Was ist Existenzanalyse? 1. Einleitung Jeder wache Mensch ist ein Suchender. Doch was sucht der Mensch? Sicherheit, Anerkennung, Liebe, Erfolg? Was liegt unter all dem? Was ist die tiefe Strömung unter dem Alltäglichen? Vielleicht geht es um das zutiefst menschliche Suchen nach: • • • • • Lebensfülle, Lebensdichte, Lebenstiefe, Lebensintensität? Lebendigkeit, Leidenschaft? Echtheit, Wahrheit, Ganz-sein? Orientierung, Sinn, Werte? Dem Grösseren, dem Spirituellen? Viele Menschen sind bewegt durch grundsätzliche Fragen wie: • Wer bin ich? Was macht mich wesentlich aus? Was ist mein ganz Eigenes? • Was heisst das 'Eigene leben'? Das eigene Leben? Ein Leben mit voller innerer Zustimmung? • Was heisst für mich 'sinnvoll leben'? • Was bleibt, wenn ich gehe? • Was ist überhaupt ein gutes und erfüllendes Leben? • Gibt es Methoden, Übungen, Mittel und Wege, um zu einem erfüllenden und guten Leben zu kommen? Wie gelingt erfüllendes Leben? Und es stellen sich auch Fragen der aktuellen, existenziellen Situation: • Worum geht es mir derzeit in meinem Leben? Im jetzigen Horizont? Worin stehe ich eigentlich? • Was ist das, was mich derzeit beschäftigt? Was bindet mich? Was besetzt mich? • Wie geht meine Kraft hin? • Worin gehe ich auf? Was bewegt mich? • Habe ich ein gutes Leben? Will ich so leben? Wo handle ich nicht mit voller innerer Zustimmung? • Was ist die wichtigste Frage, die sich mir zur Zeit stellt? • Womit sollte ich mich zur Zeit auseinandersetzen? • Worauf - vor allem - habe ich Antworten zu finden? Um Fragen dieser Art geht es in der Existenzanalyse. Im Mittelpunkt der Sicht- und Denkweise der Existenzanalyse (EA) steht der Begriff "Existenz". Dieser meint ein sinnvolles, in Freiheit, Selbsttreue (Authentizität) und Verantwortung gestaltetes Leben. "Existenz" „Leben ohne Eigenvermeint daher mehr als automatisierte Abläufe und Wechselwirkungen - Existieren antwortung ist wie „unbedeutet Auseinandersetzung und dialogischen Austausch (Begegnung) zwischen gelebtes“ Leben, ist zwar der Person und ihrer Welt. Als geistiges Wesen strebt der Mensch danach, für sein erlebtes, aber nicht geLeben selbst einzutreten, es selbstbestimmt (autonom) und eigenverantwortlich zu lebtes Leben.“ führen. In der Existenzanalyse geht es also im Kern um persönliche LebensfühAlfried Längle rung. Um ein Leben mit innerer Zustimmung. Um eine dialogische Auseinandersetzung mit der inneren und äusseren Realität des Menschen. Existenz = ein sinnvolles, in Freiheit und Verantwortung gestaltetes Leben, das der Mensch als das Seinige erlebt und worin er sich als Mitgestalter versteht. Stefan Marti, www.st-marti.ch 1 2. Die Wurzeln der Existenzanalyse und Logotherapie Das Besondere an der Existenzanalyse ist, dass sie ursprünglich nicht aus der experimentellen Empirie erwachsen ist, sondern aus der systematischen Reflexion über das Wesen des Menschen, also über das, was ihn ausmacht, wie er sich in dieser Welt verstehen und ganzheitlich wirken kann. Der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, der Wiener Psychiater Viktor Frankl (1905-1997), hat damit versucht, die psychotherapeutische und psychiatrische Praxis von der Philosophie her zu befruchten und durch eine Verständnis des Menschen zu ergänzen, das nicht nur die Entwicklung von psychischen Störungen erklären kann, sondern ein "geistiges Rüstzeug" für die Bewältigung seelischer Not bereitstellt. Mit der Logotherapie (Logos = Sinn; Logotherapie = am Sinn orientierte Psychotherapie) wollte Frankl damit eine 'Ergänzung' zur Psychotherapie der damaligen Zeit - welche insbesondere durch Sigmund Freud und Alfred Adler, den Begründern der ersten und zweiten "Wiener Schule der Psychotherapie" geprägt war schaffen und ein Korrektiv zu ihrer einseitigen Ausrichtung auf innerpsychische Mechanismen geben. Die Wichtigkeit der tiefenpsychologischen Dimensionen sollte damit in keiner Weise in Frage gestellt werden. Wogegen sich Frankl mit der Logotherapie wandte, war die Reduktion des ganzen Menschen auf solche Mechanismen. Dadurch wird das Wesen des „Wir müssen der Frage nach Menschen - sein freies Personsein - verfremdet und seine tiefe geistige Not eidem Sinn des Lebens eine ner Daseinsbewältigung, die sich lohnt und einen Sinn hat, verkannt. Mit der kopernikanische Wendung Logotherapie erfuhr die psychodynamische Betrachtung eine diametrale Wengeben: Das Leben selbst ist dung: nicht nur unbewusste Konditionierungen und Kräfte lenken und treiben es, das dem Menschen Fraden Menschen, sondern die "Werte in der Welt" ziehen ihn an. Die Logotheragen stellt. Er hat nicht zu frapie wurde also geschaffen, um die geistige Dimension in der Psychologie zu gen, er ist vielmehr der Beverstärken und der Person mit ihren Grundeigenschaften der Freiheit, Verantfragte, der dem Leben zu wortung und Sinnsuche mehr Gewicht zu geben. Frankl verstand die Logotheantworten – das Leben zu rapie als eine Ergänzung der Psychotherapie, und zwar für alle Psychotheraver-antworten hat.“ pien. Sie sollte eine Art geistiger Überbau sein - kein Ersatz. Frankl brauchte in Viktor Frankl diesem Zusammenhang gerne den Begriff der "Höhenpsychologie" und die Ergänzung zur Tiefenpsychologie deutlich zu machen. Viktor Frankl war Jude. 1942 wurden er, seine Frau und seine Eltern ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Sein Vater starb dort 1943, seine Mutter wurde in der Gaskammer von Auschwitz ermordet, ebenso sein Bruder Walter, seine Frau starb im KZ Bergen-Belsen. Frankl wurde 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz gebracht und später in das Lager Türkheim, ein Aussenlager des KZ Dachau, transportiert. Am 27. April 1945 wurde er in Türkheim von der US-Armee befreit. Seine Eindrücke und Erfahrungen in den Konzentrationslagern verarbeitete er in dem sehr lesenswerten Buch "… trotzdem Ja zum Leben sagen - ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager". Durch diese persönlichen Erfahrungen geprägt, hat sich Viktor Frankl Zeit seines Lebens der Weiterentwicklung der Logotherapie, der "3. Wiener Richtung der Psychotherapie" gewidmet. Das Leitmotiv seines Arbeitens ist das Grenzgebiet zwischen Psychotherapie und Philosophie, insbesondere die Sinn und Wertproblematik. Wohl niemand in der Geschichte der Psychotherapie hat sich so sehr und so glaubwürdig mit der Sinnthematik beschäftigt wie Frankl.1955 erhielt Viktor Frankl den Professorentitel für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, Gastprofessuren führten ihn in die USA. Frankl verfasste 32 Bücher (viele in 10 bis 20 Sprachen übersetzt) und erhielt weltweit 29 Ehrendoktorate. In der Logotherapie steht die Sinnthematik im Zentrum. In mehr als sechs Jahrzehnten hat Viktor Frankl eine "Sinn-Lehre gegen die Sinnleere" begründet. Das Haupteinsatzgebiet ist die Beratung und Begleitung von Menschen mit Sinnproblemen. Die Logotherapie und Existenzanalyse sind zwischen Psychologie und Philosophie angesiedelt. Die beiden Richtungen enthalten das Gedankengut vieler philosophischer Richtungen. Da sind vor allem die Phänomenologie und Existenzphilosophie zu nennen, aber auch der Einfluss der klassischen Philosophie. Als konkrete Vertreter der erwähnten Richtungen seien vor allem Immanuel Kant, Max Scheler, Martin Heidegger, Karl Jaspers, Nicolai Hartmann und Martin Buber genannt. Daneben gibt es auch massgebliche Einflüsse von Friedrich Nietzsche, Blaise Pascale, Sören Kierkegaard und Jean-Paul Sartre. Ursprüngliche Einflüsse stammen auch aus der "ewigen Philosophie" (philosophia perennis) von Sokrates, Platon und Aristoteles. Frankl nutzte diese philosophischen Anschauungen vor allem eklektisch und schuf der psychotherapeutischen Praxis damit eine solides und breites Fundament. Stefan Marti, www.st-marti.ch 2 3. Von der Logotherapie zur Existenzanalyse Der vorarlberger Arzt und Psychologe Alfried Längle arbeitete von 1982 bis 1991 eng mit Viktor Frankl zusammen. Er entwickelte die Existenzanalyse als eigenständige psychotherapeutische Richtung in den 80er und 90er Jahren weiter. Im Laufe von tausenden von Therapiesitzungen gelang Alfried Längle zur Erkenntnis, dass es letztlich immer wieder um vier grundlegende Dimensionen des Existenz geht. Er entdeckte phänomenologisch diese vier Grunddimensionen, welche das menschliche Leben massgeblich beeinflussen: Dies sind die vier Grundbedingungen erfüllender Existenz. Letztlich sind alle Themen, die den Menschen existenziell bewegen, auf eine oder mehrere dieser Grunddimensionen zurückführbar. Sie sind die tiefste Motivationsstruktur der Person in ihrem wesenmässigen Streben nach erfüllender Existenz. Dies sind daher die Grund-Motivationen, die hinter allen Motivationen des Menschen stehen. Sie fordern vom Menschen in allen vier Bereichen kontinuierlich personale Stellungnahme und Einwilligung. Defizite wirken sich störend aus und führen zu entsprechenden Schutzreaktionen ("Copingreaktionen") bzw. zu Psychopathologien. Die konkreten Motivationen, die sich aus den Grundbedingungen der Existenz ableiten sind: 1. Motivation zum physischen Überleben und zur geistigen Daseinsbewältigung, was wir als SeinKönnen erleben. Bei Fehlen folgt Angst, Verunsicherung, Verschlossenheit 2. Motivation der psychischen Lebenslust und Motivation zum Werterleben, was wir als "leben mögen" erleben. Bei Fehlen folgt Depression, Sehnsucht, Belastung/Kälte 3. Motivation zur personalen Authentizität und zur Gerechtigkeit, was wir als So-sein-Dürfen erleben. Bei Fehlen folgt Einsamkeit, Ruhelosigkeit, Verletztheit 4. Motivation zum existenziellen Sinn und zur Entwicklung des Wertvollen, was wir als HandelnSollen erleben. Bei Fehlen folgt Leere, existenzielle Frustration, Sucht So stellen die vier Grundmotivationen den Zugang zu erfüllender Existenz (d.h. zum persönlichen Glück) dar. Sie beschreiben das Instrumentarium, mit dem der Mensch selbst für seine innere Erfüllung aktiv werden kann. Erfüllte Existenz steht auf diesen vier 'Tischbeinen' und beinhaltet eine vierfache Zustimmung. In Krisensituationen und unter Belastung, besonders aber bei psychischen Störungen wird die Bedeutung dieser persönlichen Stellungnahmen zu den Grundbedingungen der Existenz zentral. In der Logotherapie hat Viktor Frankl die Sinnstrebigkeit des Menschen als ursprüngliche und tiefste Motivation des Menschen angesehen. Sie galt als die Grundmotivation schlechthin. Das Verständnis der Existenzanalyse (EA) beinhaltet diese Sinndimension, erweitert diese jedoch mit den drei anderen Grundmotivationen. Alfried Längle hat das Konzept der vier Grundmotivationen inhaltlich ausgefeilt und 1992 erstmals publik gemacht. Die EA ist in dieser Form also noch sehr jung. Mittlerweile entwickelte sich Existenzanalyse zur Psychotherapie mit staatlicher Anerkennung in Österreich, der Schweiz, Tschechien und Rumänien. Stefan Marti, www.st-marti.ch 3 4. Das Menschenbild in der Existenzanalyse Die Existenzanalyse geht von einem dreidimensionalen Menschenbild aus: der Mensch ist leiblich, seelisch und geistig zugleich: • Als physisches Wesen strebt der Mensch nach Erhaltung und Gesundheit des Körpers, was durch körperliche Bedürfnisse geregelt wird (z.B. schlafen, essen, trinken, Sexualität, Bewegung) • Als psychisches Wesen geht es um das Leben mit seinen vitalen Kräften und um das Wohlbefinden in seinem eigenen Körper. Er strebt nach angenehmen Gefühlen und Spannungsfreiheit gemäss seinen Persönlichkeitsanlagen. Das Gelingen solchen Strebens wird als Lust erlebt, das Scheitern als Unlust, Spannung, Frustration. • Als geistiges Wesen (Person) sucht der Mensch Sinn und Werte im Leben, Halt, Glaube, personale Liebe, Werte, Gerechtigkeit, Freiheit, Verantwortung usw. (entspricht den 4 existenziellen Grundmotivationen) Die drei Dimensionen am Menschen stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Zum einen setzt sich der Mensch nicht nur aus den drei Dimensionen "zusammen". Die Einheit Mensch entsteht vielmehr dadurch, das sich das geistig in ihm mit den Psycho-Physischen "aus-ein-ander-setzt". Zum anderen entwickeln die drei Dimensionen des Menschseins ihre eigenen Dynamiken, die als Motivationskräfte zum Vorschein kommen. Wesentlich an dieser Antropologie ist, dass sich der Mensch wie eine "Steuermann" auf dem Boot des Psychophysikums" versteht, mit welchem er untrennbar verbunden ist. Anders gesagt: die "personal-existenzielle Dimension" des Menschens hat die Fähigkeit, sich mit dem Leiblich-Seelischen an ihm auseinanderzusetzen. Dies bedeutet, dass der Mensch zu einer Distanz zu sich selbst kommen kann ("Selbst-Distanzierung"). Das ermöglicht ihm einen Umgang mit sich und ein Verhalten zu sich selber. Diese "innere Offenheit" des Menschen zu sich selbst ist die eine Seite dieser dritten Dimension, die das spezifisch Menschliche ausmacht. Die andere Seite ist ihre "Weltoffenheit". Der Mensch erkennt und erspürt die Werte in der Welt, der Sinn der Situation, dem er sich schliesslich auch hingeben kann. Damit überschreitet der Mensch sich selbst. d.h. das Eingeschlossensein in der Innen-Welt seiner Bedürfnisse, Triebe und Spannungen (Selbst-Transzendenz). Er wird offen für den dialogischen Austausch mit der Welt. Die Betonung der geistigen Dimension (des typisch Menschlichen) ist ein typisches Wesensmerkmal der EA. Zwischen Existenzanalyse und humanistischer Psychotherapie (z.B. Carl Rogers) gibt es viele Ähnlichkeiten und Überschneidungen. Dennoch unterscheidet sie sich in wesentlichen Punkten: • Selbstverwirklichung ist ein zentraler Begriff in der humanistischen Psychologie: Entfaltung eines Samenkorns, das zur Entfaltung drängt; Selbstaktualisierung, Vorgabe, Skript. In der EA steht der Begriff Sinnverwirklichung im Zentrum: der dialogische Austausch mit der Welt. Authentizität als Echtheit angesichts der Situation, also Übereinstimmung des Menschen mit der aktuellen Situation. Gewissen als Gespür für das Richtige in der Situation. Eine Vielfalt von Fähigkeiten steht einer Vielfalt von Möglichkeiten gegenüber. In der Situation ist die beste Antwort geben und die dazu geeigneten Fähigkeiten zu entwickeln. • Der Vorstellung einer Entwicklungskraft, die aus dem vitalen, bestimmenden ("organismischen") Leben steht die Vorstellung einer Auseinandersetzungs-Kraft geistigen Ursprungs gegenüber: Freiheit, Entscheidungen, Verantwortung, Stellungnahme. Die 'Person' selbst als "reine Dynamis", also reine Kraft, Potentialität des Entscheiden-Könnens und Begegnens, frei von allen Vorherbestimmungen. Selbstschaffung statt Selbstentdeckung. Stefan Marti, www.st-marti.ch 4 5. Thematische Schwerpunkte der Existenzanalyse Im folgenden steht ein Überblick über die thematischen Inhalte der Existenzanalyse: 1. Grundmotivation • • • • • • • • • • • • • • • • Vertrauen Halt, Stabilität Verbindlichkeit Selbstvertrauen Fähigkeiten / Kraft Gelassenheit Freiräume Macht / Ohnmacht Scheitern Wahrheit Treue, Glaube, Hoffnung Angst Annehmen, aushalten Grundvertrauen Urvertrauen Seinsgrund 2. Grundmotivation • • • • • • • • • • • • • • • • • Emotion Motivation Werte Beziehung Nähe/Distanz Zugehörigkeit Gemeinschaft Zuwendung Trauer Lebenslust, Freude Dankbarkeit Verbundenheit Sucht Beziehung zu sich selbst Burnout Depression Grundwert 3. Grundmotivation • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • Beachtung Aufmerksamkeit Respekt Gerechtigkeit Anerkennung Wertschätzung Authentizität Identifikation Abgrenzung Autonomie Intimität Freiwilligkeit Wahrhaftigkeit Aufrichtigkeit Selbstwert Würde, Gewissen Ethik, Moral Selbstannahme Ausstrahlung Ansehen Persönlichkeitsstörungen Narzissmus 4. Grundmotivation • • • • • • • • • • • • • • • • • Sinn Entwicklung Perspektiven Eigenverantwortung Commitment Beteiligung Spuren hinterlassen Zustimmung Freiheit Entscheiden Wille Einstellung Haltung Erfolg Scheitern Handlung Existenzielles Vakuum Die EA hat die Themen der vier Grundmotivationen mit grosser Tiefenschärfe für Beratung und Psychotherapie ausdifferenziert. Zur Zeit findet der Brückenschlag in den Bereich Führung und Organisation statt. Wegen der klaren Systematik und universellen Anwendbarkeit sowie Erklärungspotenz kann das Konzept der Grundmotivationen mit dem Periodensystem der Chemie verglichen werden. Es ist quasi das Koordinatensystem der Psychologie, das hilft, Problemsituationen zu verstehen und konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Neben diesem Strukturmodell hat die EA auch ein Prozessmodell entwickelt. Dieses kommt inbesondere in Therapie und Coaching zum Einsatz. Grundlage des konkreten Arbeitens in der EA ist die Phänomenologie. Karl Jaspers hat schon 1938 in einem einzigen Satz den existenziellen Bogen der vier Grundmotivationen beschrieben: "Ich will sein, will nicht nur vitale Dauer, sondern will eigentlich ich selbst sein, will Ewigkeit und gehe den Weg des wirkenden Tuns." Ähnliche Ideen bzw. Konzepte von vier grundlegenden Motivationen finden sich auch bei anderen Autoren wie Binswanger (1942), Maslow (1954), Yalom (1980) oder Grawe (1998). Stefan Marti, www.st-marti.ch 5 6. Anwendungsbereiche der Existenzanalyse im Bereich Führung und Organisation Die klassische Anwendungsbereiche der Existenzanalyse als ursprünglich psychotherapeutische Methode liegt im Bereich von Therapie, Beratung/Coaching, Lebensschulung, Persönlichkeitsbildung sowie Prävention und Prophylaxe. Wie in obiger Übersicht über die Inhalte der EA deutlich wurden, kann die EA darüberhinaus einen substanziellen Beitrag zu Fragen in der Führung und Organisationsentwicklung bieten. So sind doch Themen wie beispielsweise Eigenverantwortung, Vertrauen, Motivation, Burnout, Werte, Authentizität, Ethik und Sinn wichtige Zeit- und Führungsfragen. Diese lassen sich gewinnbringend aus dem Blickwinkel der Existenzanalyse betrachten. Die EA ist inhaltlich und haltungsmässig sehr kompatibel mit anderen wichtigen Konzepten der Organisationsentwicklung und Führung. Die EA kann als Unterbau mit grosser Tiefenschärfe verwendet werden. Sie reichert klassische Führungskonzepte an und erlaubt substanzielle Vertiefungen und Verknüpfungen. Die Erfahrung zeigt, dass EA-Konzepte für Führungskräfte schnell und intuitiv erfassbar sind. Die EA ist eine Art von Psychologie, die auch von Führungskräften gut angenommen werden kann. Die EA-Sprache ist für Führungskräfte passend und nicht zu ‚psychologisch’. Darin zeigt sich, dass die EA zu grossen Teilen phänomenologisch (d.h. aus dem direkten Gespräch mit dem Mann von der Strasse) entwickelt wurde. Da die EA - im Gegensatz anderen psychologischen Richtungen – eine stärkere Orientierung an der ‚Höhen- als in die ‚Tiefenpsychologie’ hat, ist sie in vielen Führungsfragen sehr anschlussfähig.. Die EA eignet sich gut zur Entwicklung der eigenen Führungspersönlichkeit. Sie fördert die Selbstreflexionsfähigkeit und innere Dialogfähigkeit. Beides sind zentrale Voraussetzung wirksamer Führung. Die EA hat auch eine gut entwickelte spirituelle Dimension. Das macht den wichtigen Brückenschlag zwischen westlichen und östlichen Weisheitstraditionen einfach. Wesentliche Führungsfragen wie zum Beispiel Sinn, Ethik, Vertrauen, Kultur, Spirit und Gelassenheit erhalten so eine fundierte Tiefe. Literatur: Längle Alfried (2013) Lehrbuch der Existenzanalyse Längle Alfried (2007) Sinnvoll Leben Längle Alfried (1998) Viktor Frankl - Ein Porträt Längle Alfried / Bürgi Dorothee (2014) Existentielles Coaching Marti Stefan (2013) Der Beitrag der Existenzanalyse in der Führung und Organisationsentwicklung; Beitrag in Existenzanalyse 1/2013 Marti Stefan (2013) Sinnorientierte Verantwortung; Beitrag in IBP-Heft Marti Stefan (2015) Toolbox Führung Stefan Marti, www.st-marti.ch 6