Geschichte der Wilhelma

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Geschichte der Wilhelma-Titanenwurz
Die Diva aus dem Reagenzglas
Im Oktober 2005 erblühte in der Wilhelma erstmals eine Titanenwurz. Die Pflanze machte
ihrem Namen alle Ehre und brach mit einer Blütenstandshöhe von 2,94 Metern gleich beim
ersten Anlauf den Weltrekord, der bei 2,76 Metern lag. Allen Beteiligten nötigte die Pflanze
jedoch mit ihrer – in unseren Augen – „zögerlichen“ Entwicklung viel Geduld ab. Sie erhielt
deshalb den Spitznamen „Diva“, unter dem sie nun von Norwegen bis Neuseeland und von
Chile bis China bekannt ist.
Als der florentinische Botaniker Ordoardo Beccari 1878 die Titanenwurz auf Sumatra
entdeckte, ahnte er sicher nicht, welche „Ausmaße“ seine Entdeckung noch annehmen würde.
Denn die Besonderheit der Titanenwurz: Sie hat einen der größten Blütenstände der Welt. Das
brachte ihr schließlich den botanischen Namen Amorphophallus titanum ein: amorphos =
gestaltlos, phallos = männliches Glied, titanus = riesenhaft. Daneben kann die Pflanze noch
mit weiteren Superlativen aufwarten. Die unterirdische Knolle kann 75 Kilogramm und mehr
wiegen und wenn sich die Blüte öffnet, dann stinkt sie zum Himmel. Das tut sie, um ihre
Bestäuber anzulocken: Fliegen und Käfer, die normalerweise ihre Eier in Aas ablegen. Mit
dem Duft täuscht die Pflanze (Täuschblume) allerdings die Insekten, denn sie ziehen aus
ihrem Blütenbesuch keinen Nutzen.
Vorgeschichte
Im Juli 1994, bei ihrem Dienstantritt in der Wilhelma, brachte die Botanikerin Franziska LôKockel als Einstandsgeschenk unter anderem die 2,5 Kilogramm schwere, unscheinbare
Knolle einer solchen Titanenwurz mit – in der Hoffnung, dass sie eines Tages blüht. An der
Universität in Frankfurt, ihrer vorherigen Arbeitstätte, war 1987 weltweit erstmals die
Vermehrung einer Titanenwurz mittels Gewebekultur (in-vitro = „im Glas“) gelungen. Ein
Exemplar stellte ihr der „Vater der Knolle“, Professor Hans Willy Kohlenbach,
freundlicherweise für die Wilhelma zur Verfügung.
Überraschung!
Die Jahre vergingen. Im Juli 2005, nach fast genau elf Jahren geduldiger Pflege durch die
Wilhelma-Gärtner, wog die Knolle 40 Kilogramm. Wir beschlossen daher, die Pflanze aus
ihrem Schattendasein hinter den Kulissen zu befreien und stellten den „Topf“ mit den
Ausmaßen eines Waschzubers (120 Zentimeter Durchmesser, 85 Zentimeter hoch) in das
Maurische Landhaus der Wilhelma. Die Knolle begann kurze Zeit später auszutreiben, aber
alles deutete darauf hin, dass es wieder einmal nur ein Laubblatt werden würde und nicht die
heiß ersehnte Blüte. Das ging über zwei Monate so, bis wir am Morgen des 4. Oktober 2005
mit Erstaunen und Freude feststellten, dass es sich doch um eine Blütenknospe handelte. Der
Austrieb war zu diesem Zeitpunkt schon 140 Zentimeter hoch.
Die „Wurz“
Nun ging alles Schlag auf Schlag. Die „Wurz“, wie wir die Pflanze zunächst nannten, zeigte
eine rasante Wachstumsgeschwindigkeit. Fast jeden Tag wuchs sie 15 Zentimeter. Da wir
aufgrund der Knollengröße von 40 Kilogramm mit einer Blütenstandshöhe von 240 bis 250
Zentimetern rechneten, gingen wir davon aus, dass die Pflanze nach etwa zehn Tagen, das
wäre am 14. Oktober 2005 gewesen, blüht. Doch da hatten wir die „Rechnung ohne die
Wurz“ gemacht! Die Wurz streckte sich immer weiter und immer weiter in die Länge! Der
Weltrekord der oberirdischen Blütenstandshöhe lag bei 2,76 Meter. Dieses Gardemaß wurde
bei einer 2003 im Botanischen Garten Bonn blühenden Pflanze gemessen. Unsere Wurz, das
war uns mittlerweile klar, hatte sich vorgenommen, den Weltrekord zu knacken.
„La Diva“ und der Weltrekord
Das „kapriziöse Verhalten“ unserer Wurz veranlasste uns dazu, sie in „Diva“ umzutaufen,
was wir bei extremen Geduldsproben sogar zu „La Diva“ steigerten. Am 14. Oktober wurde
die Wurz auf der Wilhelma-Homepage erstmals als „Diva“ bezeichnet. Wie um es uns zu
zeigen, knackte nämliche den Weltrekord nur einen Tag später am 15. Oktober 2005 – da war
sie 2,79 Metern hoch und damit drei Zentimeter über der bisherigen Rekordmarke. Die hatten
wir in der Wilhelma ursprünglich gar nicht angestrebt, daher freuten wir uns um so mehr
darüber. Mittlerweile genoss unsere Titanenwurz die Aufmerksamkeit der nationalen und
internationalen Presse. Und immer noch zierte sich La Diva, ihr Blütenkleid zu öffnen und
uns ihre wahre Pracht zu zeigen. Sie machte ihrem neuen Namen alle Ehre!
„No net hudle!“
Die Diva handelte offensichtlich nach dem schwäbischen Motto „no net hudle“ (auf
hochdeutsch: nur nichts überstürzen)! Das Längenwachstum verlangsamte sich nun im
Zeitlupentempo. Doch erst nach weiteren Tagen ungeduldigen Wartens öffnete sie bei einer
Höhe von 2,94 Metern am 20. Oktober 2005 – endlich! – ihren Blütenstand. Aber wie es sich
für eine kapriziöse Diva gehört tat sie das heimlich still und leise und von uns allen
unbemerkt in der Nacht! Immerhin – wir konnten aufatmen. Auch deshalb, weil sich der
unangenehme Aasgeruch, der mit der Öffnung des Blütenstandes einhergeht, in Grenzen hielt
und nur schubweise auftrat.
„Tanz um die Titanenstange“
An diesem Tag und an den folgenden Tagen wurde die Pflanze von Tausenden von Menschen
besichtigt. Der Presse- und Medienrummel war gewaltig. La Diva schaffte es sogar zweimal,
den Webserver der Wilhelma-Homepage lahm zu legen, denn die täglichen Zugriffe auf
unsere Homepage hatten sich mittlerweile verdreißigfacht. Wir konnten selber zeitweise nicht
einmal mehr unsere eigene Homepage aktualisieren. Insgesamt kamen etwa 30.000 Besucher
in die Wilhelma, um die Titanenwurz zu bewundern. Am 20.Oktober 2005 um etwa 13 Uhr
war der Blütenstand maximal geöffnet, das Blütenhochblatt stand waagerecht ab, wie ein weit
schwingender Plisséerock. Aber gegen 16 Uhr war bereits erkennbar, dass sich das
Blütenhochblatt wieder zu schließen begann. Die Blütenpracht einer Titanenwurz ist eben nur
von kurzer Dauer: Bereits zwei Tage nach der Öffnung des Blütenstandes knickte am 22.
Oktober der Blütenstandskolben ab.
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