Verleihung des Meister-Eckhart

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Verleihung des Meister-Eckhart-Preises an
Richard Rorty
PRESSEMAPPE
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Meister-Eckhart-Preis
Inhalt der Pressemappe
3........ Richard Rorty erhält Meister-Eckhart-Preis
Jürgen Habermas hält Laudatio
4........ Meister-Eckhart-Preisträger Richard Rorty
Begründung der Jury
5........ Das Werk von Richard Rorty
Kurzporträt von Thomas Schäfer
8........ Biografische Notiz: der Preisträger Richard Rorty
9........ Richard Rorty - zitiert
10...... Richard Rorty: Bemerkungen anlässlich der
Verleihung des Meister-Eckhart-Preises
Es gilt das gesprochene Wort
19...... Jürgen Habermas: Das Entzücken am Schock der Deflationierung.
Meister-Eckhart-Preis für Richard Rorty
Es gilt das gesprochene Wort
25...... Kurzporträt Identity Foundation
27...... Kurzporträt Meister Eckhart
Fotos
Richard Rorty
Jürgen Haberma
Alle Texte finden Sie im Internet unter www.identity-foundation.de/aktuelles.htm
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PRESSEINFORMATION
Richard Rorty erhält Meister-Eckhart-Preis
Laudatio hält Jürgen Habermas
Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Der US-amerikanische Philosoph und
Buchautor Richard Rorty erhält den von der Identity Foundation mit 50.000 Euro
dotierten Meister-Eckhart-Preis. „Sein schriftstellerisches Gesamtwerk sticht durch
Prägnanz, Vielseitig-keit, argumentativen Reichtum und auch Witz hervor“,
begründete die Jury ihre Entscheidung. Die Laudatio bei der Preisübergabe am
3. Dezember im Deutschen Architektur Zentrum in Berlin hält Jürgen Habermas,
einer der bedeutendsten deutschen Philosophen der Gegenwart. Preisträger
Richard Rorty gilt unter internationalen Geisteswissenschaftlern als hochrangiger
philosophischer Grundlagenforscher. Rorty hat in seinen Arbeiten nie den
Lebensbezug verloren. Das zeige sich auch in seiner literarischen Gestaltungskraft,
meinte die Jury.
Der Meister-Eckhart-Preis wird in diesem Jahr zum ersten Mal von der Identity
Foundation vergeben. Er ist benannt nach dem damaligen Theologie-Professor
und Philosophen, der sich bereits im 14. Jahrhundert mit der Frage der Identität
beschäftigte und sie auf folgende Formel brachte: „Nim Din selbes wahr“.
Der Jury des Meister-Eckart-Preis gehören an: Dr. Franziska Augstein,
Kulturredakteurin der Süddeutschen Zeitung und Sachbuchautorin, Prof. Dr.
Michael von Brück, Leiter des Instituts für Religionswissenschaft an der Universität
München, Prof. Dr. Kurt Flasch, emeritierter Philosophieprofessor an der Universität
Bochum, Prof. Dr. Detlef B. Linke, Professor für klinische Neurophysiologie und
Neurochirurgische Rehabilitation der Universitätskliniken Bonn sowie Dr. Gustav
Seibt, Historiker und Kritiker (Autor der Süddeutschen Zeitung).
Die Identity.Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung, die wissenschaftliche
Arbeiten über Fragen zur Identität im persönlichen, gesellschaftlichen und globalen
Kontext fördert. Sie wurde 1998 von Margret und Paul J. Kohtes, Vorsitzender
Partner der größten europäischen Beratungsgesellschaft für
Unternehmenskommunikation, ECC Kohtes Klewes GmbH mit Hauptsitz in
Düsseldorf, gegründet.
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PRESSEINFORMATION
Meister-Eckhart-Preisträger Richard Rorty
Begründung der Jury
Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – "Die Jury verleiht den Meister-EckhartPreis 2001 an Professor Richard Rorty. Sie anerkennt damit eine philosophische
Grundlagenforschung von weiter Ausstrahlung auf die Humanwissenschaften und
auf das ethisch-politische Selbstverständnis der Gegenwart. Sie würdigt die
Präzision seiner Denkarbeit und ihren weiten kulturellen Horizont. Sie anerkennt
eine kenntnisreiche Traditionskritik von befreiender Heiterkeit.
Richard Rorty ist der Versuch gelungen, Motive des amerikanischen Pragmatismus
mit Argumenten der kontinentalen, insbesondere der deutschsprachigen Tradition
ins Gespräch zu bringen. Durch subtile Untersuchungen von Vernunft und
Erkenntnis hat er neue Rationalitätsmuster eröffnet, die es erlauben, Kulturen
und Wissensformen zwar zu relativieren, aber sowohl ihre Andersheit als auch
ihre Einheit deutlicher zu sehen, als das in den bisherigen Kulturwissenschaften
möglich war. Er hat zu aktuellen politischen Fragen, zum Beispiel der Bewertung
des Kalten Krieges oder des Feminismus, argumentierend Position bezogen. Er
hat durch seine Kritik der Ideologie-Kritik die Rolle der Intellektuellen in der
Gegenwart neu bestimmt.
Die Jury zeichnet ein schriftstellerisches Werk aus, das hervorsticht durch Prägnanz,
Vielseitigkeit, Gesprächsfähigkeit und Witz. Sie ehrt das Zusammentreffen von
argumentativem Reichtum, Lebensbezug und literarischer Gestaltungskraft, wie
sie für das Werk Meister Eckharts charakteristisch ist."
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PRESSEINFORMATION
Das Werk von Richard Rorty
Kurzporträt von Thomas Schäfer
Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Richard Rorty gilt als einer der radikalsten
anti-metaphysischen Denker unserer Zeit. Sein Werk ist zutiefst geprägt von
einem atheistischen Grundmotiv, das sich in der ethischen These ausdrückt:
"Wir sollten versuchen, an den Punkt zu kommen, wo wir nichts mehr verehren,
nichts mehr wie eine Quasi-Gottheit behandeln, wo wir alles, unsere Sprache,
unser Bewusstsein, unsere Gemeinschaft, als Produkte von Zeit und Zufall
behandeln."
(Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 50)
Dieser ‚Atheismus‘ Rortys beinhaltet zugleich ein anti-fundamentalistisches
theoretisches Denken und eine antiautoritäre praktische Haltung. Das heißt: Alles,
was wir denken oder wünschen, kann nicht auf ein letztes vermeintlich wahres
Fundament zurückgeführt werden; und jeder Anspruch auf höhere Autorität ist in
diesen Fragen zurückzuweisen, weil es keine allgemeingültige Autorität für alle
Menschen gibt. Rortys Begründung dafür ist, dass wir Menschen nicht darauf
rechnen können, uns wechselseitig zu überzeugen. Das gibt es zwar manchmal,
nämlich unter Gleichgesinnten ("Wir-Gruppen"), aber nicht alle gehören dazu,
und damit gibt es immer wieder einen unauflöslichen Dissens. Rorty ist deshalb
dieser Auffassung, weil er anerkennt, dass es nicht die eine Vernunft aller Menschen
gibt, und dass die Welt und unser Leben nicht nur in einer Weise richtig oder
angemessen beschrieben werden können. Denn die Welt sagt uns nicht, wie wir
sie richtig zu beschreiben haben, weil wir keinen direkten Zugang zu ihr haben.
Rorty sagt dazu:
"Die Welt spricht überhaupt nicht, nur wir sprechen." (Kontingenz, Ironie und
Solidarität, 1989, S. 25)
Deshalb gebe es viele Vokabulare zur Wirklichkeitsbeschreibung, die alle weder
wahr noch falsch seien, sondern – insofern ist Rorty ‚Pragmatist‘ – nützlich oder
unnütz.
Die vielen, nicht nur theoretisch möglichen, sondern auch praktisch vorhandenen
Vokabulare sind in Rortys Augen somit auch kein Problem oder ein Störfaktor,
sondern ein Gewinn. Und er fordert:
"Lasst tausend Vokabulare blühen!"
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Damit wendet Rorty sich philosophisch gegen die sogenannte
"Korrespondenztheorie der Wahrheit", die davon ausgeht, dass die Wirklichkeit
mit einer passenden Darstellung richtig – also "wahr" – beschrieben werden
könnte. Denn diese Theorie neigt dazu, einer angeblich richtigen Sicht der Dinge
gegenüber vermeintlich falschen eine höhere Autorität zu verleihen. Rorty ist zwar
gegen diesen erkenntnistheoretischen Autoritarismus, er hat aber durchaus
Verständnis für solch einen Glauben, indem er sagt:
"Es fällt schwer, sich von einer Weltdarstellung verzaubern zu lassen
und sich zu allen anderen tolerant zu verhalten." (Solidarität oder
Objektivität?, 1988, S. 110)
Dennoch muss man nach Rorty der Versuchung widerstehen, seine eigene Sicht
der Dinge als absolut oder wahr zu erklären. Obwohl genau das die Philosophie
in seinen Augen immer wieder in schlechter Schülerschaft Platons getan hat:
"Ich denke, dass die philosophische Tradition von einer Art sadomasochistischem Drang beherrscht war, eine Macht zu finden – das
Sein, die Realität, die Vernunft oder Gott genannt – um sich selbst
damit zu verbünden." (Interview mit Thomas Schäfer für
DeutschlandRadio Berlin, 1996)
Ein solcher Wahrheitsglaube widerspräche aber der demokratischen Utopie, für
die Rorty letztlich schreibt, und die das politische Motiv hinter seinen philosophischen
Schriften darstellt. Deshalb spricht Rorty von einem "Vorrang der Demokratie vor
der Philosophie": Nicht die Philosophie begründet die Demokratie, sondern
umgekehrt gelte es, eine Philosophie zu vertreten, die der Demokratie am
Nützlichsten ist. Und das ist für Rorty der Pragmatismus. Sie passt seiner Meinung nach am besten zu einer demokratischen Utopie, die er wie folgt beschreibt:
"Ein demokratisches Utopia wäre eine Gemeinschaft, in der nicht
die Suche nach der Wahrheit, sondern Toleranz und Neugier als
intellektuelle Kardinaltugenden gelten. Dies wäre eine Gemeinschaft,
in der es nichts gäbe, was auch nur entfernt einer Staatsreligion
gleichkäme." (Eine Kultur ohne Zentrum, 1993, S. 90).
Diese demokratische Grundauffassung ist für Rorty aber, wie auch all seine
anderen Überzeugungen, keine "Wahrheit", sondern etwas, was uns nun einmal
prägt und bestimmt, und für das wir uns engagieren, weil wir nun einmal Liberale
und Demokraten sind, und nicht, weil wir damit anderen gegenüber im Recht
seien. Diesen, wie Rorty es nennt, "Ethnozentrismus" müssen wir schlicht
"seite"
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anerkennen und zu ihm stehen, ohne ihn aber zu einer universellen Wahrheit
oder Vernunft zu erhöhen. Diese Absage an eine höhere Rolle der Philosophie
ist für ihn deshalb kein Problem, weil wir unsere - z.B. moralischen - Überzeugungen
und Haltungen ohnehin nicht durch philosophische Demonstrationen oder Beweise
erlangen, sondern eher durch gefühlsmäßig anrührende Literatur, z.B. Romane
wie "Onkel Toms Hütte". Das ist der Grund dafür, dass Rorty häufig für die Literatur
und gegen die Philosophie plädiert – und dass er inzwischen in der Tat an einem
literaturwissenschaftlichen Department (der Stanford University) arbeitet.
Der Autor:
Thomas Schäfer, Dr. phil., geboren am 11.07.1955 in Bielefeld
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie,Lehrstuhl "Praktische
Philosophie", der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Schwerpunkte:
Sozialphilosophie und Ethik. Mentor für Philosophie, Soziologie und
Erziehungswissenschaft an Studienzentren der Fern-Universität Hagen.
Herausgeber von „Hinter den Spiegeln“, Beiträge zur Philosophie Richard Rortys
mit Erwiderungen von Richard Rorty, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001.
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PRESSEINFORMATION
Biographische Notiz: der Preisträger Richard Rorty
Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Richard Rorty wurde am 4. Oktober 1931
in New York City geboren. An der University of Chicago erwarb er 1949 den B.A.
und 1952 den M.A., 1956 den Ph.D. an der Yale University. Nach Ableistung des
Militärdienstes (1957-58) war er von 1958 bis 1961 als Instructor und Assistant
Professor am Wellesley College tätig; von 1961 bis 1982 lehrte er am Princeton
Philosophy Department, das er als Stuart Professor of Philosophy verließ, um
den Posten des University Professor of Humanities an der University of Virginia
zu übernehmen. Seit 1998 lehrt Richard Rorty an der Stanford University
Comparative Literature und Philosophy. Neben zahlreichen Gastprofessuren in
den USA und in Deutschland (Frankfurt a.M., Heidelberg) war und ist er Fellow
verschiedener Institutionen, darunter am Center for Advanced Study in the
Behavioral Sciences in Stanford (1982-83), am Wissenschaftskolleg in Berlin
(1986-87), an der American Academy of Arts and Sciences und am Stanford
Humanities Center (1996-97).
Unter seinen Veröffentlichungen sind folgende Bücher hervorzuheben: The
Linguistic Turn (Hrsg.), Chicago: University of Chicago Press, 1967; Der Spiegel
der Natur: eine Kritik der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981;
Consequences of Pragmatism, Minneapolis: Minnesota University Press, 1982;
Philosophy in History (Hrsg. zus. mit Jerome B. Schneewind und Quentin Skinner),
Cambridge: Cambridge University Press, 1984; Solidarität oder Objektivität?,
Ditzingen: Reclam Universal-Bibliothek, 1988; Kontingenz, Ironie und Solidarität,
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989; Objectivity, Relativism and Truth: Philosophical
Papers I, Cambridge: Cambridge University Press, 1991; Essays on Heidegger
and Others: Philosophical Papers II, Cambridge: Cambridge University Press,
1991; Eine Kultur ohne Zentrum, Ditzingen: Reclam Universal-Bibliothek, 1993;
Hoffnung statt Erkenntnis: Einleitung in die pragmatische Philosophie, Wien:
Passagen Verlag, 1994; Stolz auf unser Land, Frankfurt am Main: Suhrkamp,
1999; Truth and Progress: Philosophical Papers III, Cambridge: Cambridge
University Press, 1998; Philosophy and Social Hope, London: Penguin, 2000.
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PRESSEINFORMATION
Richard Rorty - zitiert
"Die Philosophie sollte den Versuch unterlassen, für beruhigende Gewissheit zu
sorgen." (Hoffnung statt Erkenntnis, 1994, S. 24f)
"Ich bin sehr froh darüber, all die Jahre damit verbracht zu haben, philosophische
Bücher zu lesen. Denn ich lernte dabei etwas, das mir immer noch wichtig scheint:
dem intellektuellen Snobismus zu misstrauen, der mich selbst ursprünglich dazu
führte, sie zu lesen." (Wilde Orchideen und Trotzky, Essay, S. 50)
"Wir müssen für das Gespräch sorgen, dann kann die Wahrheit gut für sich selbst
sorgen."
"Interessante Philosophie ist nur selten eine Prüfung der Gründe für oder wider
eine These."
"Zusammengehalten werden Gesellschaften durch gemeinsame Sichtweisen und
Hoffnungen." (Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 147f)
"Sprache hat die Macht, neue und andere Dinge möglich und wichtig zu machen."
(Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 147f)
"Die Hoffnung auf die Erfindung neuer Möglichkeiten des Menschseins hat Vorrang
vor dem Bedürfnis nach Stabilität, Sicherheit und Ordnung." (Hoffnung statt
Erkenntnis, 1994, S. 89)
„Wahrheit und Wissen sind eine Sache der sozialen Kooperation, und die
Wissenschaft gibt uns die Mittel an die Hand, bessere kooperative soziale Pläne
auszuführen als zuvor.“ (Ansprache, Berlin, 3. Dezember 2001)
„Wenn man Wahrheit will, dann ist die jeweils aktuelle Verbindung von Wissenschaft
und gesundem Menschenverstand alles was man braucht.“ (Ansprache, Berlin,
3. Dezember 2001)
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MANUSKRIPT
Richard Rorty: Bemerkungen anlässlich der Verleihung
des Meister-Eckhart-Preises
- Es gilt das gesprochene Wort Berlin, 3. Dezember 2001 – Obwohl ich - als Amerikaner und Patriot - besonders
stolz auf den Beitrag der amerikanischen Pragmatisten zum philosophischen
Denken bin, meine ich doch, dass die Philosophie vor allem im Land Kants und
Hegels zu Hause ist. Der fortdauernde Einfluss dieser beiden Männer hat das
intellektuelle Leben in Deutschland unvergleichlich geprägt. In keinem anderen
Land werden philosophische Ideen so ernst genommen und so intensiv diskutiert
wie hier. So empfinde ich es als besondere Ehre, dass mir ein Preis für meine
philosophischen Arbeiten in der Stadt verliehen wird, in der Hegel lehrte.
Ich danke der Identity-Foundation, ich danke Herrn Habermas herzlich für seine
sehr freundlichen Worte, und ich danke den Freunden und Kollegen, die mir zu
Ehren heute hier sind. Meine Übersetzerin Christa Krüger hat es möglich gemacht,
dass ich meinen Dank auf Deutsch vortragen kann.
Die Jury, die mir diesen Preis zugesprochen hat, begründet ihre Entscheidung
sehr liebenswürdig und großzügig damit, dass gewisse Ähnlichkeiten zwischen
meinen und Meister Eckharts Schriften bestünden. Aber in einer Hinsicht passen
wir ganz offensichtlich nicht zusammen. Man könnte befremdet sein, dass ein
Professor, der sich gelegentlich selbst als einen Atheisten beschrieben hat, einen
Preis bekommt, der zu Ehren eines Denkers gestiftet wurde, für den nur Gott und
sonst nichts zählte. Deshalb möchte ich diesen Anlass zur Reflexion über die
folgende Frage nutzen: Warum gilt es nicht als Skandalon, wenn ein Philosoph,
der wie Nietzsche meint, Menschen sollten sich Selbsterschaffung zum Ziel setzen,
eine Auszeichnung mit dem Namen eines christlichen Theologen erhält, der lehrte:
"Wahrer und vollkommener Gehorsam ist eine Tugend vor allen Tugenden"?
Diese Frage führt weiter zu der allgemeineren: Warum spielt die Auseinandersetzung
zwischen Theismus und Atheismus in der philosophischen Diskussion keine Rolle
mehr?
Das Wort Atheist klingt einigermaßen altmodisch. Es ist ein Relikt aus dem Streit
zwischen Religion und Wissenschaft, der im neunzehnten Jahrhundert für das
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europäische und amerikanische intellektuelle Leben von zentraler Bedeutung
war, aber jetzt nur noch am Rande interessiert. Um 1900 diskutierten wir
Philosophieprofessoren noch über das Problem, das ein Jahrhundert zuvor Kant
und Hegel in Atem gehalten hatte: Wie kann das Weltbild der Physik mit dem vom
Christentum geprägten Selbstbild der Menschen in Einklang gebracht werden?
Heute weichen wir dieser Frage aus, indem wir behaupten, es sei nicht notwendig,
alle unsere verschiedenartigen Selbstbeschreibungen zu vereinheitlichen. Die
meisten von uns sind inzwischen intellektuelle Pluralisten und durchaus bereit,
ohne Metaphysik und andere allumfassende Denksysteme auszukommen.
Nur zwei Gruppen von Philosophen sind noch in Versuchung, sich "Atheisten" zu
nennen. Zum einen diejenigen, welche die Existenz Gottes als eine empirische
Hypothese betrachten und davon überzeugt sind, dass die moderne Wissenschaft
hinreichende materialistische Erklärungen für die Erscheinungen geliefert hat, die
unsere Vorfahren durch Bezug auf Gott erklärten. Diese Philosophen wiederholen
noch immer jene zuerst von Hume und Kant entwickelten Argumente, die zeigen,
dass keine besondere Beschaffenheit der Sinnenwelt für die Attribute eines nicht
raum-zeitlichen Wesens relevant ist.
Aber genau deshalb, weil Hume und Kant recht damit hatten, dass die Vorstellung
einer "empirischen Bestätigung" nichts ausrichtet, wenn von Gott die Rede ist,
wäre es falsch zu behaupten, dass der Atheismus durch eine solche Bestätigung
gestützt werde. Präsident Bush traf das Richtige, als er in einer Rede zu Gefallen
christlicher Fundamentalisten sagte, der Atheismus sei ein 'Glaube', denn er lasse
sich "durch Argumente oder Beweismittel weder bestätigen noch widerlegen".
Dasselbe vom Theismus zu sagen, wäre dem Präsidenten nicht eingefallen, hätte
ihm aber einfallen sollen. Denn Hume und Kant haben uns gezeigt, wie nutzlos
es ist, die Entscheidung zwischen Theismus und Atheismus als eine Entscheidung
zwischen zwei alternativen Erklärungen beobachtbarer Phänomene zu denken.
Die andere Gruppe der Philosophen, die sich Atheisten nennen, neigt dazu, das
Wort "Atheismus" anstelle von "Antiklerikalismus" oder "Säkularismus" zu
verwenden. Ich wünsche mir jetzt, ich hätte bei entsprechender Gelegenheit statt
des ersten Begriffs einen dieser beiden letzten Ausdrücke benutzt. Denn
Antiklerikalismus ist keine epistemologische oder metaphysische Einstellung,
sondern eine politische Ansicht. Die Ansicht, dass kirchliche Einrichtungen, auch
wenn sie noch soviel Gutes tun - bei allem Trost, den sie Notleidenden oder
Verzweifelten spenden -, doch das Wohl demokratischer Gesellschaften gefährden,
und zwar so sehr, dass es am besten wäre, wenn sie endlich verschwinden
würden.
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Die Gefahren, die wir Antiklerikalisten fürchten, sind in meinem Land besonders
evident. Die christlichen Fundamentalisten, ohne deren Unterstützung weit rechts
stehende amerikanische Politiker nicht auskommen können, untergraben die
säkularistische Jefferson-Tradition der amerikanischen Kultur. Dank der
Fundamentalisten ist es wieder respektabel, zu sagen, US Amerika sei eine
"christliche Nation" - eine Behauptung, die vor wenigen Jahrzehnten noch als
geschmacklos galt.
Antiklerikalisten wie ich haben natürlich noch einen anderen Grund, warum wir
darauf hoffen, dass die institutionalisierte Religion endlich von der Bildfläche
verschwindet. Wir halten Außerweltlichkeit für gefährlich, weil, in John Deweys
Worten, "Menschen ihre eigene Macht zur Förderung des Guten im Leben niemals
ganz ausgeschöpft haben, weil sie darauf warteten, dass eine Macht außerhalb
ihrer und außerhalb der Natur die Arbeit tut, für die sie selbst zuständig sind".
(Dewey, "A Common Faith", in Later Works, Bd. 9, S. 31.)
Philosophen, die behaupten, der Atheismus, nicht aber der Theismus, sei durch
Evidenz gestützt, würden sagen, religiöser Glaube sei irrational; wir zeitgenössischen
Säkularisten dagegen bescheiden uns und sagen nur, er sei politisch gefährlich.
In unserer Sicht ist gegen eine Religion nichts einzuwenden, solange sie privatisiert
ist - solange ein Glaube als vollkommen unerheblich für die öffentliche Politik gilt.
Manche Vertreter dieser Ansicht sind so wie ich ohne religiöse Unterweisung
aufgewachsen und haben sich nie einer religiösen Tradition angeschlossen.
Andere dagegen, zum Beispiel der hervorragende italienische Gegenwartsphilosoph
Gianni Vattimo, haben ihre philosophische Bildung und Schulung dazu genutzt,
Argumente für die Vernünftigkeit einer Rückkehr zur Religiosität ihrer Jugend zu
formulieren. Eine solche Argumentation findet sich in Vattimos bewegendem,
originellen Buch Credere di credere (Deutsch: Glauben - Philosophieren). Seine
Antwort auf die Frage: "Glaubst du wieder an Gott?" besagt so viel wie: Ich merke,
dass ich immer religiöser werde, also muss ich wohl an Gott glauben. Vielleicht
hätte Vattimo besser daran getan, zu sagen: Ich werde immer religiöser, komme
also mehr und mehr zu dem, was viele Menschen Glauben an Gott nennen, aber
ich bin mir nicht gewiss, ob der Begriff 'Glaube' die richtige Bezeichnung für meine
Religiosität ist.
Der Gewinn einer solchen Neuformulierung wäre die Rücksicht auf unsere
Überzeugung, dass ein Glaube, wenn er denn wahr ist, von allen geteilt werden
müsste. Aber Vattimo denkt nicht, dass alle M enschen Theisten, und schon gar
nicht, dass alle Katholiken sein müssten. Mit dem Gedanken der Privatisierung
der Religion folgt er Jefferson. Im Anschluss an William James trennt er die Frage:
13
"Habe ich ein Recht, religiös zu sein?", von der Frage: "Soll jeder an die Existenz
Gottes glauben?"
Im selben Maß, in dem man die bekannte Hume/Kant-Kritik der natürlichen
Theologie akzeptiert, jedoch nicht einverstanden ist mit der positivistischen
Behauptung, dass der explanatorische Erfolg der modernen Wissenschaft den
Glauben an Gott als irrational erwiesen habe, im selben Maß wird man dazu
neigen, den Begriff Glauben für eine unglückliche Charakterisierung von Religiosität
zu halten. Und man wird Vattimos Versuch begrüßen, die Religion vom
epistemischen Schauplatz abzuziehen, einem Schauplatz, auf dem sie dem Angriff
der Naturwissenschaften ausgesetzt scheint.
Derartige Versuche sind nicht neu. Kants Vorschlag, Gott als ein Postulat der
reinen praktischen Vernunft und nicht als eine Erklärung natürlicher Erscheinungen
anzusehen, ebnete den Weg, so dass Denker wie Schleiermacher eine "Theologie
der symbolischen Formen" entwickeln konnten. Kierkegaard, Barth und Levinas
gingen auf diesem Weg weiter und machten Gott zum ganz Anderen - jenseits
der Reichweite nicht nur von Beweis und Argument, sondern auch von diskursivem
Denken.
Vattimos Bedeutung liegt darin, dass er diese unseligen post-Kantischen Initiativen
beide ablehnt. Den Versuch, Religion mit Wahrheit zu verknüpfen, weist er zurück
und hat deshalb keine Verwendung für Vorstellungen von der Art einer
"symbolischen", "emotionalen", "metaphorischen" oder "moralischen" Wahrheit.
Ebenso wenig kann er jene Theologie brauchen, die er "existentialistisch" nennt
- für sie beruht Religiosität darauf, dass Rettung von der Sünde nur aus der
unbegreiflichen Gnade einer Gottheit kommen könne, die ganz anders als die
Menschen ist.
Vattimos Theologie ist, wie er selbst sagt, auf die "Halb-Gläubigen" zugeschnitten,
die "Lauen im Glauben" des Proto-Existentialisten Paulus - diejenigen, die nur
zu Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen in die Kirche gehen (Vgl S. 75). Vattimo
lässt sich nicht auf die Passagen aus dem Römerbrief ein, die Karl Barth am
höchsten schätzte, er reduziert die christliche Heilsbotschaft auf die Paulus-Stelle,
die von den meisten anderen Menschen am höchsten geschätzt wird: Kapitel 13
des Ersten Korintherbriefs. Er bereitet eine überraschende Behauptung strategisch
vor, indem er die Menschwerdung als einen Akt auslegt, in dem Gott all seine
Macht und Autorität und all sein Anderssein zum Opfer gebracht habe. Die
Menschwerdung sei eine kenosis gewesen, eine Entäußerung, mit der Gott den
Menschen alles in die Hände gab. Durch diese Auslegung kommt Vattimo zu
seiner entscheidenden Behauptung: Die "Säkularisierung" sei "konstitutives
14
Merkmal einer authentischen religiösen Erfahrung." (S. 9)
Auch Hegel verstand Geschichte als Menschwerdung des Geistes und die
"Schlachtbank der Geschichte" als das Kreuz. Aber Hegel war nicht bereit, die
Liebe an den Platz der Wahrheit zu rücken. Also macht er die Geschichte zu einer
dramatischen Erzählung, die ihren Gipfelpunkt in einem Status der Erkenntnis
erreicht: dem absoluten Wissen. Für Vattimo dagegen hat die Geschichte keine
innere Dynamik und keine immanente Teleologie; bei ihm ist nicht die Rede von
der Entwicklung eines großen Dramas, sondern nur von der Hoffnung, dass die
Liebe siegen möge.
Vattimo meint, wenn wir die Geschichte ebenso ernst nehmen wie Hegel, uns
jedoch weigern, sie in einen epistemologischen oder metaphysischen Kontext
einzubetten, dann könnten wir das Pendel anhalten, so dass es nicht mehr
zwischen militant positivem Atheismus und symbolistischer oder existentialistischer
Verteidigung des Theismus hin und her schwingt. Er sagt: " (Nur) weil sich die
metaphysischen Meta-Erzählungen aufgelöst haben, hat die Philosophie die
Plausibilität der Religion wiederentdeckt und kann infolgedessen das religiöse
Bedürfnis des allgemeinen Bewusstseins außerhalb der Schemata der
aufklärerischen Kritik betrachten". (Derrida und Vattimo, Die Religion, S. 113)
Vattimo möchte die aufklärerische Kritik bis zur Unerheblichkeit entschärfen und
das Problem der Koexistenz von Naturwissenschaften und christlichem Vermächtnis
lösen. Er hofft, dass ihm das gelingt, indem er Christus weder mit der Wahrheit
noch mit der Macht, sondern allein mit der Liebe gleichsetzt.
Vattimos Argument steht im Einklang mit meinen pragmatistischen philosophischen
Ansichten, und es illustriert, wie Gedankengänge, die bei Nietzsche und Heidegger
beginnen, sich verschränken lassen mit solchen, die von James und Dewey
ausgehen. Denn diese beiden intellektuellen Traditionen haben eine Gemeinsamkeit:
den Gedanken, dass die Suche nach Wahrheit und Wissen nicht mehr und nicht
weniger ist als das Streben nach intersubjektiver Übereinstimmung. Der
epistemische Schauplatz ist ein öffentlicher Raum, aus dem die Religion sich
zurückziehen kann und soll.
Vattimo sagt, "heute hat das Cartesische - und so auch das Hegelsche - Denken
seine Bahn vollendet, und es ist nicht mehr sinnvoll, Glauben und Vernunft
einander so scharf entgegenzusetzen". (S. 99) Mit dem "Cartesischen und
Hegelschen Denken" meint Vattimo ziemlich genau das, was Heidegger als "OntoTheologie" bezeichnete. Er stimmt Heidegger darin zu, dass "die Metaphysik der
Objektivität in einem Denken gipfelt, das die Wahrheit des Seins mit der
15
Berechenbarkeit, Messbarkeit und endgültigen Manipulierbarkeit des Objekts der
technik-orientierten Wissenschaft gleichsetzt." (S. 22) Denn wenn man Rationalität
mit dem Bemühen um universelle intersubjektive Übereinstimmung gleichsetzt
und Wahrheit mit der Frucht eines solchen Bemühens, und wenn man außerdem
behauptet, dass diesem Streben nichts übergeordnet werden darf, dann wird man
die Religion nicht nur aus dem öffentlichen, sondern auch aus dem intellektuellen
Leben hinausdrängen. Und zwar deshalb, weil man in diesem Fall die
Naturwissenschaften zum Paradigma von Rationalität und Wahrheit erklärt hätte.
Dann müsste man Religion entweder als einen erfolglosen Konkurrenten empirischer
Untersuchung oder "bloß" als ein Vehikel emotionaler Befriedigung denken.
Um die Religion vor der Onto-Theologie zu bewahren, muss man sagen, das
Streben nach intersubjektiver Übereinstimmung sei nur ein menschliches Bedürfnis
unter vielen anderen und steche nicht automatisch alle anderen Bedürfnisse aus.
Auf diesen Satz könnten sich Nietzsche und Heidegger mit James und Dewey
einigen. Alle Vier dieser Anti-Cartesianer haben grundsätzliche Einwände gegen
den pejorativen Gebrauch des Wortes "bloß" in Wendungen wie "bloß privat"
oder "bloß literarisch", "bloß ästhetisch", "bloß emotional". Alle Vier geben erstens
Gründe dafür an, dass die Unterscheidung zwischen dem Kognitiven und dem
Nicht-Kognitiven genau wie die Unterscheidung zwischen der Befriedigung von
öffentlichen und der Befriedigung von privaten Bedürfnissen zu behandeln sei;
und zweitens bestehen sie darauf, dass an den "privaten Bedürfnissen" nichts
"bloß" sei. Alle Vier versuchen - in den Worten, die Vattimo zur Beschreibung
Heideggers verwendet : "uns aus einem Denkhorizont herauszuhelfen, der ein
Feind der Freiheit und der Geschichtlichkeit des Seins" ist. (S. 22)
Bleibt man in diesem Denkhorizont und hält man deshalb Epistemologie und
Metaphysik weiterhin für vorrangige Philosophie, dann wird man überzeugt sein,
dass alle Behauptungen, die man aufstellt, kognitiven Gehalt haben müssen.
Eine Behauptung hat einen derartigen Gehalt, sofern sie in das Gesellschaftsspiel
eingebunden ist, das der amerikanische Gegenwartsphilosoph Robert Brandom
"Gründe geben und Gründe verlangen" nennt. Wer sagt, Religion solle privatisiert
werden, meint damit jedoch, dass religiöse Menschen das Recht haben müssen,
zu bestimmten Zwecken aus diesem Spiel auszuscheiden. Es steht ihnen zu,
ihre Behauptungen abzukoppeln vom Netzwerk der sozial akzeptablen Inferenzen,
die Rechtfertigungen für das Aufstellen derartiger Behauptungen liefern und
praktische Konsequenzen daraus ziehen, dass sie aufgestellt wurden.
Vattimo scheint mir auf eine in diesem Sinn privatisierte Religion abzuzielen,
wenn er die Säkularisierung der europäischen Kultur als die Erfüllung eines
Versprechens beschreibt: der Verheißung, dass Gott uns mit der Menschwerdung,
16
verstanden als kenosis, alles aushändigt. Je weiter säkularisiert, je weniger
hierokratisch die westliche Welt wird, um so besser verwirklicht sie die Verheißung
des Evangeliums, dass Gott uns nicht mehr als Knechte, sondern als Freunde
sehen werde. Laut Vattimo ist "das Wesen der Offenbarung reduziert auf Caritas,
christliche Liebe, alles andere dagegen bleibt der Unbestimmtheit verschiedenartiger
geschichtlicher Erfahrungen überlassen". (S. 86)
Indem Vattimo Gottes Selbstentäußerung und den Versuch der Menschen, Liebe
als das einzige Gesetz zu denken, als Seite und Kehrseite einer Medaille darstellt,
kann er alle die großen Demaskierer der westlichen Welt, von Kopernikus und
Newton bis hin zu Darwin, Nietzsche und Freud, als Menschen sehen, die Werke
der Liebe ausführen. Sie haben, wie er sagt, "die Zeichen der Zeit gelesen ohne
jeden Vorbehalt außer dem Liebesgebot" (S. 71) Sie folgten Christus insofern,
als "Christus selbst der Demaskierer ist und dass die Demaskierung, die er
einleitete, ... der Sinn der Heilsgeschichte selbst ist." (S. 71)
Zu fragen, ob dies eine "legitime" oder "gültige" Version des Katholizismus oder
des Christentums sei, hieße genau die falsche Frage stellen. Der Begriff "Legitimität"
lässt sich nicht auf das anwenden, was Vattimo oder irgendwer sonst mit seiner
Einsamkeit anfängt. Wer eine solche Anwendung versucht, behauptet implizit,
niemand habe ein Recht, zu den Hochzeiten, Taufen und Trauergottesdiensten
von Freunden und Verwandten zu gehen, es sei denn, er erkenne an, dass
kirchliche Einrichtungen allein befugt sind zu entscheiden, wer als Christ zählt
und wer nicht. Oder auch: niemand habe das Recht, sich Jude zu nennen, es sei
denn, er befolge dieses rituelle Gebot und nicht jenes.
Ich kann die Einstellung, die ich mit Vattimo teile, wie folgt, zusammenfassen:
Der Kampf zwischen Religion und Naturwissenschaft im neunzehnten Jahrhundert
war ein Kampf zwischen Institutionen um die kulturelle Oberherrschaft. Für die
Religion wie für die Wissenschaft war es nur gut, dass die Wissenschaft diesen
Kampf gewann. Denn Wahrheit und Wissen sind eine Sache der sozialen
Kooperation , und die Wissenschaft gibt uns die Mittel an die Hand, bessere
kooperative soziale Pläne auszuführen als zuvor. Wenn man Wahrheit will, dann
ist die jeweils aktuelle Verbindung von Wissenschaft und gesundem
Menschenverstand alles was man braucht. Wenn man aber etwas anderes als
Wahrheit will, dann ist eine Religion, die vom epistemischen Schauplatz abgezogen
wurde, eine Religion, die das Problem Theismus versus Atheismus nicht interessant
findet, womöglich genau das Richtige für die eigene Einsamkeit.
Vielleicht ist es so, vielleicht aber auch nicht. Zwischen Leuten wie mir und Leuten
wie Vattimo besteht immer noch ein großer Unterschied. Das ist nicht überraschend,
17
wenn man bedenkt, dass er als Katholik erzogen ist und ich ganz ohne Religion
aufgewachsen bin. Nur wenn man meint, eine Sehnsucht nach Religiosität sei
irgendwie präkulturell und verrate "ein menschliches Grundbedürfnis", wird man
nicht bereit sein, die Sache an diesem Punkt auf sich beruhen zu lassen, wird
man Religion nicht vollständig privatisieren, das heißt, von der Forderung nach
Universalität entlasten wollen.
Wenn man jedoch die Idee aufgibt, dass die Suche nach Wahrheit oder die Suche
nach Gott allen menschlichen Organismen fest einmontiert sei, und wenn man
statt dessen die Möglichkeit offen lässt, dass beide auf kulturelle Prägung
zurückgehen, dann wird eine solche Privatisierung ganz natürlich und richtig
erscheinen. Vattimo und seinesgleichen werden dann nicht mehr denken, der
Mangel an religiösen Empfindungen sei Zeichen von Vulgarität, und Leute
meinesgleichen werden nicht mehr denken, das Vorhandensein solcher Gefühle
sei Zeichen von Feigheit. Wir Kontrahenten können uns dann in unseren Verzicht
auf derartig unfreundliche Erklärungen vom 1. Korinther 13 bestärken lassen.
Der Kern meiner Differenzen mit Vattimo ist, dass er etwas Vergangenes als heilig
ansieht, während ich überzeugt bin, dass Heiligkeit ihren Platz nur in einer idealen
Zukunft hat. Vattimo hält Gottes Entschluss, sich aus unserem Herrn in unserem
Freund zu verwandeln, für das entscheidende Ereignis der Vergangenheit, auf
das wir in unseren gegenwärtigen Bestrebungen angewiesen sind. Nach seinem
Verständnis ist das Heilige verknüpft mit unserer Erinnerung an jenes Ereignis.
Nach meinem Verständnis, soweit ich eines habe, ist das Heilige verknüpft mit
der Hoffnung, dass meine fernen Nachkommen eines Tages, irgendwann in einem
späteren Jahrtausend, in einer globalen Zivilisation leben werden, die mehr oder
weniger ausschließlich unter dem Gebot der Liebe steht. In einer solchen
Gesellschaft wäre die Kommunikation herrschaftsfrei, Klassen und Kasten
unbekannt, Hierarchie käme nur zeitlich begrenzt und zu pragmatischen Zwecken
vor, und Macht wäre ganz und gar Sache der freien Übereinkunft einer lese- und
schreibkundigen, gut ausgebildeten Wählerschaft.
Ich habe keine Idee, wie eine solche Gesellschaft zustande kommen mag. Es ist
ein Mysterium, könnte man sagen. In diesem Mysterium geht es wie in dem der
Menschwerdung um das Entstehen einer Liebe, die langmütig und freundlich ist
und alles duldet. Der Text des Ersten Korinther 13 ist für beide Parteien in gleicher
Weise von Nutzen - für religiöse Menschen wie Vattimo mit ihrem Gefühl von
Abhängigkeit gegenüber dem, was in ihrem Verständnis unseren gegenwärtigen
Zustand transzendiert, nicht anders als für Nichtreligiöse, in deren Verständnis
nur Hoffnung auf eine bessere Zukunft über die Gegenwart hinausweist. Die
Differenz zwischen diesen beiden Gruppen ist der Unterschied zwischen einer
18
Nostalgie, die man nicht rechtfertigen kann, und einer Hoffnung, für die es auch
keine Rechtfertigung gibt. Das ist jedoch kein Widerstreit zweier Glaubensrichtungen
hinsichtlich dessen, was existiert oder nicht existiert. Deshalb möchte ich denken,
dass wir, Vattimo und ich, beide wenigstens einen kleinen Schritt über den Streit
zwischen Theismus und Atheismus hinausgekommen sind.
Übersetzung: Christa Krüger.
Gianni Vattimo, Credere di Credere , wurde - mit leichten Anpassungen an die
englische Version - zitiert nach der deutschen Übersetzung von Christiane Schultz:
Glauben - Philosophieren, Reclam, Stuttgart 1997. Das Vattimo-Zitat aus Religion
wurde zitiert nach Gianni Vattimo, "Die Spur der Spur" (Übersetzung: Hella Beister),
in: J. Derrida, Gianni Vattimo, Die Religion, Suhrkamp, Frankfurt 2001
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PRESSEINFORMATION
Das Entzücken am Schock der Deflationierung.
Meister-Eckhart-Preis für Richard Rorty
- Es gilt das gesprochene Wort Es überrascht nicht, dass die Jury, die einem neuen Preis Aufmerksamkeit und
Anerkennung verschaffen möchte, als ersten Preisträger einen Autor mit Weltgeltung
wählt - und auf die selbstdefinierende Bedeutung dieser Entscheidung vertraut.
Auf den ersten Blick hat freilich die Zusammenführung des amerikanischen
Pragmatisten mit einem als deutschem Mystiker gefeierten Theologen einen leicht
surrealen Überraschungseffekt.
Gewiss lassen sich auch Parallelen finden. Rorty schreibt ein literarisches Englisch.
Als brillanter Schriftsteller geht er mühelos von einer Textsorte zur anderen über.
Die Prosa der wissenschaftlichen Abhandlung und der philosophischen Monographie
zehrt auch von der glänzenden Rhetorik des Redners und dem prägnanten Stil
des Essayisten. Dieses Talent erinnert an die sprachschöpferische Kraft des
gelehrten Dominikaners, der sich in seinen Tischlesungen, Predigten und
Unterweisungen des Lateinischen entledigt und ein spirituelles Vokabular in die
Volkssprache einführt – ins „barbarisch“ Deutsch, das der Welt der Theologen
damals noch weithin als „die Sprache des Teufels“ galt. Übrigens kann man, ganz
ohne pejorativen Unterton, auch von Rorty sagen, dass er das Predigen nicht
scheut. Fremd ist ihm die missionarische Gabe der inspirierten, die Hörer
begeisternden Rede nicht. Im Publikum sind übrigens Frauen bevorzugte Adressaten
– hier die Beginen, dort die Feministinnen.
Eine andere Parallele ist der Makel der Häresie. Im späten zwanzigsten Jahrhundert
verfügt zwar die philosophische Profession nicht mehr - wie seinerzeit der Erzbischof
von Köln und der Papst in Avignon - über die Autorität, achtundzwanzig abweichende
Glaubenswahrheiten zu inkriminieren. Aber die Exkommunikation, die der harte
Kern der Analytiker an ihrem abtrünnigen, wenngleich international anerkannten
und einflussreichen frater doctus vollziehen, folgt einem nicht minder schmerzlichen
Ritual. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt schon der ironische Umstande, dass
Rorty heute die Stellung eines Professors für vergleichende Literaturwissenschaften
einnimmt, eine Auszeichnung des Philosophen im Namen von Meister Eckhart.
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Die nun auch amtlich angesonnene Beschäftigung mit Literatur betrachtet Rorty
freilich nicht - wie andere Kollegen aus den philosophischen Fachbereichen der
Elite-Universi-täten - als Umweg oder gar als Abweg. Die Frage, wen Philosophen
mehr beneiden, Naturwissenschaftler oder Dichter, dient ihm sogar als Lackmustest.
Er selber kann sich nicht vorstellen, einen Mathematiker oder Physiker zu beneiden,
aber er ist sich nicht sicher, ob Quine sich hätte vorstellen können, Blake oder
Rilke zu beneiden. Die Liebe zu Blake oder Nietzsche verrät den unverbesserlichen
Romantiker, der der Genieästhetik einen beinahe schwärmerischen, ins
Anthropologische erweiterten Begriff von Poiesis als Sinnschöpfung, von
neuerungssüchtiger Produktivität und sich selbst entwerfender Subjektivität
entlehnt.
Aber dieser produktionsästhetische Begriff der schöpferisch-selbstschöpferischen
Subjektivität bildet keine Brücke zum „Seelenfunken“ des Meister Eckhart. Bei
genauerem Hinsehen verbindet den Nominalisten und Naturalisten, der dem
diskursiven Ideal vermittelnder Erkenntnis anhängt, nicht viel mit der platonischneuplatonischen Seelenspekulation, die nur ein Ziel kennt – „Gott zu schauen
unmittelbar in seinem eigenen Sein“. Eckharts Worte, die diesen wortlosen Akt
augenschließender Kontemplation umkreisen, sind im übrigen so vieldeutig, dass
sie den Autor der deutschen Predigten vor einer fatalen Wirkungsgeschichte nicht
bewahrt haben. Rorty, dem unmissverständlich Linksliberalen, wird dieses Schicksal
ideologischer Ausdeutung und Ausbeutung erspart bleiben.
Was den Inhalt beider Werke betrifft, könnte allenfalls Eckharts berühmte
Interpretation von Lukas 10, 38ff. eine gewisse Verwandtschaft mit Rortys Vorliebe
für eine pragmatis-tische Bewertung von Theorien im Lichte ihrer
handlungsrelevanten Folgen begründen. Denn entgegen dem biblischen Wortlaut
erhebt Eckhart Martha, die tätige Hausfrau, die sich für ihre Gäste abrackert, über
ihre Schwester Maria, die dem Herrn reglos zu Füßen sitzt, um dessen Worten
zu lauschen. Die an Hegel erinnernde Kritik der „schönen Seele“, die, wie Eckhart
von Maria sagt, „im Wohlgefühl und in der Süße stecken bleibt“, verweist jedoch
auf die „Verrichtung der Werke“ nur als den richtigen Weg, der zur intuitiven
Vereinigung der Seele mit Gott hinführt: die Verschmelzung ist am Ende „frei und
ledig alles Vermittelnden“. Ein pragmatistischer Gehalt ist dieser Interpretation
nicht abzugewinnen. An Rorty erinnert allein der Akt der kühnen und schockierenden
Umkehrung einer kanonisierten Rangordnung.
Rorty folgt Nietzsche in der ähnlich radikalen Umwertung platonischer
Unterscheidungen. Er möchte die architektonisch tragenden Oppositionsbegriffe
Wesen und Erscheinung oder wahr und unwahr aus dem Verkehr ziehen und das
Gebäude einer platonis-tisch von sich entfremdeten Kultur zum Einsturz bringen.
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Rorty teilt Wittgensteins Auf-fassung, dass das falsche, in sich verhakte Leben
auf falsche, verstellende Begriffe zurückgeht. Nur diese metaphysische Prämisse
erklärt die kulturkritische Emphase des Vorhabens einer metaphysikkritischen
Umerziehung der Zeitgenossen. Die Kur, die Rorty empfiehlt, verschleiert das
zugrundeliegende Motiv des ganzen Unternehmens.
Rorty hat den Wunsch, der Philosophie jene lebenspraktische Bedeutung
zurückzugeben, die sie einmal beansprucht hat. Sie soll, indem sie dem Einzelnen
Orientierung anbietet und den moralischen Fortschritt der Menschheit befördert,
den Zustand der Welt verbessern helfen. Nicht eben kleinmütig entwirft Rorty eine
liberale Utopie: „das Bild von einem Planeten, auf dem alle Angehörigen unserer
Gattung Sorge tragen für das Geschick aller übrigen Angehörigen.“ Freilich soll
die Philosophie dieses Ziel nur verwirklichen können, indem sie sich als Philosophie
aufhebt – diesmal nicht durch die revolutionäre Umwälzung der Verhältnisse,
sondern durch eine mit und an der Philosophie vollzogene Umwälzung. Die
revolutionäre Forderung richtet sich gegen die Philosophie selber, gegen ein
vermeintlich desaströses Selbstverständnis der Philosophen, mit dem sie heute
ihrer eigentlichen Mission im Wege stehen. Das verhaltene Pathos ist eines der
Dekonstruktion. Rorty lässt aus hochtrabenden Allgemeinbegriffen, die über das
versehrbare Einzelne achtlos hinweggehen, gleichsam die Luft raus. Die brillante
Zuspitzung des nominalistischen Protestes verrät das schriftstellerisch kalkulierte
Entzücken am Schock der Deflationierung. In der Ästhetik der Darstellungsform,
nicht im Politischen, überlässt sich Rorty seinem anarchistischen Temperament.
Wir sollen die Suche nach absoluten Wahrheiten aufgeben und nicht länger
danach streben, das Wesen oder die Natur der Dinge zu ergründen. Wir sollen
Wahrheitssuche und Erkenntnisstreben durch eine rhetorische Praxis ersetzen,
die weniger an überschießenden Ideen als an den handgreiflichen Folgen der
Gedanken orientiert ist. Ist erst einmal die Nutzlosigkeit der ontologischen
Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, der epistemologischen
Unterscheidung zwischen Sein und Schein, der semantischen Unterscheidung
zwischen wahr und falsch durchschaut, kann sich die philosophische Arbeit an
den praktischen Zielen von „Leistungssteigerung“ und „Toleranz“ ausrichten.
Der wissenschaftliche Fortschritt bemisst sich an den prognostischen Erfolgen
von Theorien, die über technische Neuerungen in eine Verbesserung der
Lebensbedingungen umgesetzt werden können. Der gesellschaftliche Fortschritt
bemisst sich an der immer weitergehenden Einbeziehung von Marginalisierten
und Fremden in jene Art der Loyalität, die wir gegenüber unseren Nächsten
empfinden. Der moralische Fortschritt manifestiert sich in der wachsenden
Sensibilität gegenüber dem Leiden anderer und in der Eliminierung von
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Grausamkeiten. Das klingt populär und ist es auch. Aber hinter der Fassade des
Volkspädagogen verbirgt sich eine Theorie, die ein breitenwirksames Buch wie
„Kontingenz, Ironie und Solidarität“ (1989) erst mit soliden Gründen ausstattet.
In schroffem Gegensatz zu irrlichternden Philosophie-Entertainern, die sich mit
funkelnden Formulierungen beim anspruchsvoll zerstreuten Medienpublikum
Ansehen erwerben, arbeitet Rorty professionell. Er ist ein eminent scharfsinniger,
hoch produktiver, hartnäckig analysierender, neugieriger und kontinuierlich lernender
Philosoph auf der Höhe seiner Profession. Gewiss sieht er die Debatten des
Faches eingebettet in den Zusammenhang eines größeren kulturellen Wandels.
Aber nur weil er an den Debatten der Zunft, oft genug als innovativ treibende
Kraft, teilnimmt, fühlt er sich bei exoterischen Auftritten berechtigt, aus den vielen
kleinteiligen Argumenten große Schlüsse zu ziehen. Bei allem Hohn, den er
gelegentlich über die Profession ausschüttet, hält er sich an deren Standards,
wenn er eigene Gedanken entwickelt und erprobt: „Wir Philosophieprofessoren
können in einem fort kleinteilige Argumente für oder gegen die Korrespondenztheorie
der Wahrheit, für oder gegen die Objektivität von Werten aufbieten.
Wir gingen unserem Beruf nicht nach, wenn wir nicht ständig solche Argumente
hin und her wendeten.“
In seinem bahnbrechenden Werk „The Mirror of Nature“ (1979) hat Rorty jene
mentalis-tischen Grundannahmen demontiert, die die Hauptströmungen von
cognitive science und zeitgenössischer Semantik immer noch mit der klassischen
Erkenntnistheorie des 17. und 18. Jahrhunderts verbinden. Seitdem ziehen sich
die Themen Wahrheit und Objektivität durch die unermüdlich fortgesponnenen
Argumentationsfäden, die Roery seit Jahrzehnten nicht nur mit Donald Davidson
und Hilary Putnam, John Searle und Chuck Taylor, Hans Georg Gadamer und
Jacques Derrida verbinden. Jugendlich frisch kommentiert er jede halbwegs
aufregende Neuerscheinung von Dennett, Brandom, McDowell oder Crispin
Wright. Jede Kritik würdigt er mit penibler Verteidigung oder mit einem
überraschenden Revirement der Schlachtordnung. Letztlich will er mit einem
einzigen Problem fertig werden – oder besser: mit den Folgeproblemen des
Vorschlages, den er zur Lösung dieses Problems entwickelt hat.
Das Problem selbst ist schnell skizziert. Einerseits erheben wir mit Behauptungen
einen absoluten Anspruch auf die Wahrheit des Gesagten. Wenn wir etwas für
wahr halten, meinen wir nicht, dass es nur hier und jetzt gilt, nur für uns wahr ist,
aber nicht für andere. Wenn Aussagen wahr sind, sind sie es unter allen Umständen
und für jedermann. In diesem Sinne ist „Wahrheit“ eine „unverlierbare“ Eigenschaft
von Aussagen. Andererseits verwenden wir das Prädikat „wahr“ nur im
Zusammenhang von Gründen, mit denen Opponenten oder Proponenten die
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Wahrheit einer Behauptung angreifen oder rechtfertigen. Wahrheitsansprüche
sind von Haus aus auf Kritik und Rechtfertigung bezogen. Diese epistemische
Abhängigkeit der Wahrheitsfeststellung von einer Rechtfertigungspraxis, die immer
auch fehlschlagen kann, hat aber eine fatale Konsequenz für den Anspruch auf
absolute Geltung. Anders als „Wahrheit“ ist „Begründen“ ein publikumsbezogener
und hörerrelativer Erfolgsbegriff: „Auch unter der Voraussetzung, dass ‚wahr’ ein
absoluter Begriff ist, werden die Anwendungsbedingungen immer relativ bleiben.
Denn so etwas wie eine Überzeugung, die schlechthin gerechtfertigt oder ein für
alle mal begründet wäre, gibt es nicht...Es gibt keine Überzeugungen, von denen
man wissen kann, dass sie gegen jeden möglichen Zweifel gefeit wären.“
Auf dieses Problem können wir natürlich auf verschiedene Weise reagieren. Rorty,
und das ist der Stein des Anstoßes, empfiehlt die Eliminierung des Wahrheitsbegriffs.
Er möchte ihn durch den Begriff der gerechtfertigten Behauptbarkeit, der ohnehin
die ganze Arbeit leisten muss, ersetzen. Mit diesem Zug hat Rorty
Auseinandersetzungen provoziert, die ich an dieser Stelle nicht fortsetze. In
unserem Zusammenhang interessiert das Motiv für diesen Vorschlag: Rorty wählt
die radikalste unter den möglichen Antworten wohl deshalb, weil er genau die
Konsequenzen, vor denen seine Kollegen zurückschrecken, für wünschenswert
hält.
Indem wir dem undefinierbaren Wahrheitsbegriff jedes philosophische Interesse
absprechen, so mag sich Rorty gesagt haben, entledigen wir uns nicht nur der
irreführenden Intuition, als sei unsere Erkenntnis ein Abbild oder Spiegel der
Natur. Mit dem Verzicht auf eine kontextunabhängige Wahrheitsgeltung und mit
der Verabschiedung einer objektiven, von unserem Geiste unabhängigen Welt,
mit der Zurückführung von Rationalität „überhaupt“ auf je „unsere“ Rationalität
oder mit der Aufweichung des Gegensatzes von Kommunikation und Manipulation,
Überzeugen und Überreden – kurzum, mit der Verflüssigung platonischer
Grundbegriffe lockern sich, so scheint es, imaginäre Zwänge, denen wir uns ganz
ohne Not unterworfen haben. Auf die Kontingenzspielräume, die so entstehen,
wirft Rorty dann einen romantisierenden Blick.
Für ihn bedeutet das wachsende Kontingenzbewusstsein einen Fortschritt im
Bewusstsein der Freiheit. Es ist Chance und Ansporn zu Kreativität, zur Erfindung
neuer Vokabulare für ein verändertes Selbst- und Weltverständnis. Mit Innovation
und Experiment kommen Erfahrungen der ästhetischen Avantgarde zum Zuge.
Das Außeralltägliche der existentiellen Lebensentwürfe muss allerdings mit den
Gerechtigkeitsforderungen des politischen Liberalismus und mit den Aufgaben
des demokratischen Intellektuellen in Einklang bleiben. Auch wenn jede der beiden
Seiten einen eigenen Altar und einen eigenen Hausgott behält. Heidegger und
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Dewey treten ein komplementäres Verhältnis zueinander.
Rorty gehört zu den an einer Hand abzählbaren amerikanischer Intellektuellen,
deren Stimme über den ganzen Kontinent hinweg gehört wird. In seinen couragierten
und völlig uneitlen Parteinahmen äußert sich eine nicht unkritische, aber
ungebrochene Loyalität gegenüber dem eigenen Land. Es ist ein Patriotismus
aus Brechtschem Geist: „...Und weil wir dies Land verbessern, lieben und
beschirmen wir’s.“ Wiederum besteht ein transparenter Zusammenhang zwischen
den skrupulös verteidigten philosophischen Auffassungen und den erfrischend
offenen politischen Stellungnahmen. Das zeigt sich auch an jüngsten Kommentaren
zum Eingreifen in Afghanistan. In der Rationalitätsdebatte hatte Rorty gegen die
hermeneutische Auffassung von der Reziprozität des Ver-stehens einen
methodischen Ethnozentrismus zur Geltung gebracht. Diese philosophische
Stellung spiegelt sich nun in einer ziemlich umstandslosen Parteinahme für einen
selbstbewussten Umgang der säkularen humanistischen Kultur des Westens mit
den anderen Kulturen.
Eine Laudatio ist nicht der Ort zum Einspruch. Widersprechen muss ich aber einer
captatio benevolentiae, mit der der Autor sein letztes Buch in eigener Sache
einleitet. Dort stellt er nämlich der Originalität der großen Philosophen die Neugier
des Eklektikers gegenüber, um sich selbst unter die Nichtgenies einzureihen: „Ich
werde unruhig, sehe mich nach neuen Helden um, während ich den alten
einigermaßen die Treue halte. Und so ist es gekommen, dass ich mich zum
Synkretisten gemausert habe. Aber auch der erfolgreichste Synkretismus kann
nicht hoffen, es den wahrhaft heroischen Leistungen (der großen Philosophen)
gleichzutun.“ Wir sollten Rorty die Demutsgeste, auch wenn sie alles andere als
scheinheilig ist, schon deshalb nicht durchgehen lassen, weil sie auf einer falschen
Prämisse beruht.
Die neuen Vokabulare, um die er Plato, Hegel und Nietzsche beneidet, fallen
nicht vom Himmel, sind keine poetischen Welterschließungen, die über uns
kommen. Neue Perspektiven, die das uns Bekannte in einem anderen Licht sehen
und auf neue Weise beschreiben lassen, werden nicht genial erzeugt; sie entstehen
aus einfallsreichen Antworten auf Probleme, mit deren Lösungen wir uns über
lange Strecken abmühen. Erst die frustrierende Arbeit an hartnäckigen Problemen
gibt den Anstoß zu kreativen Einfällen. Für dieses innovative Zusammenspiel von
Phantasie und kleinteiliger Argumentation gibt es kein besseres Beispiel als das
faszinierende Werk des heute zu ehrenden Philosophen, dem wir nicht erlauben
können, sein Licht unter den Scheffel
zu stellen.
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PRESSEINFORMATION
Kurzporträt Identity Foundation
Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Die Identity Foundation ist eine
gemeinnützige Stiftung zur Wissenschaftsförderung. Ihr Schwerpunkt sind
Forschungen zum Selbstverständnis von Personen, Gruppen und Institutionen.
Die Stiftung wurde ins Leben gerufen vom Gründer der Kommunikationsagentur
ECC Kohtes Klewes, Paul J. Kohtes, und seiner Frau Margret.
Die Identity Foundation entwickelt und fördert Projekte, in denen Fragen der
persönlichen, sozialen und interkulturellen Identität wissenschaftlich interdisziplinär
und allgemeinverständlich aufgearbeitet werden. Der wissenschaftliche Beirat
besteht aus folgenden Personen: Professor Dr. Eugen Buß (Vorsitzender),
Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie der Universität Hohenheim, Stuttgart,
Professor Dr. Erhard Meyer-Galow, Gastprofessor an der Ruhruniversität
Bochum, früher Vorstandsvorsitzender Stinnes AG und Vorstandsmitglied der
VEBA AG (E.ON), Professor Dr. Muneto Sonoda, Leiter des japanischen
Kulturzentrums EKO-Haus in Düsseldorf, Dr. Rainer Zimmermann, CEO der
BBDO-Group Germany.
Den Vorstand der Identity Foundation bilden: Paul J. Kohtes (Vorsitz) und Dr.
Ulrich Freiesleben, Unternehmer aus Münster.
Zur Zeit werden neben dem Meister-Eckhart-Preis folgende Projekte
bearbeitet:
Quellen der Identität
Eine Studie zu Selbstverständnis und Sendungsbewusstsein von Top-Managern.
Diese aktuelle Untersuchung liefert Erkenntnisse über die Schnittstelle von
Personal Identity und Corporate Identity. Anhand empirischer Analysen wurden
die Quellen erforscht, aus denen sich die Identität von Führungspersönlichkeiten
der ersten Ebene speist. Unter den Befragten befanden sich zu 30 Prozent
Vorstandsvorsitzende, stellvertretende Vorstandsvorsitzende bzw. Vorsitzende
von Aufsichtsräten, zu 38 Prozent Vorstandsmitglieder sowie zu 32 Prozent
persönlich haftende Gesellschafter, Inhaber und Geschäftsführer größerer deutscher
Unternehmen. Die Studie liefert einen umfassenden Überblick zum
Orientierungsrahmen und den Werthaltungen von Spitzenmanagern in Deutschland.
"seite"
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Eine Folgestudie befasst sich mit den Managern der „New Economy“. Die
Ergebnisse werden Anfang 2002 erwartet.
Gesundheitsstudie
Im Auftrag der Identity Foundation untersuchte das Allensbach-Institut den
Einfluss des individuellen Körpergefühls auf das Identitätserlebnis. Ganz
in der Tradition des römischen Dichters Juvenal „mens sana in corpore
sano" wird dem Thema Gesundheit heute in der Gesellschaft ein enorm
hoher Stellenwert beigemessen. Die Identity Foundation wollte wissen, ob
die Deutschen sich bei Krankheit gut betreut fühlen, welche Erfahrungen
sie mit alternativen Heilmitteln und -verfahren gemacht haben und welchen
Ratgeber sie in Gesundheitsdingen vertrauen: Was die Menschen noch
von der Schulmedizin erwarten, welche Bedeutung Psychologie und
Glauben haben und wo sich der Durchschnitts-Patient heute informiert.
Die Untersuchung stützt sich auf 2.111 Face-to-face-Interviews mit einem
repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung ab 16 Jahren.
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PRESSEINFORMATION
Kurzporträt: Meister Eckhart
Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Der Philosoph und Theologe Meister
Eckhart lehrte und predigte um 1300 unter anderem in Köln, Paris und Straßburg.
Er gilt heute als ‚Schöpfer der deutschen wissenschaftlichen Prosa’ (Gustav
Landauer). Meister Eckhart war einer der ersten theologischen Wissenschaftler
des Mittelalters, der es wagte, wichtige Werke in Deutsch zu verfassen. Heute
gilt er ‚als einzig wirklich schöpferisch begabter spekulativer Kopf der deutschen
Mystik’ (Josef Quint). Seine Mystik ist frei von frömmelndem Glauben, sie ist
Skepsis und Pantheismus. Seine Gedanken haben die moderne Psychologie,
insbesondere bei C. G. Jung und Erich Fromm stark beeinflusst. Als ‚einen genialen
Seelenanalytiker‘ bezeichnete ihn sein bekanntester Übersetzer in heutiges
Deutsch, Josef Quint.
Eckhart wurde um 1260 in der Nähe von Gotha in Thüringen geboren. Bereits in
jungen Jahren trat er ins Dominikanerkloster Erfurt ein. Die Ordensleitung erkannte
rasch das herausragende Talent des jungen Mannes. 1294 hielt Eckhart bereits
seine ‚Antrittsvorlesung‘ an der Universität Paris. 1300 wurde er in Paris zum
Professor (Magister) berufen. Daraus leitet sich sein Titel „Meister“ ab. Weitere
Stationen seiner erstaunlichen Karriere waren die Ämter als Prior des Erfurter
Predigerklosters, Vikar von Thüringen, Provinzial der Ordensprovinz von Sachsen
bis in die Niederlande und Generalvikar von Böhmen. Immer wieder fand er die
Zeit, an der Pariser Universität sowie an der Ordenshochschule in Köln zu lehren
und Predigten und Schriften auf Deutsch und Latein zu verfassen.
Seine brillanten und oft provokanten Thesen (Beispiel: „Alle Kreaturen sind reines
Nichts“) riefen Neider und Kritiker auf den Plan. 1326 geriet er – trotz seiner
ranghohen Ämter – in die Mühlen der Inquisition. Ein intriganter und zermürbender
Prozess begann. Nur seine große Popularität und wissenschaftliche Bedeutung
schützten ihn vor einer persönlichen Verurteilung. Aber auch sein Besuch beim
Papst in Avignon 1328 konnte das Blatt nicht wenden. Nach seinem Tod, Eckhart
wurde etwa 68 Jahre alt, wurde sein Werk von Papst Johannes XXII in der
berühmten Bulle “In agro dominico“ (Auf dem Acker des Herrn) als weitgehend
ketzerisch verurteilt. In der Folge sind zahlreiche Schriften von ihm vernichtet
worden und Manches liegt nur in Fragmenten oder in nicht authentischen Abschriften
vor.
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Zu den bekanntesten erhaltenen deutschen Werken Meister Eckharts zählen vor
allem seine Predigten, aber auch die ‚Reden der Unterweisung‘, das Traktat ‚Vom
edlen Menschen‘ und die Abhandlung ‚Von der Abgeschiedenheit‘. Das lateinische
Hauptwerk besteht aus den fünf Auslegungen und Kommentaren zu drei Büchern
des Alten
Testaments – Genesis, Exodus und Sapientia – sowie zum Evangelium nach
Johannes.
Sehr zur heutigen Wiederentdeckung Meister Eckharts beigetragen hat die
Übersetzung seiner Werke aus dem Mittelhochdeutschen durch Josef Quint:
Deutsche Predigten und Traktakte, Diogenes TB 20642.
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