Programme für nicht-jüdische Kinder an. In Brüssel leben in manchen Stadteilen bis zu
40 Prozent Musliminnen und Muslimen. Es sei wichtig, in der heutigen Zeit auch
von jüdischer Quelle präventiv etwas zu machen und gegen negative Bilder zu arbeiten. Beispielsweise DVDs, in welchen KZ-Überlebende sprechen, seien Vermittlungswege, welche berühren. Rotach fragt, ob die Rückkehr der Spiritualität das
Zentrum in Frage stelle. Goldstein ist der Meinung, dass dies nicht der Fall ist, dass
aber Konkurrenz das Geschäft belebe und sie gut mit dieser leben können. Van het
Hoofd betont, dass diese Spiritualität nicht alle anspreche. Die Kontinuität des jüdischen Lebens bewege sie. Um jüdisches Leben an nachfolgende Generationen weiterzugeben brauche es jüdische Gemeinden, egal in welcher Form. Bar Ephraim
bringt ein, dass in Zürich die Kontakte zwischen jüdisch religiös orientierten Gemeinschaften und der nicht-jüdischen Welt stark gepflegt werden, beispielsweise
durch das Forum der Religionen. Dort werden wöchentlich Gruppen aus Schulen
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empfangen, welche im Rahmen des Schulfaches „Kultur und Religion“ in die Synagogen kommen, etwas über das Judentum lernen und dabei Kontakte mit Jüdinnen
und Juden haben.
Rotach lenkt die Aufmerksamkeit auf eine These, welche die Abnahme der gesellschaftlichen Relevanz von Religion proklamiert. Sie fragt die PodiumsdiskussionsTeilnehmenden, was sich in deren Art von Arbeiten verändern würde durch eine solche grosse gesellschaftliche Veränderung. Rhein findet es interessant, Europa und
Israel über die letzten zwanzig Jahre zu vergleichen. In Israel stehe allgemein das
Lernen und die Bildung im Zentrum, in Europa gebe es eher das Bedürfnis, sich in
alternativen Gottesdienstformen auszudrücken, Erfahrung und Praxis würden hier im
Fokus stehen. Goldstein bringt ein, dass eine Abnahme der Religion für sein Zentrum
Zulauf bedeute. Heute umfasse es 600 Familien und sei damit das grösste jüdische
Zentrum in Belgien. In Brüssel hätten die grossen Synagogen, auch an Shabbat, sehr
wenige Leute und es gebe eine Vermehrung von kleinen Synagogen zulasten der
traditionellen. Bar Ephraim ist der Meinung, dass worüber früher nicht gesprochen
wurde heute geredet werden müsse, dies jedoch zu einer Abspaltung führen könne.
Ein Beispiel sei die Beschneidungsdebatte in Europa. Dazu wurde in seiner Gemeinde ein Gespräch lanciert. Man merke, dass immer mehr Leute, solche welche die
Tradition leben und auch nicht, sich heute Gedanken über die Gültigkeit der Beschneidung machen. Das sei vor 30 oder 50 Jahren in der liberalen jüdischen Welt
ein No-Go gewesen, heute liege das Thema auf dem Tisch. Das sei eine Bewegung,
welche die Verflochtenheit mit der säkularisierten Welt aufzeige.
Rotach thematisiert die heute grösser gewordene Wahlfreiheit und das Vorhandensein von mehr Möglichkeiten Dinge anzusprechen und fragt, ob mehr Wahl besser ist
oder so mehr Probleme entstehen. Goldberg ist der Überzeugung, dass mehr Wahlmöglichkeiten ein positives Zeichen ist. Traditionelle Institutionen seien „gatekeepers“. Es brache so viele Türen wie möglich, damit möglichst viele interessierte Leute den Weg hinein finden. Goldberg plädiert dafür, die Grenzen zu senken, damit
mehr Leute sich wohl fühlen in den Gemeinden. Er betont, dass Menschen immer
noch nach Sinn und nach höheren Werten schauen, über das, was wir sind, hinausge-
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hend. Die Gemeinden offerieren das. Es sei die Frage, wie sie sich bewerben. Es gehe darum, Stereotype zu sprengen, beispielsweise darüber, was in einer Synagoge
passiert. Wenn neue Attitüden über das Judentum gebildet und verschiedene Innovationen gegründet werden, sei dies ein reicheres Erfahren für alle. Goldstein ist der
Überzeugung, dass sein Zentrum den Wunsch nach Sinn im Leben erfüllt. Er betont,
dass sie sehr viel anbieten, damit Leute lernen, sie Freude am Leben haben und sich
über neue Entwicklungen informieren können. Eine neue Spiritualität sei nicht ihre
Spezialität. Man müsste seiner Meinung nach jedoch „bottom up approaches“ akzeptieren, falls solche in Bewegung kommen würden. Van het Hoofd erzählt aus ihren
Beobachtungen aus Amsterdam. Ihr falle auf, dass Leute, welche das erlernte Wissen
nutzen, oft weg nach Israel, in die USA oder nach London ziehen, da sie dort ihre
Kinder in grösseren jüdischen Gemeinden erziehen können. Van het Hoofd betont
anhand eines Erlebnisses, dass es die Verantwortung der Gemeinden sei, einladend
zu wirken. Viele junge Leute bleiben ihrer Meinung nach dort, wo sie sich wohl fühlen, egal, was für ein Hintergrund die Orte oder Gemeinden haben.
Rotach weist als Schlussfrage auf das „?“ im Titel der Tagung hin und fragt die Podiumsteilnehmenden nach deren grösste Fragen, welche sie den Organisierenden
dieser Tagung für ihre weitere Arbeit mitgeben wollen. Rhein fragt sich, weshalb
gewisse von Studentinnen am heutigen Nachmittag präsentierte säkulare jüdische
Organisationen säkular wirken, obwohl sie ebenso gut in die normative Halacha gehören könnten. Bar Ephraim empfindet die Trennung zwischen Religion und moralischem Leben als ungünstig und betont, dass diese nichts bringe. Jüdische Tradition
könne vielseitig für ein moralisches Leben dienen. Er fragt sich zudem, wie das Judentum bestehen könne, wenn die Jüdinnen und Juden nicht mit der Bewegung der
Gesellschaft mitgehen. Van het Hoofd möchte das „?“ in ein „+“ verändern, um das
säkulare, das religiöse und das kulturelle Judentum miteinander zu verbinden, um das
gesamte Spektrum des Judentums aufzuzeigen, worin jede Jüdin und jeder Jude etwas Passendes dabei finden könnte. Goldstein plädiert für das Ersetzen des „?“ durch
ein„!“. Er habe versucht, eine Analyse von der Brüssel-Erfahrung zu machen und
habe dabei Schwächen und Bedrohungen gefunden. Am offensichtlichsten sei ein
Defizit an Inhalten. Es habe säkulares Judentum immer schon gegeben. Die Frage
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sei, wie dieses zusammenwirken könne mit dem orthodoxen Judentum, um eine vereinte Stärke zu erlangen. Goldberg hat die Thematisierung dessen vermisste, was den
Unterschied von Leuten unter und über 40 ausmacht. Seine Institution sei von
Kriegsüberlebenden gegründet worden, welche die Bedürfnisse der dritten und vierten Nachkriegsgeneration nicht treffe. Die Tagung konzentrierte sich zudem auf
Menschen, welche in Synagogen gehen oder an säkularen anderen jüdischen Aktivitäten teilnehmen. 60 bis 80 Prozent der jüdischen Gemeinde hätten jedoch keinen
Kontakt mit jüdischen Inhalten, diese Thematik müssen auch behandelt werden.
Mitwirkung des Publikums
Das Podium wird für Fragen und Statements aus dem Publikum geöffnet. Das erste
Statement aus dem Publikum betont, dass während der Tagung viel von Bedrohung
und Marketing geredet wurde. Das Hauptproblem sei, eine Inklusion zu erwirken, so
dass die Menschen beim Judentum bleiben. Das Thema Ethik sei aufgeblitzt, aber
nicht gross mit Inhalt gefüllt worden. Die Frage, wie man mit dem Anderen und dem
Gegenüber umgehe, sei spannend. Israel spreche für alle Jüdinnen und Juden, handle
aber auch zu einem grossen Teil anti-ethisch. Der Teilnehmer fragt, ob diese Umstände auch ein Thema seien und ob es Ethikbewegungen gebe. Goldberg verweist
daraufhin auf das Lernen der Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft, welches
wichtig sei. Für ihn als Jude sei zentral, sensitiv zu sein für den Fakt, dass es verletzliche Menschen gebe und die Verantwortung für diese übernommen werden müsse.
Diese Verantwortung müsse gelehrt werden. Sein Workshop im Anschluss an das
Podium werde sich unter anderem dieser Thematik widmen.
Das zweite Statement aus dem Publikum zeigt auf, dass an der Tagung viel von den
Krisen im Judentum geredet wurde. Was und wie die nächsten Generationen sein
werden, sei ein grosse Thema gewesen. Ein Rückblick in die jüdische Gesellschaft
zeige, dass das Judentum sämtliche Krisen überstanden habe. Der Teilnehmer möchte mehr Hoffnung verbreiten. Ob die Gemeinden überleben, wisse er nicht. Aber das
Judentum werde überleben, davon sei er überzeugt. Er weist darauf hin, dass man
nicht wissen könne, was die nächsten Generationen machen, weil man diese nicht
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kenne. Das Hoffnungsprinzip für das Judentum dürfe man jedoch nicht verlassen.
Und dann brauche es Mittel und Wege, damit das Judentum weiterbestehen könne.
Ein dritter Teilnehmer weist drauf hin, dass zu Beginn des Podiums das angenehme
jüdische Klima angetönt wurde und fragt sich, wie ein solches Klima entwickelt
werden könne. Bar Ephraim antwortet, dass im Umski seiner Gemeinde ein angenehmes jüdisches Klima herrsche. Das liege daran, dass sie ausgezeichnete Lehrpersonen häten, ein gutes Programm sowie ein schönes Lehrmittel. Wenn man mit Liebe
unterrichte, sei weniger wichtig, was man übermitteln wolle.
Bevor Rotach zum Kaffee einlädt, stellen die Podiumsteilnehmenden ihre Workshops vor, welche im Anschluss an das Podium stattfinden.
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