Theoretische Physik: Mechanik - Skriptum zur Vorlesung

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Theoretische Physik: Mechanik
- Skriptum zur Vorlesung Prof. Dr. H.-J. Kull
Fraunhofer Institut für Lasertechnik
und
Lehr- und Forschungsgebiet Laserphysik
Institut für Theoretische Physik A
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule
Aachen
13. Februar 2007
Inhaltsverzeichnis
1 Grundprinzipien der Mechanik
4
2 Eindimensionale Bewegungen
9
2.1
Elementar lösbare Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2
Harmonischer Oszillator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.3
2.2.1
Freie ungedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.2.2
Freie gedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2.3
Erzwungene Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Bewegungen mit veränderlicher Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3 Kinematik
3.1
3.2
9
26
Inertialsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.1.1
Galileisches Relativitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.1.2
Galileitransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.1.3
Orthogonale Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Beschleunigte Bezugssysteme
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
3.2.1
Translatorisch beschleunigtes Bezugssystem . . . . . . . . . . 34
3.2.2
Rotierendes Bezugssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3.2.3
Bewegungsgleichung in Polarkoordinaten . . . . . . . . . . . . 39
3.2.4
Begleitendes Dreibein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
4 Newtonsche Mechanik
43
4.1
Newtonsche Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
4.2
Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
4.2.1
Impulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
1
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
4.3
2
4.2.2
Drehimpulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
4.2.3
Energiesatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Systeme von Massenpunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
4.3.1
Additive Bewegungsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
4.3.2
Impulssatz und Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
4.3.3
Drehimpulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
4.3.4
Energiesatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
4.3.5
Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
4.4
Zentralpotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
4.5
Kepler-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
4.6
Coulomb-Streuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.7
4.6.1
Ablenkwinkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.6.2
Wirkungsquerschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
4.6.3
Streuung an harten Kugeln
4.6.4
Rutherfordscher Wirkungsquerschnitt . . . . . . . . . . . . . . 72
Zweikörperproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
5 Lagrangesche Mechanik
5.1
5.2
5.3
5.4
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
78
Systeme mit Zwangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
5.1.1
Zwangsbedingungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
5.1.2
Zwangskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Lagrangegleichungen erster Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
5.2.1
D’Alembertsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
5.2.2
Bewegungsgleichungen mit Zwangskräften . . . . . . . . . . . 87
Lagrangegleichungen zweiter Art
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
5.3.1
Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
5.3.2
Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
5.3.3
Erhaltungsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Variationsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
5.4.1
Eulersche Gleichung der Variationsrechung . . . . . . . . . . . 97
5.4.2
Hamiltonsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
5.5
Symmetrien und Erhaltungsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.6
Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
5.7
3
5.6.1
Entwicklung um die Gleichgewichtslage . . . . . . . . . . . . . 106
5.6.2
Schwingungsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Starrer Körper
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
5.7.1
Freiheitsgrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
5.7.2
Eulersche Winkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
5.7.3
Winkelgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
5.7.4
Trägheitstensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
5.7.5
Eulersche Kreiselgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
5.7.6
Kräftefreie Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
6 Hamiltonsche Mechanik
118
6.1
Kanonische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
6.2
Modifiziertes Hamiltonsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
6.3
Poisson-Klammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
6.4
Kanonische Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
6.5
Hamilton-Jacobi-Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
7 Relativistische Mechanik
125
7.1
Relativitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
7.2
Lorentz-Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
7.3
Der Abstand von Ereignissen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
7.3.1
Raumzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
7.3.2
Längenkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
7.3.3
Zeitdilatation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
7.3.4
Eigenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
7.3.5
Gleichzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
7.4
Vierervektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
7.5
Relativistische Mechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Kapitel 1
Grundprinzipien der Mechanik
Die Mechanik beruht auf Grundbegriffen wie Raum, Zeit, Masse, Kraft und Energie,
die in der Geschichte der Physik immer wieder zu unterschiedlichen Interpretationen
Anlaß gaben. Wir wollen hier voraussetzen, daß es hinreichend genaue Meßverfahren gibt, die die physikalischen Größen jeweils durch eine Meßvorschrift definieren.
Daher verwenden wir diese Begriffe hier ohne weitere Definition in ihrer üblichen
physikalischen Bedeutung. Einleitend stellen wir einige der Grundprinzipien der Mechanik zusammen. Die Newtonschen Gesetze und die sich aus ihnen ergebenden
Folgerungen werden ausführlicher in einem späteren Kapitel behandelt.
Impulssatz
Eine Masse m, die sich mit der Geschwindigkeit v bewegt, besitzt den Impuls p =
mv. Das wichtigste Grundgesetz der Mechanik besteht in der Aussage, daß zur
zeitlichen Änderung des Impulses eine äußere Einwirkung in Form einer Kraft F
notwendig ist. Dies wird durch den Impulssatz formuliert,
dp
= F.
dt
(1.1)
Der Impulssatz wird auch Newtonsche Grundgleichung der Mechanik oder Newtonsche Bewegungsgleichung genannt.
Massenpunkt
Die Masse wird hier als punktförmig angenommen. Daher kann der Ort der Masse
bereits durch die Angabe der Koordinaten eines Punktes festgelegt werden. Man
spricht von der Bewegung von Massenpunkten bzw. von Punktmechanik.
4
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
5
Definition 1.1 Ein Körper dessen gesamte Masse in einem Punkt vereinigt ist,
heißt Massenpunkt.
Ein Massenpunkt stellt eine Idealisierung eines ausgedehnten Körpers dar. Diese
Idealisierung setzt voraus, daß die Eigenbewegungen des Körpers, d.h. Drehungen
und Deformationen, für den betrachteten Vorgang vernachlässigt werden können.
Neben der Punktmechanik gibt es die Mechanik des starren Körpers und die Kontinuumsmechanik. Diese stellen Verallgemeinerungen der Punktmechanik auf ausgedehnte starre Körper bzw. auf deformierbare Medien dar.
Inertialsystem
Der Ort eines Massenpunktes kann nur relativ zu einem Bezugssystem angegeben
werden. In der Mechanik spielen bestimmte Bezugssysteme eine ausgezeichnete Rolle, die als Inertialsysteme bezeichnet werden.
Definition 1.2 Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, in dem sich ein kräftefreier Körper geradlinig und gleichförmig bewegt.
Erfahrungsgemäß sind Bezugssysteme, die gegenüber dem Fixsternhimmel ruhen
oder sich gegenüber dem Fixsternhimmel mit konstanter Geschwindigkeit bewegen,
Inertialsysteme.
In einem Inertialsystem verwenden wir ein kartesisches Koordinatensystem mit den
Koordinaten x, y, z und messen die Zeit t mit einer Uhr. Die Bewegung eines Massenpunktes läßt sich dann durch einen zeitabhängigen Ortsvektor
r(t) = x(t)ex + y(t)ey + z(t)ez
(1.2)
darstellen, wobei ex , ey , ez die Basisvektoren des Koordinatensystems bezeichnen
(Abb.(1.1)).
Bewegung und Bahnkurve
Vom mathematischen Standpunkt aus ist eine Bewegung eine Abbildung.
Definition 1.3 Eine differenzierbare Abbildung t 7→ r(t), die jedem Zeitpunkt t
einen Ortsvektor r(t) zuordnet, nennt man eine Bewegung. Das Bild der Abbildung
nennt man die Bahnkurve.
Die Eindeutigkeit, Stetigkeit und Differenzierbarkeit der Abbildung beinhalten physikalische Annahmen: Aus der Eindeutigkeit folgt, daß sich der Massenpunkt zu
jedem Zeitpunkt t an genau einem Ort r(t) befindet. Aus der Stetigkeit folgt, daß
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6
r(t)
Abbildung 1.1: Bahnkurve eines Massenpunktes
die Bahn keine Sprünge macht (natura non facit saltus). Aus der (zweimaligen)
Differenzierbarkeit der Abbildung folgt, daß die Bewegung gemäß (1.1) aus der Impulsänderung bestimmt werden kann. Die erste Ableitung der Funktion r(t) nach
der Zeit definiert die Geschwindigkeit, die zweite Ableitung die Beschleunigung,
dv
v(t)
dr
r(t+dt)
v(t+dt)
r(t)
Abbildung 1.2: Änderungen des Ortsvektors und des Geschwindigkeitsvektors
r(t + ) − r(t)
,
v(t + ) − v(t)
a(t) = v̇ = lim
.
→0
v(t) = ṙ = lim
→0
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7
Hier und im folgenden werden Zeitableitungen oft durch einen Punkt gekennzeichnet
ṙ =
dr
.
dt
(1.3)
Determinismus
Zur Bestimmung der Bewegung aus der Grundgleichung (1.1) ist eine Kenntnis des
Kraftgesetzes notwendig. Eine allgemeine Aussage hierzu macht das Newtonsche
Gesetz des Determinismus: Jede Bewegung wird eindeutig durch die Vorgabe von
Anfangswerten für den Ort und die Geschwindigkeit festgelegt, d.h.
r(t) = r(t; r0 , v0 , t0 ),
wobei die Anfangswerte mit dem Index 0 bezeichnet werden. Differenziert man diese
Funktion zweimal nach t und wertet das Ergebnis zur Zeit t0 aus, so folgt
a(t0 ) = r̈(t0 ; r0 , v0 , t0 )
Da der Anfangspunkt t0 beliebig ist, muß die Beschleunigung eine Funktion von den
Variablen t, r, und v darstellen. Damit besitzt die Kraft in (1.1) die allgemeine
Form
F = F (r, v, t).
(1.4)
Phasenraum
Eine Bahnkurve durch einen Punkt r im Ortsraum ist nicht eindeutig. Man kann in
jedem Punkt die Geschwindigkeit noch beliebig wählen. Insbesondere kann sich eine
Bahnkurve im Ortsraum schneiden. Es ist daher oft von Vorteil die Bewegung in
einem erweiterten Raum, dem Phasenraum darzustellen. Ein Punkt im Phasenraum
wird durch die Komponenten des Orts- und Impulsvektors (r, p) angegeben. Die
Bewegungsgleichung definiert im Phasenraum ein Richtungsfeld (ṙ, ṗ) durch:
ṙ =
1
p,
m
ṗ = F .
(1.5)
Eine Bahnkurve im Phasenraum ist eine Integralkurve, deren Tangente in jedem
Punkt durch das Richtungsfeld (1.5) bestimmt ist. Da die Richtung der Kurve in
jedem Punkt eindeutig bestimmt ist, kann sich eine Phasenraumkurve nicht schneiden.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
8
Gültigkeitsgrenzen der Mechanik
Die Bewegungsgesetze der Mechanik erlauben im Prinzip die exakte Vorhersage
der zukünftigen Entwicklung des Systems. Sie sind streng deterministisch, d.h. der
zukünftige Zustand wird eindeutig durch die Kenntnis des Anfangszustandes zu
einem Zeitpunkt bestimmt.
Die Erfolge der Newtonschen Mechanik haben anfänglich zu der Ansicht geführt,
daß alle Naturvorgänge exakt den mechanischen Gesetzen gehorchen und durch
diese erklärt werden können (mechanistisches Weltbild). Heute wissen wir, daß die
Mechanik ein mathematisches Modell ist, welches empirische Beobachtungen nur
innerhalb bestimmter Gültigkeitsgrenzen beschreiben kann. Die folgenden Beispiele
sollen dies verdeutlichen:
• Die Vorhersagbarkeit eines Systems wird durch die Quantentheorie (Unschärferelation) prinzipiell eingeschränkt. Die Größe der Quanteneffekte wird durch
das Plancksche Wirkungsquantum ~ charakterisiert. Man unterscheidet daher
zwischen klassischer Mechanik (~ → 0) und der Quantenmechanik (~ 6= 0).
• Für Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit c müssen die Gesetze der
Mechanik entsprechend der speziellen Relativitätstheorie modifiziert werden.
Man unterscheidet hierbei die nichtrelativistische Mechanik (v c) und die
relativistische Mechanik (v ≈ c).
• In starken Gravitationsfeldern ist die Newtonsche Theorie der Gravitationskräfte nicht mehr anwendbar. Die relativistische Gravitationstheorie von Einstein führt Gravitationskräfte auf Trägheitskräfte zurück, die infolge der
Krümmung des Raumes durch Massen auftreten.
• Die Theorie der nichtlinearen Dynamik zeigt, daß der Vorhersagbarkeit eines
nichtlinearen Systems bereits im Rahmen der Newtonschen Mechanik prinzipielle Grenzen gesetzt sind. Die Lösungen nichtlinearer Bewegungsgleichungen
hängen i.a. in komplizierter Weise von den Anfangsbedingungen ab und können
bei beliebig kleinen Änderungen des Anfangszustandes zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen (deterministisches Chaos).
Trotz diesen Einschränkungen ist die klassische Mechanik auch heute noch von
großer Bedeutung für viele Gebiete der Physik, wie z.B. die Astronomie, die Erforschung des Weltraums oder die Molekulardynamik. Mit dem Einsatz moderner
Computer kann das mechanische Verhalten von Vielteilchensystemen mit mehr als
104 Teilchen untersucht werden.
Kapitel 2
Eindimensionale Bewegungen
Im folgenden betrachten wir eindimensionale Bewegungen x = x(t), die einer Bewegungsgleichung 2. Ordnung
mẍ = F (x, ẋ, t)
mit den Anfangsbedingungen
x(0) = x0 ,
v(0) = v0
genügen. Die wesentliche physikalische Einschränkung ist hierbei, daß die xKomponente der Kraft F (x, ẋ, t) unabhängig ist von den restlichen Koordinaten y,
z und Geschwindigkeiten ẏ, ż des Massepunktes. Die Bewegung in der x-Richtung
ist dann unabhängig von der Bewegung in der y oder z Richtung.
2.1
Elementar lösbare Fälle
Zeitabhängige Kraft
Hängt die Kraft nur von der Zeit ab, F = F (t), so kann die Bewegungsgleichung
durch Integration direkt gelöst werden,
1
v(t) = v0 +
m
Zt
dt0 F (t0 )
0
Zt
x(t) = x0 +
0
9
dt0 v(t0 )
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
10
Geschwindigkeitsabhängige Kraft
Ist die Kraft nur von der Geschwindigkeit abhängig, F = F (v), so bestimmt man
zunächst die Funktion t = t(v) durch
dt(v)
1
m
=
=
dv
v̇
F (v)
v
Z
m
dv 0
t =
F (v 0 )
(2.1)
v0
Die gesuchte Funktion v = v(t) ist die Umkehrfunktion von t = t(v). Die Umkehrfunktion existiert lokal in der Umgebung eines Punktes v∗ falls t0 (v∗ ) 6= 0. Dann
ist dt = t0 (v∗ )dv nach dv = dt/t0 (v∗ ) auflösbar. Mit v(t) erhält man x(t) durch
Integration
Zt
(2.2)
x(t) = x0 + dt0 v(t0 ).
0
Ortsabhängige Kraft
Besondere Bedeutung haben Kräfte F = F (x), die nur vom Ort abhängen. Für
diese Kräfte existiert ein Energieerhaltungssatz. Multipliziert man die Bewegungsgleichung mit ẋ, so gilt
mẍẋ = F (x)ẋ,
 x(t)

Z
d 
d 1
mẋ2
=
dx0 F (x0 ) .
dt 2
dt
a
Definiert man die kinetische Energie T (v) und die potentielle Energie U (x) durch
1
T (v) = mv 2 ,
2
Zx
U (x) = −
dx0 F (x0 ),
U (a) = 0
(2.3)
a
mit einem beliebigen Bezugspunkt a, so folgt daraus der Energieerhaltungssatz
d
(T + U ) = 0,
dt
T (v) + U (x) = E.
(2.4)
Die Gesamtenergie E ist eine Konstante, die bei der Bewegung, x = x(t), v = v(t)
erhalten bleibt.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
11
Bewegung im Potential, Umkehrpunkte, Gleichgewichte
Aus dem Energiesatzes können wichtige Folgerungen für die Bewegung des Massepunktes gezogen werden. Dazu verwendet man häufig eine graphische Darstellung
der Energie als Funktion der Koordinate x (Abb. (2.1)). Die potentielle Energie
y = U (x) ist eine Funktion von x, die Gesamtenergie y = E eine vorgegebene Konstante. Die kinetische Energie am Ort x ergibt sich aus der Differenz T = E − U (x).
Da die kinetische Energie nie negativ sein kann, ist die Bewegung auf Gebiete mit
E − U (x) > 0 eingeschränkt, d.h. auf diejenigen Gebiete in denen die Potentialkurve
y = U (x) unterhalb der horizontalen Geraden y = E verläuft.
Die Umkehrpunkte x = xu der Bewegung werden definiert durch die Nullstellen von
E − U (xu ) = 0.
(2.5)
An den Umkehrpunkten gilt T = 0 und daher auch v = 0. Im Umkehrpunkt ist die
Kraft i.a. ungleich Null, so daß die Bewegung nicht zur Ruhe kommt, sondern nur
ihre Richtung umkehrt. Aus der Definition des Potentials folgt, daß die Kraft immer
in der Richtung des abnehmenden Potentials gerichtet ist,
F (x) = −
dU (x)
.
dx
(2.6)
Verläuft eine Bahn zwischen zwei Umkehrpunkten, so ist die Bewegung periodisch.
Gleichgewichtspunkte x = xg , die eine mögliche Ruhelage darstellen, werden definiert durch die Nullstellen der Kraft, bzw. die Extrema des Potentials,
F (xg ) = −
dU (xg )
=0.
dx
(2.7)
Um die Stabilität eines solchen Kräftegleichgewichts zu untersuchen, entwickelt man
das Potential um den Gleichgewichtspunkt bis zur zweiten Ordnung,
U (x) = U (xg ) +
dU (xg )
1 d2 U (xg )
(x − xg ) +
(x − xg )2 .
dx
2 dx2
Wegen der Gleichgewichtsbedingung (2.7) verschwindet die erste Ordnung, so daß
die Kraft durch die zweite Ordnung bestimmt wird,
F (x) = −
d2 U (xg )
(x − xg ).
dx2
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
12
Abhängig vom Vorzeichen der zweiten Ableitung des Potentials unterscheidet man
stabile und instabile Gleichgewichte,
d2 U (xg )
> 0,
dx2
d2 U (xg )
< 0,
dx2
stabil
instabil
Ein stabiles Gleichgewicht entspricht also einem Potentialminimum, ein instabiles
einem Potentialmaximum.
y
y= U(x)
E5
E4
E3
E2
E1
x
Abbildung 2.1: Bewegung im Potential U(x) bei verschiedenen Energien.
E1 : Stabiles Gleichgewicht, E2 : Periodische Bewegung im linken Potentialminimum, stabiles Gleichgewicht im
rechten Potentialminimum, E3 : Periodische Bewegungen in beiden Minima,
E4 : Instabiles Gleichgewicht, Grenzkurve zwischen den periodischen Bewegungen unterhalb und oberhalb des Potentialmaximums, E5 : Periodische Bewegung oberhalb des Potentialmaximums.
Phasenebene
Der Phasenraum einer eindimensionalen Bewegung ist die durch (x, p) aufgespannte
Phasenebene. Die Kurven, die eine Bewegung in der Phasenebene durchläuft, werden
durch den Energiesatz bestimmt,
p2
+ U (x) = E,
2m
p
p = ± 2m(E − U (x)).
Abbildung (2.2) zeigt die der Potentialdarstellung (2.1) entsprechenden Kurven in
der Phasenebene. Die Kurven werden im Uhrzeigersinn durchlaufen. Kurven zu verschiedenen Energien dürfen sich nicht schneiden, da sie durch eine Anfangsbedingung
(x, p) bereits eindeutig festgelegt sind. Sie bilden daher ein System ineinandergeschachtelter Ringe um die stabilen Gleichgewichtspunkte. Die Kurve durch den instabilen Gleichgewichtspunkt nennt man Separatrix, da Sie Bereiche mit qualitativ
verschiedenen Kurven voneinander trennt.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
13
p
Abbildung 2.2: Bewegung in der Phasenebene. Die einzelnen Kurven entsprechen den
Energien in Abbildung (2.1). Die auf der
x-Achse hervorgehobenen Punkte sind die
Gleichgewichtspunkte. Durch den mittleren
instabilen Gleichgewichtspunkt geht die Separatrix.
x
Zeitabhängigkeit der Bewegung, Periode
Ausgehend vom Energiesatz erhält man für die Geschwindigkeit den Ausdruck,
r
2
dx
=±
(E − U (x)).
v=
dt
m
Das Vorzeichen wird durch das Vorzeichen der Anfangsgeschwindigkeit und nachfolgende Vorzeichenwechsel an den Umkehrpunkten bestimmt. Damit läßt sich
zunächst die Funktion t = t(x) als Integral darstellen
dt
=
dx
1
dx
dt
Zx
t(x) =
x0
=
1
v(x, E)
dx0
q
.
± m2 (E − U (x0 ))
(2.8)
Durch die Bildung der Umkehrfunktion erhält man aus t = t(x) die gesuchte Bewegung x = x(t). Die Umkehrfunktion existiert lokal für t0 (x) = 1/v 6= 0.
Ist die Bewegung periodisch so erhält man die Periode T durch eine Integration über
einen Umlauf. Sind die beiden Umkehrpunkte der Bahn x1 und x2 , dann gilt
Zx2
T =
q
x1
2
(E
m
Zx2
= 2
+
− U)
dx
q
x1
Zx1
dx
2
(E
m
− U)
x2
dx
q
− m2 (E − U )
(2.9)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
14
Lineares Kraftgesetz
Ist die Kraft linear in x und ẋ, so sind spezielle Lösungsmethoden für lineare Differentialgleichungen anwendbar. Ein wichtiges Beispiel hierzu ist der harmonische
Oszillator, der im folgenden Abschnitt ausführlich behandelt wird.
2.2
Harmonischer Oszillator
Ein harmonischer Oszillator führt harmonische Schwingungen aus, die durch die
Kreisfunktionen Sinus und Kosinus beschriebenen werden. Physikalisch wird der
harmonische Oszillator in guter Näherung durch eine an einer elastischen Feder
aufgehängte Masse realisiert. Allerdings gibt es viele weitere physikalische Anwendungen, da das Modell allgemeine Eigenschaften eines Systems in der Nähe eines
Gleichgewichts beschreibt.
In der Umgebung eines Gleichgewichtspunktes, x = 0, v = 0, kann eine allgemeine
Kraft F (x, v) durch die lineare Approximation
∂F ∂F x+
v
(2.10)
F (x, v) = F (0, 0) +
∂x x=0,v=0
∂v x=0,v=0
dargestellt werden. Für ein stabiles Gleichgewicht gilt
∂F ∂F F (0, 0) = 0,
= −f,
= −2mβ,
∂x x=0,v=0
∂v x=0,v=0
mit positiven Konstanten f und β. Die Kraft besteht in dieser Näherung aus einer
zur Auslenkung proportionalen Rückstellkraft
Fx = −f x
und einer zur Geschwindigkeit proportionalen Reibungskraft
Fv = −2mβv
Die Bewegungsgleichung einer Masse m in der Nähe eines Gleichgewichtspunktes
besitzt daher die allgemeine Form
ẍ + 2β ẋ + ω02 x = 0,
ω0 =
p
f /m.
(2.11)
Sie wird als die Bewegungsgleichung oder Schwingungsgleichung des gedämpften
harmonischen Oszillators bezeichnet. Für β = 0 ist der Oszillator ungedämpft.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
2.2.1
15
Freie ungedämpfte Schwingungen
Das Anfangswertproblem des ungedämpften harmonischen Oszillators lautet
ẍ + ω02 x = 0,
mit
x(0) = x0 ,
v(0) = v0 .
(2.12)
An diesem Beispiel sollen zwei unterschiedliche Lösungsmethoden veranschaulicht
werden, die auf dem Energiesatz bzw. dem Exponentialansatz basieren.
Energiesatz, Phasenebene und Schwingungsbewegung
Im vorliegenden Fall ist die Kraft nur von x abhängig, so daß ein Energieerhaltungssatz existiert. Definiert man den Energienullpunkt durch U (0) = 0, so ergibt sich
das Potential
Zx
1
1
U (x) = − dx(−f x) = f x2 = mω02 x2
(2.13)
2
2
0
und die Gesamtenergie
p2
1
+ mω02 x2 .
(2.14)
2m 2
Für Energien E > 0 bewegt sich der Massepunkt in einem parabelförmigen Potentialtopf (Abb.2.3). Für E < 0 gibt es keine reellen Lösungen.
E=
In der Phasenebene stellen die Kurven konstanter Energie E Ellipsen dar,
x2 p2
+ 2 = 1,
a2
b
a=
q
2E/mω02 ,
√
b=
2Em,
(2.15)
deren Halbachsen mit a und b bezeichnet wurden (Abb.2.3). Die Umkehrpunkte auf
der x-Achse ergeben sich daraus zu x1,2 = ±a. Die von einer Bahnkurve in der
Phasenebene eingeschlossene Fläche wird durch die Energie und die Umlaufperiode
T = 2π/ω0 bestimmt,
E
= ET.
(2.16)
S(E) = πab = 2π
ω0
Allgemein gilt für Bewegungen in einem eindimensionalen Potential der Zusammenhang
dS(E)
= T.
(2.17)
dE
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
16
p
U
+b
E
S(E)
-a
+a x
-b
-a
+a x
Abbildung 2.3: Bewegung des harmonischen Oszillators im Potential und in der
Phasenebene
Die Zeitabhängigkeit der Bewegung ergibt sich aus dem Integral
Zx
t=
dx
v(x)
(2.18)
x0
mit
√
2
(E − U ) = ±ω0 a2 − x2 .
m
Das Integral kann durch eine Substitution
r
v(x) = ±
x = a cos ϕ,
v = aω0 sin ϕ.
(2.19)
(2.20)
ausgewertet werden. Der Ausdruck für v ergibt sich aus (2.19) indem man dort x
substituiert und 0 < ϕ < π für v > 0 und −π < ϕ < 0 für v < 0 setzt. Dies entspricht
einem Übergang zu den in Abb. 2.4 gezeigten Polarkoordinaten. Die Amplitude a
und die Anfangsphase ϕ0 werden durch die Anfangsbedingungen festgelegt,
s
a=
v02
+ x20 ,
ω02
tan ϕ0 =
v0
.
ω0 x0
Damit ergibt die Integration
Zϕ
ω0 t = −
dϕ = ϕ0 − ϕ,
ϕ0
(2.21)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
17
Abbildung 2.4: Polarkoordinaten a, ϕ
und somit
x(t) = a cos(ω0 t − ϕ0 ).
(2.22)
Dies ist eine harmonische Schwingung mit der durch die Schwingungsgleichung vorgegebenen Frequenz ω0 . Die Amplitude a und die Phasenverschiebung δ sind gemäß
(2.21) durch die Anfangsbedingungen bestimmt.
Exponentialansatz, charakteristisches Polynom und Basissystem linear
unabhängiger Lösungen
Die zweite Methode zur Lösung der Schwingungsgleichung (2.12) beruht auf dem
Exponentialansatz
x(t) = A exp(λt),
(2.23)
mit Konstanten A und λ. Lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten,
n
X
di x
Lx =
ci i = 0,
dt
i=0
können durch diesen Ansatz gelöst werden. Die Ableitungen werden hierbei durch
Potenzen von λ ersetzt. Die Differentialgleichung definiert damit ein charakteristisches Polynom P (λ), dessen Nullstellen die möglichen Werte von λ bestimmen,
!
n
X
P (λ)x =
ci λi x = 0.
i=0
Sind alle Nullstellen verschieden, so bestimmen diese genau ein Basissystem linear
unabhängiger Lösungen der Differentialgleichung. Bei mehrfachen Nullstellen muß
der Ansatz erweitert werden. Im Fall der Schwingungsgleichung (2.12) folgt
P (λ) = λ2 + ω02 = (λ − iω0 )(λ + iω0 )
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18
mit den beiden Nullstellen,
λ1,2 = ±iω0 .
Die allgemeine Lösung ist die Linearkombination
x(t) = A1 exp(iω0 t) + A2 exp(−iω0 t).
(2.24)
Die Anfangsbedingungen
x 0 = A1 + A 2 ,
bestimmen die Konstanten A1,2 zu
v0
1
A1 =
x0 +
,
2
iω0
v0 = iω0 (A1 − A2 )
1
A2 =
2
v0
x0 −
iω0
Wie in Abbildung (2.4) dargestellt, können die komplexen Amplituden durch ihren
Betrag und ihre Phase ausgedrückt werden
v0
x0 + i = a exp(iϕ0 ).
ω0
Damit folgt wiederum die Lösung in der Form (2.22). Alternativ kann man A1,2
direkt in (2.24) einsetzen und erhält dann das Ergebnis
x(t) = x0 cos(ω0 t) +
2.2.2
v0
sin(ω0 t).
ω0
(2.25)
Freie gedämpfte Schwingungen
Um die Wirkung der Reibungskraft in der Schwingungsgleichung (2.11) zu veranschaulichen betrachten wir zunächst zwei einfache Spezialfälle. Vernachlässigt man
die Rückstellkraft, so führt die Reibungskraft zu einer Abbremsung der Anfangsgeschwindigkeit v0 eines Teilchens
v̇ + 2βv = 0,
v = v0 e−2βt .
(2.26)
Die Geschwindigkeit relaxiert mit der Rate 2β in den Ruhezustand. Vernachlässigt
man andererseits die Beschleunigung, so entsteht ein Kräftegleichgewicht von Reibungskraft und Rückstellkraft. Dabei geht eine Anfangsauslenkung x0 in die Ruhelage zurück,
2
2β ẋ + ω02 x0 = 0,
x = x0 e−(ω0 /2β)t .
(2.27)
Die Auslenkung relaxiert mit der Rate ω02 /(2β). Relaxiert die Geschwindigkeit
schneller als die Auslenkung, β ω0 , so ergibt sich eine stark gedämpfte aperiodische Bewegung. Im umgekehrten Fall kehrt die Masse mit einer endlichen Geschwindigkeit in die Ruhelage zurück, was zu periodischen Schwingungen führt.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
19
Die allgemeine Lösung der gedämpften Schwingungsgleichung (2.11) bestimmen wir
wieder durch den Exponentialansatz (2.23). Das charakteristische Polynom,
P (λ) = λ2 + 2βλ + ω02
besitzt die Nullstellen
q
γ = β 2 − ω02 .
λ1,2 = −β ± γ,
(2.28)
Die allgemeine Lösung hat daher die Form
x(t) = A1 eγt + A2 e−γt e−βt .
Mit den Anfangsbedingungen
x 0 = A1 + A 2
v0 = (γ − β)A1 − (γ + β)A2
bestimmt man die Integrationskonstanten
(γ + β)x0 + v0 = 2γA1 ,
(γ − β)x0 − v0 = 2γA2 ,
x0 v0 + 2βx0
+
2
2γ
x0 v0 + 2βx0
−
.
A2 =
2
2γ
A1 =
Daraus folgt die Lösung,
v0 + βx0
x(t) = x0 cosh(γt) +
sinh(γt) e−βt
γ
(2.29)
Nach Gleichung (2.28) kann man die folgenden drei Fälle unterscheiden.
Aperiodische Bewegung (β > ω0 ):
In diesem Fall ist γ reell und beide Nullstellen sind negativ, λ1,2 < 0. Die beiden
partikulären Lösungen sind exponentiell abfallend. Die allgemeine Lösung ist nicht
notwendig monoton fallend. Sie kann jedoch höchstens ein Maximum besitzen. Aus
der Bedingung für einen Umkehrpunkt, v = 0, folgt
e2γt = −
λ 2 A2
= r.
λ 1 A1
Für r < 1 gibt es keinen, für r ≥ 1 genau einen Umkehrpunkt.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
20
Im Grenzfall starker Dämpfung, ω0 /β 1, läßt sich die Lösung noch weiter vereinfachen. Unter Verwendung der Potenzreihenentwicklung,
√
1
1 + x = 1 + x + ···
2
erhält man
q
ω02
2
2
γ = β 1 − ω0 /β ≈ β 1 − 2
2β
2
ω
λ2 = −2β.
λ1 = − 0 ,
2β
Diese Relaxationsraten entsprechen den oben behandelten Grenzfällen (2.26) und
(2.27). Da |λ1 | |λ2 | ist, handelt es sich hier um ein Beispiel einer Differentialgleichung, deren Lösungen stark unterschiedliche Zeitskalen aufweisen. Für große
Zeiten spielt nur der langsam veränderliche Anteil eine Rolle. Für kleine Zeiten
benötigt man den schnell veränderlichen Anteil, um die Anfangsbedingungen erfüllen
zu können. Mit den Anfangswerten
A1 = x 0 +
v0
,
2β
folgt
x(t) = x0 eλ1 t +
A2 = −
v0
2β
v0 λ1 t
e − eλ2 t .
2β
Bei einer Anfangsauslenkung x0 relaxiert die Amplitude auf der langsamen Zeitskala in die Ruhelage. Bei einer Anfangsgeschwindigkeit v0 relaxiert die Amplitude
dagegen zuerst schnell ins Kräftegleichgewicht und danach langsam in die Ruhelage
(Abb. (2.5)).
x(t)
Abbildung 2.5: Auslenkung x(t) als Superposition einer schnell und langsam
relaxierenden Lösung. Für große Zeiten nähert sich x(t) asymptotisch der
langsam relaxierenden Lösung. Diese
Lösung erfüllt jedoch nicht die Anfangsbedingung x0 = 0. Daher ist für
kleine Zeiten auch die schnell relaxierende Lösung erforderlich.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
21
Gedämpft periodische Bewegung (ω0 > β)
In diesem Fall ist γ imaginär. Setzt man γ = iΩ so erhält man aus (2.28) und (2.29)
die Lösung,
v0 + βx0
x(t) = x0 cos(Ωt) +
sin(Ωt) e−βt ,
Ω
Ω=
q
ω02 − β 2 .
(2.30)
Alternativ kann man auch die Amplitude und Phasenverschiebung der Schwingung
durch
1
v0 + βx0
1
∗
A2 = A1 =
x0 + i
= reiδ
2
Ω
2
mit
s
r=
x20 +
1
(v0 + βx0 )2 ,
Ω20
tan δ =
v0 + βx0
Ωx0
definieren. Damit folgt
x(t) = r cos(Ωt − δ)e−βt .
(2.31)
Es handelt sich hierbei um eine gedämpfte Schwingung. Ihre Schwingungsfrequenz
Ω ist kleiner als die Eigenfrequenz ω0 des ungedämpften Oszillators. Ihre Amplitude
ist exponentiell abfallend.
Abbildung 2.6: Schematische Darstellung einer gedämpften Schwingung. Die
Einhüllende ±re−βt wird jeweils in den
Maxima bzw. Minima der KosinusSchwingung berührt. Die Phasenverschiebung δ wurde Null gesetzt.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
22
Aperiodischer Grenzfall (β = ω0 )
In diesem Fall ist γ = Ω = 0 und das charakteristische Polynom besitzt die doppelte
Nullstelle λ1,2 = −β. Der obige Exponentialansatz ergibt hier nur eine partikuläre
Lösung. Die vollständige Lösung des aperiodischen Grenzfalls erhält man, indem
man in der Lösung des Anfangswertproblems (2.30) den Grenzübergang Ω → 0 zu
einer festen Zeit t ausführt. Mit
sin x
=1
x→0 x
lim
folgt
x(t) = [x0 + (v0 + βx0 )t] e−βt .
(2.32)
Die Amplitude enthält hier einen linear in t anwachsenden Anteil.
2.2.3
Erzwungene Schwingungen
Wird ein harmonischer Oszillator mit einer harmonischen Kraft, F (t) = F0 cos(ωt),
angetrieben, so lautet die Bewegungsgleichung,
ẍ + 2β ẋ + ω02 x = a0 cos(ωt),
a0 = F0 /m.
(2.33)
Hierbei handelt es sich um eine inhomogene lineare Differentialgleichung. Ihre allgemeine Lösung besitzt die Form,
x(t) = xh (t) + xs (t),
wobei xh (t) die allgemeine Lösung der bereits behandelten homogenen Differentialgleichung (2.11) bezeichnet und xs (t) eine spezielle Lösung der inhomogenen Differentialgleichung darstellt. Offensichtlich erfüllt dieser Ansatz die Bewegungsgleichung (2.33) und besitzt genau die erforderliche Anzahl von Integrationskonstanten
zur Erfüllung der Anfangsbedingungen.
Wegen der Dämpfung der freien Schwingungen, d.h. aller Lösungen der homogenen
Differentialgleichung, stellt sich für große Zeiten ein Zustand ein, der von den Anfangsbedingungen unabhängig ist und als erzwungene Schwingung bezeichnet wird.
Es handelt sich dabei um eine Schwingung mit der Frequenz der anregenden Kraft.
Zunächst sind die Spezialfälle instruktiv, bei denen die Anregungsfrequenz ω sehr
viel kleiner bzw. sehr viel größer ist als die Oszillatorfrequenz ω0 . Für ω → 0 gilt
näherungsweise,
a0
ω02 x = a0 cos(ωt),
x = 2 cos(ωt).
(2.34)
ω0
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
23
Die Auslenkung folgt der anregenden Kraft instantan ins neue Kräftegleichgewicht.
Für ω → ∞ gilt entsprechend
ẍ = a0 cos(ωt),
x=−
a0
cos(ωt).
ω2
(2.35)
Hierbei handelt es sich um die erzwungene Schwingung eines freien Teilchens. Die
Auslenkung schwingt gegenphasig zur anregenden Kraft und die Amplitude nimmt
wie 1/ω 2 ab.
Für beliebige Anregungsfrequenzen ist es einfacher anstelle von (2.33) die Schwingungsgleichung
(2.36)
z̈ + 2β ż + ω02 z = a0 eiωt ,
mit einer komplexen Variable z(t) zu betrachten. Für jede komplexe Lösung z(t)
von (2.36) ist der Realteil x = <(z) eine Lösung der ursprünglichen Schwingungsgleichung (2.33). Dies beruht darauf, daß die Gleichung linear ist und nur reelle
Koeffizienten besitzt.
Es ist naheliegend für die erzwungene Schwingung einen Exponentialansatz mit der
Frequenz ω zu wählen,
z = Beiωt .
Die Schwingungsgleichung (2.36) bestimmt dann die komplexe Amplitude der erzwungenen Schwingung,
a0
.
(2.37)
B= 2
ω0 − ω 2 + 2iβω
Setzt man B = be−iδ so erhält man die gesuchte reelle Lösung in der Form
x(t) = b cos(ωt − δ),
(2.38)
mit der Amplitude und Phase
a0
b= p 2
,
(ω0 − ω 2 )2 + 4β 2 ω 2
tan δ =
2βω
.
− ω2
ω02
(2.39)
Für schwache Dämpfung (β ω0 ) ist die Frequenzabhängigkeit der Amplitude und
Phase in Abb. (2.7) dargestellt. Für kleine und große Frequenzen werden die schon
diskutierten Grenzfälle
 a0

für ω → 0

 ω02
b(ω) →


 a0
für ω → ∞
ω2
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
24
erreicht. Dazwischen nimmt die Amplitude ein Maximum mit
p
p
a0
ωm = Ω2 − β 2 ,
bm =
,
Ω = ω2 − β 2
2βΩ
an. Es liegt etwas unterhalb der Eigenfrequenz Ω des gedämpften harmonischen
Oszillators. Die Auslenkung folgt der anregenden Kraft um die Phase δ verschoben
nach. Die Phase wächst mit zunehmender Frequenz monoton von 0 bis π an und
erreicht bei ω = ω0 den Wert π/2.
Abbildung 2.7: Frequenzabhängigkeit
der Amplitude und der Phase einer erzwungenen Schwingung des harmonischen Oszillators.
2.3
Bewegungen mit veränderlicher Masse
Zwei unterschiedliche Massen m1 und m2 , auf die dieselbe Kraft F einwirkt, erfahren
unterschiedliche Beschleunigungen v̇1 und v̇2 aber dieselbe Impulsänderung
ṗ = m1 v̇1 = m2 v̇2 = F.
Die Impulsänderung, die eine Kraft hervorruft, ist unabhängig von den Eigenschaften
des speziellen Körpers. Bei Körpern mit veränderlicher Masse ist die Kraft daher
als Ursache von Impulsänderungen aufzufassen. Nur bei konstanter Masse ist die
Impulsänderung der Beschleunigung proportional.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
25
Massenänderung ohne Rückstoß
Für eine zeitabhängige Masse m(t) lautet der Impulssatz,
d
[m (t) v] = F,
dt
mv̇ = F − ṁv
ṗ = mv̇ + ṁv = F,
(2.40)
Diese Form der Bewegungsgleichung tritt bei relativistischen Teilchen auf, deren
Geschwindigkeit im Bereich der Lichtgeschwindigkeit c liegt. In diesem Fall ist die
Zeitabhängigkeit der Masse durch die Geschwindigkeit gegeben,
m(t) = m0 γ,
1
γ=q
1−
,
v2
c2
wobei m0 die Ruhemasse bezeichnet. Eine allgemeine Begründung der relativistischen Bewegungsgleichung wird in der relativistischen Mechanik gegeben.
Massenänderung mit Rückstoß
Die Bewegungsgleichung (2.40) berücksichtigt noch nicht die Impulsänderung, die
durch die zu- oder abgeführte Masse hervorgerufen wird. Im Zeitintervall dt werde
der Masse m mit der Geschwindigkeit v eine zusätzliche Masse dm mit der Geschwindigkeit v 0 = v +vr zugeführt. Hierbei ist vr die Geschwindigkeit der Masse dm relativ
zur Masse m. Der Gesamtimpuls der noch getrennten Massen ist mv + (dm)v 0 . Der
Impuls der Gesamtmasse nach der Zeit dt ist (m + dm)(v + dv). Für die gesamte
Impulsänderung gilt demnach
dp = (m + dm)(v + dv) − [mv + (dm)v 0 ] = mdv + (dm)(v − v 0 ) = F dt.
Die Bewegungsgleichung lautet in diesem Fall
mv̇ = F + ṁvr .
(2.41)
Auf der rechten Seite steht nun die Relativgeschwindigkeit der zugeführten Masse.
Wird die Masse dm ohne Impulsübertrag zugeführt, d.h. v 0 = 0, so gilt vr = −v und
man erhält wieder das Ergebnis (2.40).
Ein Anwendungsbeispiel für die Gleichung (2.41) ist die Beschleunigung einer Rakete
durch den Rückstoß des verbrannten Brennstoffs. Nimmt man an, daß pro Zeiteinheit
eine konstante Masse µ der Antriebsgase mit einer konstanten Geschwindigkeit u
austritt, so gilt entsprechend ṁ = −µ und vr = −u. Auf die Rakete wirkt also bei
abnehmender Masse eine konstante Antriebskraft ṁvr = µu.
Kapitel 3
Kinematik
Die Kinematik beschreibt Bewegungen ohne Bezugnahme auf die wirkenden Kräfte.
Kinematische Grundgrößen sind die Geschwindigkeit und Beschleunigung. Von besonderem Interesse sind Koordinatentransformationen beim Wechsel des Bezugssystems. Man unterscheidet Koordinatentransformationen zwischen Inertialsystemen
und Koordinatentransformationen von Inertialsystemen in beschleunigte Bezugssysteme. In beschleunigten Systemen treten sogenannte Scheinkräfte auf, deren Ursache in der beschleunigten Bewegung des Bezugssystems liegt.
3.1
Inertialsysteme
Inertialsysteme sind Bezugssysteme, in denen sich ein kräftefreier Körper geradlinig und gleichförmig bewegt. Die besondere Bedeutung der Inertialsysteme beruht
darauf, daß es diejenigen Bezugssysteme sind, in denen die Newtonsche Bewegungsgleichung gilt.
3.1.1
Galileisches Relativitätsprinzip
Es gibt viele verschiedene Inertialsysteme. Das Galileische Relativitätsprinzip besagt
allgemein:
Alle Inertialsysteme sind gleichberechtigt.
Demnach ist es nicht möglich physikalisch zwischen zwei Inertialsystemen zu unterscheiden. In einem Zug, der mit konstanter Geschwindigkeit fährt, ist es z.B. nicht
möglich die Geschwindigkeit des Zuges durch eine Messung innerhalb des Zuges
festzustellen.
26
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
3.1.2
27
Galileitransformationen
Das Galileische Relativitätsprinzip definiert in Verbindung mit der Grundgleichung
der Mechanik die Klasse der Galileitransformationen. Da alle Inertialsysteme gleichberechtigt sind, muß die Newtonsche Bewegungsgleichung in allen diesen Systemen
in der gleichen Form gelten. Galileitransformationen sind Koordinatentransformationen, gegenüber denen die Grundgleichung der Mechanik für einen Massepunkt
mit fester Masse m forminvariant ist.
Definition 3.1 Eine Gleichung F (Xi ) = 0 zwischen verschiedenen Größen
Xi (x, y, z, t) heißt forminvariant, wenn sie in den transformierten Größen
Xi0 (x0 , y 0 , z 0 , t0 ) dieselbe Form besitzt, wie in den ursprünglichen Größen Xi :
F (Xi ) = F (Xi0 ).
Man unterscheidet zwischen Forminvarianz und Invarianz.
Definition 3.2 Invarianz bedeutet die stärkere Forderung, daß die transformierte
Gleichung identisch ist mit der ursprünglichen Gleichung, d.h. die transformierten
Größen sind auch die gleichen Funktionen der Koordinaten wie die ursprünglichen
Größen
Xi0 (x0 , y 0 , z 0 , t0 ) = Xi (x, y, z, t)
Aus der Invarianz folgt, daß jede Lösung als Funktion der alten Koordinaten auch
eine Lösung als Funktion der neuen Koordinaten darstellt.
Die möglichen Galileitransformationen werden im folgenden behandelt. Nicht dazu
gezählt werden Umskalierungen der Koordinaten: x0 = αx, t0 = βt. Fasst man die
Koordinaten als dimensionsbehaftete Größen auf, so entspricht einer Umskalierung
der Maßzahl eine inverse Umskalierung der Einheit. Die dimensionsbehaftete Größe
wird dadurch nicht geändert.
Verschiebung des Zeitursprungs
Eine Verschiebung des Zeitursprungs um eine feste Zeit t0 ,
t0 = t − t0 ,
(3.1)
ist eine Galileitransformation.
Das ursprüngliche Koordinatensystem S sei ein Inertialsystem, so daß dort die Newtonsche Bewegungsgleichung gilt. Wegen dt = dt0 , r 0 = r gilt im neuen System S 0
die transformierte Gleichung
d2 r
m 02 = F 0 ,
(3.2)
dt
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
28
mit
F 0 = F (r,
dr 0
, t + t0 ).
dt0
(3.3)
Die transformierte Kraft F 0 ist zur Zeit t0 in S 0 identisch mit der alten Kraft zur
entsprechenden Zeit t = t0 +t0 in S. Die Gleichung ist daher forminvariant gegenüber
einer Zeitverschiebung. Das System S 0 ist ebenfalls ein Inertialsystem. Hängt die
Kraft nicht explizit von der Zeit ab, so ist die Gleichung sogar invariant gegenüber
einer Zeitverschiebung.
Parallelverschiebung der Koordinatenachsen
Eine Verschiebung des Koordinatenursprungs
0
r = r − d0 ,
d0 =
3
X
d0i ei ,
(3.4)
i=1
um einen konstanten Vektor d0 ist eine Galileitransformation. In beiden Systemen
können die gleichen Basisvektoren ei gewählt werden, so daß die Achsen von S und
S 0 parallel sind. Man nennt dies eine Translation.
Abbildung 3.1: Verschiebung des Koordinatenursprungs um einen konstanten Vektor d.
Die Koordinatenachsen von S und S 0 sind
parallel.
Wegen dr = dr 0 folgt die Forminvarianz der Bewegungsgleichung,
d2 r 0
dr 0
0
0
0
F = F r + d0 ,
,t .
m 2 =F ;
dt
dt
(3.5)
Invarianz gegenüber Translationen liegt vor, falls die Kraft nur von den Relativvektoren ri − rj , der Massenpunkte abhängt.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
29
Gleichförmige Bewegung
Eine Koordinatentransformation zu einem mit der konstanten Geschwindigkeit v0
bewegten Koordinatenssystem
r 0 = r − v0 t,
v 0 = v − v0 ,
(3.6)
ist eine Galileitransformation. Wegen dv = dv 0 ist die Bewegungsgleichung forminvariant,
dv 0
dr 0
0
0
0
m
= F ; F = F r + v 0 t,
+ v0, t .
(3.7)
dt
dt
Invarianz liegt vor, falls die Kraft nur von den Relativvektoren ri − rj und den
Relativgeschwindigkeiten vi − vj der Massenpunkte abhängt.
Orthogonale Transformationen
Sei αij eine orthogonale Transformation der Koordinaten
x0i =
X
αij xj ,
−1
αij
= αji .
(3.8)
j
Orthogonale Transformationen werden im folgenden Abschnitt behandelt. Sie stellen ebenfalls Galileitransformationen dar. Die Forminvarianz der Bewegungsgleichung gegenüber orthogonalen Transformationen beruht auf dem Vektorcharakter
der Gleichung, d.h. die linke und die rechte Seite der Gleichung transformieren sich
in gleicher Weise
!
X
X
X
−1 0
−1
mẍ0i = Fi0 ,
Fi0 =
αij Fj
αij
xj ,
αij
x˙j , t .
(3.9)
j
i
i
Allgemeine Galileitransformation
Die Galileitransformationen bilden eine Gruppe mit insgesamt 10 Parametern:
t0 ,v0i ,d0i und die 3 unabhängigen Parameter einer orthogonalen Transformation.
Die allgemeine Transformation lautet
X
x0i =
αij xj − v0i t − d0i
(3.10)
t0 = t − t0 .
(3.11)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
3.1.3
30
Orthogonale Transformationen
Orthogonale Transformationen sind Transformationen einer Orthonormalbasis.
Definition 3.3 Eine Orthonormalbasis im dreidimensionalen Ortsraum ist eine
Basis von Einheitsvektoren {ei }, mit i = 1, 2, 3, die jeweils paarweise senkrecht
zueinander stehen:
1 ;
i=j
ei ·ej = δij ,
δij =
.
(3.12)
0 ;
i 6= j
Man bezeichnet δij als das Kroneckersymbol. Es stellt die Elemente der Einheitsmatrix dar.
Definition 3.4 Die Einheitsvektoren ei bilden ein Rechtssystem, falls
ei ·(ej ×ek ) = ijk ,
(3.13)
mit
ijk

 +1 ;
−1 ;
=

0 ;
i, j, k zyklische Vertauschung von 1, 2, 3
i, j, k antizyklische Vertauschung von 1, 2, 3 .
sonst
(3.14)
Man bezeichnet ijk als den Levi-Civita-Tensor oder den Epsilontensor.
Basistransformation
Wir untersuchen nun die Eigenschaften von Transformationen, die eine gegebene
Orthonormalbasis {ei } in eine neue Orthonormalbasis {e0i } überführen. Jeder Basisvektor der neuen Basis kann als Linearkombination der Basisvektoren der alten
Basis geschrieben werden,
e0i
=
3
X
αij ej ,
αij = e0i ·ej = cos(ϕij ).
(3.15)
j=1
Die Entwicklungskoeffizienten αij werden als Richtungskosinus bezeichnet, da sie
durch den Kosinus des Winkels ϕij zwischen der i-ten neuen und der j-ten alten
Richtung dargestellt werden.
Als Beispiel betrachten wir eine Drehung des Koordinatensystems um die x3 -Achse
um den Winkel ϕ. Nach Abb.(3.2) gilt hier
α11 = α22 = cos ϕ,
α12 = cos(ϕ − π/2) = sin ϕ,
α21 = cos(ϕ + π/2) = − sin ϕ,
α33 = 1,
α13 = α23 = α31 = α32 = 0.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
31
Als Matrix geschrieben erhält man


cos ϕ sin ϕ 0
α =  − sin ϕ cos ϕ 0  .
0
0
1
(3.16)
Abbildung 3.2: Drehung des
kartesischen Koordinatensystems um den Winkel ϕ.
Wie man an diesem Beispiel bereits erkennt sind die αij nicht unabhängig voneinander. Allgemein muß man an die Transformation (3.15) noch die Orthonormalitätsbedingungen für die neue Basis stellen,
X
X
e0i ·e0j =
αin αjm en ·em =
αin αjn = δij .
(3.17)
n,m
n
Die Indizes i und j stellen hier die Indizes der Zeilen der Matrix α dar. Die Orthonormalität der neuen Basis wird also durch die Orthonormalität der Zeilen der
Transformationsmatrix ausgedrückt. Dies sind insgesamt 6 Bedingungen an die 9
Matrixelemente αij . Eine allgemeine orthogonale Transformation wird durch die
verbleibenden 3 freien Parameter festgelegt. Definiert man die transponierte Matrix
T
αT mit den Elementen αij
= αji und die Einheitsmatrix I mit den Elementen δij ,
so lassen sich die Orthonormalitätsbedingungen in Matrixschreibweise zusammenfassen,
(3.18)
α·αT = I.
Drehungen und Spiegelungen
Aus der Orthonormalitätsbedingung folgt, daß die Determinante einer orthogonalen
Transformation den Betrag eins besitzt:
2
(3.19)
det α·αT = det α det αT = det α = 1.
Das Vorzeichen der Determinante,
det α = ±1,
(3.20)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
32
bestimmt, ob das neue Basissystem ein Rechtssystem (+1)oder ein Linkssystem (−1)
darstellt, denn es gilt
X
X
e01 ·(e02 ×e3 )0 =
α1i α2j α3k ei ·(ej ×ek ) =
(3.21)
ijk α1i α2j α3k = det α .
i,j,k
i,j,k
Durch eine stetige Variation der Parameter einer orthogonalen Transformation kann
sich das Vorzeichen der Determinante nicht sprunghaft ändern. Drehungen eines
Rechtssystems werden daher durch orthogonale Transformationen mit der Determinante +1 dargestellt. Beim Übergang von einem Rechtssytem zu einem Linkssystem
muß zusätzlich eine Koordinatenachse gespiegelt werden. Raumspiegelungen stellen
keine exakte Symmetrie der physikalischen Gesetze dar. Diese Symmetrie wird durch
die schwache Wechselwirkung gebrochen.
Umkehrtransformation
Da die Determinante einer orthogonalen Transformation immer ungleich Null ist,
existiert die Umkehrtransformation. Durch die Entwicklung eines alten Basisvektors
nach der neuen Basis erhält man,
ei =
3
X
−1 0
αij
ej ,
−1
αij
= ei ·e0j = αji .
(3.22)
j=1
Die Orthonormalitätsbedingungen für die alte Basis lauten entsprechend,
ei ·ej =
X
−1 −1 0
αin
αjm en ·e0m =
X
αni αnj = δij .
(3.23)
n
n,m
Die Indizes i und j stellen hier die Indizes der Spalten der Matrix α dar. Die Orthonormalität der alten Basis wird also durch die Orthonormalität der Spalten der
Transformationsmatrix ausgedrückt. Damit besitzen orthogonale Transformationen
die Eigenschaften
α·αT = αT ·α = I,
α−1 = αT ,
det α = ±1 .
(3.24)
Transformation von Vektoren und Skalaren
Zur Beschreibung der Drehung von Vektoren unterscheidet man zwei Möglichkeiten.
Bei einer passiven Drehung wird die Basis bei festgehaltenen Vektoren gedreht.
Umgekehrt werden bei einer aktiven Drehung die Vektoren bei festgehaltener Basis
gedreht.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
33
Entwickelt man einen beliebigen Vektor V nach der alten und der neuen Basis einer
passiven Drehung, so gilt
X
X
V =
Vj ej =
Vj0 e0j ,
j
Vi0
=
j
e0i ·V
=
X
e0i ·ej Vj =
j
X
αij Vj .
(3.25)
j
Man bezeichnet Vi und Vi0 als Darstellungen des Vektors bezüglich der Basis S bzw.
S 0 . Diese Darstellungen können auch als Spaltenvektoren


 0 
V1
V1
(3.26)
V 0 =  V20 
V =  V2  ,
0
V2
V2
zusammengefaßt werden. Für diese Darstellungen gilt das Transformationsgesetz
Vi0 =
X
V 0 = α·V .
αij Vj ,
(3.27)
j
Bei einer aktiven Transformation bezeichnet umgekehrt V 0 die Darstellung des alten
Vektors und V die Darstellung des neuen Vektors. Demnach gilt hier die inverse
Transformation
X
T 0
Vi =
αij
.
(3.28)
Vj ,
V = αT ·V 0
j
Im folgenden werden Drehungen meist unter dem passiven Gesichtspunkt behandelt.
Aufgrund der Eigenschaften orthogonaler Transformationen bleiben Skalarprodukte
zwischen Vektoren invariant,
!
X
X
X X
Xi0 Yi0 =
αim αin Xm Xn =
αim αin Xm Xn
i
=
n,m
3.2
n,m
i,m,n
X
δmn Xm Xn =
X
i
Xm Ym .
m
Beschleunigte Bezugssysteme
In beschleunigten Bezugssystemen treten in den Bewegungsgleichungen Zusatzterme
auf, die als Trägheitskräfte bezeichnet werden. Die Form der Bewegungsgleichungen
im beschleunigten System muß durch eine explizite Koordinatentransformation bestimmt werden.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
3.2.1
34
Translatorisch beschleunigtes Bezugssystem
Der Ursprung von S 0 werde relativ zum Ursprung von S um einen zeitabhängigen
Vektor d(t) verschoben. Ein Punkt P befinde sich in S am Ort r, in S 0 am Ort r 0 .
Dann gelten die Transformationsgesetze:
r 0 = r − d(t)
v 0 = v − ḋ(t)
v̇ 0 = v̇ − d̈(t)
(3.29)
(3.30)
(3.31)
Die Bewegungsgleichung in S 0 lautet:
mv̇ 0 = F − md̈
(3.32)
In S 0 tritt eine Trägheitskraft −md̈ auf, die entgegen der Richtung der Beschleunigung wirkt.
Bemerkungen:
(i)
(ii)
(iii)
Auf ein Teilchen, welches in S 0 ruht (v 0 = 0) wirkt in S die Kraft F = md̈.
Auf ein Teilchen, welches in S ruht (v = 0) wirkt in S 0 die Kraft F = −md̈.
Einsteinsches Äquivalenzprinzip: Ein homogenes Schwerefeld mit der konstanten Schwerkraft G = mS g ist äquivalent zu einem beschleunigten Bezugssystem mit der Trägheitskraft F T = −mt a. Hierbei wird vorausgesetzt,
daß die schwere Masse mS für alle Körper gleich der trägen Masse mt ist
und a = −g gesetzt wird. Man kann den Einfluß der Schwerkraft (lokal)
eliminieren, indem man sich in ein frei fallendes Bezugssystem begibt.
Abbildung 3.3: Beschleunigtes Bezugssystem
S 0 mit Beschleunigung a relativ zum Inertialsystem S. Eine in S 0 ruhende Masse m
erfährt eine der Beschleunigung entgegengerichtete Trägheitskraft −ma, die äquivalent
ist zu einer Schwerebeschleunigung g = −a.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
3.2.2
35
Rotierendes Bezugssystem
Ein rotierendes Bezugssystem werde durch eine zeitabhängige Orthonormalbasis
{e0i (t)} dargestellt, die sich gegenüber der festen Orthonormalbasis {ei } eines Inertialsystems dreht. Zu jedem Zeitpunkt ist die Transformation der Basis eine orthonormale Transformation, d.h. es gilt
X
e0i (t) =
αij (t)ej .
(3.33)
j
Zur Berechnung der Geschwindigkeit und der Beschleunigung eines Massenpunktes
im rotierenden System benötigt man die zeitliche Änderung der Basisvektoren. Diese
Änderung kann zu jedem Zeitpunkt durch eine Drehachse und eine Winkelgeschwindigkeit angegeben werden. Wir zeigen dies zuerst am Beispiel einer Rotation um die
x3 -Achse und dann allgemein für beliebige Drehungen.
Drehung um die x3 -Achse
Eine Rotation um die x3 -Achse mit einer Winkelgeschwindigkeit ω = ϕ̇ wird durch
eine orthogonale Transformation der Form (3.16) mit einem zeitabhängigen Drehwinkel ϕ(t) dargestellt. Differenziert man (3.16) nach der Zeit, so folgt in Matrixschreibweise
 0 



e1
cos ϕ(t) sin ϕ(t) 0
e1
d 
d  0 
e2
− sin ϕ(t) cos ϕ(t) 0   e2 
=
dt
dt
0
e3
0
0
1
e3



− sin ϕ(t) cos ϕ(t) 0
e1
= ω  − cos ϕ(t) − sin ϕ(t) 0   e2 
0
0
0
e3

 0 
0 1 0
e1



e02  .
= ω −1 0 0
0 0 0
e03
Definiert man mit Hilfe der Drehachse e3 und der Winkelgeschindigkeit ω eine vektorielle Winkelgeschwindigkeit ω = ωe3 , so folgt
ė01 = ω×e01
ė02 = ω×e02
ė03 = ω×e03
.
(3.34)
Die spezielle Wahl des Koordinatensystems spielt hierbei keine Rolle, so daß dieses
Ergebnis auch auf allgemeine Drehungen angewandt werden kann.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
36
Infinitesimale Rotationen
Die Änderung der rotierenden Basis in einem infinitesimalen Zeitintervall dt kann
durch eine infinitesimale orthogonale Transformation dargestellt werden. Dies ist
eine orthogonale Transformation, die nur in linearer Ordnung in dt von der Einheitsmatrix abweicht,
α = I + Ωdt .
(3.35)
ΩT = −Ω .
(3.36)
Die Matrix Ω ist antisymmetrisch,
Letzteres folgt aus der Orthonormalitätsbedingung
α · αT − I = (I + Ωdt) · (I + ΩT dt) − I = Ω + ΩT dt = 0 .
(3.37)
Eine antisymmetrische 3 × 3 Matrix besitzt nur drei unabhängige Elemente. Diese
können den drei Elementen eines Vektors ω auf folgende Weise zugeordnet werden,
Ωij = (ei ×ej )·ω =
X
ijk ωk
.
(3.38)
k
Die zugehörige Matrix besitzt die Form


0
ω3 −ω2
0
ω1 
Ω =  −ω3
ω2 −ω1
0
.
(3.39)
Unter Verwendung von (3.35) und (3.38) erhält man für die Änderung der Basisvektoren,
X
e0i (t + dt) =
(δij + Ωij dt) e0j (t)
j
ė0i =
X
=
X
j
Ωij e0j =
X
ω·(e0i ×e0j )e0j
j
(ω×e0i )·e0j e0j
= ω×e0i .
j
Damit ist gezeigt, daß (3.34) auch für beliebige infinitesimale Rotationen gilt.
Schreibt man ω = ωn, so definiert der Betrag ω die Winkelgeschwindigkeit und
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
37
der Einheitsvektor n die Richtung der Drehachse. Im allgemeinen ist der Vektor
ω(t) zeitabhängig.
Drehungen mit konstanter Winkelgeschwindigkeit und Drehachse können in der folgenden Weise veranschaulicht werden. Ein beliebiger Vektor V , der im rotierenden
System ruht, besitzt in S 0 die Darstellung
X
V =
Vi0 e0i (t)
i
mit zeitunabhängigen Komponenten Vi0 . Er ändert sich daher genauso wie die Basisvektoren
X
X
V̇ =
Vi0 ė0i =
Vi0 ω×e0i = ω × V .
i
i
Der Vektor dreht sich in S auf einem Kegelmantel um die Drehachse. Die Komponente des Vektors entlang der Drehachse bleibt fest. Die Komponente senkrecht zur
Drehachse rotiert in der Ebene senkrecht zur Drehachse.
Abbildung 3.4: Drehung eines Vektors V um
die Drehachse ω.
Bewegung im rotierenden System
Der Ortsvektor eines Massenpunktes sei r im Inertialsystem S und r 0 im rotierenden
System S 0 . Da es sich um denselben Vektor handelt gilt
r 0 = r.
(3.40)
Der Ortsvektor besitzt jedoch in beiden Systemen unterschiedliche Koordinatendarstellungen
X
X
r=
xi (t)ei (t) ,
r0 =
x0i (t)e0i (t) .
(3.41)
i
i
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
38
Die Geschwindigkeit des Massenpunktes wird in beiden Systemen unterschiedlich
definiert. Ein Beobachter im rotierenden System bestimmt die Geschwindigkeit des
Massenpunktes anhand der Koordinatendarstellung in S 0 ,
X
v0 =
ẋ0i e0i .
(3.42)
i
Die Geschwindigkeit des Massenpunktes in S ist aber
X
X
v = ṙ = ṙ 0 =
ẋ0i e0i + x0i ė0i =
ẋ0i e0i + ω×x0i e0i .
i
(3.43)
i
Damit ergibt sich für die Geschwindigkeit das Transformationsgesetz
v = v0 + ω × r0
.
(3.44)
Der Unterschied der Geschwindigkeiten ist die Rotationsgeschwindigkeit des Systems. Dieses Transformationsgesetz gilt nicht nur für die Zeitableitung des Ortsvektors, sondern genauso für die Zeitableitung eines beliebigen Vektors. Daher kann
man es auch als Transformationsgesetz für die Zeitableitung auffassen,
d0
d
=
+ ω×,
dt
dt
(3.45)
die links auf die Darstellung im Inertialsystem S und rechts auf die Darstellung im
rotierenden System S’ wirkt.
Das Transformationsgesetz für die Beschleunigungen erhält man durch zweimalige
Anwendung von (3.45),
0
0
d
d
d2
r =
+ ω×
+ ω× r 0
dt2
dt
dt
dω 0 0
= a0 + 2ω × v 0 + ω×(ω × r 0 ) +
×r .
(3.46)
dt
Die Beschleunigung im rotierenden System wird hierbei definiert durch
X
a0 =
ẍ0i e0i .
i
Mit dem Transformationsgesetz für die Beschleunigungen erhält man für die Newtonsche Bewegungsgleichung im rotierenden System
mr̈ 0 = F + F C + F Z + F A .
(3.47)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
39
Hierbei treten die folgenden Scheinkräfte auf
F C = −2mω × v 0
F Z = −mω×(ω × r 0 )
F A = −mω̇×r 0 .
Man bezeichnet F C als Corioliskraft, F Z als Zentrifugalkraft. Bei einer beschleunigten Drehbewegung wirkt noch die Kraft F A .
3.2.3
Bewegungsgleichung in Polarkoordinaten
Polarkoordinaten sind krummlinig orthogonale Koordinaten. Dies bedeutet, daß die
Tangenteneinheitsvektoren an die Koordinatenlinien in jedem Punkt ein lokales i.a.
gedrehtes Orthonormalsystem bilden. Die lokale Basis am Ort eines bewegten Massenpunktes bildet somit ein rotierendes Bezugssystem, in dem die Bewegungsgleichung die Form (3.47) besitzt.
Abbildung 3.5: Koordinatennetz der Polarkoordinaten (r, ϕ) mit lokaler Basis {er , eϕ }.
Die Polarkoordinaten (r, ϕ) eines Punktes (x, y) werden durch die Koordinatentransformation
x = r cos ϕ,
y = r sin ϕ
(3.48)
definiert. Der Ortsvektors besitzt im kartesischen Basissystem die Form
r = r cos ϕ ex + r sin ϕ ey .
Seine Änderung in Richtung der Koordinatenlinien r und ϕ bestimmt die Tangenteneinheitsvektoren des lokalen Basissystems
∂r
= cos ϕ ex + sin ϕ ey
∂r
∂r
=
= − sin ϕ ex + cos ϕ ey .
r∂ϕ
er =
eϕ
(3.49)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
40
Bei einer Bewegung des Massenpunktes dreht sich diese lokale Basis mit der Winkelgeschwindigkeit ω = ϕ̇ um die z-Achse.
Im lokalen Basissystem erhält man für den Ortsvektor (3.41), die Geschwindigkeit
(3.44) und die Beschleunigung (3.47) jeweils
r = r er
v = ṙ er + ωr ez ×er = ṙ er + ωr eϕ .
a = r̈ er + 2ω ṙ ez ×er + ω 2 r ez ×(ez ×er ) + ω̇r ez ×er
= r̈ er + 2ω ṙ eϕ − ω 2 r er + ω̇r eϕ .
(3.50)
Damit lauten die beiden Komponenten der Bewegungsgleichung in Polarkoordinaten
mr̈ = Fr + mω 2 r,
mrϕ̈ = Fϕ − 2mω ṙ ,
3.2.4
Fr = F · er ,
Fϕ = F · eϕ .
(3.51)
Begleitendes Dreibein
Eine Raumkurve definiert in jedem Punkt der Kurve ein spezielles Orthonormalsystem von Basisvektoren, das man als das begleitende Dreibein bezeichnet. Das
Dreibein ändert seine Richtung entlang der Kurve, so daß man es hier physikalisch mit einem speziellen rotierenden Bezugssystem zu tun hat. Die Änderungen
der Basisvektoren entlang der Kurve definieren die lokalen Kurveneigenschaften der
Krümmung und Torsion. Die Komponenten der Beschleunigung definieren die lokale
Tangential- und Zentripetalbeschleunigung.
Interessiert man sich für die geometrischen Eigenschaften der Bahnkurve, so ist es
besser die Bogenlänge s anstelle der Zeit t als Kurvenparameter zu verwenden. Aus
dem skalaren Weg-Differential
√
ds = dr·dr
(3.52)
erhält man für eine Kurve mit der Parameterdarstellung r = r(t) die Bogenlänge
s(t) mit dem Anfangswert s(0) = 0 durch
Zt
s=
dt0
Zt
√
0
ṙ·ṙ =
dt0 v(t0 )
(3.53)
0
Als ersten Basisvektor des Dreibeins definiert man den Tangenten-Einheitsvektor
t=
dr
ṙ
= .
ds
v
Es ist ein Einheitsvektor, der in Richtung der Geschwindigkeit gerichtet ist.
(3.54)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
41
Ändert der Tangentenvektor t seine Richtung entlang der Kurve, so bildet die Änderung dt zusammen mit t die lokale Kurvenebene. Da t ein Einheitsvektor ist, gilt
1 dt2
dt
t· =
= 0,
ds
2 ds
(3.55)
d.h. dt steht senkrecht auf t. Als zweiten Einheitsvektor des Dreibeins definiert man
daher die Hauptnormale n durch
dt
= κn
ds
(3.56)
Der Betrag der Änderung wird als die Krümmung κ bezeichnet. Der Kehrwert der
Krümmung ist der Krümmungsradius R = 1/κ.
Der dritte Einheitsvektor des Dreibeins, die Binormale b, steht senkrecht auf der
lokalen Kurvenebene und bildet mit t und n ein Rechtssystem,
b = t×n,
t = n×b,
n = b×t.
(3.57)
Abbildung 3.6: Begleitendes Zweibein einer
ebenen Kurve.
Wir bestimmen nun noch die Änderungen der Binormalen und der Hauptnormale.
Die Änderung der Binormalen steht senkrecht auf b, da es sich wie in (3.55) um
einen Einheitsvektor handelt. Andererseits steht die Änderung auch senkrecht auf
t,
db
dt
dn
dn
= ×n + t×
= t× .
ds
ds
ds
ds
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
42
Der erste Beitrag verschwindet wegen (3.56). Daher besitzt die Änderung der Binormalen nur eine Komponente in Richtung der Hauptnormalen
db
= −τ n.
ds
(3.58)
Die Proportionalitätskonstante τ heißt die Torsion der Raumkurve, 1/τ ist der Windungsradius.
Die Änderung der Hauptnormalen kann durch die Differentiation von (3.57) ebenfalls
bestimmt werden,
db
dt
dn
=
×t + b×
ds
ds
ds
= −τ n×t + κb×n
= τ b − κt.
(3.59)
Die Änderungen der Basisvektoren des begleitenden Dreibeins werden als Frenetsche
Ableitungen bezeichnet:
db
= −τ n,
ds
dt
= κn,
ds
dn
= τ b − κt
ds
(3.60)
Wir bestimmen noch die Komponenten der Beschleunigung in diesem Basissystem. Die Geschwindigkeit besitzt nur eine Komponente entlang des TangentenEinheitsvektors,
v = vt
(3.61)
Unter Verwendung der Produktregel und der Frenetschen Ableitungen folgt für die
Beschleunigung
a = v̇t + v ṫ
dt
ds
= at t + aZ n,
= v̇t + v 2
(3.62)
mit
at = v̇ =
d2 s
,
dt2
aZ = v 2 κ =
v2
.
R
Man nennt at die Tangentialbeschleunigung und aZ die Zentripetalbeschleunigung.
Kapitel 4
Newtonsche Mechanik
Die Newtonschen Grundgesetze der Mechanik bestimmen die Bewegung von
Körpern unter der Einwirkung von Kräften. Sie wurden von Newton in der Form
von drei Grundgesetzen oder Axiomen formuliert. Sein grundlegendes Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (Mathematische Prinzipien der Naturlehre)
erschien im Jahr 1687.
Als Folgerungen ergeben sich aus den Newtonschen Grundgesetzen die Erhaltungssätze für den Impuls, den Drehimpuls und die Energie. Als Anwendungen der
Newtonschen Mechanik behandeln wir Bewegungen im Zentralpotential, das KeplerProblem, die Coulomb-Streuung und das Zweikörperproblem.
4.1
Newtonsche Gesetze
Die Newtonschen Gesetze werden im folgenden nach Ernst Mach zitiert und dann
formelmäßig angegeben.
Erstes Gesetz:
Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder gleichförmigen geradlinigen
Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand
zu ändern.
F =0
=⇒
p = mv = const.
(4.1)
Das erste Newtonsche Gesetz ist eine Neuformulierung des Galileischen Trägheitsgesetzes. Galilei hatte bereits die gleichförmige Bewegung auf einer horizontalen
Ebene (als Grenzfall der schiefen Ebene) beobachtet und dabei das Trägheitsgesetz
43
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
44
entdeckt. Dies widersprach der jahrhundertealten Vorstellung, daß Bewegung von
selbst zur Ruhe kommt. Bei Newton bekommt das Trägheitsgesetz eine universelle
Bedeutung.
Das Trägheitsgesetz gilt nur in ausgezeichneten Bezugssystemen, nämlich den
Inertialsystemen. Man kann es daher auch als eine Definition der Bezugssysteme
ansehen, in denen die Newtonschen Gesetze gelten. Damit bekommt es eine vom
zweiten Newtonschen Gesetz unabhängige Bedeutung.
Zweites Gesetz:
Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional
und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft
wirkt.
dp
=F
dt
(4.2)
Mit Änderung der Bewegung ist nach heutiger Ausdrucksweise Änderung des Impulses gemeint. Die Kraft ist eine gerichtete Größe, also ein Vektor. Sie ändert im
allgemeinen Betrag und Richtung des Impulses. Bei konstanter Masse gilt das Beschleunigungsgesetz
d2 r
(4.3)
m 2 =F .
dt
Die Beschleunigung ist also umgekehrt proportional zur Masse.
Die Kraft hängt von der Wechselwirkung ab. Neben den Bewegungsgesetzen wurde
von Newton auch das Gesetz für die Gravitationskraft eingeführt. Das Newtonsche
Gravitationsgesetz führt alle Schwerkräfte auf eine Anziehungskraft zwischen Massen zurück. Die Kraft, die von einer Masse m2 am Ort r 2 auf eine Masse m1 am Ort
r 1 ausgeübt wird ist,
m1 m2 r 1 − r 2
F 12 = −γ
.
(4.4)
2
r12
r12
Hierbei ist r12 = kr 1 − r 2 k der Abstand der Massenpunkte und γ die Gravitationskonstante.
In der Elektrostatik gilt für die Kraftwirkung zwischen zwei Ladungen q1 und q2 das
analoge Coulombgesetz,
q1 q2 r 1 − r 2
F 12 = k 2
.
(4.5)
r12
r12
Gleichnamige Ladungen (q1 q2 > 0) stoßen sich ab, ungleichnamige (q1 q2 < 0) ziehen
sich an. Die Proportionalitätskonstante k ist vom Maßsystem abhängig. Im Gaußsystem gilt k = 1.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
45
Abbildung 4.1: Gravitationskraft zwischen zwei Massenpunkten. Die Kräfte
auf die beiden Massenpunkte sind betragsmäßig gleich aber entgegengesetzt
entlang der Verbindungslinie der Massen gerichtet.
In der Elektrodynamik wird die Kraft auf eine Ladung q durch das elektrische Feld
E(r) und das magnetische Feld B(r) am Ort r der Ladung bestimmt. Im Gaußsystem gilt
1
(4.6)
F = q(E + v × B).
c
Drittes Gesetz:
Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper
aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.
F 12 = −F 21 ,
r 1 ×F 12 = −r 2 ×F 21 .
(4.7)
Der Begriff Wirkung wurde hier sowohl als Kraft als auch als Drehmoment gedeutet.
Die Kräfte auf zwei Massenpunkte sind demnach einander entgegengesetzt gleich und
wirken entlang der Verbindungslinie der Massenpunkte,
(r 1 − r 2 )×F 12 = 0 .
(4.8)
In Kurzform wird dieses Gesetz als actio=reactio bezeichnet. Das bedeutet z.B., daß
ein fallender Stein die Erde genauso stark anzieht wie die Erde den fallenden Stein.
Aufgrund der größeren Masse ist aber die Beschleunigung der Erde sehr viel kleiner
als die des Steins.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
46
Abbildung 4.2: Links: Actio=reactio
gilt für die Kräfte aber nicht für die
Drehmomente. Rechts: Actio=reactio
gilt für die Kräfte und für die Drehmomente. Die Kräfte sind in diesem Fall
nicht nur entgegengesetzt gleich sondern auch entlang der Verbindungslinie
der Massen gerichtet.
Zusatz
Greifen an einem Körper mehrere Kräfte an, so addieren sich diese vektoriell,
X
F =
F i.
(4.9)
i
Dies wird als Superpositionsprinzip der Kräfte oder als Regel vom Parallelogramm
der Kräfte bezeichnet. Es wurde von Newton als Zusatz zu den Bewegungsgesetzen
angegeben.
4.2
Erhaltungssätze
Aus den Newtonschen Gesetzen folgen Erhaltungssätze für den Impuls, den Drehimpuls und die Energie. Wir betrachten zunächst einen Massenpunkt in einem äußeren
Kraftfeld.
4.2.1
Impulssatz
Die Änderung des Impulses wird durch das zweite Newtonsche Gesetz (4.2) bestimmt. Es wird daher auch als Impulssatz bezeichnet. Impulserhaltung gilt falls
auf den Massenpunkt keine Kraft einwirkt,
F =0
=⇒
p = mv = const .
(4.10)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
4.2.2
47
Drehimpulssatz
Ein Massenpunkt bewege sich gleichförmig auf einer Kreisbahn mit Radius r. Bei
einer Veränderung des Radius stellt man fest, daß der Drehimpuls L = rp erhalten
ist. Es liegt nahe, daß es sich bei dieser Erhaltungsgröße ebenfalls um einen Vektor
handelt. Da die Vektoren r und p ihre Richtung ändern, muß dieser Vektor senkrecht
auf der Bewegungsebene stehen. Man definiert allgemein für einen Massenpunkt am
Ort r mit Impuls p den Drehimpulsvektor
L = r×p.
(4.11)
Für eine Kreisbahn besitzt der Betrag von L den Maximalwert L = rp. Für eine
Gerade durch den Ursprung verschwindet der Drehimpuls.
Abbildung 4.3: Radiale Bewegung mit Drehimpuls L = 0 und Kreisbewegung mit Drehimpuls L = rp.
Der Drehimpuls hängt vom Bezugspunkt ab. Von einem beliebigen festen Bezugspunkt r 0 aus ist der Ortsvektor r 0 = r(t) − r 0 und der Drehimpuls
L0 = r 0 ×p = L − r 0 ×p.
Die zeitliche Änderung des Drehimpulses (4.11) ergibt nach der Produktregel
dL
= v × p + r × ṗ = r × F .
dt
Der erste Term verschwindet, da v parallel ist zu p = mv. Im zweiten Term wurde
die Bewegungsgleichung (4.2) eingesetzt. Damit lautet der Drehimpulssatz,
dL
= N,
dt
N = r × F.
(4.12)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
48
Hierbei bezeichnet N das Drehmoment der Kraft F am Ort r. Der Drehimpuls
ändert sich durch Einwirkung eines Drehmomentes.
Drehimpulserhaltungssatz: Wirkt auf den Massenpunkt kein Drehmoment, so
gilt
⇒
N =0
L = mr×v = const.
(4.13)
Aufgrund der Drehimpulserhaltung verläuft die Bewegung entweder entlang einer
Ursprungsgeraden
L = 0,
vkr
oder in einer Ebene senkrecht zum Drehimpulsvektor
L 6= 0,
v · L = r · L = 0.
Die Bahnebene wird hierbei durch die beiden zu L senkrechten Vektoren r und v
aufgespannt.
Flächensatz: Eine geometrische Deutung der Drehimpulserhaltung gibt der
Flächensatz. Der Ortsvektor zum Massenpunkt überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen.
Abbildung 4.4: Ist der Drehimpuls erhalten,
so werden vom Ortsvektor r in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstrichen.
Beweis: Im Zeitintervall dt bewegt sich der Massenpunkt um dr = vdt. Hierbei
überstreicht der Ortsvektor die Fläche
1
1
dS = |r×dr| =
Ldt.
2
2m
Bei konstantem Drehimpuls ist die Flächenänderungsrate dS/dt konstant.
(4.14)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
4.2.3
49
Energiesatz
Die kinetische Energie eines Massenpunktes mit der Masse m und der Geschwindigkeit v wird definiert durch
T =
1
mv 2 .
2
(4.15)
Dies ist eine Verallgemeinerung der Definition (2.3) für eindimensionale Bewegungen.
Die kinetische Energie ist richtungsunabhängig. Sie hängt nur vom Betragsquadrat
v 2 = v · v ab.
Für die zeitliche Änderung der kinetischen Energie erhält man mit Hilfe der Bewegungsgleichung (4.2)
dT
= mv · v̇ = F · v.
dt
Man bezeichnet diese Änderung als die von der Kraft verrichtete Leistung
P =F ·v .
(4.16)
Im Zeitintervall dt ändert sich der Ort des Massenpunktes um dr = vdt. Man
bezeichnet
dW = P dt = F ·dr .
(4.17)
als die von der Kraft F längs des vektoriellen Wegelementes dr geleistete Arbeit.
Nur die Kraftkomponente parallel zum Wegelement verrichtet Arbeit. Zum Beispiel
verrichtet die Lorentzkraft keine Arbeit, wenn sich eine Ladung q in einem Magnetfeld B mit der Geschwindigkeit v bewegt:
q
dW = F ·vdt = (v×B)·vdt = 0.
c
Bewegt sich der Massenpunkt zwischen den Zeitpunkten t0 und t1 von einem Anfangspunkt r 0 zu einem Endpunkt r 1 entlang einer Kurve γ, so erhält man für diesen
Weg den Energiesatz
Zt1
Z
T1 − T0 =
F ·dr =
γ
F (r(t), v(t), t)·v(t)dt .
(4.18)
t0
Die Änderung der kinetischen Energie ist gleich der gesamten von der Kraft auf
dem Weg verrichteten Arbeit. Im allgemeinen hängt die von einer Kraft F =
F (r(t), ṙ(t), t) verrichtete Arbeit vom Verlauf der Bahnkurve r(t) ab (Abb. 4.5).
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
50
Abbildung 4.5: Für jedes Wegelement dr verrichtet die Tangentialkomponente der
Kraft F die Arbeit dW = F ·dr (links). Die Gesamtarbeit, die zwischen einem
Anfangspunkt 1 und einem Endpunkt 2 verrichtet wird, hängt im allgemeinen vom
Weg ab (rechts). Für den Weg γ1 ist die Tangentialkomponente der Kraft immer
kleiner als für den Weg γ2 .
Energieerhaltung
Ein wichtiger Spezialfall liegt vor, wenn die Arbeit wegunabhängig ist, d.h. für alle
Wege zwischen zwei Endpunkten hängt die Arbeit nur von der Lage der Endpunkte ab. In diesem Fall gibt es einen Energieerhaltungssatz und die Kraft wird als
konservativ bezeichnet.
Ein Beispiel einer konservativen Kraft ist die Schwerkraft. Für einen beliebigen Weg
von der Höhe z0 auf die Höhe z1 verrichtet die Schwerkraft G = −mgez immer die
Arbeit
Zr 1
W =
Zz1
dz(−mg) = −mg(z1 − z0 ) = U (z0 ) − U (z1 ).
dr·G =
r0
z0
Hierbei ist U (z) = mgz die potentielle Energie, die nur von der Höhe des Körpers
abhängt.
Ist die Arbeit wegunabhängig, so kann man allgemein eine potentielle Energie
R
U (r) = − F ·dr
(4.19)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
51
definieren. Ohne Einschränkung kann man einen beliebigen Weg wählen und entlang dieses Weges mit der Bogenlänge als Kurvenparameter eine Stammfunktion
berechnen,
Z
dr
.
U (r) = − (F ·t) ds ,
t=
ds
Die Arbeit ist dann die Differenz der potentiellen Energien in den Endpunkten des
Weges,
r 1
Zr 1
(4.20)
W = F ·dr = −U (r) = U (r 0 ) − U (r 1 ) .
r
0
r0
Aus dem Energiesatz (4.18) folgt mit (4.20)
T1 + U (r 1 ) = T0 + U (r 0 ) = E.
Da der Endpunkt beliebig gewählt werden kann, bleibt die Gesamtenergie E bei
der Bewegung r = r(t) mit der Geschwindigkeit v = v(t) konstant und es gilt der
Energieerhaltungssatz
1
mv 2 + U (r) = E
2
(4.21)
Konservative Kräfte
Es stellt sich nun die Frage, welche Kräfte konservativ sind, d.h. ein Potential besitzen. Dazu nehmen wir an, daß ein Potential existiert und leiten daraus die allgemeine
Form des zugehörigen Kraftfeldes her.
Es existiere ein Potential U (r), so daß die Arbeit wegunabhängig ist und der Energiesatz (4.21) gilt. Dann erhält man durch Zeitableitung
dU
dT
+
= (F + ∇U )·v = 0 .
dt
dt
Hierbei bezeichnet
∇ = ex
(4.22)
∂
∂
∂
+ ey
+ ez
∂x
∂y
∂z
(4.23)
∂U
∂U
∂U
+ ey
+ ez
∂x
∂y
∂z
(4.24)
den Nabla-Operator und
∇U = ex
den Gradienten von U . Allgemein kann das Differential einer Funktion f (r) mit
Hilfe des Gradienten angegeben werden,
df =
∂f
∂f
∂f
dx +
dy +
dz = dr·∇f.
∂x
∂y
∂z
(4.25)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
52
Aus (4.22) folgt, daß der Vektor F + ∇U senkrecht auf der Geschwindigkeit v steht.
Mit einem beliebigen Vektor A gilt daher für konservative Kräfte
F = −∇U + v×A.
(4.26)
Insbesondere haben geschwindigkeitsunabhängige konservative Kräfte die einfache
Form
F = −∇U .
(4.27)
Ein notwendiges und hinreichendes Kriterium dafür, daß eine geschwindigkeitsunabhängige Kraft in einem zusammenhängenden Gebiet konservativ ist, lautet
∇ × F = 0.
(4.28)
Man bezeichnet das Kreuzprodukt von F mit Nabla als die Rotation von F . In
Komponenteschreibweise gilt,
(∇ × F )i =
X
jk
ijk
∂Fk
.
∂xj
Die Bedingung ist notwendig. Ist F konservativ, so folgt daraus notwendig (4.28).
Denn eine konservative ortsabhängige Kraft ist nach (4.27) aus einem Potential
ableitbar und die Rotation des Gradienten verschwindet:
(∇ × F )i = −
X
jk
ijk
X
X
∂2U
∂2U
∂2U
=−
ikj
=
ijk
= 0.
∂xj ∂xk
∂xk ∂xj
∂xj ∂xk
kj
jk
Umgekehrt kann man auch zeigen, daß die Bedingung (4.28) hinreichend dafür ist,
daß die Arbeit wegunabhängig ist. Dies folgt aus dem Stokeschen Satz, der aber erst
in der Vektoranalysis und in der Elektrostatik behandelt wird.
4.3
Systeme von Massenpunkten
Wir betrachten nun ein System von N Massenpunkten mit den Bewegungsgleichungen
mi r̈ i = F i ,
i = 1, 2, 3, · · · , N.
(4.29)
Für die Kraft auf den i-ten Massenpunkt gilt das Superpositionsprinzip der Kräfte,
Fi =
N
X
j=1,j6=i
F ij + F ei .
(4.30)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
53
Hierbei bezeichnet F ei eine externe Kraft auf den i-ten Massenpunkt und F ij die
Wechselwirkungskraft, die vom j-ten auf den i-ten Massenpunkt ausgeübt wird. Für
die Wechselwirkungskräfte gelte das actio=reactio Gesetz,
F ij = −F ji ,
4.3.1
r i ×F ij = −r j ×F ji .
(4.31)
Additive Bewegungsgrößen
Für Systeme von Massenpunkten definiert man eine Reihe von additiven Bewegungsgrößen,
M =
N
X
i=1
N
P
mi ,
Gesamtmasse
mi r i
i=1
,
M
N
X
P =
mi ṙ i ,
R =
L =
T =
i=1
N
X
i=1
N
X
i=1
4.3.2
(4.32)
Schwerpunkt ,
(4.33)
Gesamtimpuls
(4.34)
r i ×(mi ṙ i ),
1
mi ṙi2 ,
2
Gesamtdrehimpuls
(4.35)
Gesamte kinetische Energie
(4.36)
Impulssatz und Schwerpunkt
Der Schwerpunkt ist dadurch ausgezeichnet, daß seine Bewegung durch die Gesamtmasse und durch die Gesamtkraft auf die Massenverteilung,
N
X
Fi =
i=1
N
X
F ei = F e ,
(4.37)
i=1
bestimmt wird. Die Gesamtkraft hängt nur von den externen Kräften ab, da sich
die Wechselwirkungskräfte wegen des Gesetzes von actio=reactio zu Null addieren,
X
X
X
X
F ij =
F ij +
F ij =
F ij + F ji = 0.
i,j,i6=j
i,j,i<j
i,j,i>j
i,j,i<j
Für den Schwerpunkt gelten die Bewegungsgleichungen,
M Ṙ = P ,
Ṗ = M R̈ = F e .
(4.38)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
54
Die erste Gleichung ergibt sich aus der Definition des Schwerpunktes durch einmalige
Zeitableitung. Demnach bewegt sich der Schwerpunkt mit derselben Geschwindigkeit
wie ein Massenpunkt mit der Masse M und mit dem Impuls P . Die zweite Gleichung
ist der Impulssatz des Gesamtsystems.
Ändert sich die externe Kraft nur wenig über die Massenverteilung, so kann sie
näherungsweise im Schwerpunkt ausgewertet werden,
e
F =
N
X
F ei (r i )
≈
i=1
N
X
F ei (R) = F e (R).
i=1
In diesem Fall ist die Schwerpunktsbewegung unabhängig von der Bewegung der
einzelnen Massenpunkte und kann tatsächlich durch einen einzigen Massenpunkt mit
der Gesamtmasse M ersetzt werden. Unter dieser Voraussetzung ist die Idealisierung
ausgedehnter Körper als Massenpunkte gerechtfertigt.
Gibt es keine äußeren Kräfte, so bezeichnet man das System als abgeschlossen. Für
ein abgeschlossenes System ist der Gesamtimpuls erhalten. Der Schwerpunkt ist
dann entweder in Ruhe oder er bewegt sich gleichförmig,
F e = 0 ⇒ P = P 0,
R = R0 +
1
P t.
M
(4.39)
Die Bewegung der Massenpunkte relativ zum Schwerpunkt wird durch die Relativvektoren
r 0i = r i − R
(4.40)
beschrieben. Die Relativvektoren sind die Ortsvektoren der Massenpunkte in einem
Bezugssystem S 0 , dessen Ursprung im Schwerpunkt liegt. Daher verschwinden der
Schwerpunkt und der Gesamtimpuls in S’
0
MR =
P0 =
N
X
i=1
N
X
i=1
mi r 0i
=
mi ṙ 0i =
N
X
i=1
N
X
mi (r i − R) = M (R − R) = 0.
mi (ṙ i − Ṙ) = P − M Ṙ = 0.
(4.41)
i=1
Der Drehimpuls L’ in S’ ist der Gesamtdrehimpuls um den Schwerpunkt. Er unterscheidet sich vom Drehimpuls L in S durch den Drehimpuls des mit dem Gesamtimpuls P bewegten Schwerpunktes,
L = L0 + R×P .
(4.42)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
55
Dieses Transformationsgesetz folgt mit (4.41) aus,
L =
=
N
X
i=1
N
X
r i ×(mi ṙ i ) =
N
X
r 0i ×(mi ṙ 0 i ) +
(r 0i + R)×(mi ṙ i )
i=1
N
X
mi r 0i ×(Ṙ) + R × P
i=1
i=1
0
= L + R × P.
Für die kinetische Energie T erhält man eine entsprechende Zerlegung,
1
T = T 0 + M Ṙ2 ,
2
(4.43)
in die kinetische Energie T ’ und die kinetische Energie des mit der Gesamtmasse
bewegten Schwerpunktes. Dies folgt aus
T =
=
N
X
1
i=1
N
X
i=1
2
mi (ṙ 0i + Ṙ)2
1
mi (ṙi02 + 2ṙ 0i ·Ṙ + Ṙ2 )
2
1
= T 0 + M Ṙ2 .
2
4.3.3
Drehimpulssatz
Für ein System von Massenpunkten lautet der Drehimpulssatz
L̇ = N e .
(4.44)
Hierbei bezeichnet L den Gesamtdrehimpuls und N e das Gesamtdrehmoment der
externen Kräfte,
N
X
Ne =
r i ×F ei .
i=1
Beweis: Zur Herleitung von (4.44) verwenden wir den Drehimpulssatz (4.12) für
den i-ten Massenpunkt und erhalten durch Summation über die Massenpunkte
L̇ =
N
X
i=1
L̇i =
N
X
i=1
r i ×F i .
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
56
Die Drehmomente, die durch die Wechselwirkungskräfte ausgeübt werden, addieren
sich wegen des actio=reactio-Gesetzes zu Null,
X
X
X
X
r i ×F ij =
r i ×F ij +
r i ×F ij =
r i ×F ij + r j ×F ji = 0.
i,j,i<j
i,j,i6=j
i,j,i>j
i,j,i<j
Damit reduziert sich das Gesamtdrehmoment auf die Summe der Drehmomente der
externen Kräfte N e .
Wird auf das System kein externes Drehmoment ausgeübt, dann gilt der Drehimpulserhaltungssatz
Ne = 0
4.3.4
⇒
L = const.
(4.45)
Energiesatz
Für ein System von Massenpunkten sei die potentielle Energie
U=
N
X
i=1
Ui (r i ) +
1 X
Uij (rij ),
2 i,j,i6=j
rij = |r i − r j |,
Uij = Uji .
(4.46)
Die Potentiale Ui (r i ) entsprechen konservativen externen Kräften
∇ i = ∇ r =r i ,
F ei = −∇i Ui ,
die Potentiale Uij (rij ) konservativen Wechselwirkungskräften
F ij = −∇i Uij (rij ) = Fij (rij )
ri − rj
,
rij
mit
dUij (r)
r
,
∇r = .
dr
r
Da die Wechselwirkungspotentiale nur vom Abstand der Massenpunkte abhängen
und in den Indizes symmetrisch sind, erfüllen die zugehörigen Wechselwirkungskräfte
das actio=reactio-Gesetz (4.7). Der Faktor 1/2 in der potentiellen Energie (4.46)
beruht darauf, daß die Wechselwirkungspotentiale für jedes Teilchenpaar nur einmal
gezählt werden dürfen. Wegen der Symmetrie gegenüber einer Teilchenvertauschung
gilt für diese Wechselwirkungsenergie,
Fij (r) = −
1 X
Uij + Uji
2 i,j,i<j
i,j,i<j
!
X
1 X
1 X
=
Uij +
Uij =
Uij .
2 i,j,i<j
2 i,j,i6=j
i,j,j<i
UW =
X
Uij =
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
57
Mit der kinetischen Energie,
N
1X
T =
mi ṙi2 ,
2 i=1
lautet der Energieerhaltungssatz
T + U = E = const.
(4.47)
Beweis: Zum Beweis des Energieerhaltungssatzes ist zu zeigen, daß die Zeitableitung der Gesamtenergie E verschwindet, wenn die Bewegung der Massenpunkte
den Bewegungsgleichungen (4.29) genügt. Für die zeitliche Änderung der Wechselwirkungsenergie gilt
dUW
dt
d X
Uij (rij )
dt i,j,i<j
X
=
(∇i Uij ) ·ṙ i + (∇j Uij ) ·ṙ j
=
i,j,i<j
=
X
(∇i Uij ) ·ṙ i +
i,j,i<j
X
(∇i Uji ) ·ṙ i
i,j,j<i
!
=
X
(∇i Uij ) ·ṙ i = −
i,j,i6=j
X
X
i
j,j6=i
F ij
·ṙ i .
Dies ist gerade die zeitliche Abnahme der potentiellen Energie des Systems aufgrund
der von den Wechselwirkungskräften geleisteten Arbeit. Damit folgt für die zeitliche
Änderung der Gesamtenergie,
X
X
d
dUW
(T + U ) =
mi ṙ i ·r̈ i +
(∇i Ui ) ·ṙ i +
dt
dt
i
i
!
X
X
=
mi r̈ i − F ei −
F ij ·ṙ i = 0.
i
4.3.5
j,j6=i
Virialsatz
Der Virialsatz macht eine Aussage über den zeitlichen Mittelwert der kinetischen
Energie. In vielen Fällen kann man sogar angeben, wie sich die Energie im Zeitmittel
auf die kinetische und die potentielle Energie aufteilt.
Als Voraussetzung für den Virialsatz werde angenommen, daß die Bewegungsgleichung für den i-ten Massenpunkt die Form
ṗi = F i
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
58
besitzt und daß die Größe
G(t) =
X
pi (t)·r i (t)
i
für alle Zeiten beschränkt bleibt. Die letzte Annahme ist erfüllt wenn die Bewegung
in einem endlichen Raumgebiet lokalisiert ist und die Energie endlich bleibt. Dies ist
insbesondere bei allen beschränkten periodischen Bewegungen der Fall. Dann gilt
der Virialsatz
T =−
1X
F i ·r i
2 i
(4.48)
wobei
1
f = lim
τ →∞ τ
+τ
Z /2
f (t)dt
−τ /2
das Zeitmittel der Funktion f (t) bezeichnet.
Beweis: Der Beweis des Virialsatzes beruht auf der Identität
X
dG X
=
ṗi ·r i + pi ·ṙ i =
F i ·r i + 2T.
dt
i
i
Da G beschränkt ist, verschwindet das Zeitmittel der linken Seite:
G(τ /2) − G(−τ /2)
dG
= lim
= 0.
τ →∞
dt
τ
Aus dem Zeitmittel der rechten Seite ergibt sich dann (4.48).
Beispiele: Für einen harmonischen Oszillator mit der potentiellen Energie U =
f x2 /2 folgt aus dem Virialsatz die Gleichverteilung von kinetischer und potentieller
Energie,
1
T = − (−f x)x = U
2
Für ein Zentralpotential U = −α/r einer Zentralkraft F = −αr/r3 ist die mittlere
kinetische Energie betragsmäßig halb so groß wie die mittlere potentielle Energie,
1
1
T = − (−αr/r3 )·r = − U .
2
2
Für ein freies Teilchen (F = 0) ergibt der Virialsatz das offensichtlich unrichtige
Ergebnis T = 0. Hier ist die Voraussetzung des Satzes nicht erfüllt, daß die Bewegung
in einem endlichen Raumbereich verläuft.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
4.4
59
Zentralpotential
Wir betrachten nun die Bewegung eines Massenpunktes in einem Zentralfeld der
Form,
r
U = U (r),
F = −∇U = −U 0 (r) .
(4.49)
r
Die potentielle Energie hängt nur vom Abstand r vom Kraftzentrum ab. Die Äquipotentialflächen sind Kugelflächen. Der Gradient zeigt in Richtung der Flächennormalen. Die abgeleitete Zentralkraft ist daher in radialer Richtung gerichtet. Ein
Zentralfeld wird von einer Masse erzeugt, die so groß ist, daß sie als unbeweglich im
Ursprung des Koordinatensystems angenommen werden kann.
Erhaltungssätze
Die Bewegung eines Teilchens im Zentralpotential kann man aufgrund der Erhaltung
des Drehimpulses und der Energie auf eine eindimensionale Bewegung in einem
effektiven Potential zurückführen.
Eine Zentralkraft erzeugt kein Drehmoment, da sie parallel zum Ortsvektor gerichtet
ist,
N = r × F = (F (r)/r)r × r = 0.
Damit gilt der Drehimpulserhaltungssatz (4.13). Wie bereits gezeigt, verläuft die
Bahn in diesem Fall in einer Ebene senkrecht zum Drehimpulsvektor. In der Bahnebene beschreiben wir die Bewegung durch Polarkoordinaten (r(t), ϕ(t)).
Abbildung 4.6: In Polarkoordinaten(r, ϕ) ist die
Änderung des Ortsvektors dr = drer + rdϕeϕ .
Unter Verwendung der Darstellung (3.50) oder nach Abb.(4.6) erhält man in Polarkoordinaten
r = rer ,
v = ṙer + rϕ̇eϕ ,
r × v = r2 ϕ̇ez ,
v 2 = ṙ2 + r2 ϕ̇2 .
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
60
Damit lauten der Drehimpuls- und Energieerhaltungssatz
L = mr2 ϕ̇ = const,
1 2 1 2 2
E =
mṙ + mr ϕ̇ + U (r) = const.
2
2
(4.50)
(4.51)
Diese Erhaltungssätze bilden ein System von 2 gekoppelten Differentialgleichungen 1. Ordnung für die Funktionen r(t) und ϕ(t). Zur eindeutigen Festlegung einer
Lösung sind noch zwei Anfangsbedingungen
r(0) = r0 ,
ϕ(0) = ϕ0
(4.52)
erforderlich. Die Newtonsche Bewegungsgleichung für einen Massenpunkt stellt ein
System von 3 gekoppelten Differentialgleichungen 2.Ordnung dar. Die allgemeine
Lösung besitzt 6 Integrationskonstanten. 4 Integrationskonstanten werden durch
die Energie und die drei Komponenten des Drehimpulses bestimmt. Die restlichen
beiden Integrationskonstanten sind durch (4.52) festgelegt.
Integration der Bewegungsgleichungen
Eliminiert man ϕ̇ mit Hilfe der Beziehungen
ϕ̇ =
L
,
mr2
1 2 2
L2
mr ϕ̇ =
2
2mr2
(4.53)
so lautet der Energiesatz
1
E = mṙ2 + Uef f (r),
2
Uef f (r) = U (r) +
L2
.
2mr2
(4.54)
Man kann die Radialbewegung r = r(t) als eine eindimensionale Bewegung in einem
effektiven Potential Uef f (r) auffassen und entsprechend integrieren
r
Z r(t)
2
dr0
q
.
ṙ = ±
(E − Uef f ),
t=±
m
2
r0
(E − U )
m
ef f
Die Lösung t = t(r) bestimmt implizit die Radialbewegung r = r(t). Damit kann
die Winkelbewegung ϕ = ϕ(t) ebenfalls integriert werden,
Zt
ϕ(t) = ϕ0 +
0
L 0
dt .
mr2
(4.55)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
61
Die Bewegung r = r(t), ϕ = ϕ(t) stellt eine Parameterdarstellung der Bahnkurve
r = r(ϕ) mit dem Kurvenparameter t dar. Die Bahnkurve kann wegen
dϕ
ϕ̇
L
= =± p
2
dr
ṙ
r 2m(E − Uef f )
(4.56)
auch direkt durch das Integral
Z
r(t)
ϕ = ϕ0 ±
r0
r2
Ldr
p
,
2m(E − Uef f )
(4.57)
dargestellt werden. Die Umkehrung von ϕ = ϕ(r) ergibt r = r(ϕ).
Bahnkurven
Die Radialbwegung wird durch das effektive Potential Uef f (r) bestimmt. Das effektive Potential Uef f (r) ist die Summe aus dem Zentralpotential U (r) und einem
Potential Uz = L2 /2mr2 , das als Zentrifugalpotential bezeichnet wird. Abbildung
(4.7) zeigt das effektive Potential für die Potentiale U = αr2 und U = −α/r mit
α > 0. Die Radialbewegung ist auf die Bereiche mit E > Uef f eingeschränkt. Punkte,
in denen E = Uef f sind Umkehrpunkte der Radialbewegung. Falls die Bedingung
E > Uef f nur in einem endlichen Intervall rmin < r < rmax erfüllt ist, spricht man
von einer gebundenen Bahn.
Abbildung 4.7: Effektives Potential Uef f = U +L2 /2mr2 für U = αr2 und U = −α/r.
An den Umkehrpunkten der Radialbewegung gilt ṙ = 0 aber ϕ̇ 6= 0, nach (4.53).
Daher dreht sich der Ortsvektor an diesen Umkehrpunkten in der Bahnebene weiter.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
62
Bei einer ungebundenen Bewegung kommt die Bahn aus dem Unendlichen, nähert
sich dem Kraftzentrum bis auf einen minimalen Abstand r0 und entfernt sich dann
wieder ins Unendliche.
Abbildung 4.8: Bahnkurven einer
ungebundenen Bewegung in einem anziehenden (rechts) und einem abstoßenden (links) Zentralpotential. Die Bahn nähert sich
dem Zentrum bis zum minimalen
Abstand r0 .
Bei einer gebundenen Bahn verläuft die Radialbewegung zwischen zwei Umkehrpunkten rmin und rmax . Einem Umlauf im effektiven Potential von rmin nach rmax
und zurück nach rmin entspricht ein Winkelzuwachs
Z rmax
2Ldr
p
(4.58)
∆ϕ =
2
2m(E − Uef f )
rmin r
für den Umlauf des Teilchens um das Kraftzentrum. Die Bahn des Teilchens verläuft,
wie in Abb. (4.9) dargestellt innerhalb eines Kreisringes, wobei sich die Radien
zu zwei aufeinanderfolgenden Scheitelpunkten der Bahn am äußeren bzw. inneren
Rand des Ringes um den Winkel (4.58) drehen. Die Bahn ist geschlossen, falls für
ganzzahlige m und n die Bedingung
m∆ϕ = n2π
(4.59)
erfüllt wird. Dann schließt sich die Bahn nach m Umläufen im effektiven Potential
bzw. n Umläufen um das Kraftzentrum (Rosettenbahn). Ist ∆ϕ kein rationales Vielfaches von 2π, so ist die Bahn offen und erfüllt nach beliebig vielen Umläufen den
gesamten Kreisring. Man kann zeigen, daß sie jedem Punkt des Kreisringes beliebig
nahe kommt und bezeichnet solche Bahnen als ergodisch.
Newtonsche Bewegungsgleichung: Zum selben Ergebnis gelangt man auch
durch direkte Lösung der Newtonschen Bewegungsgleichung
mr̈ = m{(r̈ − rϕ̇2 )er + (rϕ̈ + 2ṙϕ̇)eϕ } = −U 0 (r)er
(4.60)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
63
Abbildung 4.9: Bahnkurve einer gebundenen Bewegung in einem Zentralpotential. Die
Bahn verläuft innerhalb des Kreisringes zwischen rmin und rmax . Die Teilstücke der Bahn
zwischen 2 Umkehrpunkten sind jeweils spiegelsymmetrisch bezüglich der vom Zentrum
zu den Umkehrpunkten gerichteten Radien
rmin bzw. rmax .
in der Bahnebene. Die Komponente der Bewegungsgleichung in Richtung eϕ ,
rϕ̈ + 2ṙϕ̇ =
1d 2 r ϕ̇ = 0
r dt
(4.61)
ergibt die Drehimpulserhaltung L = mr2 ϕ̇ = const. Damit kann die Radialkomponente der Bewegungsgleichung in der Form
mr̈ = −U 0 (r) + mr
L2
0
= −Uef
f (r)
2
4
mr
(4.62)
angegeben werden. Zusätzlich zur vorgegebenen Zentralkraft tritt eine Zentrifugalkraft auf, die immer radial nach außen gerichtet ist und aus dem Zentrifugalpotential abgeleitet werden kann. Der Energiesatz dieser eindimensionalen Bewegungsgleichung stimmt mit dem obigen Energiesatz für die Gesamtenergie des Teilchens
überein.
4.5
Kepler-Problem
Die Bestimmung der Bewegung eines Massenpunktes in einem Zentralfeld der Form
α
U (r) = − ,
r
F =−
α r
,
r2 r
α = const,
(4.63)
wird als das Kepler-Problem bezeichnet. Für α = γmM ist es auf die Planetenbewegung (Masse m) um die Sonne (Masse M ) anwendbar, wobei die Sonne als festes
Zentrum behandelt wird. Im Rahmen der Newtonschen Theorie können die Keplerschen Planetengesetze hergeleitet und durch das universelle Gravitationsgesetz
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
64
(4.63) begründet werden. Dies war einer der größten und überzeugensten Erfolge
der Newtonschen Mechanik.
Für α = q1 q1 erhält man das Coulomb-Gesetz der Elektrostatik. Es beschreibt zum
Beispiel die klassischen Elektronenbahnen in einem Atom oder die Streuung geladener Teilchen. Für α > 0 ist das Potential anziehend, für α < 0 abstoßend.
Keplersche Gesetze
1.) Die Planetenbahnen sind Ellipsen. Die Sonne befindet sich in einem Brennpunkt der Ellipse.
2.) Der von der Sonne zum Planeten gerichtete Vektor überstreicht in gleichen
Zeiten gleiche Flächen.
3.) Für 2 Planetenbahnen verhalten sich die Quadrate der Umlaufzeiten wie die
Kuben der großen Halbachsen.
Das zweite Keplersche Gesetz ist der Flächensatz (4.14), der allgemein aus der Drehimpulserhaltung folgt. Das erste und dritte Gesetz werden im folgenden aus der
Lösung des Kepler-Problems abgeleitet.
Effektives Potential
Abbildung 4.10: Effektives Potential für ein anziehendes 1/rPotential. Für negative Energien sind die Bahnen gebunden.
Die Radialbewegung verläuft zwischen den Umkehrpunkten rmin
und rmax . Für positive Energien existieren keine gebundenen
Bahnen. Ein einfallendes Teilchen wird am Kraftzentrum gestreut und entfernt sich danach
wieder beliebig weit.
Das effektive Potential
L2
α
+
(4.64)
r
2mr2
besitzt das in Abb.(4.10) dargestellte Verhalten. Für L 6= 0 existiert ein Minimum
bei
L2
1 mα2
r∗ =
,
U∗ = −
.
(4.65)
mα
2 L2
Uef f = −
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
65
Demnach gibt es gebundene Bahnen für negative Energien im Intervall
−
mα2
≤ E < 0.
2L2
(4.66)
Für positive Energien sind die Bahnen ungebunden.
Bahnkurven
Die Bahnkurve r = r(ϕ) wird durch das Integral
Z
L dr
q
ϕ=
r2 2m(E + αr ) −
(4.67)
L2
r2
bestimmt.
Es ist hilfreich mit Hilfe von (4.65) die Parameter p = r∗ und =
p
(U∗ − E)/U∗ einzuführen. Explizit lautet diese Definition
L2
,
p=
mα
r
=
2EL2
.
mα2
1+
(4.68)
Damit erhält man durch quadratische Ergänzung
α
L2
2m(E + ) − 2
r
r
m2 α2 2EL2 2p p2
=
+
− 2
L2
mα2
r
r
2
2
L
p
2
=
−
−
1
p2
r
"
2 #
L2 2
p/r − 1
=
1−
.
p2
Mit der Substitution
ξ=
p/r − 1
,
dξ = −
p 1
dr,
r2
der Integrationsvariablen folgt
Z
dξ
ϕ=− p
= arccos ξ + const.
1 − ξ2
Die hierbei auftretende Integrationskonstante kann Null gesetzt werden. Dies entspricht einer Drehung des Koordinatensystems, so daß der Wert ξ = 1 für ϕ = 0
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
66
angenommen wird. Löst man nach r auf, so erhält man die Bahnkurve:
r=
p
1 + cos ϕ
(4.69)
Sie beschreibt Kegelschnitte mit Parameter p und Exzentrizität . Für < 1 sind
dies Ellipsen, für > 1 Hyperbeln, für = 1 Parabeln. Eine Kreisbahn ( = 0)
ist ein Spezialfall einer Ellipse.
Ellipsenbahnen
Für im Intervall 0 < < 1 sind die Bahnkurven Ellipsen. Dieses Intervall entspricht dem Energieintervall (4.66) für gebundene Bahnen im effektiven Potential.
Der Grenzfall = 0 entspricht dabei der Kreisbahn im Minimum des effektiven
Potentials.
Nach Abbildung (4.11) und gemäß der Polargleichung (4.69) bestehen für die Parameter der Ellipse folgende Relationen,
2a = r1 + r2
p
rmax = r(π) =
,
p = r(π/2)
1−
1
p
1
1
p
a =
(rmin + rmax ) =
+
.
=
2
2 1+ 1−
1 − 2
1
p
1
1
p
∆ =
(rmax − rmin ) =
−
=
= a .
2
2 1− 1+
1 − 2
√
b2 + ∆2 = a2 ,
b = 1 − 2 a
rmin = r(0) =
p
,
1+
Daraus erhält man für die große Halbachse
a=
p
L2 mα2
α
=
=
2
2
1−
mα 2|E|L
2|E|
(4.70)
und für die kleine Halbachse
b=
√
r
1 − 2 a =
2|E|L2 α
L
=p
.
2
mα 2|E|
2m|E|
(4.71)
Der Halbparameter p ist eindeutig durch L bestimmt. Die große Halbachse a ist
eindeutig durch E bestimmt. Abbildung (4.12) zeigt schematisch die Ellipsenbahnen
als Funktion des Drehimpulses bei fester Energie und als Funktion der Energie bei
festem Drehimpuls.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
67
Abbildung 4.11: Ellipse mit
Halbachsen a, b, Halbparameter p und Exzentrität .
Abbildung 4.12: Links: Bahnellipsen bei festem E und Variation von L. Die Kreisbahn besitzt den größtmöglichen Drehimpuls. Rechts: Bahnellipsen bei festem L und
Variation von E. Die Kreisbahn besitzt die kleinstmögliche Energie.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
68
Umlaufperiode
Aufgrund des Flächensatzes (4.14) gilt für eine Umlaufperiode T
L
T
2m
r
2πm α
L
2m
m 3
p
πab =
= 2π
a2
T =
L
L 2|E|
α
2m|E|
S = πab =
Mit α = γmM ergibt sich für die Umlaufperiode T und die große Halbachse a der
Zusammenhang.
T2 =
(2π)2 3
a
γM
(4.72)
Da die Proportionalitätskonstante für alle Planeten und für alle Drehimpulse gleich
groß ist, erhält man hieraus das dritte Keplersche Gesetz.
4.6
Coulomb-Streuung
Für > 1 sind die Bahnkurven Hyperbeln. Sie beschreiben die Streuung von Teilchen
mit Energien E > 0. Die Energie E und der Drehimpuls L bleiben bei der Streuung
erhalten. Das einfallende Teilchen bewege sich asymptotisch in konstantem Abstand
s von der x-Achse mit der Geschwindigkeit v0 , d.h. es gilt
r = xex + sey ,
v = v0 ex ,
L = mr × v = −msv0 ez .
(4.73)
Man bezeichnet s als den Stoßparameter. Die asymptotische Geschwindigkeit und
der Stoßparameter legen die Parameter der Bahnkurve fest,
E =
1 2
mv ,
2 0
2Es2
p =
,
α
4.6.1
L = −msv0 ,
L2 = 2ms2 E,
s
2
2Es
= 1+
.
α
(4.74)
Ablenkwinkel
Das auslaufende Teilchen bewegt sich asymptotisch ebenfalls entlang einer Geraden.
Diese ist gegenüber der x-Achse um den Ablenkwinkel ϑ geneigt. Für abstoßende
Wechselwirkung gilt gemäß (4.68) und (4.69),
α < 0,
p < 0,
1 + cos ϕ < 0,
ϕ(rmin ) = π.
(4.75)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
Abbildung 4.13: Streuung an einem abstoßenden Coulomb-Potential.
Abbildung 4.14: Streuung an einem anziehenden Coulomb-Potential.
69
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
70
Die Polarkoordinaten sind so zu wählen, daß ϕ = π für r = rmin gilt. Die Achse des
Polarkoordinatensystems ist also von rmin zum Ursprung gerichtet (Abb. (4.13)).
Bei anziehender Wechselwirkung gilt entsprechend
α > 0,
p > 0,
1 + cos ϕ > 0,
ϕ(rmin ) = 0.
(4.76)
Hier zeigt die Achse des Polarkoordinatensystems vom Ursprung zum Punkt rmin
(Abb. (4.14)). In beiden Fällen besteht zwischen dem Polarwinkel ϕ = ϕ0 und dem
Ablenkwinkel ϑ der auslaufenden Asymptote der Zusammenhang
ϑ = 2ϕ0 − π,
ϕ0 =
ϑ π
+ .
2
2
(4.77)
Der Ablenkwinkel bei der Coulomb-Streuung läßt sich nun einfach bestimmen. Aus
der Polargleichung (4.69), ergibt sich für die auslaufende Asymptote (r → ∞) die
Bedingung
ϑ
ϑ π
+
= 1 − sin = 0.
1 + cos ϕ0 = 1 + cos
2
2
2
Damit folgt für den Ablenkwinkel die Beziehung
sin
4.6.2
ϑ
1
= .
2
(4.78)
Wirkungsquerschnitt
Die Teilchen eines Teilchenstrahls können durch Stöße mit einem anderen Teilchen
abgelenkt und als Funktion des Ablenkwinkels mit einem Detektor nachgewiesen
werden. Diesen Vorgang nennt man Streuung. Wir betrachten hier die Streuung
eines Teilchenstrahls an einem festen Streuzentrum.
Abbildung 4.15: Streuung von
Teilchen aus dem Flächenelement
dσ = sdsdϕ in das Raumwinkelelement dΩ = sin ϑdϑdϕ.
Zur Definition des Wirkungsquerschnittes betrachte man einen Strahl monoenergetischer Teilchen, die von einem Streuzentrum in ein Raumwinkelelement gestreut
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
71
werden (Abb. 4.15). Der Abstand der Bahn des ungestörten Teilchens vom Streuzentrum wird als Stoßparameter s bezeichnet. Teilchen, die durch den Kreisring
zwischen s und s + ds hindurchtreten werden um einen Winkel zwischen ϑ und
ϑ + dϑ abgelenkt.
Einfallender Teilchenstrom: Die Anzahl der Teilchen, die pro Zeiteinheit durch
die Fläche dσ hindurchtreten, sei
I = jdσ;
dσ = sdϕds
(4.79)
Detektorfläche:
dO = RdϑR sin ϑdϕ = R2 dΩ
Raumwinkelelement:
dΩ =
dO
= sin ϑdϑdϕ
R2
(4.80)
(4.81)
Gestreuter Teilchenstrom pro Raumwinkelelement:
dσ
dI
=j
dΩ
dΩ
Differentieller Wirkungsquerschnitt:
sdsdϕ 1 dI
dσ
= s
=
= j dΩ
dΩ
sin ϑdϑdϕ sin ϑ
(4.82)
ds = s 1
dϑ sin ϑ dϑ ds
(4.83)
Der Betrag ist notwendig, da in der Regel einer Zunahme des Stoßparameters ds
eine Abnahme des Ablenkwinkels dϑ entspricht.
4.6.3
Streuung an harten Kugeln
Abbildung 4.16: Streuung eines Teilchens an
einer harten Kugel mit Radius a.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
72
Ein Teilchen werde an einer harten Kugel mit Radius a gestreut (Abb. 4.16). Die
Beziehung zwischen dem Stoßparamter und dem Ablenkwinkel ergibt sich aus der
Abbildung zu
ϑ
π−ϑ
= a cos .
s = a sin ϕ0 = a sin
2
2
Damit kann der Differentielle Wirkungsquerschnitt wie folgt berechnet werden:
a
ϑ
ds = − sin dϑ
2
2
a cos ϑ2 a dσ
ϑ
a2
=−
− sin = ,
mit: sin ϑ2 cos ϑ2 = 12 sin ϑ.
(4.84)
dΩ
sin ϑ
2
2
4
Durch Integration über den Raumwinkel erhält man den totalen Wirkungsquerschnitt. Er entspricht hier der Querschnittsfläche der Kugel:
Z
dΩ
σ=
4.6.4
a2
dσ
=
· 4π = πa2 .
dΩ
4
(4.85)
Rutherfordscher Wirkungsquerschnitt
Bei der Coulomb-Streuung wird der Zusammenhang zwischen dem Ablenkwinkel
und dem Stoßparameter (Abb.4.17) durch die Formel (4.78) bestimmt. Damit ergibt
sich folgende Berechnung des Wirkungsquerschnittes.
Abbildung 4.17: Ablenkung eines Teilchens
um einen Winkel ϑ bei einem Stoß mit Stoßparameter s.
Berechnung der Funktion s = s(ϑ):
2 =
2Es
α
1
sin (ϑ/2)
2
2
2
1
1 − sin2 ϑ/2
cos ϑ/2
=
−1=
=
sin ϑ/2
sin2 ϑ/2
sin2 ϑ/2
|α| cos ϑ/2
∞ ; ϑ=0
s =
→
0 ; ϑ=π
2E sin ϑ/2
(4.86)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
73
Ableitung ds/dϑ:
ds
|α| − 21 sin2 ϑ/2 − 12 cos2 ϑ/2
1
|α|
=
=−
2
2
dϑ
2E
4E sin ϑ/2
sin ϑ/2
Differentieller Wirkungsquerschnitt:
|α| cos ϑ/2 1
|α|
1
dσ
= −
−
;
2
dΩ
2E sin ϑ/2 sin ϑ
4E sin ϑ/2
α 2
1
=
.
4
4E
sin ϑ/2
sin ϑ = 2 sin
(4.87)
ϑ
ϑ
cos ,
2
2
(4.88)
Beispiel: Im Rutherfordschen Streuexperiment wurden α-Teilchen (Z1 = 2; E ≈
4 − 8M eV ) an Goldkernen (Z2 = 79) gestreut. Mit α = −Z1 Z2 e2 erhält man den
Rutherfordschen Wirkungsquerschnitt
dσ
=
dΩ
Z1 Z2 e2
4E
2
1
sin
4
ϑ
2
(4.89)
Wird der Rutherfordsche Wirkungsquerschnitt im Experiment gemessen, so kann
daraus geschlossen werden, daß die Streuzentren näherungsweise punktförmig sein
müssen. Der Kernradius ist also kleiner als der minimale Stoßparameter rmin ≈
30 . . . 60fm (1 fm = 10−15 m). Dadurch wurde das Rutherfordsche Atommodell
bestätigt: Die Masse des Atoms ist in einem Atomkern konzentriert, dessen Ausdehnung sehr viel kleiner ist als die der Elektronenhülle (rAtom ≈ 1Å, 1Å=10−10 m).
Totaler Wirkungsquerschnitt:
Z
σ=
dσ
dΩ
=
dΩ
Z2π
Zπ
dϕ
0
dσ
dϑ sin ϑ
= 2π
dΩ
0
Zπ
dϑ sin ϑ
dσ
dΩ
(4.90)
0
Wegen der unendlichen Reichweite der Coulombwechselwirkung divergiert der totale
Wirkungsquerschnitt. Man erhält einen endlichen Wirkungsquerschnitt, wenn man
die Abschirmung der Ladung durch die Atomhülle berücksichtigt.
4.7
Zweikörperproblem
Wir behandeln nun ein abgeschlossenes System aus zwei Massenpunkten, die miteinander wechselwirken. Dieses Zweikörperproblem kann mit Hilfe des Impulserhaltungssatzes auf ein Einkörperproblem zurückgeführt werden.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
74
Die Bewegungsgleichungen der beiden Teilchen besitzen die Form
m1 r̈ 1 = F 12 ,
m2 r̈ 2 = F 21 .
(4.91)
Die Wechselwirkungskräfte sollen nur vom Abstand der Teilchen abhängen und das
Gesetz von actio=reactio erfüllen:
F 12 = F 12 (|r 1 − r 2 |),
F 12 = −F 21 .
(4.92)
Schwerpunkts- und Relativkoordinaten
Das Gleichungssystem (4.91) kann durch die Einführung von Schwerpunkts- und Relativkoordinaten entkoppelt werden. Die Koordinatentransformation und ihre Umkehrtransformation werden durch die Vektorgleichungen
R=
1
(m1 r 1 + m2 r 2 ) ,
M
r1 = R −
µ
r,
m1
r = r2 − r1
r2 = R +
µ
r,
m2
(4.93)
(4.94)
mit
m1 m2
m1 + m2
definiert. Man bezeichnet µ als die reduzierte Masse. Bei stark unterschiedlichen
Massen entspricht die reduzierte Masse näherungsweise der kleineren Masse, d.h.
µ ≈ m2 für m2 m1 . Bei gleichen Massen gilt m1 = m2 = 2µ, d.h. µ ist gegenüber
den Massen m1,2 um den Faktor 1/2 reduziert.
M = m1 + m2 ,
µ=
Der Relativvektor r ist vom Massenpunkt r 1 zum Massenpunkt r 2 gerichtet. Die in
(4.40) definierten Relativvektoren sind vom Ursprung des Schwerpunktssystems aus
definiert und besitzen hier die Form
r 01 = −
µ
r,
m1
r 02 =
µ
r.
m2
Für die Impulse der Massenpunkte gilt die Transformation
p1 = m1 V − µv,
p2 = m2 V + µv,
mit
V = Ṙ,
v = ṙ.
(4.95)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
75
Abbildung 4.18:
Laborsystem und
Schwerpunktssystem.
Die kinetische Energie der Massenpunkte kann als Summe der kinetischen Energien
der Schwerpunkts- und Relativbewegungen dargestellt werden,
1
1
T = M V 2 + µv 2 .
2
2
(4.96)
Dies folgt unmittelbar aus (4.43) wobei
1
1
m1 v102 + m1 v202
2
2
2
2
1
1
1 2 2 1
1
µv
µv
=
m1
+ m2
= µv
+
2
m1
2
m2
2
m1 m2
1 2
=
µv
2
T0 =
(4.97)
die Energie im Schwerpunktssystem darstellt.
Die Bewegung der Teilchen wird durch die Schwerpunktsbewegung und die Relativbewegung eindeutig bestimmt. Die Schwerpunktsbewegung und die Relativbewegung können unabhängig voneinander behandelt werden.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
76
Schwerpunkts- und Relativbewegung
Durch die Addition der beiden Bewegungsgleichungen in (4.91) ergibt sich die Bewegungsgleichung für den Schwerpunkt:
m1 r̈ 1 + m2 r̈ 2 = M V̇ = F 12 + F 21 = 0
(4.98)
Da die Gesamtkraft verschwindet, ist der Gesamtimpuls erhalten und der Schwerpunkt bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit.
V = V 0 = const,
R = R0 + V 0 t.
(4.99)
Für die Relativbewegung erhält man mit (4.95) und (4.99) die Bewegungsgleichung
ṗ2 = µr̈ = F 21 (r)
(4.100)
Hierbei handelt es sich um ein Einkörperproblem für ein fiktives Teilchen mit der
reduzierten Masse µ und dem Ortsvektor r unter Einwirkung der Kraft F 21 (r).
Schwerpunktsystem (SS): Ein Bezugssystem in dem der Schwerpunkt im Koordinatenursprung ruht, R = V = 0, wird Schwerpunktsystem genannt. Für die
Teilchenbewegung im SS gilt:
r 1 (t) = −
µ
r(t),
m1
r 2 (t) =
µ
r(t)
m2
(4.101)
p1 = −µv,
p2 = µv.
Die Impulse der beiden Teilchen sind entgegengesetzt gerichtet und betragsmäßig
gleich groß.
Elastische Stöße
Bei elastischen Stößen gelten die Erhaltungssätze für die Energie und den Impuls.
Aufgrund dieser Erhaltungssätze besteht das Ergebnis des Stoßes im Schwerpunktsystem in einer Drehung der Richtung der Relativgeschwindigkeit. Die Größe des
Ablenkwinkels im Schwerpunktsystem hängt von der Art der Wechselwirkung ab.
Zur Bestimmung des Ablenkwinkels muß die Bewegungsgleichung gelöst werden.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
77
Impulserhaltung: Aufgrund der Impulserhaltung kann sich beim Stoß nur die
Relativgeschwindigkeit ändern. Die Schwerpunktgeschwindigkeit bleibt erhalten:
V = V 0.
(4.102)
Der Strich kennzeichnet Größen nach dem Stoß. Im Schwerpunktsystem verschwindet der Gesamtimpuls vor und nach dem Stoß:
P = µv − µv = 0,
P 0 = µv 0 − µv 0 = 0.
(4.103)
Energieerhaltung: Aufgrund der Energieerhaltung kann sich beim Stoß nur die
Richtung der Relativgeschwindigkeit ändern. Die Relativgeschwindigkeit vor dem
Stoß sei v = vt, nach dem Stoß v 0 = v 0 t0 mit Einheitsvektoren t bzw. t0 in Richtung
der Relativgeschwindigkeit. Im Schwerpunktssystem lautet der Energieerhaltungssatz nach (4.96)
µv 0 2
µv 2
,
E0 =
.
(4.104)
E = E 0,
E=
2
2
Daraus folgt, daß der Betrag der Relativgeschwindigkeit erhalten ist,
v = v0.
Der noch unbestimmte Winkel zwischen t und t0 wird als Ablenkwinkel ϑ bezeichnet
und hängt vom speziellen Wechselwirkungsgesetz ab.
Die Geschwindigkeiten nach dem Stoß sind im Schwerpunktssystem
v 01 = −
µ
vt0 ,
m1
v 02 =
µ
vt0 ,
m2
(4.105)
und im Laborsystem
v 01,L = V −
µ
vt0 ,
m1
v 02,L = V +
µ
vt0 .
m2
(4.106)
Kapitel 5
Lagrangesche Mechanik
Die Behandlung von Systemen von Massenpunkten mit Zwangsbedingungen erfordert eine Erweiterung der Newtonschen Mechanik. Die Einführung von Zwangskräften führt zu den Lagrangegleichungen erster Art, die von generalisierten Koordinaten zu den Lagrangegleichungen zweiter Art.
Die Lagrangegleichungen können auch aus Variationsprinzipien abgeleitet werden.
Das d’Alembertsche Prinzip ist äquivalent zu den Lagrangegleichungen erster Art,
das Hamiltonsche Prinzip zu den Lagrangegleichungen zweiter Art. Im Rahmen des
Hamiltonschen Variationsprinzips formuliert das Noether-Theorem den allgemeinen
Zusammenhang von Symmetrien und Erhaltungsgrößen.
5.1
5.1.1
Systeme mit Zwangsbedingungen
Zwangsbedingungen
Ein System aus N freien Massenpunkten besitzt 3N Freiheitsgrade. Diese entsprechen den Lagekoordinaten der Massenpunkte im dreidimensionalen Raum. Ist ein
Massenpunkt Teil eines mechanischen Systems, so kann die Zahl seiner Freiheitsgrade durch äußere Vorgaben eingeschränkt sein. Beim ebenen Pendel bewegt sich die
Masse auf einer Kreisbahn und besitzt daher nur noch einen Freiheitsgrad. Bedingungen, die die Zahl der Freiheitsgrade einschränken, werden Zwangsbedingungen
genannt.
Physikalische Systeme mit Zwangsbedingungen sind in der Technik sehr verbreitet.
Bei mechanischen Maschinen werden die beweglichen Teile, wie Kolben und Räder,
so geführt, daß meist schon ein Freiheitsgrad ausreicht um deren Stellung anzugeben.
Die Reduktion der Anzahl der Freiheitsgrade auf wenige relevante Freiheitsgrade ist
von prinzipieller Bedeutung. Viele Probleme werden erst auf diese Weise behandelbar. Ein starrer Körper besteht z.B. aus unendlich vielen Massenpunkten. Da wir
78
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
79
aber wissen, daß die Abstände zwischen den Massenpunkten bei der Bewegung fest
bleiben, reduziert sich das Problem auf eine Bewegung mit den sechs Freiheitsgraden
der Translation und Rotation.
Die folgenden Beispiele zeigen einige typische Zwangsbedingungen:
• Massenpunkt mit Ortsvektor r auf einer Ebene mit Normalenvektor n:
n · r = 0.
• Massenpunkt mit Ortsvektor r auf
oder oberhalb einer Ebene mit Normalenvektor n:
n·r≥0
• Massenpunkt auf der Oberfläche einer
Kugel mit Radius R:
r−R=0
• Starr verbundene Massenpunkte mit
Abständen rij :
2
=0
(r i − r j )2 − rij
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
80
• Massenpunkt auf rotierender Stange
mit Richtung e(t).
r × e(t) = 0
• Mittelpunkt des rollenden Rades:
ẋ − Rϕ̇ = 0,
z−R=0
Konfigurationsraum
Zur Klassifikation der Zwangsbedingungen ist es hilfreich ein System von N Massenpunkten in einem 3N dimensionalen Konfigurationsraum darzustellen. Das System
wird im Konfigurationsraum durch einen Punkt x repräsentiert. Hierbei werden die
Koordinaten des Punktes im Konfigurationsraum,
xi ,
i = 1, · · · , 3N ,
durch die Koordinaten der N Massenpunkte definiert,






x1
x4
x3N −2
r 1 =  x2  ,
r 2 =  x5  , · · · ,
r N =  x3N −1  .
x3
x6
x3N
Holonome Zwangsbedingungen
Unter holonomen Zwangsbedingungen versteht man Zwangsbedingungen, die sich
in Form einer Gleichung
g(x, t) = 0.
(5.1)
zwischen den Lagekoordinaten und eventuell der Zeit ausdrücken lassen. Holonome Zwangsbedingungen werden im Rahmen der Lagrangegleichungen zweiter Art
vorausgesetzt.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
81
Lineare differentielle Zwangsbedingungen
Das totale Differential von (5.1) definiert in jedem Punkt eine lineare differentielle
Zwangsbedingung,
3N
X
∂g
∂g
dxi + dt = 0.
(5.2)
dg(x, t) =
∂x
∂t
i
i=1
Lineare differentielle Zwangsbedingungen besitzen die allgemeine Form,
3N
X
Ai (x, t)dxi + B(x, t)dt = 0,
(5.3)
i=1
mit beliebigen Funktionen Ai (x, t) und B(x, t). Differentielle Zwangsbedingungen
können holonom oder nicht-holonom sein. Im holonomen Fall ist (5.3) das totale
Differential einer Funktion g(x, t). Dazu müssen Integrabilitätsbedingungen erfüllt
sein. Im Rahmen der Lagrangegleichungen erster Art wird nur die lineare differentielle Form der Zwangsbedingungen vorausgesetzt.
Dividiert man (5.3) durch dt, so ergeben sich Zwangsbedingungen, die außer von
den Lagekoordinanten auch noch linear von den Geschwindigkeiten abhängen.
3N
X
Ai (x, t)vi + B(x, t) = 0,
(5.4)
i=1
Ein Beispiel dieser Art ist die Zwangsbedingung für das rollende Rad. Allgemeinere
Zwangsbedingungen, die sich nicht in der Form von (5.3) schreiben lassen, sind
z.B. Ungleichungen oder Gleichungen, die nicht linear von den Geschwindigkeiten
abhängen.
Rheonome und skleronome Zwangsbedingungen
Man unterscheidet auch noch zeitabhängige, g = g(x, t), und zeitunabhängige,
g = g(x), Zwangsbedingungen. Zeitabhängige Zwangsbedingungen heißen rheonom,
zeitunabhängige skleronom.
Hyperflächennormale und virtuelle Verrückungen
Wir betrachten nun die durch eine holonome Zwangsbedingung definierte Hyperfläche zu einem festen Zeitpunkt t. Die Richtung der Hyperflächennormalen wird
durch den Gradienten
∂g(x, t)
A(x, t) =
.
(5.5)
∂x
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82
bzw. in Komponentenschreibweise
Ai (x, t) =
∂g(x, t)
,
∂xi
bestimmt. Denn es gilt für jede infinitesimale Verschiebung δx innerhalb der momentanen Hyperfläche gemäß (5.3) die Orthogonalitätsbedingung
A · δx =
3N
X
Ai δxi = 0.
(5.6)
i=1
Der Vektor A zeigt in Normalenrichtung, er ist aber nicht auf eins normiert. Die
infinitesimalen Verschiebungen δx innerhalb der momentanten Hyperfläche werden
als virtuelle Verrückungen bezeichnet. Es sind infinitesimale Änderungen der Koordinaten, die mit den Zwangsbedingungen des Systems zu einer festen Zeit konsistent
sind. Virtuelle Verrückungen müssen von den tatsächlichen Verschiebungen dx der
Massenpunkte in einem Zeitintervall dt unterschieden werden, da sich in dieser Zeit
die Zwangsbedingungen ändern können.
Abbildung 5.1: Hyperfläche mit Normale und
virtueller Verrückung.
Nicht-holonome linear differentielle Zwangsbedingungen haben lokal eine entsprechende geometrische Bedeutung. Die Zwangsbedingung (5.3) definiert zu einer festen
Zeit ganz analog ein Richtungsfeld A(x, t) im Konfigurationsraum. In jedem Punkt x
liegen die virtuellen Verrückungen in einer zu A(x, t) orthogonalen Tangentialebene.
5.1.2
Zwangskräfte
Zwangsbedingungen führen zu einer Erweiterung der Newtonschen Mechanik. Um
die Zwangsbedingungen erfüllen zu können, werden in den Bewegungsgleichungen
zusätzliche Kräfte eingeführt. Diese Kräfte werden als Zwangskräfte bezeichnet.
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83
Die Bewegungsgleichung eines Massenpunktes mit einer Zwangskraft Z lautet
mr̈ = F + Z.
Die Rolle der Zwangskraft soll zuerst an den folgenden Beispielen illustriert werden.
Schiefe Ebene
Abbildung 5.2: Schiefe Ebene mit Schwerkraft G und
Zwangskraft Z.
Ein Massenpunkt bewege sich unter Einwirkung der Schwerkraft G = −mgez auf
einer um den Winkel α geneigten schiefen Ebene (Abb.5.2). In einem um den Winkel
α gedrehten Inertialsystem S 0 lauten die Bewegungsgleichungen
mẍ0 = −mg sin α + Zx0
mz̈ 0 = −mg cos α + Zz0
(5.7)
Um die Zwangsbedingung z 0 = 0 zu erfüllen, kann die Zwangskraft
Zx0 = 0,
Zz0 = mg cos α .
gewählt werden. Dabei ist die Normalenkomponente Zz0 eindeutig durch die Zwangsbedingung bestimmt. Die Tangentialkomponente wird zu Null gewählt, da in dieser
Richtung keine Zwangsbedingung vorliegt.
Die Zwangskraft kompensiert hier gerade die Komponente der Schwerkraft in Richtung der Flächennormale. Das folgende Beispiel zeigt, daß die Größe der Zwangskraft
im allgemeinen nicht nur von den Kräften im Gleichgewicht sondern auch von der
Bewegung abhängt.
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84
Abbildung 5.3: Ebenes Pendel
mit einer zum Aufhängepunkt
gerichteten Zwangskraft Z =
−mg cos α − mlα̇2 .
Ebenes Pendel
Ein ebenes Pendels mit Pendellänge l sei im Schwerefeld g = −gez um den Winkel
α(t) gegenüber der unteren Gleichgewichtslage ausgelenkt (Abb.5.3). Setzt man ϕ =
α+3π/2, so kann die in (3.51) angegebene Polardarstellung der Bewegungsgleichung
verwendet werden und man erhält
mr̈ = mg cos α + mrα̇2 + Zr
mrα̈ = −mg sin α − 2mṙα̇ + Zα
(5.8)
(5.9)
Die Zwangsbedingung r = l, ṙ = r̈ = 0 wird durch die Zwangskraft
Zr = −mg cos α − mlϕ̇2 ,
Zα = 0
erfüllt. Sie kompensiert hier die Normalkomponente der Schwerkraft und die von
der Bewegung abhängige Zentrifugalkraft.
Masse auf rotierender Stange
Als Beispiel für eine rheonome Zwangsbedingung betrachten wir eine in der Ebene
rotierende Stange, auf der ein Massenpunkt reibungsfrei gleiten kann. Die Zwangsbedingung lautet in Polarkoordinaten (r,ϕ),
Z
ϕ̇ = ω(t),
ϕ = dt0 ω(t0 )
(5.10)
wobei ω(t) die vorgegebene Kreisfrequenz der Stange darstellt.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
85
Abbildung 5.4: Virtuelle Verrückung δx,
tatsächliche Verrückung dx und Zwangskraft
Z für einen Massepunkt auf einer rotierenden Stange.
In einem rotierendes Bezugssystem, in dem die Stange ruht, gelten nach (3.51) die
Bewegungsgleichungen,
mr̈ = mrω 2 + Zr
mrω̇ = −2mṙω + Zϕ
(5.11)
(5.12)
Die Zwangsbedingung (5.10) beinhaltet keine Einschränkung an die radiale Bewegung. Daher wählt man die Zwangskraft,
Zr = 0,
rZϕ = mr2 ω̇ + 2mrṙω =
d
(mr2 ω).
dt
(5.13)
Sie stellt das zur Drehimpulsänderung notwendige Drehmoment dar. In diesem Fall
unterscheiden sich virtuelle und tatsächliche Verrückungen (Abb.5.4). Die virtuelle
radiale Verrückung bestimmt die Richtung, die tatsächliche azimuthale Verrückung
die Größe der Zwangskraft.
5.2
Lagrangegleichungen erster Art
Gegeben sei nun ein System von N Massenpunkten mit k linear differentiellen
Zwangsbedingungen,
m · ẍ = F + Z.
(5.14)
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Al (x, t) · dx + B l (x, t)dt = 0,
l = 1, 2, · · · , k.
86
(5.15)
Hierbei sind F und Z Vektoren im Konfigurationsraum, deren Komponenten durch
die Kräfte F j und Zwangskräfte Z j auf die Massenpunkte bestimmt werden,




F3j−2
Z3j−2
F j =  F3j−1  ,
Z j =  Z3j−1 
F3j
Z3j
Die Matrix m ist eine Diagonalmatrix mit den Matrixelementen mik = mi δik . Die
Diagonalelemente mi werden durch die Massen Mj der Massenpunkte definiert


m3j−2
Mj =  m3j−1  .
m3j
5.2.1
D’Alembertsches Prinzip
Die Zwangskraft wird durch die zugehörige Zwangsbedingung mathematisch nicht
eindeutig bestimmt. In den Beispielen aus Abschnitt (5.1.2) wurden die Komponenten der Zwangskräfte in Richtung der virtuellen Verrückungen jeweils Null gesetzt.
Diese Wahl beruht auf einem physikalischen Postulat über die Richtung der Zwangskraft, welches als das d’Alembertsche Prinzip bezeichnet wird:
Die Richtung der Zwangskraft Z ist so zu wählen, daß für beliebige virtuellle
Verrückungen δx
Z · δx =
3N
X
Zi δxi = 0.
(5.16)
i=1
gilt. Man sagt auch, die Zwangskräfte leisten keine virtuelle Arbeit. Hierbei ist aber
zu beachten, daß die virtuelle Arbeit i.a. nicht die tatsächliche Arbeit darstellt.
Das d’Alembertsche Prinzip definiert die Zwangskräfte. Daneben können in realen
physikalischen Systemen auch andere Kräfte, wie z.B. Reibungskräfte, durch den
Kontakt mit Führungselementen hervorgerufen werden.
Eine alternative Formulierung des d’Alembertschen Prinzips erhält man, indem man
die Zwangskräfte mit Hilfe der Bewegungsgleichung eliminiert,
(F − m · ẍ) · δx = 0.
(5.17)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
87
Ein Spezialfall des d’Alembertschen Prinzips ist das Prinzip der virtuellen Arbeit.
Für ein Kräftegleichgewicht, bei dem alle Koordinaten zeitunabhängig sind, gilt die
Gleichgewichtsbedingung,
F · δx = 0.
(5.18)
Im Gleichgewicht leisten die Kräfte keine virtuelle Arbeit.
Als Beispiel für das Prinzip der virtuellen Arbeit betrachten wir das Gleichgewicht
eines Hebels (Abb.5.5). Die virtuellen Verrückungen der Massen m1,2 bei einer Drehung um den vektoriellen Drehwinkel δϕ sind jeweils δr 1,2 = δϕ×r 1,2 . Aus dem
Prinzip der virtuellen Arbeit folgt
F 1 ·(δϕ×r 1 ) + F 2 ·(δϕ×r 2 ) = δϕ·(r 1 ×F 1 + r 2 ×F 2 ) = 0.
Der Hebel ist im Gleichgewicht, wenn sich die Drehmomente in Richtung der Drehachse zu Null addieren.
Abbildung
5.5:
Virtuelle
Verrückungen
eines
Hebels
aus der Gleichgewichtslage.
5.2.2
Bewegungsgleichungen mit Zwangskräften
Mit Mitteln der Variationsrechnung kann man aus dem d’Alembertschen Prinzip die
Bewegungsgleichungen mit Zwangskräften herleiten. Wir wollen diese hier lediglich
angeben. Für jede Zwangsbedingung kann man die zugehörige Zwangskraft in der
Form
Z l = λ l Al
(5.19)
mit einer noch unbestimmten Funktion λl (t) ansetzen. Dieser Ansatz erfüllt das
d’Alembertsche Prinzip, da die virtuellen Verrückungen definitionsgemäß den Bedingungen
Al · δx = 0,
l = 1, 2, · · · , k
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
88
genügen. Das zugehörige Gleichungssystem nennt man die Lagrangegleichungen erster Art,
m · ẍ = F + Z,
Z=
k
X
λ l Al ,
Al · dx + B l dt = 0.
(5.20)
l=1
Dies sind 3N + k Gleichungen für 3N Koordinaten xi und k Parameter λl .
Diskussion des d’Alembertschen Prinzips
Am Beispiel einer linear differentiellen Zwangsbedingung zeigen wir explizit wie diese
Zwangsbedingung in Verbindung mit dem d’Alembertschen Prinzip die Zwangskraft
bestimmt.
Wir fragen zuerst in welcher Weise eine linear differentielle Zwangsbedingung die
tatsächliche Bewegung einschränkt. Aus (5.4) erhält man für die Geschwindigkeiten
der Massenpunkte die Bedingung
A(x, t) · v(t) = −B(x, t).
(5.21)
Sie bestimmt die Geschwindigkeit in Richtung der Hyperflächennormalen. Für skleronome Zwangsbedingungen ist diese Geschwindigkeitskomponente Null, für rheonome eine vorgegebene Funktion. Eine entsprechende Aussage läßt sich auch für
die Beschleunigung machen. Differenziert man (5.21) nach der Zeit, so folgt eine
Bedingung für die Normalenkomponente der Beschleunigung
A(x, t) · ẍ(t) = −C(x, v, t),
C(x, v, t) = Ḃ + Ȧ · v.
(5.22)
Sie muß von der Lösung der Bewegungsgleichung mit einer Zwangskraft Z,
m · ẍ = F + Z,
erfüllt werden.
Wir zeigen nun, daß man die vorgegebene Beschleunigung unter gleichen Voraussetzungen für eine ganze Klasse von Zwangskräften erreichen könnte. Das
d’Alembertsche Prinzip ist dann notwendig, um die physikalisch richtige Zwangskraft
zu bestimmen. Dazu betrachten wir eine Transformation, bei der jede Koordinate
um einen konstanten Faktor αi gestreckt wird,
x0i = αi xi
Diese Transformation bewirkt eine Deformation der Hyperfläche und eine entsprechende Änderung der Hyperflächennormalen. Aus der Invarianz der Zwangsbedingung in (5.20) oder (5.22) folgt für die Normale das Transformationsgesetz,
A0i = Ai /αi .
(5.23)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
89
Die transformierte Beschleunigung wird durch die Bewegungsgleichung
ẍ0 = m−1 · (F 0 + Z 0 ),
Fi0 = αi Fi ,
Zi0 = αi Zi
bestimmt. Ihre Komponente in Richtung der transformierten Normalen (5.23) wird
durch die Zwangsbedingung vorgegeben. Unter der Annahme, daß die Zwangsbeschleunigung nur in Richtung der Hyperflächennormale auftritt, folgt für die transformierte Zwangskraft der Ansatz
Z 0 = λm · A0 .
Der Parameter λ wird durch die vorgegebene Normalenkomponente der Beschleunigung bestimmt,
A0 · ẍ0 = A0 · m−1 · F 0 + λA0 · A0 = −C
C + A0 · m−1 · F 0
λ = −
.
A 0 · A0
(5.24)
Damit erhält man für die ursprüngliche Zwangskraft den Ausdruck
Zi = λ
mi
Ai .
αi2
(5.25)
Obwohl diese Zwangskraft für beliebige αi die Zwangsbedingung erfüllt, genügt sie
im allgemeinen nicht dem d’Alembertschen Prinzip. Um auch letzteres zu erfüllen
muß Z in Richtung der Normalen A gewählt werden. Dies ist aber nur möglich falls
√
αi = α mi
wobei α eine von i unabhängige Konstante darstellt. Da eine Proportionalitätskonstante bereits durch λ berücksichtigt wurde, kann ohne Einschränkung α = 1 gesetzt
werden. Für Systeme mit unterschiedlichen Massen mi stellt das d’Alembertsche
Prinzip also eine wesentliche zusätzliche Forderung dar. Der Grund hierfür ist, daß
dann Beschleunigungen und Kräfte im Konfigurationsraum linear unabhängige Vektoren sind.
5.3
Lagrangegleichungen zweiter Art
Für Systeme mit holonomen Zwangsbedingungen können die Zwangskräfte durch
eine geeignete Koordinatenwahl eliminiert werden. Dies führt zu den Lagrangegleichungen zweiter Art. Nicht-holonome Zwangsbedingungen müssen weiterhin durch
die Gleichungen erster Art beschrieben werden.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
5.3.1
90
Herleitung
Gegeben sei ein System von N Massenpunkten mit k holonomen Zwangsbedingungen
mi ẍi = Fi + Zi ,
g l (x, t) = 0,
i = 1, 2, · · · , 3N
l = 1, 2, · · · , k .
Generalisierte Koordinaten
Die Zwangsbedingungen bestimmten zu jedem Zeitpunkt eine Hyperfläche im Konfigurationsraum. Auf dieser Hyperfläche können geeignete, i.a. krummlinige, Koordinaten q1 , q2 , · · · , qn , · · · , qf gewählt werden, wobei f die Dimension der Hyperfläche bezeichnet. Solche Koordinaten werden als generalisierte oder verallgemeinerte Koordinaten bezeichnet. Generalisierte Koordinaten auf einer Kugel sind z.B.
die Winkel ϕ, ϑ der Kugelkoordinaten. Die Koordinatentransformation zwischen den
generalisierten Koordinaten und den kartesischen Koordinaten besitzt die Form
xi = xi (q1 , q2 , · · · , qf , t),
i = 1, 2, · · · , 3N
(5.26)
Abkürzend verwenden wir auch die Notation x = x(q, t), wobei q für die Argumente
q1 , q2 , · · · , qf steht.
D’Alembertsches Prinzip in generalisierten Koordinaten
Der Ortsvektor auf der momentanen Hyperfläche wird durch (5.26) dargestellt. Eine virtuelle Verrückung ist definitionsgemäß eine infinitesimale Verschiebung dieses
Ortsvektors bei festgehaltener Zeit. Dafür erhalten wir durch Differentiation,
f
X
∂xi
δqn .
δxi =
∂q
n
n=1
(5.27)
Die Verrückungen δq auf der Hyperfläche unterliegen keinen Einschränkungen mehr.
Die Vektoren
∂x
an =
,
n = 1, · · · , f
(5.28)
∂qn
bilden in jedem Punkt der Hyperfläche eine lokale Basis (Abb.5.6). Hierbei ist an
ein Tangentenvektor an die qn -Koordinate.
Mit (5.27), (5.28) lautet das d’Alembertsche Prinzip (5.17),
X
(m · ẍ − F ) · an δqn = 0.
n
(5.29)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
91
Abbildung 5.6: Generalisierte
Koordinaten und lokale Basis auf
der Hyperfläche.
Da die δqn unabhängig voneinander beliebig gewählt werden können, muß jeder
Koeffizient einzeln verschwinden,
(m · ẍ − F ) · an = 0,
n = 1, · · · , f.
(5.30)
Dies sind die Komponenten der Bewegungsgleichung entlang der lokalen Basis. Damit wurden genau f Bewegungsgleichungen für die f Freiheitsgrade der Hyperfläche
gewonnen. Die Zwangskräfte wurden durch die Koordinatenwahl eliminert.
Generalisierte Geschwindigkeiten
In den Bewegungsgleichungen (5.30) müssen x und ẍ durch die generalisierten Koordinaten q ausgedrückt werden.
Für die Geschwindigkeit erhält man aus (5.27) das Transformationsgesetz
ẋ =
f
X
∂x(q, t)
n=1
∂qn
q̇n +
∂x(q, t)
= v(q, q̇, t)
∂t
(5.31)
Man bezeichnet q̇ = (q̇1 , · · · , q̇f ) als generalisierte Geschwindigkeiten und behandelt
in der Transformationsgleichung (5.31) q, q̇, und t als unabhängige Variablen. Dann
gilt
∂v
∂x
=
(5.32)
∂ q̇n
∂qn
f
X
∂2x
d ∂x
∂2x
∂v
=
q̇m +
=
.
(5.33)
dt ∂qn
∂q
∂q
∂t∂q
∂q
m
n
n
n
m=1
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
92
Der Beschleunigungsterm in der Bewegungsgleichung läßt sich damit wie folgt umformen
X
X d ∂xi
∂xi
d ∂xi
mi ẍi
=
mi vi
− mi vi
∂qn
dt
∂qn
dt ∂qn
i
i
X d
∂vi
∂vi
=
mi vi
− mi vi
dt
∂ q̇n
∂qn
i
d ∂T
∂T
=
−
.
(5.34)
dt ∂ q̇n
∂qn
Hierbei bezeichnet
T (q, q̇, t) =
X1
i
2
mi vi (q, q̇, t)2
die kinetische Energie des Systems als Funktion der generalisierten Koordinaten und
Geschwindigkeiten.
Generalisierte Kraft
Der Kraftterm in der Bewegungsgleichung wird als generalisierte Kraft,
Qn (q, q̇, t) = F · an
(5.35)
bezeichnet. Damit lauten die auf generalisierte Koordinaten transformierten Bewegungsgleichungen
d
dt
∂T
∂ q̇n
−
∂T
= Qn .
∂qn
(5.36)
Generalisiertes Potential
Falls die Kraft F aus einem Potential U (x) abgeleitet werden kann,
F =−
∂U
,
∂x
so gilt dies auch für die generalisierte Kraft,
Qn (q, q̇, t) = F · an = −
∂U (x) ∂x
∂U (x(q, t))
·
=−
.
∂x
∂qn
∂qn
(5.37)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
93
Allgemeiner nennt man eine Funktion U (q, q̇, t) ein generalisierte Potential, falls die
generalisierte Kraft in der Form
d
Qn =
dt
∂U
∂ q̇n
−
∂U
∂qn
(5.38)
darstellbar ist. Das geschwindigkeitunabhängige Potential (5.37) ist ein Spezialfall
hiervon.
Lagangegleichungen zweiter Art
Existiert ein Potential, so können die kinetische und die potentielle Energie in der
Bewegungsgleichung (5.36) zusammengefasst werden,
d ∂T
∂T
− Qn
−
dt ∂ q̇n
∂qn
d ∂T
d ∂U
∂T
∂U
=
−
−
−
dt ∂ q̇n
∂qn dt ∂ q̇n
∂qn
∂(T − U )
d ∂(T − U )
−
.
=
dt
∂ q̇n
∂qn
Damit erhält man aus (5.36)
d
dt
∂L
∂ q̇n
=
∂L
,
∂qn
n = 1, · · · , f,
(5.39)
mit
L(q, q̇, t) = T (q, q̇, t) − U (q, q̇, t).
Man nennt L(q, q̇, t) die Lagrangefunktion und (5.39) die Lagrangegleichungen zweiter Art. Dies ist ein System von f Differentialgleichungen zweiter Ordnung für die
Bewegung q(t) auf der Hyperfläche. Es ist im allgemeinen einfacher zu behandeln
als die 3N + k gekoppelten Lagrangegleichungen erster Art.
5.3.2
Anwendung
Lösungsweg
Ein mechanisches System mit holonomen Zwangsbedingungen wird damit
vollständig durch die Wahl der verallgemeinerten Koordinaten q, durch Anfangsbedingungen (q0 , q̇0 ) und durch die Angabe der Lagrangefunktion L(q, q̇, t) in diesen
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
94
Koordinaten beschrieben. Dabei ist die Form der Gleichungen von der Koordinatenwahl unabhängig.
Das Verfahren zur Lösung eines mechanischen Problems mit den Lagrangegleichungen zweiter Art besteht aus den folgenden Teilschritten:
1. Angabe der holonomen Zwangsbedingungen
2. Wahl der generalisierten Koordinaten: q
3. Bestimmung der Koordinatentransformation: x = x(q, t)
4. Aufstellen der Lagrangefunktion. Hierzu müssen T und U als Funktion von q,
q̇ und t angegeben werden.
5. Herleitung der Bewegungsgleichungen aus den Lagrangegleichungen
6. Lösung der Bewegungsgleichungen
7. Bestimmung der Integrationskonstanten durch Anfangsbedingungen
Massenpunkt auf schiefer Ebene
Ein einfaches Beispiel ist die Bewegung eines Massenpunktes auf einer schiefen Ebene
mit Neigungswinkel α im Schwerefeld (Abb.5.2). Verwendet man Polarkoordinaten
(r, ϕ), so ist der Winkel durch die Zwangsbedingung, ϕ − α = 0 festgelegt. Der
Radius kann als verallgemeinerte Koordinate q = r gewählt werden. Die Koordinatentransformation lautet
x = r cos α,
z = r sin α .
Durch Ableitung erhält man die Geschwindigkeiten
ẋ = ṙ cos α,
ż = ṙ sin α
und damit die kinetische Energie
1
1
1
T = m(ẋ2 + ż 2 ) = mṙ2 (cos2 α + sin2 α) = mṙ2 .
2
2
2
Die potentielle Energie ist
U = mgz = mgr sin α.
Die Lagrangefunktion besitzt damit die Form
1
L(r, ṙ) = T − U = mṙ2 − mgr sin α.
2
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
95
Mit den partiellen Ableitungen
∂L
= mṙ,
∂ ṙ
∂L
= −mg sin α,
∂r
folgt aus (5.39) die Bewegungsgleichung
mr̈ = −mg sin α .
Dasselbe Ergebnis hatten wir in (5.7) mit der Newtonschen Bewegungsgleichung
abgeleitet. Die dort benötigte Zwangskraft tritt jetzt nicht mehr in Erscheinung.
5.3.3
Erhaltungsgrößen
Zyklische Koordinaten und generalisierte Impulse
Analog zur Impulserhaltung in der Newtonschen Mechanik folgt aus den Lagrangegleichungen (5.39) der Erhaltungssatz
∂L
=0
∂qn
=⇒
pn =
∂L
= const.
∂ q̇n
(5.40)
Man bezeichnet die Größe
pn =
∂L
∂ q̇n
(5.41)
als generalisierten Impuls. Hängt die Lagrangefunktion nicht explizit von einer generalisierten Koordinate qn ab, so nennt man diese Koordinate zyklisch. Für jede
zyklische Variable ist der zugehörige generalisierte Impuls erhalten.
Energieerhaltung
Der Energieerhaltungssatz kann in der Lagrangemechanik in der folgenden Form
angegeben werden
∂L
=0
∂t
=⇒
E=
X
pn q̇n − L = const.
(5.42)
n
Ist die Lagrangefunktion nicht explizit zeitabhängig, so ist die Energie E erhalten.
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96
Beweis: Differenziert man L(q, q̇, t) nach der Zeit und verwendet die Lagrangegleichungen (5.39), so folgt
X ∂L
d
∂L
∂L
L(q, q̇, t) =
q̇n +
q̈n +
dt
∂qn
∂ q̇n
∂t
n
X
∂L
=
ṗn q̇n + pn q̈n +
∂t
n
!
d X
∂L
=
pn q̇n +
.
dt
∂t
n
Damit gilt
!
d
dt
X
pn q̇n − L
=−
n
∂L
.
∂t
(5.43)
Die Zwangsbedingungen seien nun skleronom und die potentielle Energie sei geschwindigkeitsunabhängig. Dann gilt für die Energie die übliche Beziehung
E=
X
pn q̇n − L = T + U.
(5.44)
n
Beweis: Für skleronome Zwangsbedingungen ist die Koordinatentransformation
x = x(q) zeitunabhängig. Mit (5.27) und (5.28) lauten die entsprechenden Transformationen für die Geschwindigkeit und die kinetische Energie,
X ∂x
q̇n
∂qn
n
1X
T =
µnm q̇n q̇m ,
2 n,m
v =
mit
µnm (q) =
X
i
mi
(5.45)
(5.46)
∂xi ∂xi
.
∂qn ∂qm
Die kinetische Energie ist eine positiv definite quadratische Form mit einer symmetrischen Matrix µnm = µmn . Für geschwindigkeitsunabhängige Potentiale werden
die verallgemeinerten Impulse allein durch die kinetische Energie bestimmt
pn =
∂L
∂T
=
.
∂ q̇n
∂ q̇n
(5.47)
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97
Die Differentiation ergibt
1X
µnm (δnk q̇m + q̇n δkm )
2 n,m
1X
1X
=
µkm q̇m +
µnk q̇n
2 m
2 n
X
1X
=
(µkm + µmk )q̇m =
µkm q̇m .
2 m
m
pk =
Damit erhält man die Gesamtenergie
X
E=
pk q̇k − L = 2T − (T − U ) = T + U.
(5.48)
(5.49)
k
5.4
Variationsprinzipien
Die Lagrangegleichungen zweiter Art können aus einem Variationsprinzip hergeleitet
werden. Diese Formulierung ist besonders elegant, da das vollständige mechanische
System durch eine einfache skalare Gleichung beschrieben wird. Außerdem findet
das Hamiltonsche Prinzip Anwendung in anderen Gebieten der Physik, wie z.B. in
Feldtheorien.
5.4.1
Eulersche Gleichung der Variationsrechung
Differential und stationäre Punkte
Bei Variationsproblemen handelt es sich um eine Verallgemeinerung der Extremwertbestimmung von Funktionen. Für eine Funktion f (x1 , · · · , xn ) nennt man die
Punkte, bei denen das Differential der Funktion verschwindet stationäre Punkte:
(x01 , · · · , x0n ) stationär
⇐⇒
df = 0 .
Das Verschwinden des Differentials ist gleichbedeutend mit dem Verschwinden aller
partiellen Ableitungen. Diese Bedingung ist notwendig aber nicht hinreichend für
ein Extremum. Es können neben Extrema auch Wendepunkte oder Sattelpunkte
auftreten. Daher bezeichnet man die Punkte, bei denen das Differential verschwindet
allgemein als stationäre Punkte.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
98
Variation und stationäre Funktionen
Bei Variationsproblemen betrachtet man anstelle von Funktionen Funktionale. Funktionale sind Abbildungen aus einem Funktionenraum in den Zahlenkörper:
J : y 7→ J[y] .
Zur Einführung in die Methode der Variationsrechnung behandeln wir die folgende
Aufgabenstellung. Gesucht sei diejenige Funktion y(x) im Intervall x1 < x < x2 , mit
den Randwerten
y(x1 ) = y1 ,
y(x2 ) = y2
für die das Integral
Zx2
J[y] =
dxF (y, y 0 , x)
(5.50)
x1
stationär ist. Hierbei seien die Funktionen F (y, y 0 , x) und y(x) bezüglich ihrer Argumente zweimal stetig differenzierbar.
Das Variationsproblem kann auf eine gewöhnliche Extremwertaufgabe zurückgeführt
werden. Hierzu sei vorausgesetzt, daß eine Lösung y(x) des Variationsproblems innerhalb einer vorgegebenen Funktionenklasse existiert. Die Vergleichsfunktionen in
einer Nachbarschaft dieser Funktion seien
y(x) = y(x) + δy(x),
δy(x) = η(x) .
(5.51)
wobei ein Parameter ist, der hinreichend klein gewählt werden kann. Man nennt
δy eine Variation von y. Aufgrund der vorgegebenen Randwerte muß die Variation
für alle Vergleichsfunktionen y am Rand verschwinden
δy(x1 ) = δy(x2 ) = 0.
(5.52)
Mit diesem Ansatz ist J() = J[y + η] eine gewöhnliche Funktion der Variablen .
In Analogie zum Differential einer Funktion bezeichnet man den Ausdruck
dJ() δJ = J[y + δy] − J[y] =
(5.53)
d =0
als die Variation von J.
Funktionen bei denen die Variation von J verschwindet heißen stationäre Funktionen:
y
stationär
⇐⇒
δJ = 0.
(5.54)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
99
Eulersche Gleichung
Die Variation δJ läßt sich berechnen, indem man bis zur linearen Ordnung in δy
bzw. δy 0 entwickelt,
Zx2
δJ =
dxF (y + δy, y 0 + δy 0 , x) − F (y, y 0 , x)
x1
Zx2
dx
=
∂F
∂F
δy + 0 δy 0 .
∂y
∂y
(5.55)
x1
Ein typischer Schritt der Variationsrechnung besteht nun darin, den zweiten Term
partiell zu integrieren, so daß dieser ebenfalls proportional zu δy wird,
x
Zx2
∂F
d ∂F
∂F 2
δy + dx
δy −
δy
δJ =
∂y 0 x1
∂y
dx ∂y 0
x1
(5.56)
Der Randterm verschwindet wegen der Randbedingung (5.52). Für stationäre Funktionen gilt
Zx2
d ∂F
∂F
−
η(x) = 0.
(5.57)
δJ = dx
∂y
dx ∂y 0
x1
An dieser Stelle wird ein Hilfssatz der Variationsrechnung benötigt. Sei η(x) eine
beliebige zweimal stetig differenzierbare Funktion. Dann gilt
Zx2
dx ϕ(x)η(x) = 0
=⇒
ϕ(x) = 0.
(5.58)
x1
Zum Beweis nehmen wir an, es sei ϕ(x) 6= 0 für ξ1 < x < ξ2 , wobei dieses Intervall
beliebig klein sein kann. Wählt man dann für η(x) eine Funktion, die außerhalb
dieses Intervalls verschwindet und innerhalb des Intervalls ungleich Null ist, z.B.
(x − ξ1 )4 (x − ξ2 )4 ;
ξ1 < x < ξ2
η(x) =
0
;
sonst
so ist das Integral ungleich Null im Widerspruch zur Voraussetzung. Daher gilt ϕ = 0
im ganzen Intervall, x1 < x < x2 .
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100
Mit diesem Hilfssatz folgt aus (5.57) die Eulersche Differentialgleichung der Variationsrechnung
d
dx
∂F
∂y 0
−
∂F
= 0.
∂y
(5.59)
Dies ist eine Differentialgleichung zweiter Ordnung für die gesuchte Funktion y(x).
Die beiden Integrationskonstanten werden durch die Randbedingungen festgelegt.
5.4.2
Hamiltonsches Prinzip
Ein Vergleich der Lagrangegleichungen zweiter Art (5.39) mit der Eulerschen Differentialgleichung der Variationsrechnung (5.59) legt es nahe, daß die Lagrangegleichungen aus einem Variationsprinzip abgeleitet werden können. Dieses Variationsprinzip wird als Hamiltonsches Prinzip bezeichnet.
Für ein physikalisches System mit der Lagrangefunktion L(q, q̇, t) definiert man die
Wirkung
Zt2
dt L(q, q̇, t) .
S[q] =
(5.60)
t1
Die Wirkung ist ein Funktional der Bahn q(t), die in einem Zeitintervall t1 < t < t2
zwischen einem Anfangspunkt q(t1 ) und einem Endpunkt q(t2 ) durchlaufen wird.
Nach dem Hamiltonschen Prinzip ist die Wirkung für die tatsächlich durchlaufene
Bahn stationär,
δS[q] = 0
mit
δq(t1 ) = δq(t2 ) = 0 .
(5.61)
Als Vergleichsfunktionen sind hier alle Bahnen zwischen dem Anfangspunkt q(t1 )
und dem Endpunkt q(t2 ) zugelassen. Da die Anfangs- und Endpunkte vorgegeben
sind, verschwindet die Variation in diesen Randpunkten.
Der Beweis des Hamiltonschen Prinzips beruht auf der oben dargestellten Variationsrechnung. Anstatt einer Funktion y(x) müssen nun die f Funktionen q1 (t), · · · , qf (t)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
101
variiert werden:
δS = S[q + δq] − S[q]
Zt2
dt {L(q + δq, q̇ + δ q̇, t) − L(q, q̇, t)}
=
t1
Zt2
dt
=
t1
f X
∂L
n=1
∂L
δqn +
δ q̇n
∂qn
∂ q̇n

f 
X
∂L

t2 Zt2 
∂L
d ∂L
=
δqn + dt
−
δqn = 0 .
 ∂ q̇n

∂qn dt ∂ q̇n
t1
n=1
(5.62)
t1
Aufgrund der Randbedingungen δq(t1 ) = δq(t2 ) = 0 verschwindet der Randterm
bei der partiellen Integration. Da die Variationen δqn (t) unabhängig voneinander
gewählt werden können, muß jeder der f Summanden für sich allein verschwinden.
Wegen (5.58) gilt dann
∂L
d ∂L
−
= 0,
n = 1, · · · , f .
(5.63)
dt ∂ q̇n
∂qn
Die Eulerschen Differentialgleichungen des Hamiltonschen Variationsprinzips sind
also genau die Lagrangegleichungen der Mechanik.
Eichtransformationen
Die Lagrangefunktion eines mechanischen Systems ist nicht eindeutig. Multipliziert
man die Lagrangefunktionen L mit einem konstanten Faktor c, so führt die neue
Lagrangefunktion L0 = cL auf dieselben Bewegungsgleichungen. Dasselbe gilt bei
Addition einer Konstanten, L0 = L + c. Diese Lagrangefunktionen sind also völlig
gleichwertig.
Unter einer Eichtransformation versteht man eine allgemeinere Transformation
d
f (q, t),
(5.64)
dt
der Lagrangefunktion. Die neue Lagrangefunktion L0 unterscheidet sich dabei von
der alten Lagrangefunktion L durch eine totale Zeitableitung einer beliebigen Funktion f (q, t). Beide Lagrangefunktionen sind gleichwertig. Man sagt auch, die Lagrangefunktion ist nur bis auf eine totale Zeitableitung bestimmt.
L0 = L +
Der Beweis der Gleichwertigkeit der Lagrangefunktionen bei Eichtransformationen
ist eine einfache Folgerung aus dem Hamiltonschen Prinzip. Wegen
t2
t2
Zt2
f
X
df
∂f
0
δS − δS = δ dt
= δf (q, t) =
δqn = 0,
dt
∂qn
t1
t1
n=1
t1
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
102
führt die Variation der Wirkung in beiden Fällen zum selben Ergebnis. Hierbei
wurde verwendet, daß die Variation in den Endpunkten der Bahn verschwindet.
Galileitransformation als Eichtransformation
Bei einer Galileitransformation mit einer konstanten Geschwindigkeit u
v 0i = v i − u,
r 0i = r − ut
erhält man aus der Lagrangefunktion
L=
N
X
1
i=1
2
mi vi2
N X
i−1
X
−
U (r i − r j )
i=2 j=1
die neue Lagrangefunktion
0
L
=
N
X
1
i=1
2
mi vi02
d
= L+
dt
−
N X
i−1
X
U (r 0i − r 0j )
i=2 j=1
N X
i=1
1
2
−mi v i ·u + mi u t .
2
Die Lagrangefunktion im neuen Inertialsystem unterscheidet sich also von der
Lagrangefunktion im alten Inertialsystem durch eine Eichtransformation.
Eichtransformation der elektromagnetischen Potentiale
In der Elektrodynamik können die elektrischen und magnetischen Felder aus einem
Vektorpotential A(r, t) und einem skalaren Potential φ(r, t) in folgender Weise abgeleitet werden,
1
E = − ∂t A − ∇φ,
B = ∇ × A.
c
Hierbei ist c die Lichtgeschwindigkeit und wir verwenden das Gaußsche Maßsystem.
Die Potentiale sind nicht eindeutig. Bei einer Transformation
A0 = A + ∇χ(r, t),
1
φ0 = φ − ∂t χ(r, t)
c
mit einer beliebigen Funktion χ(r, t) bleiben die Felder E und B invariant. Man
nennt diese Transformationen Eichtransformationen der Potentiale. Die Lagrangefunktion einer Ladung q im elektromagnetischen Feld ist
1
1
L = mv 2 − q(φ − v · A).
2
c
(5.65)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
103
Einer Eichtransformation der Potentiale entspricht eine Eichtransformation der Lagrangefunktion,
1 2
1
0
0
0
L =
mv − q φ − v · A
2
c
1 2
1
1
1
=
mv − q φ − ∂t χ(r, t) − v · A − v·∇χ(r, t)
2
c
c
c
d q
= L+
χ(r, t) .
dt c
5.5
Symmetrien und Erhaltungsgrößen
Aus dem Hamiltonschen Prinzip folgt ein allgemeiner Zusammenhang zwischen Symmetrien und Erhaltungsgrößen. Er wurde von der Mathematikerin Emmy Noether
abgeleitet und wird als Noether-Theorem bezeichnet.
Punkttransformationen
Beim Noether-Theorem betrachtet man Symmetrien gegenüber einer Klasse einparametriger infinitesimaler Punkttransformationen,
q 0 = q + ψ(q, q̇, t),
t0 = t + φ(q, q̇, t).
(5.66)
Hierbei bezeichnet ψ = (ψ1 , · · · , ψf ) eine Transformation der verallgemeinerten Koordinaten, φ eine Transformation der Zeit und einen infinitesimal kleinen Parameter.
Invarianzbedingung
Die Wirkung des Systems als Funktion der neuen Koordinaten sei
0
S0 =
Zt2
dt0 L(q 0 , q̇ 0 , t0 ).
t01
mit einer Lagrangefunktion L0 = L(q 0 , q̇ 0 , t0 ). Für = 0 ergibt sich die identische
Abbildung. Die Lagrangefunktion des Systems als Funktion der alten Koordinaten
ist daher,
L = L(q 0 , q̇ 0 , t0 )=0 = L(q, q̇, t).
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104
Ersetzt man in der Wirkung die Integrationsvariable t0 durch t und entwickelt um
die Stelle = 0 bis zur linearen Ordnung in , so folgt
S0 =
Zt2
t1
Zt2
dt0
d dt0
0 0 0
0 0 0
dt
dt
L(q , q̇ , t ) = S + L(q , q̇ , t ) ,
dt
d dt
=0
t1
wobei S die Wirkung in den alten Koordinaten bezeichnet. Eine Symmetrie des Systems gegenüber einer infinitesimalen Punkttransformationen liegt dann vor, wenn
die Transformation nur zu einer ”Umeichung” der Lagrangefunktion führt. In diesem
Fall gilt für den Zusatzterm in der Wirkung S 0
d
d
dt0
d
0 0 0
L(q , q̇ , t ) = f (q, t).
dt
dt
=0
(5.67)
Die Invarianzbedingung (5.67) ist der formale Ausdruck für eine Symmetrie des
durch die Lagrangefunktion L beschriebenen Systems gegenüber der Punkttransformation (5.66).
Erhaltungsgrößen
Das Noether-Theorem kann nun in der folgenden Form angegeben werden. Für jede
einparametrige infinitesimale Punkttransformation (5.66), die einer Invarianzbedingung der Form (5.67) genügt, gibt es eine Erhaltungsgröße. Diese lautet
f
X
∂L
I=
ψn +
∂
q̇
n
n=1
!
f
X
∂L
L−
q̇n φ − f (q, t) .
∂
q̇
n
n=1
(5.68)
Als Beispiele betrachten wir die Energie-, Impuls- und Drehimpulserhaltung. Die
Energieerhaltung folgt aus der Homogenität der Zeit. Für eine infinitesimale Zeittranslation, t0 = t + , ist ψ = 0 und φ = 1. Hängt die Lagrangefunktion nicht
explizit von der Zeit ab, so ist die Invarianzbedingung (5.67) mit f = 0 erfüllt.
Dann entspricht der Erhaltungsgröße (5.68) die Energie,
f
X
∂L
E=
q̇n − L.
∂ q̇n
n=1
Die Impulserhaltung folgt aus der Homogenität des Raumes. Für eine infinitesimale
räumliche Translation, qn0 = qn + , ist ψn = 1 und φ = 0. Hängt die Lagrangefunktion nicht explizit von der Koordinate qn ab, so ist (5.67) mit f = 0 erfüllt. Dann
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
105
entspricht der Erhaltungsgröße (5.68) der Impuls,
pn =
∂L
.
∂ q̇n
Die Drehimpulserhaltung folgt aus der Isotropie des Raumes. Bei einer infinitesimalen Drehung um eine Drehachse n ändern sich die Ortsvektoren aller Teilchen
gemäß r 0i = r i + n×r i . Für diese Transformation ist ψ i = n×r i und φ = 0. Aus
der Invarianz von L mit f = 0 folgt die Erhaltungsgröße
N
N
X
X
∂L
∂L
· (n×r i ) =
n· r i ×
.
∂ ṙ i
∂ ṙ i
i=1
i=1
Dies ist die Komponente des Drehimpulses in Richtung der Drehachse n.
Beweis des Noether-Theorems
Aus der Zeittransformation in (5.66) folgt
dt0
dφ
=1+
(5.69)
dt
dt
In linearer Ordnung in erhält man für die Transformation der verallgemeinerten
Geschwindigkeiten
dqn0 dt
dqn0
=
0
dt dt0 dt
dψn
dqn
dφ
+
=
1−
dt
dt
dt
dψn
dφ
= q̇n + − q̇n
.
dt
dt
q̇n0 =
(5.70)
Die linke Seite von (5.67) ergibt
d dt0 0 dL0 dφ
L =
+
L
d dt
d =0
dt
=0
f
X
∂L
∂L dψn
dφ
∂L
dφ
=
ψn +
− q̇n
+
φ+L
∂qn
∂ q̇n
dt
dt
∂t
dt
n=1
!
f f
X
X
∂L dψn
∂L
dφ ∂L
d ∂L
+ L−
=
ψn +
q̇n
+
φ
dt
∂
q̇
∂
q̇
dt
∂
q̇
dt
∂t
n
n
n
n=1
n=1
!
"
! #
f
f
X ∂L
d X ∂L
d
=
ψn +
L−
q̇n φ .
(5.71)
dt n=1 ∂ q̇n
dt
∂ q̇n
n=1
In der dritten Zeile wurden die Lagrangegleichungen (5.63), in der vierten der Energiesatz (5.43) verwendet. Mit diesem Ausdruck ergibt die Integration von (5.67) die
Erhaltungsgröße (5.68).
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
5.6
106
Schwingungen
Gegeben sei ein konservatives System mit f Freiheitsgraden, das sich in einem stabilen Gleichgewicht befindet. Bei kleinen Auslenkungen der Massenpunkte aus ihrer
Gleichgewichtslage führt das System Schwingungen aus. Diese können als Überlagerung von Normalmoden dargestellt werden, denen jeweils eine charakteristische
Schwingungsfrequenz zugeordnet ist.
5.6.1
Entwicklung um die Gleichgewichtslage
Sei ξ = q − q0 eine Auslenkung des Systems aus der Gleichgewichtslage q0 . Wir
wählen diese Auslenkungen als verallgemeinerte Koordinaten und entwickeln die
kinetische und die potentielle Energie bis zur quadratischen Ordnung in ξ.
Die kinetische Energie eines konservativen Systems besitzt die Form (5.45). Da im
˙ In quadratischer Ordnung ergibt sich für die
Gleichgewicht q̇0 = 0 gilt, ist q̇ = ξ.
kinetische Energie der Ausdruck
f
X ∂xi ∂xi 1 X
µnm ξ˙n ξ˙m
mit
µnm =
mi
.
T =
2 n,m=1
∂q
∂q
n
m
q=q0
i
Da das Produkt der Geschwindigkeiten bereits von quadratischer Ordnung ist, kann
µnm im Gleichgewicht ausgewertet werden. In dieser Näherung ist µnm eine konstante
Matrix. Diese ist symmetrisch laut Definition und positiv definit, da die kinetische
Energie für ξ˙ 6= 0 positiv ist.
Im stabilen Gleichgewicht besitzt die potentielle Energie U = U (q) ein Minimum,
d.h. es gilt
∂U = 0.
∂qn q=q0
Die Entwicklung der potentiellen Energie lautet daher
f
1 X
U = U (q0 ) +
knm ξn ξm
2 n,m=1
mit
knm
∂ 2 U =
.
∂qn ∂qm q=q0
Ohne Einschränkung kann U (q0 ) = 0 gewählt werden, da die Bewegungsgleichungen
nicht von einer additiven Konstante in der Lagrangefunktion abhängen. Die Matrix
knm ist definitionsgemäß symmetrisch und positiv definit, da die potentielle Energie
nach Voraussetzung im Gleichgewicht ein Minimum annimmt.
Damit erhält man in quadratischer Ordnung die Lagrangefunktion
f
˙ =
L(ξ, ξ)
1 X
µnm ξ˙n ξ˙m − knm ξn ξm .
2 n=1
(5.72)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
107
Zur Aufstellung der Lagrangegleichungen berechnen wir zuerst das totale Differential
von L unter Berücksichtigung der Symmetrie von µnm und knm ,
f
1 X
dL =
µnm dξ˙n ξ˙m + ξ˙n dξ˙m − knm (dξn ξm + ξn dξm )
2 n,m=1
f
1 X
(µnm + µmn ) ξ˙m dξ˙n − (knm + kmn ) ξm dξn
=
2 n,m=1
=
f
X
µnm ξ˙m dξ˙n − knm ξm dξn .
n=1
Daraus erhält man für die verallgemeinerten Impulse und Kräfte
f
X
∂L
µnm ξ˙m
=
∂ ξ˙n
m=1
f
X
∂L
= −
knm ξm .
∂ξn
m=1
5.6.2
Schwingungsgleichung
Die zugehörigen Lagrangegleichungen stellen ein Gleichngssystem von f gekoppelten
linearen Oszillatoren dar,
f
X
µnm ξ¨m + knm ξm = 0
(5.73)
µ · ξ¨ + k · ξ = 0.
(5.74)
m=1
In Vektornotation gilt
Die Bewegungsgleichungen (5.74) bilden ein Differentialgleichungessystem mit konstanten Koeffizienten, das durch einen Exponentialansatz,
ξ = Ae−iωt ,
(5.75)
gelöst werden kann. Mit diesem Lösungsansatz folgt ein homogenes algebraisches
Gleichungssystem
k − ω 2 µ · A = 0.
(5.76)
Nichtverschwindende Lösungen existieren nur für bestimmte Werte von ω 2 die durch
die Lösbarkeitsbedingung des linearen Gleichungssystems
D(ω 2 ) = det k − ω 2 µ = 0
(5.77)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
108
bestimmt werden. Hierbei ist D(λ) ein Polynom vom Grad f , das f komplexe Nullstellen besitzt. Diese seien
k = 1, · · · , f .
λk ,
Treten Mehrfachnullstellen auf, so sind einige der λk gleich. Zu einer r-fachen Nullstelle bestimmt das Gleichungessystem
(k − λk µ) · A(k) = 0
(5.78)
einen r-dimensionalen Lösungsraum, d.h. r der Komponenten von A(k) können beliebig gewählt werden, die restlichen Komponenten sind dann durch das Gleichungssystem eindeutig bestimmt. Insgesamt findet man auf diese Weise f Lösungsvektoren
A(k) .
Eigenfrequenzen
√
Zu jeder Nullstelle λk gibt es eine Frequenz ωk = λk . Diese werden auch als
Eigenfrequenzen bezeichnet. Wir zeigen, daß die Eigenfrequenzen für ein stabiles
Gleichgewicht reell sind.
Im allgemeinen besitzt ein Polynom komplexe Nullstellen. Aus der Symmetrie der
Matrizen folgt jedoch, daß die Nullstellen λk reell sind. Um dies zu zeigen, nehmen
wir zunächst an, es gäbe eine komplexe Nullstelle λ und einen zugehörigen komplexen
Lösungsvektor A. Durch skalare Multiplikation von (5.78) mit A∗ erhält man
λ=
A∗ · k · A
.
A∗ · µ · A
Die konjugiert komplexe Gleichung ist
λ∗ =
(A∗ · k · A)∗
(A∗ · µ · A)∗
∗
Für eine hermitesche Matrix, Mmn = Mnm
, ist
(A∗ · M · A)∗ = A · M ∗ · A∗ = A∗ · M · A
reell. Die reellen symmetrischen Matrizen µmn und kmn sind auch hermitesch. Daraus
folgt λ∗ = λ, so daß λ tatsächlich reell ist. Damit können auch die Lösungsvektoren
A reell gewählt werden. Da die Matrizen außerdem positiv definit sind, folgt sogar,
daß alle Nullstellen positiv sind. Daher können auch die Eigenfrequenzen ωk reell
und positiv gewählt werden.
Eine Sonderrolle spielt die doppelte Nullstelle ωk2 = 0. Wegen ξ¨ = −ω 2 ξ entspricht
diese Lösung einer gleichförmigen Bewegung
ξ = ξ0 + ξ˙0 t.
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109
Normalmoden
Die Lösungen der Schwingungsgleichung für ωk > 0 besitzen die Form
ξ (k) = A(k) < Ck e−iωk t = A(k) Bk cos(ωk t + αk ),
(5.79)
wobei Ck = Bk e−iαk eine komplexe Integrationskonstante darstellt und die Lösungsvektoren A(k) durch eine Normierungsvorschrift
A(k) · µ · A(l) = δkl
(5.80)
festgelegt wurden. Dies sind Schwingungen mit genau einer Eigenfrequenzen, die als
Normalmoden bezeichnet werden.
Die allgemeine Lösung des linearen Gleichungssystems ist eine Superposition aller
Normalmoden,
f
X
ξ=
A(k) Bk cos(ωk t + αk ) .
(5.81)
k=1
Die hierbei auftretenden 2f Integrationskonstanten werden durch die Anfangsbe˙
dingungen ξ(0) = ξ0 und ξ(0)
= ξ˙0 bestimmt.
5.7
5.7.1
Starrer Körper
Freiheitsgrade
Ein Körper wird als starrer Körper bezeichnet, wenn alle Punkte der Massenverteilung feste Relativabstände zueinander besitzen. Die Massenverteilung kann
punktförmig oder kontinuierlich vorgegeben sein.
Ein Punkt Pν eines starren Körpers kann in einem Inertialsystem S durch den Ortsvektor
r ν,S = r 0 + r ν
(5.82)
dargestellt werden. Hierbei bezeichnet r 0 einen beliebigen Bezugspunkt im starren
Körper, der den Ursprung eines körperfesten Bezugssystems K bildet. Der Ortsvektor von Pν im körperfesten System ist r ν . Die Basisvektoren und die Koordinaten
in den beiden Bezugssystemen werden durch folgende Notation unterschieden:
S : r S = x(t)ex + y(t)ey + z(t)ez ,
K : r = x1 e1 (t) + x2 e2 (t) + x3 e3 (t).
Ein starrer Körper besitzt 6 Freiheitsgrade, drei Freiheitsgrade der Translation und
drei Freiheitsgrade der Rotation. Die Lage seiner Punkte kann dementsprechend
durch die 3 Komponenten des Bezugspunktes und durch die 3 Winkel der Drehung
von K relativ zu S angegeben werden.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
5.7.2
110
Eulersche Winkel
Die Drehung von K relativ zu S kann durch die drei Eulerwinkel φ, θ und ψ angegeben werden, die durch die folgenden drei aufeinanderfolgenden Drehungen definiert
sind. Die xy Ebene von S schneidet die x1 x2 Ebene von K entlang einer Geraden, die
als Knotenlinie bezeichnet wird. Die erste Drehung ist eine Drehung um die z-Achse
um den Winkel φ, so daß die x-Achse mit der Knotenlinie zur Deckung gebracht
wird. Der Einheitsvektor der gedrehten x-Achse zeigt entlang der Knotenlinie und
wird mit eK bezeichnet. Die zweite Drehung ist eine Drehung um die Knotenlinie
um den Winkel θ, so daß die z-Achse mit der x3 -Achse zur Deckung kommt. Bei
der dritten Drehung um die x3 -Achse um den Winkel ψ wird schließlich die x-Achse
von der Knotenlinie bis zur x1 -Achse gedreht. Damit sind die Achsen von S in die
Achsen von K überführt worden.
Die Einheitsvektoren der drei Drehachsen besitzen im körperfesten System die Darstellung
nφ = ez = sin θ sin ψe1 + sin θ cos ψe2 + cos θe3
nθ = eK = cos ψe1 − sin ψe2
nψ = e3
(5.83)
Abbildung 5.7: Eulerwinkel
5.7.3
Winkelgeschwindigkeit
Die Geschwindigkeit eines Punktes Pν ist
v ν,S = v 0 + ω × r ν .
(5.84)
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111
Der erste Term bezeichnet die Geschwindigkeit des Bezugspunktes, der zweite die
Geschwindigkeit der Drehung um den Bezugspunkt. Die Komponenten der vektoriellen Winkelgeschwindigkeit ω im körperfesten System werden mit
ω = pe1 + qe2 + re3 .
(5.85)
bezeichnet. Sie können in folgender Weise durch die Euler-Winkel ausgedrückt werden. Die infinitesimale Drehung um dϕ = ωdt im Zeitintervall dt kann additiv aus
den Drehungen um die drei Eulerwinkel zusammengesetzt werden,
ω = φ̇nφ + θ̇nθ + ψ̇nψ .
(5.86)
Die hierbei angenommene Additivität infinitesimaler Drehungen zeigt man wie folgt:
dr 1
dr 2
dr
ω
=
=
=
=
ω 1 ×rdt
ω 2 ×(r + dr 1 )dt = ω 2 ×rdt
dr 1 + dr 2 = (ω 1 + ω 2 )×rdt = ω×rdt
ω1 + ω2.
(5.87)
Die Komponenten von ω in K berechnen sich damit zu
p = ω · e1 = φ̇ sin θ sin ψ + θ̇ cos ψ
q = ω · e2 = φ̇ sin θ cos ψ − θ̇ sin ψ
r = ω · e3 = φ̇ cos θ + ψ̇
5.7.4
(5.88)
Trägheitstensor
Kinetische Energie
Die kinetischen Energie des starren Körpers kann durch Momente der Massenverteilung, die Gesamtmasse M , den Schwerpunkt R, und den Trägheitstensor
Θ=
X
mν rν2 I − r ν r ν
(5.89)
ν
ausgedrückt werden. Man findet
1
1
T = M v02 + ω·Θ · ω + ω·(R×M v 0 ).
2
2
(5.90)
Der erste Anteil ist die Translationsenergie des Bezugspunktes, der zweite die Rotationsenergie um den Bezugspunkt. Als neue Größe tritt hierbei der Trägheitstensor
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
112
auf. Der dritte Anteil ist ein Mischterm. Er verschwindet, wenn entweder der Bezugspunkt ruht (v 0 = 0) oder wenn der Schwerpunkt als Bezugspunkt gewählt wird
(R = 0).
Zur Herleitung dieses Ergebnisses summiert man die kinetischen Energien der einzelnen Massenpunkte mit den Geschwindigkeiten (5.84),
1X
mν (v 0 + ω × r ν )2
2 ν
1X
=
mν v02 + 2v 0 ·(ω × r ν ) + (ω × r ν )2
2 ν
1X
1
=
M v02 + ω·(R×M v 0 ) +
mν (ω × r ν )2 .
2
2 ν
T =
Der letzte Term stellt die Rotationsenergie dar. Sie kann auf folgende Weise umgeformt werden,
1X
mν (ω × r ν )·(ω × r ν )
2 ν
1X
mν ω· {r ν × (ω × r ν ))}
=
2 ν
1X
=
mν ω· rν2 ω − (ω · r ν ) r ν
2 ν
(
)
X
1
=
ω·
mν rν2 I − r ν r ν
·ω.
2
ν
Trot =
(5.91)
Der in Klammern stehende Ausdruck ist der Trägheitstensor.
Koordinatendarstellung des Trägheitstensors
Definiert man die Koordinaten des Punktes Pν durch xνi = r ν ·ei , so lautet die
Komponentendarstellung des Trägheitstensors
Θik = ei ·Θ · ek =
X
mν rν2 δik − xνi xνk
ν
Die entsprechende Darstellung der Rotationsenergie lautet
Trot =
3
1 X
Θik ωi ωk
2 i,k=1
(5.92)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
113
Für eine kontinuierliche Massenverteilung mit der Massendichte γ(r) kann die Summation durch eine Integration ersetzt werden,
Z
Z
M = dV γ(r),
Θik = dV γ(r) r2 δik − xi xk .
(5.93)
Trägheitsmomente
Eine einfachere Darstellung erhält man, indem man die Drehachse n als eine Koordinatenachse wählt. Hier gilt
1
Trot = Θnn ω 2 ,
2
Θnn = n · Θ · n,
ω = ωn.
Hierbei wird Θnn als das Trägheitsmoment des starren Körpers bezüglich der Drehachse n bezeichnet. Es kann nach der Formel
X
X
Θnn =
mν (n × r ν )2 =
mν rν2 sin2 ϑν
ν
ν
berechnet werden, wobei ϑν den Winkel zwischen r ν und n bezeichnet.
Hauptträgheitsmomente
Der Trägheitstensor ist symmetrisch und besitzt daher in einem beliebigen Koordinatensystem 6 unabhängige Elemente. Eine symmetrische Matrix kann durch eine
Drehung der Koordinatenachsen immer auf Diagonalform gebracht werden. Dieses
Koordinatensystem heißt Hauptachsensystem des Trägheitstensors, die Diagonalelemente der Matrix sind die Hauptträgheitsmomente. Die Hauptachsen xi und die
zugehörigen Hauptträgheitsmomente Θi findet man als Lösungen des Eigenwertproblems
Θ · xi = Θi xi ,
det |Θik − Θi δik | = 0.
(5.94)
Sind allle Hauptträgheitsmomente verschieden, so nennt man den starren Körper
einen unsymmetrischen Kreisel. Sind zwei Hauptträgheitsmomente gleich, so handelt es sich um einen symmetrischen Kreisel. Sind alle drei Hauptträgheitsmomente
gleich, so spricht man von einem Kugelkreisel.
Drehimpuls
Der Drehimpuls des starren Körpers um den Bezugspunkt r 0 kann ebenfalls mit
Hilfe des Trägheitstensors angegeben werden,
L = R×M v 0 + Θ · ω.
(5.95)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
114
Der erste Term verschwindet, wenn der Bezugspunkt ruht oder wenn der Schwerpunkt als Bezugspunkt gewählt wird. Unter diesen Voraussetzungen gilt
L = Θ · ω.
(5.96)
Der Trägheitstensor ist eine lineare Abbildung der Winkelgeschwindigkeit auf den
Drehimpuls. Nur bei Drehungen um eine Hauptträgheitsachse ist L parallel zu ω.
Zur Herleitung von (5.95) summiert man wieder die Einzeldrehimpulse,
X
L =
r ν ×mν (v 0 + ω × r ν )
ν
=
X
(mν r ν )×v 0 + mν r ν ×(ω × r ν )
ν
= R×M v 0 +
(
X
)
mν rν2 − r ν r ν
·ω.
(5.97)
ν
5.7.5
Eulersche Kreiselgleichungen
Die Änderungen des Gesamtimpulses P und des Gesamtdrehimpulses L eines starren Körpers genügen im Inertialsystem S den Gleichungen
d
P = F,
dt
d
L = N.
dt
(5.98)
Hierbei bezeichen
F =
X
F eν ,
N=
ν
X
r S,ν ×F eν
(5.99)
ν
die Summe der äußeren Kräfte bzw. Drehmomente. Wir beschränken uns auf den
Fall, in dem die von außen einwirkende Gesamtkraft verschwindet, so daß
X
X
F = 0,
N=
(r 0 + r ν )×F eν =
r ν ×F eν
ν
ν
gesetzt werden kann. Damit ist der Gesamtimpuls erhalten. Das Drehmoment kann
wie angegeben auf das körperfeste System bezogen werden.
Zur Vereinfachung des Drehimpulssatzes sei der Bezugspunkt so gewählt, daß für
den Drehimpuls (5.96) gilt. Die Achsen des körperfesten Bezugssystems können noch
so gewählt werden, daß das körperfeste System ein Hauptachsensystem darstellt. Die
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
115
Transformation der Drehimpulsänderung auf das körperfeste System ergibt dann,
dL dL =
+ω ×L
dt S
dt K
dω = Θ·
+ ω× (Θ · ω)
(5.100)
dt K
In Komponentenschreibweise lautet das Gleichungssystem
Θ1 ṗ + (Θ3 − Θ2 )qr = N1
Θ2 q̇ + (Θ1 − Θ3 )pr = N2
Θ3 ṙ + (Θ2 − Θ1 )pq = N3 .
(5.101)
Hierbei sind die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit durch (5.88) und die
Hauptträgheitsmomente durch (5.94) definiert. Diese Gleichungen werden als Eulersche Kreiselgleichungen bezeichnet. Sie bestimmen die Eulerwinkel und damit die
Orientierung des starren Körper als Funktion der Zeit.
5.7.6
Kräftefreie Bewegung
Bei der Diskussion der Eulerschen Kreiselgleichungen beschränken wir uns auf den
kräftefreien Fall. Hier verschwindet das Drehmoment N auf der rechten Seite von
(5.101).
Gleichförmige Rotation eines unsymmetrischen Kreisels
Wir untersuchen zuerst unter welchen Bedingungen ein unsymmetrischer Kreisel um
eine körperfeste Achse gleichförmig rotieren kann. Unter der Voraussetzung ω̇ = 0
folgt aus (5.100), daß der Drehimpuls parallel zur Winkelgeschwindigkeit gerichtet
sein muß,
L = Θ · ω = Θi ω
Dies ist die Bedingung für eine Hauptträgheitsachse. Somit sind gleichförmige Rotationen nur um Hauptträgheitsachsen möglich.
Die Drehachse sei nun nahezu parallel zu einer Hauptträgheitsachse. Ohne Einschränkung sei dies die Achse mit dem Hauptträgheitsmoment Θ1 , so daß q << p
und r << p gilt. In diesem Fall können die Bewegungsgleichungen (5.101) durch
Linearisierung in den kleinen Größen q und r vereinfacht werden,
Θ1 ṗ = 0
Θ2 q̇ + (Θ1 − Θ3 )pr = 0
Θ3 ṙ + (Θ2 − Θ1 )pq = 0.
(5.102)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
116
Aus der ersten Gleichung folgt, daß p = p0 als konstant angenommen werden kann.
Aus den beiden anderen Gleichungen erhält man die Schwingungsgleichungen
q̈ + Hq = 0,
r̈ + Hr = 0,
H=
(Θ1 − Θ3 )(Θ1 − Θ2 ) 2
p0 .
Θ2 Θ3
Für H > 0 ist die Drehung um die Hauptträgheitsachse stabil, für H < 0 instabil.
Stabile Drehungen erfolgen daher um die Hauptträgheitsachsen mit dem kleinsten
und dem größten Trägheitsmoment. Die Drehung um die Hauptträgheitsachse mit
dem mittleren Trägheitsmoment ist instabil.
Symmetrischer Kreisel
Gegeben sei nun ein symmetrischer Kreisel mit der Symmetrieachse x3 . Die Symmetrieachse wird als Figurenachse bezeichnet. Setzt man
Θ1 = Θ2 ,
w=
(Θ1 − Θ3 )
Θ1
so reduzieren sich die Bewegungsgleichungen (5.101) auf die Form
ṗ − wqr = 0
q̇ + wpr = 0
ṙ = 0.
(5.103)
Die Lösung bestimmt die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit im körperfesten
System,
p = φ̇ sin θ sin ψ + θ̇ cos ψ = a sin(wt + ψ0 ),
ṗ
q = φ̇ sin θ cos ψ − θ̇ sin ψ = = a cos(wt + ψ0 ),
w
r = φ̇ cos θ + ψ̇ = r0 ,
(5.104)
mit Integrationskonstanten a, ψ0 und r0 . Die Winkelgeschwindigkeit ω bildet einen
festen Winkel γ mit der Figurenachse, der durch tan γ = a/r0 bestimmt ist. Dabei
läuft sie auf einem Kegel, dem Polkegel, um die Figurenachse um.
Im Inertialsystem ist der Drehimpuls erhalten. Wählt man die z- Achse des Inertialsystems in Richtung des Drehimpulsvektors, so gilt L = L0 ez . Die Komponenten
von L im körperfesten System sind dann





 

L1
ez ·e1
sin θ sin ψ
θ1 p
 L2  = L0  ez ·e2  = L0  sin θ cos ψ  =  θ2 q  .
(5.105)
L3
ez ·e3
cos θ
θ3 r
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
117
Abbildung 5.8: Präzession
eines kräftefreien symmetrischen Kreisels.
Wegen θ3 r0 = const folgt aus der dritten Komponente L3 = L0 cos θ = θ3 r0 , daß der
Eulerwinkel
θ = θ0
konstant ist. Daher läuft die Figurenachse auf einem Kegel mit Öffnungswinkel 2θ0
um die raumfeste Drehimpulsachse um. Dieser Kegel wird als Präzessionskegel bezeichnet. Die Drehachse ω = φ̇ez + ψ̇e3 bildet mit der Drehimpulsachse ebenfalls
einen festen Winkel. Sie läuft auf dem sogenannten Spurkegel um die Drehimpulsachse um. Anschaulich ergibt sich die Präzession der Figurenachse, indem der Polkegel
auf dem Spurkegel abrollt.
Die restlichen beiden Eulerwinkel können durch die ersten beiden Gleichungen von
(5.104) bestimmt werden. Man erhält
φ̇2 sin2 θ0 = a2
=⇒
φ̇ sin θ0 sin ψ = a sin ψ
=⇒
a
t
sin θ0
ψ = ψ0 + wt.
φ = φ0 +
Kapitel 6
Hamiltonsche Mechanik
Die mechanischen Bewegungsgleichungen können als ein 2f dimensionales Differentialgleichungssystem erster Ordnung für Bewegungen im Phasenraum dargestellt
werden. An die Stelle der Lagrangefunktion tritt hier die Hamiltonfunktion. Die
Hamiltonsche Theorie ist von besonderer Bedeutung, da der Übergang zur Quantenmechanik hier durch einfache Quantisierungsregeln vollzogen werden kann.
6.1
Kanonische Gleichungen
Die verallgemeinerten Impulse werden durch die partiellen Ableitungen der Lagrangefunktion nach den verallgemeinerten Geschwindigkeiten definiert,
pn = pn (q, q̇, t) =
∂L
.
∂ q̇n
(6.1)
Wir suchen nun umgekehrt eine Funktion, deren partielle Ableitungen nach den verallgemeinerten Impulsen die verallgemeinerten Geschwindigkeiten bestimmen. Eine
solche Umkehrung läßt sich mit einer Legendretransformation erreichen.
Legendretransformation
Das totale Differential der Lagrangefunktion
X ∂L
∂L
∂L
dqn +
dq̇n +
dt
∂q
∂
q̇
∂t
n
n
n
X ∂L
∂L
=
dqn + pn dq̇n +
dt
∂q
∂t
n
n
dL =
118
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
119
drückt die Abhängigkeit dieser Funktion von den Variablen q, q̇ und t aus. In der
zweiten Zeile wurde nur die Definition der verallgemeinerten Impulse (6.1) substituiert. Subtrahiert man davon das Differential
X
X
d
pn q̇n =
pn dq̇n + q̇n dpn
n
n
so erhält man das Differential einer Funktion, die von den Variablen q, p und t
abhängt
!
X
X ∂L
∂L
d L−
p n qn =
dqn − q̇n dpn +
dt.
(6.2)
∂qn
∂t
n
n
Man definiert die Hamiltonfunktion H = H(p, q, t) durch
X
H = H(p, q, t) =
pn q̇n − L.
(6.3)
n
Dies ist die Energie des Systems, ausgedrückt durch die Variablen q, p und t. Die
partiellen Ableitungen der Hamiltonfunktion nach diesen Variablen sind
∂H
= q̇n ,
∂pn
∂H
∂L
=−
,
∂qn
∂qn
∂L
H
=− .
∂t
∂t
(6.4)
Die partiellen Ableitungen der Hamiltonfunktion nach den verallgemeinerten Impulsen bestimmen somit die verallgemeinerten Geschwindigkeiten. Die restlichen
partiellen Ableitungen sind bis auf das Vorzeichen unverändert.
Bewegungsgleichungen
Mit der Hamiltonfunktion lassen sich die Bewegungsgleichungen des Systems im
Phasenraum (q, p) angeben. Aus (5.39) und (6.4) erhält man die kanonischen Gleichungen,
q̇n =
∂H
,
∂pn
ṗn = −
∂H
∂qn
.
(6.5)
Sie stellen ein Differentialgleichungessystem 1. Ordnung für die 2f Variablen (q, p)
dar.
Zyklische Variablen und Energieerhaltung
Hängt die Hamiltonfunktion nicht explizit von einer Koordinate ab, so ist der zugehörige verallgemeinerte Impuls erhalten,
∂H
=0
∂qn
=⇒
pn = const.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
120
Ist die Hamiltonfunktion nicht explizit zeitabhängig, so ist die Energie erhalten,
dH
dt
X ∂H
∂H
∂H
ṗn +
q̇n +
∂pn
∂qn
∂t
n
X ∂H
∂H
∂H ∂H
∂H
−
+
+
=
∂pn
∂qn
∂qn ∂pn
∂t
n
=
=
∂H
= 0.
∂t
(6.6)
Hamiltonfunktion einer Ladung im elektromagnetischen Feld
Aus der Lagrangefunktion (5.65) findet man den kanonischen Impuls
q
p = mv + A.
c
Damit erhält man die Hamiltonfunktion
H = p·v−L
q
1
= p · v − mv 2 + qφ − v · A
2
c
1
= mv 2 − mv 2 + qφ
2
1 2
mv + qφ
=
2
(p − qc A)2
=
+ qφ.
2m
6.2
Modifiziertes Hamiltonsches Prinzip
Die Hamiltonschen Gleichungen lassen sich aus einem Variationsprinzip ableiten. Sei
LH (q, q̇, p, t) =
f
X
pn q̇n − H(p, q, t)
n=1
die Lagrangefunktion des Systems als Funktion der unabhängigen Variablen q, q̇, p
und
Zt2
S[p, q] = dtLH
t1
die Wirkung als Funktional der Bahn (p, q) im Phasenraum. Dann folgen die Hamiltonschen Gleichungen aus dem modifizierten Hamiltonschen Prinzip
δS[q, p] = 0,
mit
δq(t1 ) = δq(t2 ) = δp(t1 ) = δp(t2 ) = 0.
(6.7)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
121
Die Variation nach den Funtionen q und p ergibt die Euler-Lagrangegleichungen,
d ∂LH
dt ∂ q̇n
d ∂LH
dt ∂ ṗn
∂LH
∂qn
∂LH
=
.
∂pn
=
Mit
∂LH
∂ q̇n
∂LH
∂ ṗn
= pn ,
= 0,
∂LH
∂H
=−
∂qn
∂qn
∂LH
∂H
= q̇n −
∂pn
∂pn
folgen daraus die kanonischen Gleichungen (6.5).
6.3
Poisson-Klammern
Sei F (p, q, t) eine beliebige Funktion der Variablen p, q, t. Dann ist deren totale
Zeitableitung
∂F
∂F X ∂F
+
q̇n +
ṗn
∂t
∂q
∂p
n
n
n
∂F X ∂F ∂H
∂F ∂H
+
=
−
.
∂t
∂q
∂p
∂p
∂q
n
n
n
n
n
dF
dt
=
Definiert man die Poissonklammern zweier Funktionen u(p, q) und v(p, q) durch
X ∂u ∂v
∂u ∂v
u, v =
−
,
∂q
∂p
∂p
∂q
n
n
n
n
n
(6.8)
dF
∂F =
+ F, H .
dt
∂t
(6.9)
so gilt
Setzt man F = q bzw. F = p so erhält man die Bewegungsgleichungen in der
symmetrischen Form
q̇n = qn , H ,
ṗn = pn , H .
(6.10)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
122
Eine Größe F , die nicht explizit von der Zeit abhängt, ist genau dann eine Erhaltungsgröße, wenn die mit F und der Hamiltonfunktion H gebildete Poissonklammer
verschwindet:
dF
∂F
=
= 0,
⇐⇒
F, H = 0.
∂t
dt
Die Poissongleichungen zwischen Paaren von Koordinaten und Impulsen lauten,
qn , qm = 0,
pn , pm = 0,
qn , pm = − pm , qn = δnm .
(6.11)
Die Poissongleichungen erfüllen folgende algebraische Identitäten:
u, v = − v, u
λu + µv, w = λ u, w + µ v, w
uv, w = u, w v + u v, w
u, v , w +
w, u , v + v, w , u = 0.
Die letzte Gleichung heißt Jacobi-Identität.
In der Quantenmechanik werden die Variablen p und q zu Operatoren und die Poissonklammern zu Kommutatoren. Die Gleichungen (6.11) bilden die Grundlage für
die Quantisierung eines mechanischen Systems.
6.4
Kanonische Transformationen
In der Lagrangetheorie können beliebige verallgemeinerte Koordinaten gewählt werden. Bei einer Koordinatentransformation q −→ Q = Q(q, t) bleibt die Form der
Lagrangegleichungen erhalten.
In der Hamiltonschen Theorie lassen sich Koordinaten und Impulse gemeinsam
transformieren. Man nennt eine solche Transformation kanonisch, wenn dabei die
Form der kanonischen Gleichungen erhalten bleibt. Eine kanonische Transformation
besitzt demnach die Form
q −→ Q = Q(p, q, t),
p −→ P = P (p, q, t),
H −→ K = K(P, Q, t). (6.12)
Hierbei bezeichnen Q die neuen Koordinaten, P die neuen Impulse und K eine neue
Hamiltonfunktion. Diese erfüllen die kanonischen Bewegungsgleichungen,
Q̇n =
∂K
,
∂Pn
Ṗn = −
∂K
.
∂Qn
(6.13)
Kanonische Transformationen können durch Umeichungen der Larangefunktion erzeugt werden. Bei einer solchen Umeichung bleiben die Bewegungsgleichungen invariant. Wir fordern daher, daß sich die Lagrangefunktionen des modifizierten Hamiltonschen Prinzips in den alten und neuen Koordinaten nur durch eine totale
Zeitableitung voneinander unterscheiden,
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
X
pn q̇n − H =
n
X
Pn Q̇n − K +
n
123
d
F (q, p, Q, P, t)
dt
(6.14)
Hierbei ist F (q, p, Q, P, t) eine beliebige Funktion, die man erzeugende Funktion der kanonischen Transformation nennt. Aufgrund der Transformationsgleichungen (6.12) sind nur zwei der vier Variablen unabhängig voneinander. Ohne Einschränkung können wir eine erzeugende Funktion F = F (q, Q, t) annehmen und
(6.14) in der Form
X
dF =
pn dqn − Pn dQn − (H − K)dt
(6.15)
n
schreiben. Daraus folgt
pn =
∂F
,
∂qn
Pn = −
∂F
,
∂Qn
K=H+
∂F
.
∂t
(6.16)
Für eine gegebene Funktion F = F (q, Q, t) bestimmen die ersten beiden Gleichungen
die kanonische Transformation der Koordinaten und Impulse, die letzte Gleichung
stellt die Transformation der Hamiltonfunktion dar. Die erste Gleichung hat die
Form p = p(q, Q, t). Sie definiert implizit die neuen Koordinaten Q = Q(q, p, t). Die
zweite Gleichung besitzt die Form P = P (q, Q). Zusammen mit der ersten Gleichung
erhält man daraus die neuen Impulse.
Man kann erzeugende Funktionen wählen, die von anderen Variablenpaaren
abhängen, z.B. S = S(q, P, t). Durch Legendretransformation erhält man
!
X
X
dS = d F +
Pn Qn =
pn dqn + Qn dPn − (H − K)dt.
(6.17)
n
n
Damit lauten die Transformationsgleichungen für die erzeugende Funktion S
pn =
6.5
∂S
,
∂qn
Qn =
∂S
,
∂Pn
K=H+
∂S
.
∂t
(6.18)
Hamilton-Jacobi-Differentialgleichung
Sei S(q, P, t) eine kanonische Transformation, die so gewählt ist, daß für die neue
Hamiltonfunktion K = 0 gilt. In diesem Fall sind die neuen Koordinaten und Impulse konstant und stellen 2f Integrationskonstanten des Differentialgleichungssystems
dar.
Die zugehörige kanonische Transformation genügt nach (6.18) der Hamilton-JacobiDifferentialgleichung,
∂S
∂S
+ H(q,
, t) = 0.
∂t
∂q
(6.19)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
124
Dies ist eine partielle Differentialgleichung, deren Lösung dem Auffinden der Teilchenbahnen äquivalent ist.
Kapitel 7
Relativistische Mechanik
7.1
Relativitätsprinzip
Erfahrungsgemäß ist die Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen gleich groß:
c = 2.998 · 108
km
m
≈ 300 000
.
s
s
(7.1)
Dies wurde zuerst 1887 im Experiment von Michelson und Morley nachgewiesen.
Die beobachtete Konstanz der Lichtgeschwindigkeit steht jedoch im Widerspruch
zum Galileischen Relativitätsprinzip der Newtonschen Mechanik.
Galileitransformation: Wir betrachten einen Vorschub des Koordinatensystems
S 0 mit der Geschwindigkeit v in x-Richtung:
x0 = x − vt,
t0 = t.
(7.2)
Die Phase Φ = kx − ωt einer Lichtwelle bestimmt die Anzahl der Wellenlängen
Abbildung 7.1: Bewegtes Koordinatensystem S 0 . Der Ursprung
von S’ ist gegenüber S um vt verschoben.
125
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
126
eines Wellenzuges. Sie muß daher unabhängig vom Bezugssystem sein. Aus dieser
Forderung ergibt sich
!
k 0 x0 − ω 0 t0 = k 0 x − (ω 0 + k 0 v)t = kx − ωt
k = k0,
ω = ω 0 + k 0 v.
(7.3)
Im Vakuum breitet sich die Lichtwelle mit der Phasengeschwindigkeit ω 0 /k 0 = ω/k =
c aus. Aufgrund der Galileitransformation (7.3) erhält man jedoch
c=
ω
ω0 + k0v
ω0
=
=
+ v = c0 + v
k
k0
k0
(7.4)
Dies widerspricht der Beobachtung c = c0 . Einstein hat diesen Widerspruch dadurch
gelöst, daß er die Forderung nach Galilei-Invarianz durch ein neues Relativitätsprinzip (Lorentz-Invarianz) ersetzt hat. Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wird
dabei als physikalisches Grundprinzip eingeführt.
Einsteinsches Relativitätsprinzip (ER):
(E1) Alle Inertialsysteme sind gleichwertig.
(E2) Die Lichtgeschwindigkeit ist in allen Inertialsystemen gleich groß.
Die Transformation zwischen Inertialsystemen, die dem ER genügen, nennt
man Lorentz-Transformationen. Physikalische Gesetze, die gegenüber LorentzTransformationen invariant sind, nennt man lorentzinvariant oder relativistisch.
7.2
Lorentz-Transformation
Als Verallgemeinerung der Galileitransformation wird eine allgemeine lineare Transformation der Koordinaten angenommen:
0 0 0
0
x
x
Λ 0 Λ0 1
=
(7.5)
1
1
1
Λ0 Λ1
x
x1
Koordinaten in S : (ct, x) ≡ (x0 , x1 )
0
0
Koordinaten in S’ : (ct0 , x0 ) ≡ (x0 , x1 )
Die 4 Konstanten Λα β hängen nur von v ab. Sie werden durch folgende Forderungen
bestimmt:
0
1. Ursprung von S’: x1 = 0; x1 = vt = βx0 ; β =
v
c
0
x1 = Λ1 0 x0 + Λ1 1 x1 = 0
x1
Λ1 0 !
=
−
=β
x0
Λ1 1
(7.6)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
0
2. Ursprung von S: x1 = 0; x1 = −vt0 = −βx0
127
0
0
x1
Λ1 0 !
= −β
=
x 00
Λ0 0
(7.7)
0
0
3. Invarianz der Lichtgeschwindigkeit: x1 = x0 , x1 = x0
0
x1
Λ1 0 + Λ1 1
=1
=
x 00
Λ0 0 + Λ0 1
(7.8)
Damit sind 3 der 4 Konstanten festgelegt. Setzt man γ(v) := Λ0 0 für die
verbleibende Konstante, so gilt
0 0
0
x
x
1 −β
,
=
γ(v)
−β 1
x1
x1
Λ1 1 = Λ0 0 = γ;
Λ1 0 = Λ0 1 = −βγ.
(7.9)
0
0
4. Raumspiegelung: Eine Raumspiegelung x1 → −x1 , x1 → −x1 ist äquivalent zu einer Umkehr der Geschwindigkeit v → −v. Führt man gleichzeitig
eine Raumspiegelung und eine Geschwindigkeitsumkehr durch, so muß sich das
ursprüngliche Transformationsgesetz ergeben.
0 0
0 x
x
1 β
= γ(−v)
1
β 1
−x
−x1
0
0 0
x
x
1 −β
= γ(−v)
1
−β 1
x1
x
Daraus folgt:
γ(v) = γ(−v).
5. Inverse Transformation: Die inverse Transformation
0
0 0
x
1
1
x
1 β
=
1
2
β 1
x
γ(v) 1 − β
x1
(7.10)
(7.11)
muß äquivalent sein zu einer Transformation mit der Geschwindigkeit −v.
Daraus folgt:
1
1
γ(−v) =
.
(7.12)
γ(v) 1 − β 2
Aus (7.10) und (7.12) folgt
γ=p
1
1 − β2
.
(7.13)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
Die gesuchte Lorentz-Transformation ist,
0 0
0
x
x
1 −β
=γ
;
1
−β 1
x
x1
128
1
γ=p
1 − β2
;
β=
v
c
(7.14)
In expliziter Form lautet sie:
t − vx/c2
t0 = p
,
1 − v 2 /c2
x − vt
x0 = p
1 − v 2 /c2
.
(7.15)
Für kleine Geschwindigkeiten, v 2 /c2 1, geht die Lorentz-Transformation (7.15) in
die Galileitransformation (7.2) über.
Die Koordinatenachsen (x00 = 0, x10 = 0) des bewegten Systems S’ erscheinen im
Inertialsystem S gegeneinander verdreht (Abb. 7.2). Punkte t > 0, die in S am Ort
x = 0 beobachtet werden, erscheinen in S’ entlang der negativen x’-Achse. Punkte
x > 0, die in S zur Zeit t = 0 beobachtet werden, erscheinen in S’ zu früheren Zeiten
t0 < 0.
Abbildung 7.2: Koordinatenlinien x00 = const, x10 = const eines bewegten Inertialsystems S’ (rechts) im Inertialsystem S (links).
7.3
7.3.1
Der Abstand von Ereignissen
Raumzeit
Ereignis: Die Ortskoordinaten x1 , x2 , x3 und die Zeitkoordinate x0 = ct eines Inertialsystems bilden einen 4-dimensionalen Raum. Die Punkte (x0 , x1 , x2 , x3 ) dieses
Raumes nennt man Ereignisse. Betrachtet man nur Relativbewegungen in einer Koordinatenrichtung (x1 ), so können die Ereignisse (x0 , x1 ) in einer Ebene dargestellt
werden.
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
129
Weltlinien: Die Bahnkurve eines Teilchens im 4-dimensionalen Raum heißt Weltlinie (Abb. 7.3). Die Weltlinien eines Photons, welches sich zur Zeit t = 0 im Ursprung
befindet, liegen auf dem Lichtkegel ct = r. Die Weltlinie x = vt eines Teilchens mit
der Geschwindigkeit v < c liegt innerhalb des Lichtkegels. Ereignisse innerhalb des
Lichtkegels können vom Ursprung aus durch ein Signal, welches sich mit einer Geschwindigkeit v < c ausbreitet, erreicht werden. Ereignisse außerhalb des Lichtkegels
sind so weit vom Ursprung entfernt, daß sie durch kein Signal mit v ≤ c erreicht
werden können.
Abbildung 7.3: Die Weltlinie eines Teilchens mit der Geschwindigkeit v.
Abstand: In Analogie zum 3-dimensionalen Abstandsquadrat r2 = (x1 )2 + (x2 )2 +
(x3 )2 definiert man das 4-dimensionale Abstandsquadrat
s2 = (x0 )2 − r2 .
(7.16)
Im Unterschied zur euklidischen Geometrie ist das Vorzeichen beim räumlichen
Abstand negativ. Damit wird das Abstandsquadrat unabhängig von der Wahl des
Inertialsystems. Nach dem Relativitätsprinzip gilt für ein Photon r = x0 und damit
s2 = 0 für alle Inertialsysteme. Aufgrund der Lorentz-Transformation sind auch
Abstände s2 6= 0 unabhängig vom Inertialsystem:
0
0
s02 = (x0 )2 − (x1 )2 = γ 2 [+(x0 − βx1 )2 − (x1 − βx0 )2 ]
= +(x0 )2 − (x1 )2 = s2 .
(7.17)
Nach dem Vorzeichen von s2 unterscheidet man:
s2 = 0 : Lichtartiger Abstand
s2 < 0 : Raumartiger Abstand
s2 > 0 : Zeitartiger Abstand
(7.18)
Da s2 invariant ist, ist diese Unterscheidung unabhängig vom Inertialsystem. Bei
raumartigen Abständen kann ein Koordinatensystem gefunden werden, in dem das
Ereignis (x0 , x1 ) gleichzeitig zum Ereignis (0, 0) stattfindet:
!
x00 = γ(x0 − βx1 ) = 0
⇒
β=
x0
< 1.
x1
(7.19)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
130
Bei zeitartigen Abständen kann ein Koordinatensystem gefunden werden, in dem
das Ereignis (x0 , x1 ) am selben Ort wie das Ereignis (0, 0) stattfindet:
!
x10 = γ(x1 − βx0 ) = 0
⇒
β=
x1
< 1.
x0
(7.20)
Abbildung 7.4: Der Lichtkegel
trennt raumartige von zeitartigen
Abständen.
7.3.2
Längenkontraktion
Ein Stab bewege sich im Laborsystem S mit der Geschwindigkeit v in x-Richtung
(Abb.7.5a).
Längenmessung in S: Die Positionen x1 , x2 der Stabenden werden in S zur gleichen
Zeit t1 = t2 gemessen:
∆x = x2 − x1 = l,
∆t = t2 − t1 = 0
(7.21)
Der Stab ruht in einem mit v bewegten Inertialsystem. Die Länge
∆x0 = x02 − x01 = l0
(7.22)
im Ruhesystem ist die Eigenlänge des Stabes.
Lorentz-Transformation:
∆x0 = γ(∆x − v∆t)
Mit ∆x0 = l0 , ∆x = l und ∆t = 0 folgt
p
l = 1 − v 2 /c2 l0
(7.23)
(7.24)
Die Ereignisse der Messung der Stabenden finden in S 0 zu verschiedenen Zeiten statt
∆t0 = γ(∆t −
v
v
∆x) = − 2 l0
2
c
c
(7.25)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
131
Abbildung 7.5: a) bewegte Maßstäbe erscheinen verkürzt b) bewegte Uhren gehen
langsamer.
7.3.3
Zeitdilatation
Eine Uhr bewege sich in S mit der Geschwindigkeit v in x-Richtung. Zu den Zeitpunkten t1 und t2 wird der Stand der Uhr mit Uhren in S an den Orten x1 bzw.
x2 = x1 + v(t2 − t1 ) verglichen (Abb.7.5b).
Zeitintervall im Ruhesystem S 0 der Uhr:
∆t0 = ∆τ,
∆x0 = 0
(7.26)
Zeitmessung in S:
∆t;
∆x = v∆t
(7.27)
Lorentz-Transformation
∆x0 = γ(∆x − v∆t)
v
∆t0 = γ(∆t − 2 ∆x)
c
(7.28)
(7.29)
Die Uhr wird in S an verschiedenen Orten abgelesen.
∆x0 = 0 ⇒ ∆x = v∆t.
(7.30)
Damit gilt:
r
v2
v2
(7.31)
∆τ = γ(1 − 2 )∆t = 1 − 2 ∆t.
c
c
Die bewegte Uhr geht gegenüber den Uhren, die im Laborsystem ruhen nach (Zeitdehnung oder Zeitdilatation).
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
7.3.4
132
Eigenzeit
Die Eigenzeit τ einer Uhr wird definiert als die Zeit im Ruhesystem der Uhr:
v = 0 ⇒ ds2 = c2 dτ 2 ;
1
τ2 − τ1 = (s2 − s1 )
c
(7.32)
Die Eigenzeit ist unabhängig vom Inertialsystem, da der Abstand s2 − s1 lorentzinvariant ist.
Zeit einer bewegten Uhr: Zur Zeit t bewege sich die Uhr in S mit Geschwindigkeit v(t). Im infinitesimalen Zeitintervall dt bewegt sie sich mit der momentanen
Geschwindigkeit v(t) über eine Strecke dx = v(t)dt. In einem Inertialsystem S 0 , welches sich mit der konstanten Geschwindigkeit v0 = v(t) bewegt ist die Uhr momentan
in Ruhe. Dem Zeitintervall dt entspricht das Eigenzeitintervall
1
1√ 2 2
c dt − dx2
ds =
c
c
p
=
1 − v 2 (t)/c2 dt
dτ =
(7.33)
Für ein endliches Zeitintervall von t1 bis t2 gilt daher
Zt2 r
1−
τ=
v 2 (t)
dt.
c2
(7.34)
t1
Eine in S bewegte Uhr geht daher langsamer als eine in S ruhende Uhr.
Um den Zeitvergleich der beiden Uhren zur Zeit t1 und t2 ausführen zu können,
müssen sich die Uhren zu diesen Zeitpunkten am selben Ort befinden. Dies ist nur
möglich, falls die bewegte Uhr im Zeitintervall zwischen t1 und t2 beschleunigt wurde. Da in beschleunigten Bezugssystemen andere Gesetze gelten, ist die angezeigte
Zeitdifferenz der Uhren nicht im Widerspruch zum Relativitätsprinzip. Diejenige der
beiden Uhren, die beschleunigt wurde, geht nach.
(Zwillingsparadoxon, Lebensdauer schneller Myonen).
7.3.5
Gleichzeitigkeit
Nach dem Galileischen Relativitätsprinzip können sich die Zeiten t und t0 in zwei
Inertialsystemen nur durch eine Konstante t0 unterscheiden:
t0 = t + t0
(7.35)
Daher sind Zeitdifferenzen zwischen 2 Ereignissen in allen Inertialsystemen gleich
groß:
∆t0 = ∆t
(7.36)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
133
Zwei Ereignissen, die in einem Inertialsystem gleichzeitig stattfinden, ∆t = 0, sind
dann auch in jedem anderen Inertialsystem gleichzeitig: ∆t0 = 0. Durch das Einsteinsche Relativitätsprinzip wird Gleichzeitigkeit zu einem relativen Begriff, der
vom Inertialsystem des Beobachters abhängt.
Zwei gleichzeitige Ereignisse (∆t = 0), die in S im Abstand ∆x voneinander stattfinden, treten in einem bewegten Inertialsystem S 0 im zeitlichen Abstand
∆t0 = γ(∆t −
v
v
∆x) = −γ 2 ∆x
2
c
c
(7.37)
voneinander auf. Mit
∆x0 = γ(∆x − v∆t) = γ∆x
(7.38)
erhält man in S 0 die Zeitdifferenz
∆t0 = −
v ∆x0
.
c c
(7.39)
Eine absolute Bedeutung hat nur das Abstandsquadrat ∆s2 = c2 ∆t2 − ∆x2 .
7.4
Vierervektoren
4-dimensionale Raumzeit: 3 Orts- und eine Zeitkoordinate.
Ortsvektor:
xα ≡ (x0 , x1 , x2 , x3 ) = (ct, x, y, z)
(7.40)
ds2 = (x0 )2 − (x1 )2 − (x2 )2 − (x3 )2 = −ηαβ dxα dxβ
(7.41)
Wegelement:
Lorentz-Metrik:

ηαβ
−1
 0
=
 0
0
0
1
0
0
0
0
1
0

0
0 

0 
1
(7.42)
Summenkonvention: Über paarweise auftretende obere und untere Indizes wird summiert:
3 X
3
X
α
β
ηαβ dxα dxβ
(7.43)
ηαβ dx dx ≡
α=0 β=0
Lorentz-Transformation: xα → xα
0
0
x α = Λα γ x γ + b α
(7.44)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
134
bα = 0 : homogene Lorentz-Transformation
bα 6= 0 : inhomogene Lorentz-Transformation
Invarianz der Metrik gegenüber Lorentz-Transformation:
0
ηαβ dxα dxβ
0
= ηαβ Λα β Λβ δ dxγ dxδ
!
= ηγδ dxγ dxδ
(7.45)
Da diese Bedingung für beliebige dxα gelten soll gilt:
ηγδ = ηαβ Λα γ Λβ δ = (Λγ α )T ηαβ Λβ δ .
(7.46)
η = ΛT ηΛ
(7.47)
oder
Vierervektoren: Koordinatendifferentiale transformieren sich bei Lorentztransformationen wie
0
dxα = Λα β dxβ .
(7.48)
Jede 4-komponentige Größe V α , die sich wie die Koordinatendifferentiale transformiert heißt 4-Vektor:
0
V α = Λα β V β
(7.49)
Lorentz-Skalare: Größen, die invariant sind gegenüber Lorentz-Transformationen
heißen Lorentz-Skalare:
s0 = s
(7.50)
Bsp.: s = ηαβ V α V β , Eigenzeit, Eigenlänge
Kovariante u. kontravariante Komponenten
V α ≡ (V 0 , V 1 , V 2 , V 3 ) kontravariant
Vα ≡ (V0 , V1 , V2 , V3 ) kovariant
Vα := ηαβ V β = (−V 0 , V 1 , V 2 , V 3 ).
(7.51)
Skalarprodukte können damit in der üblichen Form geschrieben werden
s = ηαβ V α V β = Vα V α .
7.5
(7.52)
Relativistische Mechanik
Kovarianz: Gleichungen zwischen Skalaren, Vektoren oder allgemeiner Tensoren in
der 4-dimensionalen Raumzeit sind gegenüber Lorentz-Transformationen forminvariant. Man nennt solche Gleichungen auch kovariant. Eine kovariante Gleichung ist
z.B.
aµ = b µ .
(7.53)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
135
In einem anderen Inertialsystem S 0 gilt dann entsprechend
0
aµ = b µ
0
(7.54)
für die transformierten Komponenten
0
aµ = Λ µ ν aν ,
0
b µ = Λµ ν b ν .
(7.55)
Aus dem Einsteinschen Relativitätsprinzip ergibt sich die weitreichende Forderung,
daß die Newtonsche Bewegungsgleichung revidiert und durch eine kovariante Bewegungsgleichung ersetzt werden muß.
Geschwindigkeit: Die Geschwindigkeit eines Teilchens kann in naheliegender Weise
als 4-Vektor verallgemeinert werden. Da das Koordinatendifferential dxα einen 4Vektor und das Eigenzeitintervall dτ = γ1 dt einen Skalar darstellt, ist
uα =
dxα
dτ
(7.56)
ein 4-Vektor, der als die 4-Geschwindigkeit bezeichnet wird. In einem Inertialsystem
S, in dem das Teilchen die Koordinaten xα = (ct, vt) besitzt, sind die Komponenten
der 4-Geschwindigkeit
dxα
uα = γ
= γ(c, v).
(7.57)
dt
Im Ruhesystem des Teilchens (v = 0) gilt
uα = (c, 0, 0, 0).
(7.58)
uα uα = γ 2 (−c2 + v 2 ) = −c2
(7.59)
Der Skalar
ist eine durch die Lichtgeschwindigkeit bestimmte Invariante.
Additionstheorem der Geschwindigkeiten:
Abbildung 7.6: Ein Teilchen bewege sich in dem Inertialsystem
S 0 mit der Geschwindigkeit v 0 .
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
136
x0 = γ(x − ut)
ux t0 = γ t − 2
c
0
x
x
− ut
v−u
v0 = 0 =
ux =
t
t − c2
1 − uv
c2
(7.60)
Umkehrung:
x = γ(x0 + ut0 )
ux0
0
t = γ t + 2
c
0
x
v0 + u
x + ut0
v =
= 0 ux0 =
0
t
t + c2
1 + uv
c2
(7.61)
Impuls: Die im Ruhesystem des Teilchens definierte Masse m (Ruhemasse) ist ebenfalls ein Lorentz-Skalar. Der 4-Vektor
pα = muα
(7.62)
wird als 4-Impuls bezeichnet. Definiert man den relativistischen Impuls p = mγv
und die relativistische Energie E = mγc2 so gilt
E
α
p =
,p
(7.63)
c
Die Energie im Ruhesystem, ER = mc2 , heißt Ruheenergie, E − ER = m(γ − 1)c2
heißt kinetische Energie. Zwischen Energie und Impuls besteht die relativistische
Energie-Impulsbeziehung:
E2
+ p2 = −m2 c2
c2
p
mc2 +
m2 c4 + p2 c2 →
E =
pc
pα pα = −
p2
2m
; pm
; pm
(7.64)
Relativistische Bewegungsgleichung: Die kovariante Form der Bewegungsgleichung ist
d α
p = f α.
(7.65)
dτ
Auf der linken Seite steht ein 4-Vektor. Die Kraft f α stellt daher ebenfalls einen
4-Vektor dar, der als 4-Kraft bezeichnet wird. Im momentanen Ruhesystem (S 0 ) des
Teilchens gilt:
f0
0
=
dp0
= 0,
dt
f0 =
dp
= F,
dt
(7.66)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
137
wobei F die Newtonsche Kraft darstellt. Im Laborsystem S bewegt sich das Ruhesystem mit der Geschwindigkeit v. Durch Lorentz-Transformation erhält man,
v·F
,
c
0
0
= γ(f k + βf 0 ) = γF k ,
0
= f ⊥ = F ⊥.
0
0
f 0 = γ(f 0 + βf k ) = γ
fk
f⊥
(7.67)
Hierbei bezeichnen k bzw. ⊥ Vektorkomponenten parallel bzw. senkrecht zu v. Zusammen ergibt dies die 4-Kraft
v·F
v(v · F )
α
f = γ
, F + (γ − 1)
(7.68)
c
v2
Komponenten der Bewegungsgleichung:
0-Komponente: (Energiesatz)
γ
v·F
d
(mγc) = γ
,
dt
c
d
(mγc2 ) = v · F .
dt
(7.69)
Komponente k v:
d
= γFk ,
γ
(mγv)
dt
k
Komponente ⊥ v:
d
γ
(mγv)
= F ⊥,
dt
⊥
d
(mγv) = Fk .
dt
k
(7.70)
d
1
(mγv) = F ⊥ .
dt
γ
⊥
(7.71)
Man definiert die relativistische Energie E und den relativistischen Impuls p durch
E = γmc2 ,
p = γmv.
(7.72)
Die zeitliche Komponente der Bewegungsgleichung stellt den Energiesatz, die räumlichen Komponenten den Impulssatz dar.
Lorentz-Kraft
Die Bewegungsgleichung einer Ladung q im elektrischen Feld E und Magnetfeld B
erhält man in folgender Weise. Das elektrische Feld im momentanen Ruhesystem
sei E 0 . Die Kraft auf eine ruhende Ladung wird ausschließlich durch das elektrische
Feld bestimmt,
K = qE 0 .
(7.73)
Theoretische Physik: Mechanik WS 02/03, H.-J. Kull
138
In der Elektrodynamik wird gezeigt, dass sich elektrische Felder beim Übergang in
ein bewegtes Bezugssystem ebenfalls transformieren. Die Transformation für den
Übergang von S nach S 0 lautet
1
Ek0 = Ek ,
E⊥0 = γ(E⊥ + v × B)
(7.74)
c
Damit erhält man die Komponenten der 4er-Kraft


1
qv
·
E
c
 .
(7.75)
F=γ
1
q(E + c v × B)
Der Energie- und Impulssatz lautet in diesem Fall
d
(mγc2 ) = qE · v.
dt
d
v
(mγv) = q E + ×B .
dt
c
(7.76)
Energie-Impulsbeziehung
Der relativistische Impuls p = mγv und die relativistische Energie E = mγc2 sind
Komponenten des 4er-Impulses,
!
E
p=
.
(7.77)
c
p
Die Energie im Ruhesystem, ER = mc2 , heißt Ruheenergie, E − ER = m(γ − 1)c2
heißt kinetische Energie. Zwischen Energie und Impuls besteht die relativistische
Energie-Impulsbeziehung:
E2
+ p2 = −m2 c2
c2
p
mc2 +
2
4
2
2
E =
m c +p c →
pc
p·p = −
p2
2m
; pm
; pm
(7.78)
Bei der Bewegung eines einzelnen Teilchens ist die Ruheenergie nur eine additive
Konstante. Ihre wichtige Rolle erkennt man jedoch bei Reaktionen die zur Umwandlung von Teilchen führen. Als Beispiel betrachte man ein ruhendes Teilchen
mit der Masse M , das in zwei Teilchen mit den Ruhemassen m1 und m2 zerfällt.
Beim Zerfall ist die relativistische Energie erhalten,
E = M c2 = m1 c2 + m1 c2 + m1 (γ1 − 1)c2 + m2 (γ2 − 1)c2 .
(7.79)
Die Ruhemasse ist dagegen keine Erhaltungsgröße,
M = m1 + m2 + ∆m,
∆m = m1 (γ1 − 1) + m2 (γ2 − 1).
(7.80)
Der Massendefekt ∆m ist auf die unterschiedlich starken Bindungsenergien der einzelnen Teilchen zurückzuführen (Kernspaltung).
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