Das alternde Gehirn – was ist „normal“? Unter diesem Titel fand Ende April ein Symposium des Interdisziplinären Forschungsschwerpunkts Neurowissenschaften (IFSN) im Atrium Maximum (Alte Mensa) der Universität Mainz statt. Die zahlreichen Besucher erlebten fünf interessante Vorträge aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Altersforschung und im Anschluss jeweils eine lebhafte Diskussion – kein Wunder, ist das Thema „Altern“ doch eines, das uns alle betrifft. Zu Beginn der Veranstaltung begrüßte Prof. Dr. Ulrich Förstermann, Vizepräsident für Forschung an der Johannes Gutenberg-Universität, die Anwesenden und unterstrich die vorbildliche interdisziplinäre Arbeitsweise des IFSN (früher IFZN; s. JOGU 202). Nicht weniger als vier Fachbereiche sind beteiligt; neben Biologen, Medizinern und Psychologen forschen auch Bild- und Medienwissenschaftler, Neurophilosophen und Linguisten an speziellen Forschungsprojekten, die neue Erkenntnisse zum Verständnis unseres Gehirns versprechen. Förstermann wies auf das Problem der finanziellen Unterstützung hin, die seitens der Landesregierung im Rahmen des neuen Forschungsförderungskonzeptes zwar gewährt wird, aber eine gewisse Fokussierung verlangt. Dabei steht die Konzentration auf Forschungsbereiche, die eine möglichst hohe Drittmitteleinwerbung versprechen, einerseits im Widerspruch zur Grundidee des IFSN, nämlich der möglichst breiten interdisziplinären Forschung; andererseits, so Förstermann, ermöglichen steigende Drittmittel eine Forschung, die unabhängiger wird von den jeweils herrschenden politischen Strömungen. Aktuell sind zum Beispiel das bereits 2004 eingerichtete Graduiertenkolleg „Entwicklungsabhängige und krankheitsinduzierte Modifikationen im Nervensystem“ (Sprecher: Prof. Dr. Heiko Luhmann) sowie die im Jahr 2008 in Zusammenarbeit mit der Universität Bonn neu ins Leben gerufene Forschergruppe zur „Pathologie und Pathophysiologie des Endocannabinoidsystems“ (Sprecher: Prof. Dr. Beat Lutz) Teil des IFSN und werden unter anderem auch mit Landesmitteln gefördert. „Trotz einer Reihe von naturund geisteswissenschaftlichen Alternstheorien sind die Prozesse, die während des Alterns im Gehirn ablaufen, nur unzureichend bekannt.“ Blutspenden in der Uni Spendeort Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Linke Aula, Alte Mensa, Becher-Weg 5 Information Tel. 0 61 31/17-32 16 oder 32 17 Termine 28. 7 und 3. 11. 2009 Spendezeiten 8.30 bis 14.00 Uhr [JOGU] 209/2009 Für die Förderjahre 2009/2010 kommt im IFSN jetzt mit dem Forschungsgegenstand „Das alternde Gehirn“ ein neuer thematischer Schwerpunkt hinzu. „Denn trotz einer Reihe von natur- und geisteswissenschaftlichen Alternstheorien, auch im Zusammenhang mit altersabhängigen neuronalen Erkrankungen wie Alzheimer, Demenz und Parkinson, sind die Prozesse, die während des Alterns im Gehirn ablaufen, nur unzureichend bekannt“, so der Sprecher des IFSN, Prof. Dr. Christian Behl. Im Zentrum des aktuellen Forschungsprogramms stehen dabei vor allem die physiologischen, das heißt die „normalen“ Vorgänge, die im alternden Gehirn von gesunden Menschen ablaufen und nicht etwa spezielle pathologische Veränderungen, wie sie beispielsweise bei den genannten Krankheiten auftreten. 14 Der überaus komplexe Aufbau unseres Gehirns wird unter anderem dadurch verdeutlicht, dass jede einzelne unserer etwa einhundert Milliarden Nervenzellen (Neuronen) bei einem Erwachsenen mit zirka zehntausend anderen Nervenzellen in Kontakt steht. Kontaktstellen und Orte der Signalübertragung zwischen zwei Nervenzellen sind die Synapsen, knopfähnliche Andockstellen an der Peripherie von Neuronen; über den nur wenige Nanometer breiten synaptischen Spalt zwischen zwei Nervenzellen werden die Signale in Form von elektrischen Impulsen geleitet, wobei spezielle Botenstoffe, die Neurotransmitter, an bestimmten Rezeptoren andocken und so die Steuerung der Reizleitung übernehmen. Anzahl, Stärke und Größe der Synapsen verändern sich ständig, wenn wir denken, sehen, erkennen, handeln oder fühlen. Auch im Alter bleibt dieser synaptische Neu- und Umbildungsprozess, die sogenannte „neuronale Plastizität“, im Wesentlichen erhalten. Diese lebenslange Formbarkeit stellt nach herrschender Meinung die zentrale Voraussetzung für unser Lernen und Gedächtnis dar. Folglich besteht kein Grund zur Resignation im Alter, etwa nach dem Motto „alt ist gleichbedeutend mit vergesslich“, sondern jeder von uns kann selbst dazu beitragen, sein Gehirn gesund zu halten. „Der genetische Zusammenhang wird möglicherweise überschätzt.“ Epidemiologische Aspekte dazu stellte Dr. Horst Bickel vom „Klinikum rechts der Isar“ der Technischen Universität München vor. Einerseits lasse sich in Studien eine familiäre Häufung von Alzheimer und Demenz beobachten. Mehr als drei Dutzend genetische Risikofaktoren (Polymorphismen) seien beschrieben. „Andererseits wird der genetische Zusammenhang möglicherweise überschätzt, da in Prospektivstudien relativ schwache Assoziationen gefunden wurden“, berichtete Bickel. Besonders inAbb.: © Ursula Lehr Das Alter als Chance Abb © R Krampe Wissenschaft & Forschung Abb. 1: Die Lebenserwartung ist in Deutschland in den letzten 100 Jahren stetig angestiegen. Abb.: © R. Krampe, aus Cabeza et al., Neuroimage 2002 Wissenschaft & Forschung teressant waren seine Ausführungen zu einem möglichen Zusammenhang vom Grad der Schulbildung und dem Auftreten von dementiellen Erkrankungen. Viele Studien zeigen, dass längere Schul- bzw. Ausbildungszeiten mit einem geringeren Risiko für Demenz einhergehen. Welche genauen zellulären und molekularen Mechanismen letztlich dahinter stehen ist unklar. Ist es wirklich ein direkter protektiver Effekt, weil mehr Bildung gepaart mit stärkerer geistiger Stimulation die Zahl der Synapsen erhöht und somit einem Mangel an neuronaler Plastizität vorbeugt? Oder ist vielleicht nur der in höheren Bildungsschichten gemeinhin gesündere Lebensstil für den Zusammenhang verantwortlich? Bickel näherte sich diesem Problem mit der sogenannten „Bayerischen Schulschwestern-Studie“. Dieses „natürliche Experiment“, das den Einfluss von Umgebungsund Lebensstilfaktoren minimiert, wurden mit der Unterstützung von rund 450 Ordensschwestern (65 Jahre und älter) durchgeführt. Die Schwestern lebten teilweise schon mehr als 50 Jahre im Kloster und somit unter überaus ähnlichen Bedingungen, was etwa soziale Beziehungen, Wohnen, Ernährung, Tagesablauf, medizinische Versorgung oder Alkohol- und Nikotinkonsum betrifft. Das Studienergebnis zeigte einen eindeutigen Zusammenhang: Hauptschulabsolventinnen, Schwestern ohne Berufsausbildung sowie solche, die vergleichsweise einfache Aufgaben im Kloster übernehmen, haben ein deutlich höheres Risiko an Demenz zu erkranken bzw. sind bereits erkrankt. Betrachtet man nur die Gruppe der ehemaligen Hauptschülerinnen, so schneiden diejenigen besser ab, die im Kloster die anspruchsvolleren Leitungspositionen inne haben. Der letztgenannte Zusammenhang unterstreicht die Tatsache, dass unser Gehirn lebenslang formbar ist und es nicht nur auf die Kindheits- und Jugendjahre ankommt. Entsprechend folgerte Bickel, dass wir dem geistigen Abbau im Alter nicht schicksalshaft ausgeliefert sind. Es gibt Potenzial zur Vorbeugung. Zwar müssen die in Beobachtungsstudien offenbarten zahlreichen Risikofaktoren noch durch randomisierte Studien bestätigt werden, aber es gibt einige viel versprechende Ansätze: (1) Kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Bluthochdruck, erhöhter Cholesterinspiegel und Diabetes sind zu vermeiden. (2) Außerdem sollte man sein Körpergewicht unter Kontrolle haben und einen Body-Mass-Index von maximal 25 anstreben. Das geht unter Umständen nur, wenn die Ernährungsgewohnheiten geändert werden; vorteilhaft ist eine fettarme Diät mit relativ viel Fisch, ausreichender Vitaminzufuhr und Nikotinverzicht. (3) Als förderlich hat sich nach den Analysen Bickels außerdem eine anhaltende körperliche und geistige Betätigung erwiesen. Was Alkoholkonsum betrifft, so ist die Studienlage allerdings nicht eindeutig; teilweise haben sich geringe Mengen von Alkohol als positiv erwiesen. „Umfragen zeigen eindeutig, dass nur wenige Menschen den Generationenkonflikt in ihrem Lebensumfeld als gravierend empfinden.“ Sehr informativ waren weiterhin die Ausführungen von Prof. Dr. Ralf Krampe, Professor am Zentrum für Entwicklungspsychologie der Katholischen Universität Leuven (Belgien). Er referierte über die „Veränderungen kognitiv-motorischer Leistungen und ihre neuropsychologischen Grundlagen“ mit dem Alter. Beispielhaft erzählte Krampe von Pianisten, deren Fingerfertigkeit auch im Alter noch grandios ist und die mancher jüngeren Kollegen übertrifft – man denke nur an Vladimir Horowitz. Diese Virtuosen erhalten ihre geniale Spielkunst allerdings mit einem weit höheren Übungsaufwand als er in jüngeren Jahren nötig war. Die Beobachtung wird auch durch die Analyse von Aktivierungsmustern im Gehirn mittels bildgebender Verfahren (u.a. PET; s. JOGU 202) gestützt. Man fand dabei, dass ältere Menschen, die gute Leistungen im kognitiv-motorischen Bereich erbringen, ihr Gehirn anders gebrauchen als junge: bei ihnen sind zusätzliche Hirnregionen aktiv (Abb. 2). und in der journalistischen Berichterstattung dargestellt wird. Der von einigen Medien immer wieder beschworene Kampf „jung gegen alt“ lasse sich mit wissenschaftlichen Fakten einfach nicht belegen, so Thimm. „Vielmehr zeigen Umfragen eindeutig, dass nur wenige Menschen den Generationenkonflikt in ihrem Lebensumfeld als gravierend empfinden“, berichtete die Forscherin. Abschließender Höhepunkt der Veranstaltung war der knapp einstündige Vortrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Ursula Lehr, der Begründerin der Alterforschung in Deutschland. Bereits 1986 gründete sie in Heidelberg das „Institut für Gerontologie“ und begann als Professorin an der Universität Heidelberg mit der Einrichtung des Aufbaustudiums Gerontologie. Von 1988 bis 1991 war die heute 79-Jährige außerdem Bundesfamilienministerin; in dieser Zeit gründete sie auch das „Deutsche Zentrum für Alternsforschung“. In ihren Ausführungen wies Lehr darauf hin, dass sich die Lebenszeit, die unabhängig und selbständig verbracht werden kann, weiterhin stetig erhöht. Alter bedeutet nicht zwingend, körperliche und geistige Defizite ertragen zu müssen und von anderen Menschen abhängig zu sein. „Es gilt, nicht nur dem Leben Jahre zu geben, sondern den Jahren Leben“, resümierte Lehr. Frank ERDNÜSS ■ Foto: © Diana Lundin_www.fotolia.com Abb. 2: Aktivierung von Gehirnbereichen während eines Gedächtnistests, dargestellt mit Hilfe der PET, bei jungen und alten Versuchspersonen. Es folgte der Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Reinhard Fiehler vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Er veranschaulichte anhand von Hörbeispielen sehr eindrucksvoll, wie sich Sprache und Sprachverarbeitung im Alter verändern. Die Direktorin des Zentrums für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Bonn, Prof. Dr. Caja Thimm, präsentierte im Anschluss daran, wie Alter in der Werbung 15 [JOGU] 209/2009