KONKRET Transkription in der aktuellen Musik Das Wort "konkret

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KONKRET
Transkription in der aktuellen Musik
Das Wort "konkret" bezeichnet auf Klang bezogen zuweilen zwei verschiedene Dinge. Zum einen
ist damit der auf einem Medium fixierte, wiederholt abrufbare und dadurch in all seiner
phänomenologischen Komplexität als Material verfügbare Klang gemeint. Umgangssprachlich
meint man mit "konkreten Klängen" aber oft einfach solche, deren Quellen aus dem Alltag
stammen - Klänge jenseits primär musikalischer Herkunft. Es soll hier um eine Kombination beider
Bedeutungen gehen, um auf Tonträgern vorliegende Klänge, deren Quellen nicht zuerst
musikalischer Natur sind.
Nachdem das Geräusch und die Klangwelt des Alltags zunächst durch Luigi Russolo vor
einhundert Jahren eingeführt, später durch die französische "Musique Concrète", John Cage und
andere weiter behandelt worden war und spätestens in den letzten Dekaden des vergangenen
Jahrhunderts zum festen Bestandteil der zeitgenössischen Musik geworden ist, bildete sich eine
neue Technik zur Behandlung von solchem Material heraus. Die Rede ist von Transkription. Nun
hat das Transkribieren in anderem Sinn durchaus eine sehr lange Tradition in der abendländischen
Kunstmusik. Einerseits ist damit das Neu-Instrumentieren bereits vorhandener Musik gemeint,
und auch das Niederschreiben gespielter bzw. improvisierter Musik kann als Transkription
bezeichnet werden. Der Kunstgriff um den es hier gehen soll, ist aber das Übertragen
aufgenommener Klänge aus dem Alltag in traditionelle Notation im Fünf-Linien-System. Diese
Arbeitsweise wirft eine Menge Fragen auf und bringt einige gravierende ästhetische
Konsequenzen mit sich.
Die Rückbindung der Musik an einen konkreten und gegebenenfalls banalen Vorgang bedeutet
immer ein verändertes Verhältnis der Musik zu ihrer eigenen Kontingenz. Der Schwarze Peter der
Kontingenz wird teilwese an das zu Grunde liegende profane Klangmaterial bzw. die Situation
seiner Entstehung weitergeschoben. Während ohne Transkription die ungeteilte Verantwortung für
alles Geschriebene beim Komponisten oder der Komponistin liegt und er oder sie sich mit dem
Problem der Beliebigkeitsvermeidung herumschlagen muss, ist bei transkribierten Klängen
zunächst die Auswahl kontingent, die Struktur des ausgewählten Materials diktiert dann aber eine
große Menge der Detailentscheidungen. Darüberhinaus lädt die Rückbindung den
resynthetisierten Klang semantisch auf.
“[...] es geht eben nie nur um das Hören [...] sondern es geht immer um ein Verhältnis von Hören
und Wissen”, so der in Frankfurt lebende Komponist Hannes Seidl.1
In den letzten Jahren scheint das Interesse an dieser Form des Umgangs mit konkretem Material
stark gewachsen zu sein. Die Möglichkeit des direkten Zugriffs auf Klangquellen und ihre
Verwandlung in kompositorisches Material stellt eine große Versuchung dar, der zu erliegen uns
Komponisten und unserer Musik aber nicht immer nur zum Vorteil gereicht. So genügt es
keinesfalls, beispielsweise Rhythmen aus Youtube-Videos aus Kriegsgebieten abzuschreiben, um
ernsthaft politische Kontexte in die Musik hineinzubringen und an die Aussenwelt anzudocken.2
Darüberhinaus gibt es aber eine Reihe von Komponisten, die die Konsequenzen der Arbeit mit
Transkription durchaus ernst nehmen bzw. andersherum, die auf die Technik der Transkription als
Konsequenz aus ihrem Arbeiten und Denken gestoßen sind.
Ganz allgemein gesprochen meint Transkription das Übertragen von einer Schrift in eine andere,
man könnte auch sagen, von einem Medium in ein anderes. Die abendländische Kulturgeschichte
ist voll von solchen Übertragungen oder Abbildungen. In der jüngeren Vergangenheit haben
1 Im Gespräch mit dem Autor, Frankfurt a.M., 17.12.2012
2 Ebensowenig wird man glamourös indem man sich “Glamour” auf sein T-Shirt druckt.
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Künstler wie Hiroshi Sugimoto, Liu Bolin, Desiree Palmen, Thomas Demand und viele andere mit
der Transkription vergleichbare Techniken benutzt. Die musikalische Anwendung bildet insofern
einen Sonderfall, als dass ein echter Mediensprung notwendig ist und immer wieder die
Rückführung in das ursprüngliche Medium erfolgt: Klang wird aufgezeichnet, in Schrift übertragen
und am Ende wieder in Klang zurück geführt. Da es kein rein mechanisches Verfahren gibt, das
die Übertragung von Musik bewerkstelligt – wie zum Beispiel im Gegensatz zur bildenden Kunst
mit den Techniken des Abdrucks oder der Fotografie – öffnet sich mit der Verschriftlichung ein
zusätzlicher Möglichkeitsraum für Entscheidungen. Man könnte zwar durchaus argumentieren,
dass bereits mit der digitalen Klangaufzeichnung eine Art von Schrift vorliegt, doch ist diese
Schriftform zu weit weg von musikalischer Notation und zu nah am physikalischen Phänomen
Schall, als dass sie sich für die kompositorische Arbeit eignen würde.
Die durch Transkriptionsvorgänge erzeugte Musik kann als eine Fortführung der Programmmusik
des 19.Jhds begriffen werden, hin und wieder wird sie denn auch als “Programmmusik 2.0”
geschmäht. Tatsächlich aber passiert durch die Übertragung eines konkreten Klangverlaufs etwas
völlig anderes als bei der onomatopoetischen Musik. Beispielsweise hat es den bellenden Hund,
den Vivaldi in seinen “Vier Jahreszeiten” darstellt als konkreten Klang wahrscheinlich nie gegeben.
Und selbst wenn, es spielt keine Rolle: Die klangliche Morphologie des Bellens - ob eines
konkreten Hundes oder nur der Idee davon sei dahin gestellt – geht verloren, weil sie einem
hierarchischen Kunst-Regelsystem untergeordnet wird. E-Dur gewinnt.
Einen Zwischenbereich markiert Olivier Messiaen, mit seinen – nicht zuletzt auch religiös
motivierten – Transkriptionen von Vogelstimmen. Es gibt durchaus Vogelarten, deren Individuen
sich anhand ihrer Lautäußerungen durch das menschliche Ohr kaum unterscheiden lassen. Viele
Singvögel haben jedoch sehr individuelle Melodien. Wenn Messiaen also den “Graubackigen
Bulbul”, einen vom Aussterben bedrohten indonesischen Singvogel, transkribiert, so bewegt er
sich zwischen den konkreten Individuen, die ihm als Vorlage gedient haben mögen einerseits und
einer Repräsentation der gesamten Spezies andererseits, was eher einem onomatopoetischen
Ansatz entspräche.
Der wesentliche Unterschied zwischen onomatopoetischer Musik und transkribierten Klängen
liegt im Verhältnis von Original und Reproduktion. Im Fall der Lautmalerei ist das Verhältnis
koinzident und darstellend, bei der Transkription ist es kausal und reproduzierend.
Die Möglichkeit, in der Musik eine ganz konkrete Begebenheit, einen ganz bestimmten klanglichen
Verlauf, der auf seine spezifische Art und nicht anders an einem bestimmten Ort zu einer
bestimmten Zeit stattgefunden hat, mit all seiner Komplexität als Material zu benutzen hat bereits
die Komponisten zB. der Musique Concrète fasziniert. Solch konkretes Material zum
Ausgangspunkt für Instrumentalmusik zu machen und Klangverläufe aus der nichtinstrumentalmusikalischen Welt von traditionellen Instrumenten spielen zu lassen, kann nun einen
neuartigen Umgang mit den Beziehungen von Klang, seiner Bedeutung und damit dem Verhältnis
von Musik und ihrer Umwelt nach sich ziehen.
Neben Werken in denen er sich auf andere Art und Weise um das Einbeziehen akustischer
Alltagserfahrungen bemüht, schrieb Peter Ablinger eine beträchtliche Menge an Stücken, die aus
d i re k t e n Tr a n s k r i p t i o n e n v o n a u f g e n o m m e n e n K l a n g v e r l ä u f e n b e s t e h e n . D e r
Transkriptionsvorgang selbst wird dabei sehr distanziert und kühl betrachtet und von einer
Software nach dem Justieren einiger Analyseparameter automatisch erledigt. Die Resultate
zeugen dann ebenfalls von einer gewissen Distanz, zuweilen scheint die Musik die zu Grunde
liegenden Klänge recht technisch abzutasten, beispielsweise wenn Ablinger das sich verändernde
Spektrum von Straßengeräuschen in regelmäßigen Abständen durch Instrumente dem
Originalklang hinzu-skandiert, wie in seinem Stück “Quadraturen IV”.
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Das technische Verfahren zur akustischen Spektralanalyse unterteilt einen Klangverlauf in kleine
Häppchen gleicher Dauer und betrachtet den Klang jedes dieser sogenannten “Fenster“ als einen
statischen Klang, den es dann einer Frequenzanalyse unterzieht. Schnell genug hintereinander
abgespielt können diese Analysescheiben den ursprünglichen Klang recht deutlich nachbilden. In
Ablingers “Quadraturen IV”, spielt ein Instrumentalensemble einzelne Analysefenster aber in
vergleichsweise großen Abständen zu der Originalaufnahme dazu. Hier verschwindet das
Technische des technischen Verfahrens, indem es mit der Satzstruktur des Stückes
zusammenfällt.
Vergleichbar mit dem als Raster vorgeführten Abtasten des Berliner Straßenlärms durch die
Analyse und die instrumentale Zuspielung zur Originalaufnahme, tastet das Hören in Ablingers
Stück die Spektren des Instrumentalensembles vergleichend ab und fokussiert dabei
zwangsläufig einen bestimmten Aspekt des Hörens, nämlich den des vertikalen Zusammenklangs.
Mustererkennung in Bezug auf akustische Einzelphänomene im Straßenklang oder instrumentale
Rollenverteilungen im Sinne eines Verfolgens von einzelnen Klangquellen finden im Stück nicht
statt. Auch wenn Ablinger nicht direkt bestimmte Verläufe markiert oder Filtrierungen des
ursprünglichen Materials vornimmt wird das Hören zugespitzt auf eine bestimmte vom Autor
festgesetzte Lesart. So ist “ein Aspekt von Lesung [...] auf jeden Fall vorhanden. Auf jeden Fall [...]
wird mir eigentlich durch diese Arbeit klar, dass es sozusagen ein nicht-interpretierendes, nichtlesendes Ausstellen gar nicht gibt.”3
Die explizite Hörbarmachung des Rasters ist für Ablinger schließlich eine Metapher für den
Wahrnehmungsapparat, der ebenfalls gerastert operiert.
“Aber abgesehen von den physiologischen Eigenschaften sind vielleicht dann mindestens genau
so wichtig auch die individuellen psychologischen, sozialen, kulturellen Eigenschaften, dass wir
Dinge gelernt haben müssen.” (Ablinger)
Diese individuelle Konstitution ist es aber, die Ablinger an sich selbst in seiner Arbeit wenig
interessiert. Es geht ihm nicht so sehr darum, seine eigene subjektive Wahrnehmung von Klängen
zu thematisieren, sondern eher darum durch den Übersetzungsvorgang Zwischenbereiche zu
schaffen, in denen der Hörer selbst in seiner Wahrnehmung herausgefordert wird. Natürlich ist er
aber in seiner Materialauswahl und in der Einstellung der Analyseparameter durchaus subjektiv
am Prozeß beteiligt, wenn auch nicht an den unmittelbaren Entscheidungen darüber welche Note
gesetzt wird und welche nicht. Diese Detailarbeit und letztlich auch die damit verbundene
Verantwortung wird an die Technologie abgegeben und die resultierenden Ergebnisse werden
entsprechend auch nicht mehr ergänzt oder korrigiert.
Ein wesentlicher Punkt der Arbeit mit der Übertragung von konkreten Klängen auf Instrumente ist
die Tatsache, dass nicht primär musikalische Klangverläufe und mitunter sogar recht banale
Vorgänge durch Hochkulturerzeugnisse hörbar gemacht werden, nämlich durch das klassische
abendländische Kunstmusikinstrumentarium. Es entsteht nicht nur eine Differenz zwischen
Original und Reproduktion, sondern auch eine Reibung zwischen dem Material mit seinen
gegebenenfalls profanen Quellen und der Darreichungsform mit den Mitteln der traditionellen
Musik. Ablinger spricht in diesem Zusammenhang davon, dass banale Materialien mit Hilfe
kultureller Rahmungen auf höhere Ebenen gehoben werden.
Dahinter steht in erster Linie die Aufforderung den vermeintlich bekannten Klängen zum Beispiel
von Verkehr, eine Aufmerksamkeit und Offenheit des Hörens entgegen zu bringen, die der
Rezeption traditioneller Hochkulturmusik entspricht. Gleichzeitig steckt darin aber
selbstverständlich auch eine Form von Institutionskritik, die einen Teil des Reizes dieser
Arbeitsweise ausmacht.
3 Dieses und alle weiteren Zitate von Peter Ablinger aus einem Gespräch mit dem Autor, Berlin, 14.12.2012
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Näher an die Maschine, näher an den mechanischen Übersetzungsvorgang ist Ablinger mit
einigen Stücken für ein Computerklavier gekommen, das am Insitut für Elektronische Musik in
Graz entwickelt wurde. Die automatischen Transkriptionen werden hier nun von einem Computer
resynthetisiert, der selbst Klavier spielt. Kein menschlicher Interpret ist der Rückführung von
Analyse in Klang zwischengeschaltet. Aber selbst in diesem Fall spielt die Reibung mit dem
Instrument wieder eine Rolle. Es ist durchaus wichtig, dass es sich um ein Klavier handelt, um das
“Uralt-Monster klassischer Repräsentationskunst” (Ablinger).
In den angesprochenen Stücken behandelt Ablinger zumeist gesprochene Sprache, ein Material,
welches an sich einen Sonderfall darstellt, weil es uns nicht gelingt, Sprache als bedeutungslose
Klangfolgen zu hören. Durch die Reproduktion des automatischen Klaviers wird ein Bereich
zwischen Sprachverständlichkeit und musikalischem Hören aufgebrochen, der vorführt, wie sehr
die Wahrnehmung davon abhängig ist in bekannte Modi einzurasten und sich auf bestimmte
Aspekte zu fokussieren. Mehr noch: Kennt man den Text der zu Grunde liegenden
Sprachaufnahme, so kommt einem das Verstehen des sprechenden Klaviers sehr natürlich vor.
Fehlt jedoch die Kenntnis der Textgrundlage, so kippt das Hören in Richtung gelernter
musikalischer Wahr nehmungsmodi und bleibt in einem Graubereich zwischen
Sprachwahrnehmung und Musikhören. Eine Erkenntnis dieses Aufbaus ist, dass wir nur hören
was wir wissen: Wir projizieren den gelesenen oder gehörten Text auf den Klavierklang. Somit ist
dies ein weiteres Beispiel für die Rasterform der Wahrnehmung, die nur in bestimmten (gelernten)
Modi operieren kann.
Wenn die Wahrnehmung selbst ein Raster vorgibt, sei es ganz direkt durch ein Hören in diskreten
Stufen, durch bestimmte Beschränkungen des Wissens, oder insofern, dass wir permanent
Wahrnehmungsmodi einnehmen, aus denen heraus wir die Welt betrachten, so ist es dieses
Raster, bzw. unser Verhältnis zu unseren Wahrnehmungsperspektiven, das sich durch
Transkription thematisieren und untersuchen lässt.
Man kann das Arbeiten mit Transkription einteilen in drei Bereiche: Eine Datenerfassung, ein
Analysestadium und die Resynthese. Der Beginn des Prozesses ist in jedem Fall eine Selektion,
keine Setzung. Es wird etwas als Material ausgewählt, nicht ausgedacht. In diesem Sinne ist diese
Arbeitsweise eine Alternative zu dem traditionellen und akademischen Komponieren, das auf
Setzungen basiert und die Erfindungsgabe und die handwerkliche Wendigkeit des Komponisten in
den Mittelpunkt stellt. Im Gegensatz dazu beginnt hier die Arbeit mit einer Rahmung, mit einer
Reaktion auf Vorgefundenes. Es handelt sich nicht um einen Top-Down-Ansatz, ein Verfahren, das
zuerst die Makrostruktur festlegt und von dort aus in Details sich verzweigt, sondern um einen
Bottom-Up-Prozess, bei dem zuerst konkrete Details vorliegen und von dort aus die gröberen
Verläufe bestimmt werden. Hier besteht eine Parallele zu einer Technik, die der Surrealist Max
Ernst im August 1925 fand, der “Frottage”. Dabei wird ein Blatt Papier auf eine reliefartig
strukturierte Oberfläche, zum Beispiel auf ein Holzbrett, gelegt und die Struktur der Oberfläche
mithilfe zB. eines Blei- oder Kohlestifts auf das Papier übertragen. Die so erzeugten Formen
dienten ihm zur Steigerung seiner, wie er es nannte, “halluzinatorischen Fähigkeiten”, der
künstlerischen Konfrontation mit Phänomenen, deren Entstehung jenseits subjektiver Beurteilung
lag. Er schrieb dazu:
“Das Durchreibe-Verfahren beruht folglich auf nichts anderem als der Intensivierung der
Reizbarkeit geistiger Fähigkeiten mit geeigneten technischen Mitteln. Es schließt jede bewusste
menschliche Steuerung (Vernunft, Geschmack, Moral) aus und beschränkt den aktiven Anteil
dessen, den man bisher den 'Autor' des Werks nannte, aufs äußerste.”4
Die Arbeit die sich auf das Reagieren auf vorgefundene Klangverläufe beschränkt, ist immer eine
4 Max Ernst: Halluzination oder Die Entstehung der Frottage, in ders.: Schnabelmax und Nachtigall, S. 94-100, hier:
S. 99, Hamburg, 2006
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Form von Lesung der subjektiven Wirklichkeit, ein Unternehmen, das die Wahrnehmung des
Subjekts einerseits schärft und herausfordert, andererseits auch direkt thematisieren kann. Das
Übertragen von konkretem Klang in Notentext und in Instrumentalmusik kann damit als
kompositorischer Eingriff verstanden werden, in dem der oder die Komponierende Filtrierungen
des Ausgangsmaterials vornimmt, bestimmte Aspekte oder Eigenschaften betont und andere als
nicht signifikant vernachlässigt. Dabei geht es zunächst gar nicht so sehr darum, in den Klang
etwas “hineinzuhören”, analog zu den Halluzinationsvorgängen zu denen Max Ernst die “Frottage”
verwendete. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, interessante Fokussierungen in Bezug auf ein
Material zu finden, herauszuarbeiten was für den Autor am jeweiligen Klangverlauf den
eigentlichen Reiz ausmacht, und daraufhin zu entscheiden welche Schichten der
Originalaufnahme letztlich zu übertragen sind. Der Spielraum den die jeweilige Aufnahme bietet,
kann dabei stark schwanken und hängt von der Dichte der akustischen Informationen ab.
Je komplizierter das Ausgangsmaterial ist, desto größer wird der Entscheidungshorizont für das
subjektive Wahrnehmen. Am Umgang mit diesem Entscheidungshorizont nun lassen sich
Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener Positionen gut beobachten. Dabei steht die
Lesung des Materials immer an einem zentralen Punkt, ob es nun darum geht, etwas in das
Material hineinzuhören oder nicht.
Der in Köln lebende Komponist Roman Pfeifer arbeitet bereits seit vielen Jahren mit
Transkriptionstechniken, was durch das bloße Hören seiner Musik aber nicht immer direkt
erkennbar ist. In seiner Beschäftigung geht es nicht um die Reibung zwischen profaner
Klangquelle und traditionsreichem Hochkulturinstrument, die profane Quelle selbst interessiert ihn
eher weniger.
Stattdessen untersucht Pfeifer gezielt einzelne Bewegungsformen, um Schreibweisen zu lernen,
die er in sein Schreiben integriert. Nicht im Sinne einer Form von Sampling, sondern als
Anreicherung von musikalischen Figuren und Strecken mit Beobachtungen aus körperlichen und
anderen nicht primär musikalischen Verläufen, wie sie beispielsweise in der Sprache auftreten. Der
konkrete Klang selbst mag im jeweiligen Stück letztlich gar nicht mehr vorkommen, ein direktes
Abgleichen von Original und Reproduktion ist für den Hörer nicht mehr möglich. Stattdessen löst
sich der konkrete Klangverlauf mit seinen spezifischen Bewegungen gewissermaßen in der Musik
auf. Er ist zunächst das Objekt genauer Untersuchungen. Trotz eines expliziten Interesses an der
Idee des “halbautomatischen Beginns” ist die Automatisierung des Transkriptionsprozesses dabei
keine Option.
Weil es ihm um Mustererkennung geht, um das Untersuchen spezifischer Folgen und die
Übersetzung in “musikalisierte Verläufe” ist das manuelle Schreiben hier so wichtig. Die
vermeintliche Präzision der detailierten Computeranalyse verkehrt sich ins Gegenteil und erst im
scheinbar Groben der musikalisierten Schrift kann eine Präzision der übertragenen Bewegungen
erfolgen.
“Es gibt fast immer eine Art Rohtext, wo die Daten so wie ich sie einfach vorfinde in ungeordneter
Weise übernommen werden. [...] das zweite ist, dass ich dann die Sachen einerseits schriftlich
vergröbere, andererseits lesbar und damit eigentlich genauer mache. Weil ich interpretiere.”5
5 Roman Pfeifer im Gespräch mit dem Autor, Köln, 28.11.2012
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