Verleihung des Meister-Eckhart-Preises an Richard Rorty PRESSEMAPPE 2 Meister-Eckhart-Preis Inhalt der Pressemappe 3........ Richard Rorty erhält Meister-Eckhart-Preis Jürgen Habermas hält Laudatio 4........ Meister-Eckhart-Preisträger Richard Rorty Begründung der Jury 5........ Das Werk von Richard Rorty Kurzporträt von Thomas Schäfer 8........ Biografische Notiz: der Preisträger Richard Rorty 9........ Richard Rorty - zitiert 10...... Richard Rorty: Bemerkungen anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises Es gilt das gesprochene Wort 19...... Jürgen Habermas: Das Entzücken am Schock der Deflationierung. Meister-Eckhart-Preis für Richard Rorty Es gilt das gesprochene Wort 25...... Kurzporträt Identity Foundation 27...... Kurzporträt Meister Eckhart Fotos Richard Rorty Jürgen Haberma Alle Texte finden Sie im Internet unter www.identity-foundation.de/aktuelles.htm 3 PRESSEINFORMATION Richard Rorty erhält Meister-Eckhart-Preis Laudatio hält Jürgen Habermas Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Der US-amerikanische Philosoph und Buchautor Richard Rorty erhält den von der Identity Foundation mit 50.000 Euro dotierten Meister-Eckhart-Preis. „Sein schriftstellerisches Gesamtwerk sticht durch Prägnanz, Vielseitig-keit, argumentativen Reichtum und auch Witz hervor“, begründete die Jury ihre Entscheidung. Die Laudatio bei der Preisübergabe am 3. Dezember im Deutschen Architektur Zentrum in Berlin hält Jürgen Habermas, einer der bedeutendsten deutschen Philosophen der Gegenwart. Preisträger Richard Rorty gilt unter internationalen Geisteswissenschaftlern als hochrangiger philosophischer Grundlagenforscher. Rorty hat in seinen Arbeiten nie den Lebensbezug verloren. Das zeige sich auch in seiner literarischen Gestaltungskraft, meinte die Jury. Der Meister-Eckhart-Preis wird in diesem Jahr zum ersten Mal von der Identity Foundation vergeben. Er ist benannt nach dem damaligen Theologie-Professor und Philosophen, der sich bereits im 14. Jahrhundert mit der Frage der Identität beschäftigte und sie auf folgende Formel brachte: „Nim Din selbes wahr“. Der Jury des Meister-Eckart-Preis gehören an: Dr. Franziska Augstein, Kulturredakteurin der Süddeutschen Zeitung und Sachbuchautorin, Prof. Dr. Michael von Brück, Leiter des Instituts für Religionswissenschaft an der Universität München, Prof. Dr. Kurt Flasch, emeritierter Philosophieprofessor an der Universität Bochum, Prof. Dr. Detlef B. Linke, Professor für klinische Neurophysiologie und Neurochirurgische Rehabilitation der Universitätskliniken Bonn sowie Dr. Gustav Seibt, Historiker und Kritiker (Autor der Süddeutschen Zeitung). Die Identity.Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung, die wissenschaftliche Arbeiten über Fragen zur Identität im persönlichen, gesellschaftlichen und globalen Kontext fördert. Sie wurde 1998 von Margret und Paul J. Kohtes, Vorsitzender Partner der größten europäischen Beratungsgesellschaft für Unternehmenskommunikation, ECC Kohtes Klewes GmbH mit Hauptsitz in Düsseldorf, gegründet. 4 PRESSEINFORMATION Meister-Eckhart-Preisträger Richard Rorty Begründung der Jury Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – "Die Jury verleiht den Meister-EckhartPreis 2001 an Professor Richard Rorty. Sie anerkennt damit eine philosophische Grundlagenforschung von weiter Ausstrahlung auf die Humanwissenschaften und auf das ethisch-politische Selbstverständnis der Gegenwart. Sie würdigt die Präzision seiner Denkarbeit und ihren weiten kulturellen Horizont. Sie anerkennt eine kenntnisreiche Traditionskritik von befreiender Heiterkeit. Richard Rorty ist der Versuch gelungen, Motive des amerikanischen Pragmatismus mit Argumenten der kontinentalen, insbesondere der deutschsprachigen Tradition ins Gespräch zu bringen. Durch subtile Untersuchungen von Vernunft und Erkenntnis hat er neue Rationalitätsmuster eröffnet, die es erlauben, Kulturen und Wissensformen zwar zu relativieren, aber sowohl ihre Andersheit als auch ihre Einheit deutlicher zu sehen, als das in den bisherigen Kulturwissenschaften möglich war. Er hat zu aktuellen politischen Fragen, zum Beispiel der Bewertung des Kalten Krieges oder des Feminismus, argumentierend Position bezogen. Er hat durch seine Kritik der Ideologie-Kritik die Rolle der Intellektuellen in der Gegenwart neu bestimmt. Die Jury zeichnet ein schriftstellerisches Werk aus, das hervorsticht durch Prägnanz, Vielseitigkeit, Gesprächsfähigkeit und Witz. Sie ehrt das Zusammentreffen von argumentativem Reichtum, Lebensbezug und literarischer Gestaltungskraft, wie sie für das Werk Meister Eckharts charakteristisch ist." 5 PRESSEINFORMATION Das Werk von Richard Rorty Kurzporträt von Thomas Schäfer Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Richard Rorty gilt als einer der radikalsten anti-metaphysischen Denker unserer Zeit. Sein Werk ist zutiefst geprägt von einem atheistischen Grundmotiv, das sich in der ethischen These ausdrückt: "Wir sollten versuchen, an den Punkt zu kommen, wo wir nichts mehr verehren, nichts mehr wie eine Quasi-Gottheit behandeln, wo wir alles, unsere Sprache, unser Bewusstsein, unsere Gemeinschaft, als Produkte von Zeit und Zufall behandeln." (Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 50) Dieser ‚Atheismus‘ Rortys beinhaltet zugleich ein anti-fundamentalistisches theoretisches Denken und eine antiautoritäre praktische Haltung. Das heißt: Alles, was wir denken oder wünschen, kann nicht auf ein letztes vermeintlich wahres Fundament zurückgeführt werden; und jeder Anspruch auf höhere Autorität ist in diesen Fragen zurückzuweisen, weil es keine allgemeingültige Autorität für alle Menschen gibt. Rortys Begründung dafür ist, dass wir Menschen nicht darauf rechnen können, uns wechselseitig zu überzeugen. Das gibt es zwar manchmal, nämlich unter Gleichgesinnten ("Wir-Gruppen"), aber nicht alle gehören dazu, und damit gibt es immer wieder einen unauflöslichen Dissens. Rorty ist deshalb dieser Auffassung, weil er anerkennt, dass es nicht die eine Vernunft aller Menschen gibt, und dass die Welt und unser Leben nicht nur in einer Weise richtig oder angemessen beschrieben werden können. Denn die Welt sagt uns nicht, wie wir sie richtig zu beschreiben haben, weil wir keinen direkten Zugang zu ihr haben. Rorty sagt dazu: "Die Welt spricht überhaupt nicht, nur wir sprechen." (Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 25) Deshalb gebe es viele Vokabulare zur Wirklichkeitsbeschreibung, die alle weder wahr noch falsch seien, sondern – insofern ist Rorty ‚Pragmatist‘ – nützlich oder unnütz. Die vielen, nicht nur theoretisch möglichen, sondern auch praktisch vorhandenen Vokabulare sind in Rortys Augen somit auch kein Problem oder ein Störfaktor, sondern ein Gewinn. Und er fordert: "Lasst tausend Vokabulare blühen!" 6 Damit wendet Rorty sich philosophisch gegen die sogenannte "Korrespondenztheorie der Wahrheit", die davon ausgeht, dass die Wirklichkeit mit einer passenden Darstellung richtig – also "wahr" – beschrieben werden könnte. Denn diese Theorie neigt dazu, einer angeblich richtigen Sicht der Dinge gegenüber vermeintlich falschen eine höhere Autorität zu verleihen. Rorty ist zwar gegen diesen erkenntnistheoretischen Autoritarismus, er hat aber durchaus Verständnis für solch einen Glauben, indem er sagt: "Es fällt schwer, sich von einer Weltdarstellung verzaubern zu lassen und sich zu allen anderen tolerant zu verhalten." (Solidarität oder Objektivität?, 1988, S. 110) Dennoch muss man nach Rorty der Versuchung widerstehen, seine eigene Sicht der Dinge als absolut oder wahr zu erklären. Obwohl genau das die Philosophie in seinen Augen immer wieder in schlechter Schülerschaft Platons getan hat: "Ich denke, dass die philosophische Tradition von einer Art sadomasochistischem Drang beherrscht war, eine Macht zu finden – das Sein, die Realität, die Vernunft oder Gott genannt – um sich selbst damit zu verbünden." (Interview mit Thomas Schäfer für DeutschlandRadio Berlin, 1996) Ein solcher Wahrheitsglaube widerspräche aber der demokratischen Utopie, für die Rorty letztlich schreibt, und die das politische Motiv hinter seinen philosophischen Schriften darstellt. Deshalb spricht Rorty von einem "Vorrang der Demokratie vor der Philosophie": Nicht die Philosophie begründet die Demokratie, sondern umgekehrt gelte es, eine Philosophie zu vertreten, die der Demokratie am Nützlichsten ist. Und das ist für Rorty der Pragmatismus. Sie passt seiner Meinung nach am besten zu einer demokratischen Utopie, die er wie folgt beschreibt: "Ein demokratisches Utopia wäre eine Gemeinschaft, in der nicht die Suche nach der Wahrheit, sondern Toleranz und Neugier als intellektuelle Kardinaltugenden gelten. Dies wäre eine Gemeinschaft, in der es nichts gäbe, was auch nur entfernt einer Staatsreligion gleichkäme." (Eine Kultur ohne Zentrum, 1993, S. 90). Diese demokratische Grundauffassung ist für Rorty aber, wie auch all seine anderen Überzeugungen, keine "Wahrheit", sondern etwas, was uns nun einmal prägt und bestimmt, und für das wir uns engagieren, weil wir nun einmal Liberale und Demokraten sind, und nicht, weil wir damit anderen gegenüber im Recht seien. Diesen, wie Rorty es nennt, "Ethnozentrismus" müssen wir schlicht "seite" 7 anerkennen und zu ihm stehen, ohne ihn aber zu einer universellen Wahrheit oder Vernunft zu erhöhen. Diese Absage an eine höhere Rolle der Philosophie ist für ihn deshalb kein Problem, weil wir unsere - z.B. moralischen - Überzeugungen und Haltungen ohnehin nicht durch philosophische Demonstrationen oder Beweise erlangen, sondern eher durch gefühlsmäßig anrührende Literatur, z.B. Romane wie "Onkel Toms Hütte". Das ist der Grund dafür, dass Rorty häufig für die Literatur und gegen die Philosophie plädiert – und dass er inzwischen in der Tat an einem literaturwissenschaftlichen Department (der Stanford University) arbeitet. Der Autor: Thomas Schäfer, Dr. phil., geboren am 11.07.1955 in Bielefeld Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie,Lehrstuhl "Praktische Philosophie", der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Schwerpunkte: Sozialphilosophie und Ethik. Mentor für Philosophie, Soziologie und Erziehungswissenschaft an Studienzentren der Fern-Universität Hagen. Herausgeber von „Hinter den Spiegeln“, Beiträge zur Philosophie Richard Rortys mit Erwiderungen von Richard Rorty, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001. 8 PRESSEINFORMATION Biographische Notiz: der Preisträger Richard Rorty Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Richard Rorty wurde am 4. Oktober 1931 in New York City geboren. An der University of Chicago erwarb er 1949 den B.A. und 1952 den M.A., 1956 den Ph.D. an der Yale University. Nach Ableistung des Militärdienstes (1957-58) war er von 1958 bis 1961 als Instructor und Assistant Professor am Wellesley College tätig; von 1961 bis 1982 lehrte er am Princeton Philosophy Department, das er als Stuart Professor of Philosophy verließ, um den Posten des University Professor of Humanities an der University of Virginia zu übernehmen. Seit 1998 lehrt Richard Rorty an der Stanford University Comparative Literature und Philosophy. Neben zahlreichen Gastprofessuren in den USA und in Deutschland (Frankfurt a.M., Heidelberg) war und ist er Fellow verschiedener Institutionen, darunter am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Stanford (1982-83), am Wissenschaftskolleg in Berlin (1986-87), an der American Academy of Arts and Sciences und am Stanford Humanities Center (1996-97). Unter seinen Veröffentlichungen sind folgende Bücher hervorzuheben: The Linguistic Turn (Hrsg.), Chicago: University of Chicago Press, 1967; Der Spiegel der Natur: eine Kritik der Philosophie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981; Consequences of Pragmatism, Minneapolis: Minnesota University Press, 1982; Philosophy in History (Hrsg. zus. mit Jerome B. Schneewind und Quentin Skinner), Cambridge: Cambridge University Press, 1984; Solidarität oder Objektivität?, Ditzingen: Reclam Universal-Bibliothek, 1988; Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989; Objectivity, Relativism and Truth: Philosophical Papers I, Cambridge: Cambridge University Press, 1991; Essays on Heidegger and Others: Philosophical Papers II, Cambridge: Cambridge University Press, 1991; Eine Kultur ohne Zentrum, Ditzingen: Reclam Universal-Bibliothek, 1993; Hoffnung statt Erkenntnis: Einleitung in die pragmatische Philosophie, Wien: Passagen Verlag, 1994; Stolz auf unser Land, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999; Truth and Progress: Philosophical Papers III, Cambridge: Cambridge University Press, 1998; Philosophy and Social Hope, London: Penguin, 2000. 9 PRESSEINFORMATION Richard Rorty - zitiert "Die Philosophie sollte den Versuch unterlassen, für beruhigende Gewissheit zu sorgen." (Hoffnung statt Erkenntnis, 1994, S. 24f) "Ich bin sehr froh darüber, all die Jahre damit verbracht zu haben, philosophische Bücher zu lesen. Denn ich lernte dabei etwas, das mir immer noch wichtig scheint: dem intellektuellen Snobismus zu misstrauen, der mich selbst ursprünglich dazu führte, sie zu lesen." (Wilde Orchideen und Trotzky, Essay, S. 50) "Wir müssen für das Gespräch sorgen, dann kann die Wahrheit gut für sich selbst sorgen." "Interessante Philosophie ist nur selten eine Prüfung der Gründe für oder wider eine These." "Zusammengehalten werden Gesellschaften durch gemeinsame Sichtweisen und Hoffnungen." (Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 147f) "Sprache hat die Macht, neue und andere Dinge möglich und wichtig zu machen." (Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, S. 147f) "Die Hoffnung auf die Erfindung neuer Möglichkeiten des Menschseins hat Vorrang vor dem Bedürfnis nach Stabilität, Sicherheit und Ordnung." (Hoffnung statt Erkenntnis, 1994, S. 89) „Wahrheit und Wissen sind eine Sache der sozialen Kooperation, und die Wissenschaft gibt uns die Mittel an die Hand, bessere kooperative soziale Pläne auszuführen als zuvor.“ (Ansprache, Berlin, 3. Dezember 2001) „Wenn man Wahrheit will, dann ist die jeweils aktuelle Verbindung von Wissenschaft und gesundem Menschenverstand alles was man braucht.“ (Ansprache, Berlin, 3. Dezember 2001) 10 MANUSKRIPT Richard Rorty: Bemerkungen anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises - Es gilt das gesprochene Wort Berlin, 3. Dezember 2001 – Obwohl ich - als Amerikaner und Patriot - besonders stolz auf den Beitrag der amerikanischen Pragmatisten zum philosophischen Denken bin, meine ich doch, dass die Philosophie vor allem im Land Kants und Hegels zu Hause ist. Der fortdauernde Einfluss dieser beiden Männer hat das intellektuelle Leben in Deutschland unvergleichlich geprägt. In keinem anderen Land werden philosophische Ideen so ernst genommen und so intensiv diskutiert wie hier. So empfinde ich es als besondere Ehre, dass mir ein Preis für meine philosophischen Arbeiten in der Stadt verliehen wird, in der Hegel lehrte. Ich danke der Identity-Foundation, ich danke Herrn Habermas herzlich für seine sehr freundlichen Worte, und ich danke den Freunden und Kollegen, die mir zu Ehren heute hier sind. Meine Übersetzerin Christa Krüger hat es möglich gemacht, dass ich meinen Dank auf Deutsch vortragen kann. Die Jury, die mir diesen Preis zugesprochen hat, begründet ihre Entscheidung sehr liebenswürdig und großzügig damit, dass gewisse Ähnlichkeiten zwischen meinen und Meister Eckharts Schriften bestünden. Aber in einer Hinsicht passen wir ganz offensichtlich nicht zusammen. Man könnte befremdet sein, dass ein Professor, der sich gelegentlich selbst als einen Atheisten beschrieben hat, einen Preis bekommt, der zu Ehren eines Denkers gestiftet wurde, für den nur Gott und sonst nichts zählte. Deshalb möchte ich diesen Anlass zur Reflexion über die folgende Frage nutzen: Warum gilt es nicht als Skandalon, wenn ein Philosoph, der wie Nietzsche meint, Menschen sollten sich Selbsterschaffung zum Ziel setzen, eine Auszeichnung mit dem Namen eines christlichen Theologen erhält, der lehrte: "Wahrer und vollkommener Gehorsam ist eine Tugend vor allen Tugenden"? Diese Frage führt weiter zu der allgemeineren: Warum spielt die Auseinandersetzung zwischen Theismus und Atheismus in der philosophischen Diskussion keine Rolle mehr? Das Wort Atheist klingt einigermaßen altmodisch. Es ist ein Relikt aus dem Streit zwischen Religion und Wissenschaft, der im neunzehnten Jahrhundert für das 11 europäische und amerikanische intellektuelle Leben von zentraler Bedeutung war, aber jetzt nur noch am Rande interessiert. Um 1900 diskutierten wir Philosophieprofessoren noch über das Problem, das ein Jahrhundert zuvor Kant und Hegel in Atem gehalten hatte: Wie kann das Weltbild der Physik mit dem vom Christentum geprägten Selbstbild der Menschen in Einklang gebracht werden? Heute weichen wir dieser Frage aus, indem wir behaupten, es sei nicht notwendig, alle unsere verschiedenartigen Selbstbeschreibungen zu vereinheitlichen. Die meisten von uns sind inzwischen intellektuelle Pluralisten und durchaus bereit, ohne Metaphysik und andere allumfassende Denksysteme auszukommen. Nur zwei Gruppen von Philosophen sind noch in Versuchung, sich "Atheisten" zu nennen. Zum einen diejenigen, welche die Existenz Gottes als eine empirische Hypothese betrachten und davon überzeugt sind, dass die moderne Wissenschaft hinreichende materialistische Erklärungen für die Erscheinungen geliefert hat, die unsere Vorfahren durch Bezug auf Gott erklärten. Diese Philosophen wiederholen noch immer jene zuerst von Hume und Kant entwickelten Argumente, die zeigen, dass keine besondere Beschaffenheit der Sinnenwelt für die Attribute eines nicht raum-zeitlichen Wesens relevant ist. Aber genau deshalb, weil Hume und Kant recht damit hatten, dass die Vorstellung einer "empirischen Bestätigung" nichts ausrichtet, wenn von Gott die Rede ist, wäre es falsch zu behaupten, dass der Atheismus durch eine solche Bestätigung gestützt werde. Präsident Bush traf das Richtige, als er in einer Rede zu Gefallen christlicher Fundamentalisten sagte, der Atheismus sei ein 'Glaube', denn er lasse sich "durch Argumente oder Beweismittel weder bestätigen noch widerlegen". Dasselbe vom Theismus zu sagen, wäre dem Präsidenten nicht eingefallen, hätte ihm aber einfallen sollen. Denn Hume und Kant haben uns gezeigt, wie nutzlos es ist, die Entscheidung zwischen Theismus und Atheismus als eine Entscheidung zwischen zwei alternativen Erklärungen beobachtbarer Phänomene zu denken. Die andere Gruppe der Philosophen, die sich Atheisten nennen, neigt dazu, das Wort "Atheismus" anstelle von "Antiklerikalismus" oder "Säkularismus" zu verwenden. Ich wünsche mir jetzt, ich hätte bei entsprechender Gelegenheit statt des ersten Begriffs einen dieser beiden letzten Ausdrücke benutzt. Denn Antiklerikalismus ist keine epistemologische oder metaphysische Einstellung, sondern eine politische Ansicht. Die Ansicht, dass kirchliche Einrichtungen, auch wenn sie noch soviel Gutes tun - bei allem Trost, den sie Notleidenden oder Verzweifelten spenden -, doch das Wohl demokratischer Gesellschaften gefährden, und zwar so sehr, dass es am besten wäre, wenn sie endlich verschwinden würden. 12 Die Gefahren, die wir Antiklerikalisten fürchten, sind in meinem Land besonders evident. Die christlichen Fundamentalisten, ohne deren Unterstützung weit rechts stehende amerikanische Politiker nicht auskommen können, untergraben die säkularistische Jefferson-Tradition der amerikanischen Kultur. Dank der Fundamentalisten ist es wieder respektabel, zu sagen, US Amerika sei eine "christliche Nation" - eine Behauptung, die vor wenigen Jahrzehnten noch als geschmacklos galt. Antiklerikalisten wie ich haben natürlich noch einen anderen Grund, warum wir darauf hoffen, dass die institutionalisierte Religion endlich von der Bildfläche verschwindet. Wir halten Außerweltlichkeit für gefährlich, weil, in John Deweys Worten, "Menschen ihre eigene Macht zur Förderung des Guten im Leben niemals ganz ausgeschöpft haben, weil sie darauf warteten, dass eine Macht außerhalb ihrer und außerhalb der Natur die Arbeit tut, für die sie selbst zuständig sind". (Dewey, "A Common Faith", in Later Works, Bd. 9, S. 31.) Philosophen, die behaupten, der Atheismus, nicht aber der Theismus, sei durch Evidenz gestützt, würden sagen, religiöser Glaube sei irrational; wir zeitgenössischen Säkularisten dagegen bescheiden uns und sagen nur, er sei politisch gefährlich. In unserer Sicht ist gegen eine Religion nichts einzuwenden, solange sie privatisiert ist - solange ein Glaube als vollkommen unerheblich für die öffentliche Politik gilt. Manche Vertreter dieser Ansicht sind so wie ich ohne religiöse Unterweisung aufgewachsen und haben sich nie einer religiösen Tradition angeschlossen. Andere dagegen, zum Beispiel der hervorragende italienische Gegenwartsphilosoph Gianni Vattimo, haben ihre philosophische Bildung und Schulung dazu genutzt, Argumente für die Vernünftigkeit einer Rückkehr zur Religiosität ihrer Jugend zu formulieren. Eine solche Argumentation findet sich in Vattimos bewegendem, originellen Buch Credere di credere (Deutsch: Glauben - Philosophieren). Seine Antwort auf die Frage: "Glaubst du wieder an Gott?" besagt so viel wie: Ich merke, dass ich immer religiöser werde, also muss ich wohl an Gott glauben. Vielleicht hätte Vattimo besser daran getan, zu sagen: Ich werde immer religiöser, komme also mehr und mehr zu dem, was viele Menschen Glauben an Gott nennen, aber ich bin mir nicht gewiss, ob der Begriff 'Glaube' die richtige Bezeichnung für meine Religiosität ist. Der Gewinn einer solchen Neuformulierung wäre die Rücksicht auf unsere Überzeugung, dass ein Glaube, wenn er denn wahr ist, von allen geteilt werden müsste. Aber Vattimo denkt nicht, dass alle M enschen Theisten, und schon gar nicht, dass alle Katholiken sein müssten. Mit dem Gedanken der Privatisierung der Religion folgt er Jefferson. Im Anschluss an William James trennt er die Frage: 13 "Habe ich ein Recht, religiös zu sein?", von der Frage: "Soll jeder an die Existenz Gottes glauben?" Im selben Maß, in dem man die bekannte Hume/Kant-Kritik der natürlichen Theologie akzeptiert, jedoch nicht einverstanden ist mit der positivistischen Behauptung, dass der explanatorische Erfolg der modernen Wissenschaft den Glauben an Gott als irrational erwiesen habe, im selben Maß wird man dazu neigen, den Begriff Glauben für eine unglückliche Charakterisierung von Religiosität zu halten. Und man wird Vattimos Versuch begrüßen, die Religion vom epistemischen Schauplatz abzuziehen, einem Schauplatz, auf dem sie dem Angriff der Naturwissenschaften ausgesetzt scheint. Derartige Versuche sind nicht neu. Kants Vorschlag, Gott als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft und nicht als eine Erklärung natürlicher Erscheinungen anzusehen, ebnete den Weg, so dass Denker wie Schleiermacher eine "Theologie der symbolischen Formen" entwickeln konnten. Kierkegaard, Barth und Levinas gingen auf diesem Weg weiter und machten Gott zum ganz Anderen - jenseits der Reichweite nicht nur von Beweis und Argument, sondern auch von diskursivem Denken. Vattimos Bedeutung liegt darin, dass er diese unseligen post-Kantischen Initiativen beide ablehnt. Den Versuch, Religion mit Wahrheit zu verknüpfen, weist er zurück und hat deshalb keine Verwendung für Vorstellungen von der Art einer "symbolischen", "emotionalen", "metaphorischen" oder "moralischen" Wahrheit. Ebenso wenig kann er jene Theologie brauchen, die er "existentialistisch" nennt - für sie beruht Religiosität darauf, dass Rettung von der Sünde nur aus der unbegreiflichen Gnade einer Gottheit kommen könne, die ganz anders als die Menschen ist. Vattimos Theologie ist, wie er selbst sagt, auf die "Halb-Gläubigen" zugeschnitten, die "Lauen im Glauben" des Proto-Existentialisten Paulus - diejenigen, die nur zu Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen in die Kirche gehen (Vgl S. 75). Vattimo lässt sich nicht auf die Passagen aus dem Römerbrief ein, die Karl Barth am höchsten schätzte, er reduziert die christliche Heilsbotschaft auf die Paulus-Stelle, die von den meisten anderen Menschen am höchsten geschätzt wird: Kapitel 13 des Ersten Korintherbriefs. Er bereitet eine überraschende Behauptung strategisch vor, indem er die Menschwerdung als einen Akt auslegt, in dem Gott all seine Macht und Autorität und all sein Anderssein zum Opfer gebracht habe. Die Menschwerdung sei eine kenosis gewesen, eine Entäußerung, mit der Gott den Menschen alles in die Hände gab. Durch diese Auslegung kommt Vattimo zu seiner entscheidenden Behauptung: Die "Säkularisierung" sei "konstitutives 14 Merkmal einer authentischen religiösen Erfahrung." (S. 9) Auch Hegel verstand Geschichte als Menschwerdung des Geistes und die "Schlachtbank der Geschichte" als das Kreuz. Aber Hegel war nicht bereit, die Liebe an den Platz der Wahrheit zu rücken. Also macht er die Geschichte zu einer dramatischen Erzählung, die ihren Gipfelpunkt in einem Status der Erkenntnis erreicht: dem absoluten Wissen. Für Vattimo dagegen hat die Geschichte keine innere Dynamik und keine immanente Teleologie; bei ihm ist nicht die Rede von der Entwicklung eines großen Dramas, sondern nur von der Hoffnung, dass die Liebe siegen möge. Vattimo meint, wenn wir die Geschichte ebenso ernst nehmen wie Hegel, uns jedoch weigern, sie in einen epistemologischen oder metaphysischen Kontext einzubetten, dann könnten wir das Pendel anhalten, so dass es nicht mehr zwischen militant positivem Atheismus und symbolistischer oder existentialistischer Verteidigung des Theismus hin und her schwingt. Er sagt: " (Nur) weil sich die metaphysischen Meta-Erzählungen aufgelöst haben, hat die Philosophie die Plausibilität der Religion wiederentdeckt und kann infolgedessen das religiöse Bedürfnis des allgemeinen Bewusstseins außerhalb der Schemata der aufklärerischen Kritik betrachten". (Derrida und Vattimo, Die Religion, S. 113) Vattimo möchte die aufklärerische Kritik bis zur Unerheblichkeit entschärfen und das Problem der Koexistenz von Naturwissenschaften und christlichem Vermächtnis lösen. Er hofft, dass ihm das gelingt, indem er Christus weder mit der Wahrheit noch mit der Macht, sondern allein mit der Liebe gleichsetzt. Vattimos Argument steht im Einklang mit meinen pragmatistischen philosophischen Ansichten, und es illustriert, wie Gedankengänge, die bei Nietzsche und Heidegger beginnen, sich verschränken lassen mit solchen, die von James und Dewey ausgehen. Denn diese beiden intellektuellen Traditionen haben eine Gemeinsamkeit: den Gedanken, dass die Suche nach Wahrheit und Wissen nicht mehr und nicht weniger ist als das Streben nach intersubjektiver Übereinstimmung. Der epistemische Schauplatz ist ein öffentlicher Raum, aus dem die Religion sich zurückziehen kann und soll. Vattimo sagt, "heute hat das Cartesische - und so auch das Hegelsche - Denken seine Bahn vollendet, und es ist nicht mehr sinnvoll, Glauben und Vernunft einander so scharf entgegenzusetzen". (S. 99) Mit dem "Cartesischen und Hegelschen Denken" meint Vattimo ziemlich genau das, was Heidegger als "OntoTheologie" bezeichnete. Er stimmt Heidegger darin zu, dass "die Metaphysik der Objektivität in einem Denken gipfelt, das die Wahrheit des Seins mit der 15 Berechenbarkeit, Messbarkeit und endgültigen Manipulierbarkeit des Objekts der technik-orientierten Wissenschaft gleichsetzt." (S. 22) Denn wenn man Rationalität mit dem Bemühen um universelle intersubjektive Übereinstimmung gleichsetzt und Wahrheit mit der Frucht eines solchen Bemühens, und wenn man außerdem behauptet, dass diesem Streben nichts übergeordnet werden darf, dann wird man die Religion nicht nur aus dem öffentlichen, sondern auch aus dem intellektuellen Leben hinausdrängen. Und zwar deshalb, weil man in diesem Fall die Naturwissenschaften zum Paradigma von Rationalität und Wahrheit erklärt hätte. Dann müsste man Religion entweder als einen erfolglosen Konkurrenten empirischer Untersuchung oder "bloß" als ein Vehikel emotionaler Befriedigung denken. Um die Religion vor der Onto-Theologie zu bewahren, muss man sagen, das Streben nach intersubjektiver Übereinstimmung sei nur ein menschliches Bedürfnis unter vielen anderen und steche nicht automatisch alle anderen Bedürfnisse aus. Auf diesen Satz könnten sich Nietzsche und Heidegger mit James und Dewey einigen. Alle Vier dieser Anti-Cartesianer haben grundsätzliche Einwände gegen den pejorativen Gebrauch des Wortes "bloß" in Wendungen wie "bloß privat" oder "bloß literarisch", "bloß ästhetisch", "bloß emotional". Alle Vier geben erstens Gründe dafür an, dass die Unterscheidung zwischen dem Kognitiven und dem Nicht-Kognitiven genau wie die Unterscheidung zwischen der Befriedigung von öffentlichen und der Befriedigung von privaten Bedürfnissen zu behandeln sei; und zweitens bestehen sie darauf, dass an den "privaten Bedürfnissen" nichts "bloß" sei. Alle Vier versuchen - in den Worten, die Vattimo zur Beschreibung Heideggers verwendet : "uns aus einem Denkhorizont herauszuhelfen, der ein Feind der Freiheit und der Geschichtlichkeit des Seins" ist. (S. 22) Bleibt man in diesem Denkhorizont und hält man deshalb Epistemologie und Metaphysik weiterhin für vorrangige Philosophie, dann wird man überzeugt sein, dass alle Behauptungen, die man aufstellt, kognitiven Gehalt haben müssen. Eine Behauptung hat einen derartigen Gehalt, sofern sie in das Gesellschaftsspiel eingebunden ist, das der amerikanische Gegenwartsphilosoph Robert Brandom "Gründe geben und Gründe verlangen" nennt. Wer sagt, Religion solle privatisiert werden, meint damit jedoch, dass religiöse Menschen das Recht haben müssen, zu bestimmten Zwecken aus diesem Spiel auszuscheiden. Es steht ihnen zu, ihre Behauptungen abzukoppeln vom Netzwerk der sozial akzeptablen Inferenzen, die Rechtfertigungen für das Aufstellen derartiger Behauptungen liefern und praktische Konsequenzen daraus ziehen, dass sie aufgestellt wurden. Vattimo scheint mir auf eine in diesem Sinn privatisierte Religion abzuzielen, wenn er die Säkularisierung der europäischen Kultur als die Erfüllung eines Versprechens beschreibt: der Verheißung, dass Gott uns mit der Menschwerdung, 16 verstanden als kenosis, alles aushändigt. Je weiter säkularisiert, je weniger hierokratisch die westliche Welt wird, um so besser verwirklicht sie die Verheißung des Evangeliums, dass Gott uns nicht mehr als Knechte, sondern als Freunde sehen werde. Laut Vattimo ist "das Wesen der Offenbarung reduziert auf Caritas, christliche Liebe, alles andere dagegen bleibt der Unbestimmtheit verschiedenartiger geschichtlicher Erfahrungen überlassen". (S. 86) Indem Vattimo Gottes Selbstentäußerung und den Versuch der Menschen, Liebe als das einzige Gesetz zu denken, als Seite und Kehrseite einer Medaille darstellt, kann er alle die großen Demaskierer der westlichen Welt, von Kopernikus und Newton bis hin zu Darwin, Nietzsche und Freud, als Menschen sehen, die Werke der Liebe ausführen. Sie haben, wie er sagt, "die Zeichen der Zeit gelesen ohne jeden Vorbehalt außer dem Liebesgebot" (S. 71) Sie folgten Christus insofern, als "Christus selbst der Demaskierer ist und dass die Demaskierung, die er einleitete, ... der Sinn der Heilsgeschichte selbst ist." (S. 71) Zu fragen, ob dies eine "legitime" oder "gültige" Version des Katholizismus oder des Christentums sei, hieße genau die falsche Frage stellen. Der Begriff "Legitimität" lässt sich nicht auf das anwenden, was Vattimo oder irgendwer sonst mit seiner Einsamkeit anfängt. Wer eine solche Anwendung versucht, behauptet implizit, niemand habe ein Recht, zu den Hochzeiten, Taufen und Trauergottesdiensten von Freunden und Verwandten zu gehen, es sei denn, er erkenne an, dass kirchliche Einrichtungen allein befugt sind zu entscheiden, wer als Christ zählt und wer nicht. Oder auch: niemand habe das Recht, sich Jude zu nennen, es sei denn, er befolge dieses rituelle Gebot und nicht jenes. Ich kann die Einstellung, die ich mit Vattimo teile, wie folgt, zusammenfassen: Der Kampf zwischen Religion und Naturwissenschaft im neunzehnten Jahrhundert war ein Kampf zwischen Institutionen um die kulturelle Oberherrschaft. Für die Religion wie für die Wissenschaft war es nur gut, dass die Wissenschaft diesen Kampf gewann. Denn Wahrheit und Wissen sind eine Sache der sozialen Kooperation , und die Wissenschaft gibt uns die Mittel an die Hand, bessere kooperative soziale Pläne auszuführen als zuvor. Wenn man Wahrheit will, dann ist die jeweils aktuelle Verbindung von Wissenschaft und gesundem Menschenverstand alles was man braucht. Wenn man aber etwas anderes als Wahrheit will, dann ist eine Religion, die vom epistemischen Schauplatz abgezogen wurde, eine Religion, die das Problem Theismus versus Atheismus nicht interessant findet, womöglich genau das Richtige für die eigene Einsamkeit. Vielleicht ist es so, vielleicht aber auch nicht. Zwischen Leuten wie mir und Leuten wie Vattimo besteht immer noch ein großer Unterschied. Das ist nicht überraschend, 17 wenn man bedenkt, dass er als Katholik erzogen ist und ich ganz ohne Religion aufgewachsen bin. Nur wenn man meint, eine Sehnsucht nach Religiosität sei irgendwie präkulturell und verrate "ein menschliches Grundbedürfnis", wird man nicht bereit sein, die Sache an diesem Punkt auf sich beruhen zu lassen, wird man Religion nicht vollständig privatisieren, das heißt, von der Forderung nach Universalität entlasten wollen. Wenn man jedoch die Idee aufgibt, dass die Suche nach Wahrheit oder die Suche nach Gott allen menschlichen Organismen fest einmontiert sei, und wenn man statt dessen die Möglichkeit offen lässt, dass beide auf kulturelle Prägung zurückgehen, dann wird eine solche Privatisierung ganz natürlich und richtig erscheinen. Vattimo und seinesgleichen werden dann nicht mehr denken, der Mangel an religiösen Empfindungen sei Zeichen von Vulgarität, und Leute meinesgleichen werden nicht mehr denken, das Vorhandensein solcher Gefühle sei Zeichen von Feigheit. Wir Kontrahenten können uns dann in unseren Verzicht auf derartig unfreundliche Erklärungen vom 1. Korinther 13 bestärken lassen. Der Kern meiner Differenzen mit Vattimo ist, dass er etwas Vergangenes als heilig ansieht, während ich überzeugt bin, dass Heiligkeit ihren Platz nur in einer idealen Zukunft hat. Vattimo hält Gottes Entschluss, sich aus unserem Herrn in unserem Freund zu verwandeln, für das entscheidende Ereignis der Vergangenheit, auf das wir in unseren gegenwärtigen Bestrebungen angewiesen sind. Nach seinem Verständnis ist das Heilige verknüpft mit unserer Erinnerung an jenes Ereignis. Nach meinem Verständnis, soweit ich eines habe, ist das Heilige verknüpft mit der Hoffnung, dass meine fernen Nachkommen eines Tages, irgendwann in einem späteren Jahrtausend, in einer globalen Zivilisation leben werden, die mehr oder weniger ausschließlich unter dem Gebot der Liebe steht. In einer solchen Gesellschaft wäre die Kommunikation herrschaftsfrei, Klassen und Kasten unbekannt, Hierarchie käme nur zeitlich begrenzt und zu pragmatischen Zwecken vor, und Macht wäre ganz und gar Sache der freien Übereinkunft einer lese- und schreibkundigen, gut ausgebildeten Wählerschaft. Ich habe keine Idee, wie eine solche Gesellschaft zustande kommen mag. Es ist ein Mysterium, könnte man sagen. In diesem Mysterium geht es wie in dem der Menschwerdung um das Entstehen einer Liebe, die langmütig und freundlich ist und alles duldet. Der Text des Ersten Korinther 13 ist für beide Parteien in gleicher Weise von Nutzen - für religiöse Menschen wie Vattimo mit ihrem Gefühl von Abhängigkeit gegenüber dem, was in ihrem Verständnis unseren gegenwärtigen Zustand transzendiert, nicht anders als für Nichtreligiöse, in deren Verständnis nur Hoffnung auf eine bessere Zukunft über die Gegenwart hinausweist. Die Differenz zwischen diesen beiden Gruppen ist der Unterschied zwischen einer 18 Nostalgie, die man nicht rechtfertigen kann, und einer Hoffnung, für die es auch keine Rechtfertigung gibt. Das ist jedoch kein Widerstreit zweier Glaubensrichtungen hinsichtlich dessen, was existiert oder nicht existiert. Deshalb möchte ich denken, dass wir, Vattimo und ich, beide wenigstens einen kleinen Schritt über den Streit zwischen Theismus und Atheismus hinausgekommen sind. Übersetzung: Christa Krüger. Gianni Vattimo, Credere di Credere , wurde - mit leichten Anpassungen an die englische Version - zitiert nach der deutschen Übersetzung von Christiane Schultz: Glauben - Philosophieren, Reclam, Stuttgart 1997. Das Vattimo-Zitat aus Religion wurde zitiert nach Gianni Vattimo, "Die Spur der Spur" (Übersetzung: Hella Beister), in: J. Derrida, Gianni Vattimo, Die Religion, Suhrkamp, Frankfurt 2001 19 PRESSEINFORMATION Das Entzücken am Schock der Deflationierung. Meister-Eckhart-Preis für Richard Rorty - Es gilt das gesprochene Wort Es überrascht nicht, dass die Jury, die einem neuen Preis Aufmerksamkeit und Anerkennung verschaffen möchte, als ersten Preisträger einen Autor mit Weltgeltung wählt - und auf die selbstdefinierende Bedeutung dieser Entscheidung vertraut. Auf den ersten Blick hat freilich die Zusammenführung des amerikanischen Pragmatisten mit einem als deutschem Mystiker gefeierten Theologen einen leicht surrealen Überraschungseffekt. Gewiss lassen sich auch Parallelen finden. Rorty schreibt ein literarisches Englisch. Als brillanter Schriftsteller geht er mühelos von einer Textsorte zur anderen über. Die Prosa der wissenschaftlichen Abhandlung und der philosophischen Monographie zehrt auch von der glänzenden Rhetorik des Redners und dem prägnanten Stil des Essayisten. Dieses Talent erinnert an die sprachschöpferische Kraft des gelehrten Dominikaners, der sich in seinen Tischlesungen, Predigten und Unterweisungen des Lateinischen entledigt und ein spirituelles Vokabular in die Volkssprache einführt – ins „barbarisch“ Deutsch, das der Welt der Theologen damals noch weithin als „die Sprache des Teufels“ galt. Übrigens kann man, ganz ohne pejorativen Unterton, auch von Rorty sagen, dass er das Predigen nicht scheut. Fremd ist ihm die missionarische Gabe der inspirierten, die Hörer begeisternden Rede nicht. Im Publikum sind übrigens Frauen bevorzugte Adressaten – hier die Beginen, dort die Feministinnen. Eine andere Parallele ist der Makel der Häresie. Im späten zwanzigsten Jahrhundert verfügt zwar die philosophische Profession nicht mehr - wie seinerzeit der Erzbischof von Köln und der Papst in Avignon - über die Autorität, achtundzwanzig abweichende Glaubenswahrheiten zu inkriminieren. Aber die Exkommunikation, die der harte Kern der Analytiker an ihrem abtrünnigen, wenngleich international anerkannten und einflussreichen frater doctus vollziehen, folgt einem nicht minder schmerzlichen Ritual. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt schon der ironische Umstande, dass Rorty heute die Stellung eines Professors für vergleichende Literaturwissenschaften einnimmt, eine Auszeichnung des Philosophen im Namen von Meister Eckhart. 20 Die nun auch amtlich angesonnene Beschäftigung mit Literatur betrachtet Rorty freilich nicht - wie andere Kollegen aus den philosophischen Fachbereichen der Elite-Universi-täten - als Umweg oder gar als Abweg. Die Frage, wen Philosophen mehr beneiden, Naturwissenschaftler oder Dichter, dient ihm sogar als Lackmustest. Er selber kann sich nicht vorstellen, einen Mathematiker oder Physiker zu beneiden, aber er ist sich nicht sicher, ob Quine sich hätte vorstellen können, Blake oder Rilke zu beneiden. Die Liebe zu Blake oder Nietzsche verrät den unverbesserlichen Romantiker, der der Genieästhetik einen beinahe schwärmerischen, ins Anthropologische erweiterten Begriff von Poiesis als Sinnschöpfung, von neuerungssüchtiger Produktivität und sich selbst entwerfender Subjektivität entlehnt. Aber dieser produktionsästhetische Begriff der schöpferisch-selbstschöpferischen Subjektivität bildet keine Brücke zum „Seelenfunken“ des Meister Eckhart. Bei genauerem Hinsehen verbindet den Nominalisten und Naturalisten, der dem diskursiven Ideal vermittelnder Erkenntnis anhängt, nicht viel mit der platonischneuplatonischen Seelenspekulation, die nur ein Ziel kennt – „Gott zu schauen unmittelbar in seinem eigenen Sein“. Eckharts Worte, die diesen wortlosen Akt augenschließender Kontemplation umkreisen, sind im übrigen so vieldeutig, dass sie den Autor der deutschen Predigten vor einer fatalen Wirkungsgeschichte nicht bewahrt haben. Rorty, dem unmissverständlich Linksliberalen, wird dieses Schicksal ideologischer Ausdeutung und Ausbeutung erspart bleiben. Was den Inhalt beider Werke betrifft, könnte allenfalls Eckharts berühmte Interpretation von Lukas 10, 38ff. eine gewisse Verwandtschaft mit Rortys Vorliebe für eine pragmatis-tische Bewertung von Theorien im Lichte ihrer handlungsrelevanten Folgen begründen. Denn entgegen dem biblischen Wortlaut erhebt Eckhart Martha, die tätige Hausfrau, die sich für ihre Gäste abrackert, über ihre Schwester Maria, die dem Herrn reglos zu Füßen sitzt, um dessen Worten zu lauschen. Die an Hegel erinnernde Kritik der „schönen Seele“, die, wie Eckhart von Maria sagt, „im Wohlgefühl und in der Süße stecken bleibt“, verweist jedoch auf die „Verrichtung der Werke“ nur als den richtigen Weg, der zur intuitiven Vereinigung der Seele mit Gott hinführt: die Verschmelzung ist am Ende „frei und ledig alles Vermittelnden“. Ein pragmatistischer Gehalt ist dieser Interpretation nicht abzugewinnen. An Rorty erinnert allein der Akt der kühnen und schockierenden Umkehrung einer kanonisierten Rangordnung. Rorty folgt Nietzsche in der ähnlich radikalen Umwertung platonischer Unterscheidungen. Er möchte die architektonisch tragenden Oppositionsbegriffe Wesen und Erscheinung oder wahr und unwahr aus dem Verkehr ziehen und das Gebäude einer platonis-tisch von sich entfremdeten Kultur zum Einsturz bringen. 21 Rorty teilt Wittgensteins Auf-fassung, dass das falsche, in sich verhakte Leben auf falsche, verstellende Begriffe zurückgeht. Nur diese metaphysische Prämisse erklärt die kulturkritische Emphase des Vorhabens einer metaphysikkritischen Umerziehung der Zeitgenossen. Die Kur, die Rorty empfiehlt, verschleiert das zugrundeliegende Motiv des ganzen Unternehmens. Rorty hat den Wunsch, der Philosophie jene lebenspraktische Bedeutung zurückzugeben, die sie einmal beansprucht hat. Sie soll, indem sie dem Einzelnen Orientierung anbietet und den moralischen Fortschritt der Menschheit befördert, den Zustand der Welt verbessern helfen. Nicht eben kleinmütig entwirft Rorty eine liberale Utopie: „das Bild von einem Planeten, auf dem alle Angehörigen unserer Gattung Sorge tragen für das Geschick aller übrigen Angehörigen.“ Freilich soll die Philosophie dieses Ziel nur verwirklichen können, indem sie sich als Philosophie aufhebt – diesmal nicht durch die revolutionäre Umwälzung der Verhältnisse, sondern durch eine mit und an der Philosophie vollzogene Umwälzung. Die revolutionäre Forderung richtet sich gegen die Philosophie selber, gegen ein vermeintlich desaströses Selbstverständnis der Philosophen, mit dem sie heute ihrer eigentlichen Mission im Wege stehen. Das verhaltene Pathos ist eines der Dekonstruktion. Rorty lässt aus hochtrabenden Allgemeinbegriffen, die über das versehrbare Einzelne achtlos hinweggehen, gleichsam die Luft raus. Die brillante Zuspitzung des nominalistischen Protestes verrät das schriftstellerisch kalkulierte Entzücken am Schock der Deflationierung. In der Ästhetik der Darstellungsform, nicht im Politischen, überlässt sich Rorty seinem anarchistischen Temperament. Wir sollen die Suche nach absoluten Wahrheiten aufgeben und nicht länger danach streben, das Wesen oder die Natur der Dinge zu ergründen. Wir sollen Wahrheitssuche und Erkenntnisstreben durch eine rhetorische Praxis ersetzen, die weniger an überschießenden Ideen als an den handgreiflichen Folgen der Gedanken orientiert ist. Ist erst einmal die Nutzlosigkeit der ontologischen Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, der epistemologischen Unterscheidung zwischen Sein und Schein, der semantischen Unterscheidung zwischen wahr und falsch durchschaut, kann sich die philosophische Arbeit an den praktischen Zielen von „Leistungssteigerung“ und „Toleranz“ ausrichten. Der wissenschaftliche Fortschritt bemisst sich an den prognostischen Erfolgen von Theorien, die über technische Neuerungen in eine Verbesserung der Lebensbedingungen umgesetzt werden können. Der gesellschaftliche Fortschritt bemisst sich an der immer weitergehenden Einbeziehung von Marginalisierten und Fremden in jene Art der Loyalität, die wir gegenüber unseren Nächsten empfinden. Der moralische Fortschritt manifestiert sich in der wachsenden Sensibilität gegenüber dem Leiden anderer und in der Eliminierung von 22 Grausamkeiten. Das klingt populär und ist es auch. Aber hinter der Fassade des Volkspädagogen verbirgt sich eine Theorie, die ein breitenwirksames Buch wie „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ (1989) erst mit soliden Gründen ausstattet. In schroffem Gegensatz zu irrlichternden Philosophie-Entertainern, die sich mit funkelnden Formulierungen beim anspruchsvoll zerstreuten Medienpublikum Ansehen erwerben, arbeitet Rorty professionell. Er ist ein eminent scharfsinniger, hoch produktiver, hartnäckig analysierender, neugieriger und kontinuierlich lernender Philosoph auf der Höhe seiner Profession. Gewiss sieht er die Debatten des Faches eingebettet in den Zusammenhang eines größeren kulturellen Wandels. Aber nur weil er an den Debatten der Zunft, oft genug als innovativ treibende Kraft, teilnimmt, fühlt er sich bei exoterischen Auftritten berechtigt, aus den vielen kleinteiligen Argumenten große Schlüsse zu ziehen. Bei allem Hohn, den er gelegentlich über die Profession ausschüttet, hält er sich an deren Standards, wenn er eigene Gedanken entwickelt und erprobt: „Wir Philosophieprofessoren können in einem fort kleinteilige Argumente für oder gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit, für oder gegen die Objektivität von Werten aufbieten. Wir gingen unserem Beruf nicht nach, wenn wir nicht ständig solche Argumente hin und her wendeten.“ In seinem bahnbrechenden Werk „The Mirror of Nature“ (1979) hat Rorty jene mentalis-tischen Grundannahmen demontiert, die die Hauptströmungen von cognitive science und zeitgenössischer Semantik immer noch mit der klassischen Erkenntnistheorie des 17. und 18. Jahrhunderts verbinden. Seitdem ziehen sich die Themen Wahrheit und Objektivität durch die unermüdlich fortgesponnenen Argumentationsfäden, die Roery seit Jahrzehnten nicht nur mit Donald Davidson und Hilary Putnam, John Searle und Chuck Taylor, Hans Georg Gadamer und Jacques Derrida verbinden. Jugendlich frisch kommentiert er jede halbwegs aufregende Neuerscheinung von Dennett, Brandom, McDowell oder Crispin Wright. Jede Kritik würdigt er mit penibler Verteidigung oder mit einem überraschenden Revirement der Schlachtordnung. Letztlich will er mit einem einzigen Problem fertig werden – oder besser: mit den Folgeproblemen des Vorschlages, den er zur Lösung dieses Problems entwickelt hat. Das Problem selbst ist schnell skizziert. Einerseits erheben wir mit Behauptungen einen absoluten Anspruch auf die Wahrheit des Gesagten. Wenn wir etwas für wahr halten, meinen wir nicht, dass es nur hier und jetzt gilt, nur für uns wahr ist, aber nicht für andere. Wenn Aussagen wahr sind, sind sie es unter allen Umständen und für jedermann. In diesem Sinne ist „Wahrheit“ eine „unverlierbare“ Eigenschaft von Aussagen. Andererseits verwenden wir das Prädikat „wahr“ nur im Zusammenhang von Gründen, mit denen Opponenten oder Proponenten die 23 Wahrheit einer Behauptung angreifen oder rechtfertigen. Wahrheitsansprüche sind von Haus aus auf Kritik und Rechtfertigung bezogen. Diese epistemische Abhängigkeit der Wahrheitsfeststellung von einer Rechtfertigungspraxis, die immer auch fehlschlagen kann, hat aber eine fatale Konsequenz für den Anspruch auf absolute Geltung. Anders als „Wahrheit“ ist „Begründen“ ein publikumsbezogener und hörerrelativer Erfolgsbegriff: „Auch unter der Voraussetzung, dass ‚wahr’ ein absoluter Begriff ist, werden die Anwendungsbedingungen immer relativ bleiben. Denn so etwas wie eine Überzeugung, die schlechthin gerechtfertigt oder ein für alle mal begründet wäre, gibt es nicht...Es gibt keine Überzeugungen, von denen man wissen kann, dass sie gegen jeden möglichen Zweifel gefeit wären.“ Auf dieses Problem können wir natürlich auf verschiedene Weise reagieren. Rorty, und das ist der Stein des Anstoßes, empfiehlt die Eliminierung des Wahrheitsbegriffs. Er möchte ihn durch den Begriff der gerechtfertigten Behauptbarkeit, der ohnehin die ganze Arbeit leisten muss, ersetzen. Mit diesem Zug hat Rorty Auseinandersetzungen provoziert, die ich an dieser Stelle nicht fortsetze. In unserem Zusammenhang interessiert das Motiv für diesen Vorschlag: Rorty wählt die radikalste unter den möglichen Antworten wohl deshalb, weil er genau die Konsequenzen, vor denen seine Kollegen zurückschrecken, für wünschenswert hält. Indem wir dem undefinierbaren Wahrheitsbegriff jedes philosophische Interesse absprechen, so mag sich Rorty gesagt haben, entledigen wir uns nicht nur der irreführenden Intuition, als sei unsere Erkenntnis ein Abbild oder Spiegel der Natur. Mit dem Verzicht auf eine kontextunabhängige Wahrheitsgeltung und mit der Verabschiedung einer objektiven, von unserem Geiste unabhängigen Welt, mit der Zurückführung von Rationalität „überhaupt“ auf je „unsere“ Rationalität oder mit der Aufweichung des Gegensatzes von Kommunikation und Manipulation, Überzeugen und Überreden – kurzum, mit der Verflüssigung platonischer Grundbegriffe lockern sich, so scheint es, imaginäre Zwänge, denen wir uns ganz ohne Not unterworfen haben. Auf die Kontingenzspielräume, die so entstehen, wirft Rorty dann einen romantisierenden Blick. Für ihn bedeutet das wachsende Kontingenzbewusstsein einen Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Es ist Chance und Ansporn zu Kreativität, zur Erfindung neuer Vokabulare für ein verändertes Selbst- und Weltverständnis. Mit Innovation und Experiment kommen Erfahrungen der ästhetischen Avantgarde zum Zuge. Das Außeralltägliche der existentiellen Lebensentwürfe muss allerdings mit den Gerechtigkeitsforderungen des politischen Liberalismus und mit den Aufgaben des demokratischen Intellektuellen in Einklang bleiben. Auch wenn jede der beiden Seiten einen eigenen Altar und einen eigenen Hausgott behält. Heidegger und 24 Dewey treten ein komplementäres Verhältnis zueinander. Rorty gehört zu den an einer Hand abzählbaren amerikanischer Intellektuellen, deren Stimme über den ganzen Kontinent hinweg gehört wird. In seinen couragierten und völlig uneitlen Parteinahmen äußert sich eine nicht unkritische, aber ungebrochene Loyalität gegenüber dem eigenen Land. Es ist ein Patriotismus aus Brechtschem Geist: „...Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s.“ Wiederum besteht ein transparenter Zusammenhang zwischen den skrupulös verteidigten philosophischen Auffassungen und den erfrischend offenen politischen Stellungnahmen. Das zeigt sich auch an jüngsten Kommentaren zum Eingreifen in Afghanistan. In der Rationalitätsdebatte hatte Rorty gegen die hermeneutische Auffassung von der Reziprozität des Ver-stehens einen methodischen Ethnozentrismus zur Geltung gebracht. Diese philosophische Stellung spiegelt sich nun in einer ziemlich umstandslosen Parteinahme für einen selbstbewussten Umgang der säkularen humanistischen Kultur des Westens mit den anderen Kulturen. Eine Laudatio ist nicht der Ort zum Einspruch. Widersprechen muss ich aber einer captatio benevolentiae, mit der der Autor sein letztes Buch in eigener Sache einleitet. Dort stellt er nämlich der Originalität der großen Philosophen die Neugier des Eklektikers gegenüber, um sich selbst unter die Nichtgenies einzureihen: „Ich werde unruhig, sehe mich nach neuen Helden um, während ich den alten einigermaßen die Treue halte. Und so ist es gekommen, dass ich mich zum Synkretisten gemausert habe. Aber auch der erfolgreichste Synkretismus kann nicht hoffen, es den wahrhaft heroischen Leistungen (der großen Philosophen) gleichzutun.“ Wir sollten Rorty die Demutsgeste, auch wenn sie alles andere als scheinheilig ist, schon deshalb nicht durchgehen lassen, weil sie auf einer falschen Prämisse beruht. Die neuen Vokabulare, um die er Plato, Hegel und Nietzsche beneidet, fallen nicht vom Himmel, sind keine poetischen Welterschließungen, die über uns kommen. Neue Perspektiven, die das uns Bekannte in einem anderen Licht sehen und auf neue Weise beschreiben lassen, werden nicht genial erzeugt; sie entstehen aus einfallsreichen Antworten auf Probleme, mit deren Lösungen wir uns über lange Strecken abmühen. Erst die frustrierende Arbeit an hartnäckigen Problemen gibt den Anstoß zu kreativen Einfällen. Für dieses innovative Zusammenspiel von Phantasie und kleinteiliger Argumentation gibt es kein besseres Beispiel als das faszinierende Werk des heute zu ehrenden Philosophen, dem wir nicht erlauben können, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. 25 PRESSEINFORMATION Kurzporträt Identity Foundation Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Die Identity Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung zur Wissenschaftsförderung. Ihr Schwerpunkt sind Forschungen zum Selbstverständnis von Personen, Gruppen und Institutionen. Die Stiftung wurde ins Leben gerufen vom Gründer der Kommunikationsagentur ECC Kohtes Klewes, Paul J. Kohtes, und seiner Frau Margret. Die Identity Foundation entwickelt und fördert Projekte, in denen Fragen der persönlichen, sozialen und interkulturellen Identität wissenschaftlich interdisziplinär und allgemeinverständlich aufgearbeitet werden. Der wissenschaftliche Beirat besteht aus folgenden Personen: Professor Dr. Eugen Buß (Vorsitzender), Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie der Universität Hohenheim, Stuttgart, Professor Dr. Erhard Meyer-Galow, Gastprofessor an der Ruhruniversität Bochum, früher Vorstandsvorsitzender Stinnes AG und Vorstandsmitglied der VEBA AG (E.ON), Professor Dr. Muneto Sonoda, Leiter des japanischen Kulturzentrums EKO-Haus in Düsseldorf, Dr. Rainer Zimmermann, CEO der BBDO-Group Germany. Den Vorstand der Identity Foundation bilden: Paul J. Kohtes (Vorsitz) und Dr. Ulrich Freiesleben, Unternehmer aus Münster. Zur Zeit werden neben dem Meister-Eckhart-Preis folgende Projekte bearbeitet: Quellen der Identität Eine Studie zu Selbstverständnis und Sendungsbewusstsein von Top-Managern. Diese aktuelle Untersuchung liefert Erkenntnisse über die Schnittstelle von Personal Identity und Corporate Identity. Anhand empirischer Analysen wurden die Quellen erforscht, aus denen sich die Identität von Führungspersönlichkeiten der ersten Ebene speist. Unter den Befragten befanden sich zu 30 Prozent Vorstandsvorsitzende, stellvertretende Vorstandsvorsitzende bzw. Vorsitzende von Aufsichtsräten, zu 38 Prozent Vorstandsmitglieder sowie zu 32 Prozent persönlich haftende Gesellschafter, Inhaber und Geschäftsführer größerer deutscher Unternehmen. Die Studie liefert einen umfassenden Überblick zum Orientierungsrahmen und den Werthaltungen von Spitzenmanagern in Deutschland. "seite" 26 Eine Folgestudie befasst sich mit den Managern der „New Economy“. Die Ergebnisse werden Anfang 2002 erwartet. Gesundheitsstudie Im Auftrag der Identity Foundation untersuchte das Allensbach-Institut den Einfluss des individuellen Körpergefühls auf das Identitätserlebnis. Ganz in der Tradition des römischen Dichters Juvenal „mens sana in corpore sano" wird dem Thema Gesundheit heute in der Gesellschaft ein enorm hoher Stellenwert beigemessen. Die Identity Foundation wollte wissen, ob die Deutschen sich bei Krankheit gut betreut fühlen, welche Erfahrungen sie mit alternativen Heilmitteln und -verfahren gemacht haben und welchen Ratgeber sie in Gesundheitsdingen vertrauen: Was die Menschen noch von der Schulmedizin erwarten, welche Bedeutung Psychologie und Glauben haben und wo sich der Durchschnitts-Patient heute informiert. Die Untersuchung stützt sich auf 2.111 Face-to-face-Interviews mit einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung ab 16 Jahren. 27 PRESSEINFORMATION Kurzporträt: Meister Eckhart Düsseldorf/Berlin, 3. Dezember 2001 – Der Philosoph und Theologe Meister Eckhart lehrte und predigte um 1300 unter anderem in Köln, Paris und Straßburg. Er gilt heute als ‚Schöpfer der deutschen wissenschaftlichen Prosa’ (Gustav Landauer). Meister Eckhart war einer der ersten theologischen Wissenschaftler des Mittelalters, der es wagte, wichtige Werke in Deutsch zu verfassen. Heute gilt er ‚als einzig wirklich schöpferisch begabter spekulativer Kopf der deutschen Mystik’ (Josef Quint). Seine Mystik ist frei von frömmelndem Glauben, sie ist Skepsis und Pantheismus. Seine Gedanken haben die moderne Psychologie, insbesondere bei C. G. Jung und Erich Fromm stark beeinflusst. Als ‚einen genialen Seelenanalytiker‘ bezeichnete ihn sein bekanntester Übersetzer in heutiges Deutsch, Josef Quint. Eckhart wurde um 1260 in der Nähe von Gotha in Thüringen geboren. Bereits in jungen Jahren trat er ins Dominikanerkloster Erfurt ein. Die Ordensleitung erkannte rasch das herausragende Talent des jungen Mannes. 1294 hielt Eckhart bereits seine ‚Antrittsvorlesung‘ an der Universität Paris. 1300 wurde er in Paris zum Professor (Magister) berufen. Daraus leitet sich sein Titel „Meister“ ab. Weitere Stationen seiner erstaunlichen Karriere waren die Ämter als Prior des Erfurter Predigerklosters, Vikar von Thüringen, Provinzial der Ordensprovinz von Sachsen bis in die Niederlande und Generalvikar von Böhmen. Immer wieder fand er die Zeit, an der Pariser Universität sowie an der Ordenshochschule in Köln zu lehren und Predigten und Schriften auf Deutsch und Latein zu verfassen. Seine brillanten und oft provokanten Thesen (Beispiel: „Alle Kreaturen sind reines Nichts“) riefen Neider und Kritiker auf den Plan. 1326 geriet er – trotz seiner ranghohen Ämter – in die Mühlen der Inquisition. Ein intriganter und zermürbender Prozess begann. Nur seine große Popularität und wissenschaftliche Bedeutung schützten ihn vor einer persönlichen Verurteilung. Aber auch sein Besuch beim Papst in Avignon 1328 konnte das Blatt nicht wenden. Nach seinem Tod, Eckhart wurde etwa 68 Jahre alt, wurde sein Werk von Papst Johannes XXII in der berühmten Bulle “In agro dominico“ (Auf dem Acker des Herrn) als weitgehend ketzerisch verurteilt. In der Folge sind zahlreiche Schriften von ihm vernichtet worden und Manches liegt nur in Fragmenten oder in nicht authentischen Abschriften vor. 28 Zu den bekanntesten erhaltenen deutschen Werken Meister Eckharts zählen vor allem seine Predigten, aber auch die ‚Reden der Unterweisung‘, das Traktat ‚Vom edlen Menschen‘ und die Abhandlung ‚Von der Abgeschiedenheit‘. Das lateinische Hauptwerk besteht aus den fünf Auslegungen und Kommentaren zu drei Büchern des Alten Testaments – Genesis, Exodus und Sapientia – sowie zum Evangelium nach Johannes. Sehr zur heutigen Wiederentdeckung Meister Eckharts beigetragen hat die Übersetzung seiner Werke aus dem Mittelhochdeutschen durch Josef Quint: Deutsche Predigten und Traktakte, Diogenes TB 20642.