Fokussierung woher und worauf?

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FOKUSSIERUNG WOHER UND WORAUF? ASPEKT
UND DISTANZ IM GESTEUERTEN ERWERB DER
DEUTSCHEN VERGANGENHEITSTEMPORA DURCH
ITALIENISCHE LERNENDE
NICOLE SCHUMACHER (BERLIN)
This article discusses the role of the grammatical aspect and pragmatical distance for
Italian learners acquiring the use of the German past tenses. Grammatical aspect in
the Italian past tenses leads Italian learners to rely on the corresponding meanings in
their use of the German past tenses instead of focussing on the pragmatical category
distance. After a contrastive analysis between the Italian and German past tenses,
the article suggests some focus on form activities for the classroom to switch the
learners’ attentions from the aspectual meanings to the pragmatical use of the
German past tenses.
Il contributo considera il ruolo esercitato dall’aspetto grammaticale e dalla categoria
pragmatica della distanza nei tempi verbali del passato tedesco prodotti da
apprendenti italofoni. L'uso in L2 sembra modellato più sull’aspetto grammaticale
del passato italiano che sulla distanza del tedesco. All’analisi contrastiva dei tempi
verbali del passato nelle due lingue segue, nel contributo, l’illustrazione di attività di
tipologia focus on form, utili a modificare le strategie degli apprendenti.
1.
EINLEITUNG
Der Weg vom Wort zum Text in der DaF-Didaktik und wieder
zurück enthält viele spannende Pfade, die von Lernenden und
Lehrenden beschritten werden können. Damit die von Lehrenden vorgeschlagenen Pfade zum erwünschten Ziel führen, bedarf es – idealerweise – der Kenntnis der von Lernenden eingeschlagenen Pfade.
Wann sind diese zielsprachlich angemessen, wann sollte man
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ISSN 1724-5230
Volume 9.2 (2011) – pagg. 21-51
Nicole Schumacher – “Fokussierung woher und worauf?
Aspekt und Distanz im gesteuerten Erwerb der deutschen
Vergangenheits-tempora durch italienische Lernende”
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Lernende «umdrehen» (Handwerker 2009: 100), um sie auf andere
Pfade zu führen? 1
Hierbei spielt das Phänomen der Fokussierung eine wichtige
Rolle, denn mentale Wege werden im gesteuerten L2-Erwerb
beschritten, indem Aufmerksamkeit auf bestimmte Phänomene
fokussiert, gelenkt wird. Woher kommen diese Fokussierungen bei
Lernenden? Worauf sollten Lehrende die Aufmerksamkeit ihrer
Lernenden lenken?
Im vorliegenden Beitrag gehe ich diesen Fragen anhand eines
ausgewählten Lerngegenstands und einer bestimmten Lernergruppe
nach: Es soll gezeigt werden, worauf italienischsprachige Lernende
ihre Aufmerksamkeit beim Erwerb der deutschen Vergangenheitstempora richten und worauf Lehrende – in Gegensteuerung von
möglicherweise nicht zielsprachenadäquaten Lernstrategien – die
Aufmerksamkeit dieser Lernenden fokussieren sollten, um sie bei
ihrem Erwerb zu unterstützen. Zentral hierbei ist das – intersprachliche – Phänomen, dass Aspekt nur in den italienischen, nicht
aber in den deutschen Vergangenheitstempora grammatikalisiert ist,
sowie die – intrasprachliche – Frage des Gebrauchs von Perfekt und
Präteritum, die sich durch das pragmatische Phänomen der Distanz
beantworten lässt.
Im Folgenden werde ich zunächst lernersprachliche Strategien
der Fokussierung in Studien zum L2-Erwerb einerseits und die
lerntheoretische Basis didaktischer Strategien im Rahmen des focus1
Ich widme diesen Artikel Brigitte Handwerker, die mir die spannende Welt der
Tempora und der Lernphänomene eröffnet hat.
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on-form-Ansatzes andererseits erläutern (Abschnitt 2). Sodann erfolgt
eine kontrastive Analyse der italienischen und deutschen Vergangenheitstempora (Abschnitt 3). Abschließend gebe ich einen Ausblick auf
formfokussierende Aktivitäten, durch die italienische Lernende beim
Erwerb der deutschen Vergangenheitstempora unterstützt werden
können (Abschnitt 4).
2.
FOKUSSIERUNG DURCH DIE GRAMMATIK, FOKUSSIERUNG AUF DIE
GRAMMATIK
Dass die Aufmerksamkeitslenkung auf Teilaspekte von Sprache
eine zentrale Rolle beim Auf- und Ausbau des lernersprachlichen
Systems spielt, ist in der Diskussion um fortgeschrittene Lernende
einerseits (vgl. Schmiedtová et al. 2011) und in der Diskussion um
Bedeutungs- vs. Formenzentriertheit im Klassenzimmer andererseits
(vgl. Schifko 2011) vielfach betont worden.
In Studien zu fortgeschrittenen Lernervarietäten (vgl. Walter /
Grommes 2008) wird immer wieder das Phänomen beobachtet, dass
Lernende, die kaum noch lexikalische oder grammatische Fehler
machen, die Fremdsprache gleichwohl nicht wie ein Muttersprachler 2
gebrauchen. Ein Grund hierfür liegt in der unterschiedlichen
Grammatikalisierung
von
Kategorien
wie
Aspekt
in
den
verschiedenen Sprachen, die zu einer divergenten Aufmerksamkeits2
Hier wie im Folgenden sind die maskulinen Formen sowie die Pluralformen
generisch zu verstehen.
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lenkung der jeweiligen Sprecher führt (vgl. Stutterheim / Carroll 2006,
2007, Schmiedtová et al. 2011). Wie Studien zur Textproduktion in
verschiedenen Erst- und Fremdsprachen zeigen, ist die Kodierung von
Situationen insofern «[d]urch die Grammatik fokussiert» (Stutterheim
/ Carroll 2007: 35), als in der L1 grammatikalisierte Kategorien die
Aufmerksamkeit auf bestimmte Teilkomponenten von Situationen
lenken. Beispielsweise fokussieren Sprecher von Sprachen, die über
einen grammatikalisierten progressiven Aspekt verfügen (Muttersprachler des Englischen, Spanischen oder algerischen Arabisch) bei
der Kodierung von Situationen ihre Aufmerksamkeit auf verschiedene
Teilphasen von Gesamtsituationen, ohne ihr Ende zu berücksichtigen,
und perspektivieren Situationen somit als im Verlauf begriffen. Ihre
Texte in der L1 wie auch in verschiedenen Fremdsprachen weisen
viele progressive Formen und Konstruktionen auf. Im Gegensatz dazu
präsentieren Muttersprachler des Deutschen und Französischen, in
deren L1 progressiver Aspekt nicht grammatikalisiert ist, Situationen
eher holistisch, mit ihrem Endpunkt, ohne die interne Strukturierung
zu beachten. Ihre L1- und L2-Texte zeichnen sich durch viele
Adverbiale wie dann oder plötzlich aus (vgl. Carroll / von Stutterheim
2003: 382-383). Die in den Studien zur sprach-spezifischen
Fokussierung erhobenen L2-Texte zeichnen sich nicht primär durch
grammatische Fehler aus, sondern eher durch eine Wahl von
Ausdrucksmitteln, die nicht der präferierten Wahl von Muttersprachlern entspricht.
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Dass «grammatikalisierte Strukturen […] als Filter der
Aufmerksamkeitssteuerung» (Stutterheim / Carroll 2006: 36) bei
italienischen Deutschlernenden wirken, konnte in einer Studie zur
Rezeption
deutscher
Vergangenheitstempora
gezeigt
werden
(Schumacher 2008a). Sätze im Präteritum mit Adverbialen oder
Verben, die Endpunkte bezeichnen, werden durch italienische
Muttersprachler häufiger als habituell interpretiert, als dies bei
deutschen Muttersprachlern der Fall ist. Beispielsweise wird ein Satz
wie (1) mit dem Grenzadverbial bis Mitternacht von italienischen
Lernenden häufiger habituell interpretiert als von deutschen Muttersprachlern; diese ordnen dem Satz öfter eine Abgeschlossenheitslesart
zu (vgl. Schumacher 2008a: 78ff.).
(1)
Sie tanzte bis Mitternacht Tango.
Wegen des Kontrastmangels zwischen dem Präteritum und dem
imperfetto
tendieren
italienische
Deutschlernende
dazu,
die
Gebrauchsbeschränkungen des imperfetto auf die des Präteritums zu
übertragen; Ballava il tango fino a mezzanotte kann nur habituell
interpretiert werden, wohingegen (1) durchaus auch eine Äußerung
über ein einmaliges Ereignis – z.B. vom Vorabend – sein kann.
In Abschnitt 2 wird erläutert, welche Gebrauchsbeschränkungen
und -präferenzen den verschiedenen italienischen und deutschen
Tempora zugrunde liegen, um so zu erfassen, inwiefern die
Aufmerksamkeit italienischer Lernender beim L2-Tempusgebrauch
durch ihre L1-Grammatik fokussiert ist. Zuvor soll nun zunächst der
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Fokussierungsbegriff erläutert werden, der im Rahmen von Studien zu
focus on form (vgl. Doughty / Williams (eds.) 1998, Schifko 2011)
etabliert wurde.
Es ist aus vielen Studien zum gesteuerten L2-Erwerb bekannt,
dass Lernende ungesteuert oder in rein bedeutungszentrierten,
kommunikativen Klassenzimmern bei optimalen Lernbedingungen in
den Bereichen kommunikative Kompetenz und Flüssigkeit, nicht aber
im Bereich der Korrektheit eine hohe, nahezu muttersprachliche
Kompetenz erlangen können (vgl. Ortega 2009: 55ff. bzw. Lyster /
Saito 2010: 277ff.). Eine Lernstrategie, die dies verursacht, besteht
darin, dass Lernende wegen der beschränkten Kapazität des
Arbeitsgedächtnisses eher Inhalte als Formen verarbeiten (vgl.
VanPatten 2004: 14, Wong 2005: 65, Handwerker 2009: 97,
Handwerker / Madlener 2009: 30). Um auch das Lernziel der
grammatischen Korrektheit erreichen zu können, sind verschiedene
Formfokussierungsstrategien entwickelt worden, denen gemeinsam
ist, dass die Aufmerksamkeit von Lernenden innerhalb eines
insgesamt bedeutungszentrierten Kontextes auf die Form von Sprache
gelenkt wird (vgl. Long 2007: 17).
In
dieser
Diskussion
herrscht
Einigkeit
darüber,
dass
Aufmerksamkeit (attention) und das Bemerken (noticing) eigener
Wissenslücken (noticing the hole) oder einer Kluft zwischen der
eigenen Lernersprache und der L2 (noticing the gap) Voraussetzungen
dafür sind, dass eine Form-Bedeutungszuordnung überhaupt vorgenommen, d.h. verstanden und ins Arbeitsgedächtnis aufgenommen
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werden kann, um dann – möglicherweise – ins lernersprachliche
System integriert werden zu können (cf. Wong 2005: 26ff., Nassaji /
Fotos 2007: 20, Handwerker / Madlener 2009: 26, Schoormann /
Schlak 2010: 16). Um ein entsprechendes noticing fördern zu können,
bieten
sich
verschiedene
proaktive,
inputorientierte
Form-
fokussierungsaktivitäten an, bei denen vor dem Unterricht einzelne
sprachliche Strukturen ausgewählt und dann im Klassenzimmer
intensiv bearbeitet werden 3. Inputflut und input enhancement sind
beispielsweise vieldiskutierte Techniken, die darauf abzielen, den
Input so zu modifizieren, dass im Rahmen von kommunikativen, auf
die Bedeutung ausgerichteten Aufgaben Formmerkmale salient
gemacht werden, um ein noticing zu evozieren (cf. Ellis 2001: 20ff.,
Wong 2005, Handwerker 2009: 98 ff., Handwerker / Madlener 2009:
33ff.).
Woher Fokussierungen italienischer Lernender beim Gebrauch
der deutschen Vergangenheitstempora kommen, zeigt die nun
folgende kontrastive Analyse. Welche Phänomene durch Formfokussierungstechniken salient gemacht werden sollten, wird sodann
in Abschnitt 4 erörtert.
3
Vgl. für proaktive, outputorientierte Focus-on-Form-Verfahren (Tasks wie z.B.
Dictogloss und Textreparaturaufgaben) Swain (1998), Eckerth (2003: 34-37), Ellis
(2003: 152-157) und für die reaktive Formfokussierung, d.h. im Wesentlichen
Feedbackverfahren, Lyster / Saito (2010).
27
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3.
FOKUSSIERUNG WOHER? DIE ITALIENISCHEN UND DIE DEUTSCHEN
VERGANGENHEITSTEMPORA
Wenn
italienische
Deutschlernende
mit
den
deutschen
Vergangenheitstempora konfrontiert werden, wirkt auf der Ebene der
Wortformen vieles vertraut: Neben dem Perfekt, das wie das passato
prossimo als zusammengesetzte Form aus dem Hilfsverb haben oder
sein und dem Partizip II des Verbs gebildet wird, gibt es das
Präteritum als einfache Form, die an das imperfetto erinnert, denn es
enthält das Tempusmorphem -t-, das wie das vertraute -v- Teil des
Suffixes am Präsensstamm zur Realisierung von Person und Numerus
ist. Diese Situation des Kontrastmangels lädt zu interlingualer
Identifizierung und damit zu Transfer ein, was durchaus in einigen,
jedoch nicht in allen Fällen zielsprachlich angemessen ist. Denn die
genannten formalen Entsprechungen gehen weder auf Satz- noch auf
Textebene mit einer vollständigen Entsprechung im Gebrauch der
Tempora einher. Hierauf verweist schon die Tatsache, dass dem
Perfekt und dem Präteritum im Italienischen das passato prossimo,
das imperfetto und das passato remoto gegenüberstehen. Für
italienische Lernende ist von zentraler Bedeutung, dass die Tempora
ihrer L1 sich primär aspektual, die Tempora der L2 hingegen sich
primär in Bezug auf Distanz unterscheiden.
Wenn in einer Sprache Aspekt grammatikalisiert ist, betrachten
die Sprecher dieser Sprachen die Vorgänge, die sie in einer Äußerung
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kodieren, «hinsichtlich ihres inneren Ablaufs» (Schwarze 1995: 718).
Sie
geben
zu
abgeschlossen,
verstehen,
resultativ,
ob
eine
progressiv
Situation
oder
beispielsweise
habituell
ist
(vgl.
Schumacher 2008a: 82ff.). Entsprechende Lesarten sind auf die
beiden Bedeutungen perfektiv und imperfektiv zurückzuführen und
lassen sich in folgender Weise differenzieren:
l’aspetto imperfettivo considera l’evento in modo tale da escludere la
«visualizzazione del punto finale», mentre l’aspetto perfettivo include
tale visualizzazione. (Bertinetto 2001a: 25).
Mit dem imperfektiven Aspekt wird das Ereignis so betrachtet,
dass die «Perspektivierung des Endpunktes» nicht inkludiert ist,
wohingegen der perfektive Aspekt diese Perspektivierung inkludiert.
Diese Aspektbedeutungen sind in den italienischen Vergangenheitstempora insofern grammatikalisiert, als die Bedeutung [- Perspektivierung des Endpunkts] im imperfetto, die Bedeutung [+ Perspektivierung des Endpunkts] hingegen im passato remoto und im passato
prossimo morphologisch realisiert werden. Dies führt zu folgenden
Gebrauchsbeschränkungen: Das imperfetto lässt progressive und habituelle, jedoch keine resultativen oder Abgeschlossenheitslesarten zu.
Im Gegensatz dazu ermöglichen das passato prossimo und das
passato remoto nur Lesarten mit Abgeschlossenheits- oder Resultativitätseffekten (vgl. Bertinetto 2001a: 41ff.). Entsprechende Gebrauchsbeschränkungen liegen beim Perfekt und Präteritum nicht vor.
Da italienische L1-Sprecher es gewohnt sind, bei der Kodierung und
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Dekodierung vergangener Äußerungen stets zu entscheiden, ob eine
Situation mit oder ohne Endpunkt perspektiviert wird, suchen sie auch
in der L2 nach entsprechenden Ausdrucksmitteln. Welche finden sie
vor?
3.1
Aspektuale Lesarten des Perfekts und des passato prossimo
Sowohl das Perfekt als auch das passato prossimo lassen
Resultatslesarten und Vergangenheitslesarten zu, bei denen der Nachzustand eines Ereignisses bzw. eine vergangene Situation ins Zentrum
der Aufmerksamkeit gerückt wird (vgl. Schumacher 2005: 158ff,
2008b, 2011). Das Perfekt ermöglicht perfektive und imperfektive
Vergangenheitslesarten,
das
passato
prossimo
hingegen
nur
perfektive. Im Folgenden werde ich mich auf die Vergangenheitslesarten konzentrieren, weil nur hier eine interlinguale Identifizierung
zu erwarten ist, die möglicherweise zu einem nicht-zielsprachlichen
Gebrauch des Perfekts führt. 4
Perfektive Vergangenheitslesarten liegen in (2) und (3) vor. Es
wird jeweils eine Aussage über das vergangene Ereignis des Abreisens gemacht, das als Ganzes, mit seinem Endpunkt perspektiviert
wird.
(2)
Gianni ist um vier abgereist.
(3)
Gianni è partito alle quattro.
4
Vgl. Schumacher (2005: 158ff, 2008b) zu Gemeinsamkeiten zwischen den
Resultatslesarten des Perfekts und des passato prossimo, für die positiver Transfer
im Klassenzimmer unterstützt werden kann.
30
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An (4) lässt sich erkennen, dass das deutsche Perfekt über eine
imperfektive – hier progressive - Lesart verfügt 5.
(4)
Als wir nach Hause gekommen sind, hat Paolo gerade Giulio
angerufen.
Bei dieser progressiven Vergangenheitslesart bezeichnet der
temporale Nebensatz die Zeit, für die die Aussage im Hauptsatz
Gültigkeit hat. Perspektiviert wird nur ein Moment der Gesamtsituation des Anrufens, ein Moment des Wählens, wohingegen der
Endpunkt ausgeblendet wird. Beide Teilsituationen – das NachHause-Kommen und das Anrufen – werden als gleichzeitig interpretiert. Hervorgerufen wird diese progressive Lesart durch das
Adverb gerade.
Ein entsprechender Satz im passato prossimo lässt nur eine
perfektive Lesart zu. In (4a) werden beide Situationen mit ihrem
Endpunkt perspektiviert und somit als sequentiell interpretiert (vgl.
auch Squartini 1995: 119):
(4a) Quando siamo tornati a casa Paolo ha telefonato a Giulio.
5
Vgl. für weitere imperfektive – kontinuative – Lesarten Giorgi / Pianesi (1997:
177), Bertinetto (2001: 77) und Schumacher (2005: 245, 2008b).
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Auch mit einem Perfekt wäre eine solche perfektive Lesart
möglich. Sie würde zum Beispiel durch ein Adverb wie sofort hervorgerufen:
(4b) Als wir nach Hause gekommen sind, hat Paolo sofort Giulio
angerufen.
Es zeigt sich, dass im Deutschen nicht morphologische Tempusmarkierungen, sondern lexikalische Mittel wie die Adverben gerade
und sofort aspektualen Lesarten auslösen. Auch die Telizität der
Verben spielt hier eine Rolle: Ohne Adverbien wie gerade oder sofort
wird unser Beispielsatz von deutschen Muttersprachlern präferiert
perfektiv interpretiert, denn das telische Verb anrufen stellt inhärent
einen Endpunkt zur Verfügung. Beide Teilsituationen werden in (4c)
als aufeinander folgend verstanden:
(4c) Als wir nach Hause gekommen sind, hat Paolo Giulio angerufen.
Ein entsprechendes atelisches Verb wie telefonieren wiederum
ohne Adverbien ruft bei deutschen Muttersprachlern bevorzugt eine
progressive Lesart hervor; hier werden beide Teilsituationen als
gleichzeitig interpretiert:
(4d) Als wir nach Hause gekommen sind, hat Paolo mit Giulio telefoniert.
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Es lässt sich festhalten, dass die perfektiven und imperfektiven
Vergangenheitslesarten beim Perfekt durch lexikalische Mittel wie
Adverbien oder Verben hervorgerufen werden. Empirische Studien
zur interlingualen Identifizierung von passato prossimo und Perfekt
stehen meines Wissens noch aus. Es ist jedoch zu vermuten, dass
italienische Lernende bei der Kodierung progressiver Situationen in
der Vergangenheit zu einem underuse des Perfekts und einem damit
einhergehenden overuse des Präteritums tendieren 6.
3.2
Aspektuale Lesarten des Präteritums und des imperfetto
Das Präteritum lässt sowohl imperfektive als auch perfektive
Vergangenheitslesarten zu, das imperfetto hingegen nur imperfektive 7.
Im Folgenden werden zunächst die imperfektiven (progressiven,
habituellen) Lesarten miteinander verglichen. Sodann wird die
perfektive Präteritumlesart erörtert.
(5)
Als wir nach Hause kamen, rief Paolo gerade Giulio an.
(6)
Quando siamo tornati a casa Paolo telefonava a Giulio.
6
Eine weiterer ergiebiger Forschungsgegenstand wäre ein Vergleich der teilgrammatikalisierten progressiven Konstruktionen aus stare + gerundio, stare a +
Infinitiv und andare + gerundio (vgl. Bertinetto 2000, Natale 2009) mit den
Konstruktionen am + Infinitiv, beim + Infinitiv und dabei sein zu + Infinitiv (vgl.
Krause 2002).
7
Ein Vergleich zwischen den aspektualen Lesarten von Präteritum und passato
remoto wird hier ausgeklammert (vgl. Bertinetto 2001a: 24ff. und Schumacher
2005: 266ff., 2008b zur Perfektivität des passato remoto ), da die Frage der
interlingualen Identifizierung zwischen passato remoto und Präteritum nicht zuletzt
wegen der komplexen diachronen, dialektalen und textsortenspezifischen
Situationen beider Tempora offen ist (vgl. Bertinetto / Squartini 1996, Squartini /
Bertinetto 2000 bzw. Welke 2005: 295ff.).
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Hier liegen progressive Vergangenheitslesarten vor, bei denen
der Temporalsatz mit als bzw. quando - ebenso wie im Perfektsatz (4)
- die Zeit bezeichnet, die vom Sprecher betrachtet wird. Wiederum
wird nur ein Moment des Wählens aus der Gesamtsituation des
Anrufens perspektiviert, ohne dass ein Endpunkt berücksichtigt
würde. Die Differenz zwischen (5) und (6) liegt in den sprachlichen
Mitteln, die die progressive Vergangenheitslesart hervorrufen: Ist es
im Italienischen die morphologische Markierung des imperfetto, durch
die der Endpunkt ausgeblendet wird, so ist es im Deutschen nicht das
Präteritalmorphem, sondern das Adverb gerade. Wie in den entsprechenden Perfektsätzen erzeugen auch bei den Präteritumsätzen
punktuelle Adverbien (5a) und telische Verben (5b) einen perfektivierenden, atelische Verben hingegen einen imperfektivierenden
Effekt (5c):
(5a) Als wir nach Hause kamen, rief Paolo sofort Giulio an.
(5b) Als wir nach Hause kamen, rief Paolo Giulio an.
(5c) Als wir nach Hause kamen, telefonierte Paolo mit Giulio.
Auch habituelle Lesarten entstehen im Italienischen primär
durch die – morphologisch kodierte – Bedeutung des imperfetto, im
Deutschen hingegen durch lexikalische Mittel wie Adverbien. Bei
imperfektiv-habituellen Lesarten werden Endpunkte insofern nicht
berücksichtigt, als die Anzahl und die Dauer mehrerer Einzelsituationen vom Sprecher ausgeblendet werden (vgl. Bertinetto 2001a:
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44ff.). Typische habituelle Vergangenheitslesarten liegen in (7) und
(8) vor.
(7)
(8)
Marco stand immer um 6 auf.
Marco si alzava alle 6.
In (7) liefert das Adverb immer den Bedeutungsbeitrag der
Habitualität. Weitere Frequenzadverbiale wie oft, regelmäßig oder
jeden Montag würden ebenso eine habituelle Lesart hervorrufen. In
(8) hingegen ist ein entsprechendes Adverb nicht notwendig, denn die
Interaktion zwischen dem telischen alzarsi und dem imperfetto löst
die habituelle Lesart aus: Für italienische L1-Sprecher kann der durch
das Verb gelieferte inhärente Endpunkt nicht zu einer perfektiven
Lesart führen, weil das imperfetto eine solche nicht zuließe. Bei einer
Interpretation von (8) – wie auch in (1) – versuchen sie somit, diesen
inhärenten Endpunkt auszublenden, und ordnen dem Satz eine Lesart
mit einer Gesamtsituation zu, die aus mehreren Einzelsituationen
besteht und ein offenes Ende hat.
Deutsche
Muttersprachler
hingegen
interpretieren
einen
entsprechenden Satz im Präteritum ohne Frequenzadverbial bevorzugt
perfektiv.
(9)
Marco stand um 6 auf.
Da das Präteritum aspektual neutral ist und das telische Verb
aufstehen einen inhärenten Endpunkt liefert, wird die in (9)
bezeichnete Situation als einzelnes Ereignis mit Endpunkt betrachtet.
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Ein Frequenzadverbial – oder ein bestimmter Kontext – ist notwendig,
um diese bevorzugte perfektive Interpretation aufzuheben und eine
habituelle Lesart auszulösen. Dies ist in (7) der Fall. Habituelle
Präteritumlesarten sind verbreitet und natürlich im Deutschen, aber
ohne Frequenzadverbiale oder einen geeigneten Kontext werden
Präteritumformen mit telischen Verben präferiert perfektiv verstanden
(vgl. Schumacher 2008a).
Wie schon der Vergleich zwischen den Lesarten von (8) und (9)
gezeigt hat, besteht die zentrale Differenz zwischen dem Präteritum
und dem imperfetto darin, dass nur das Präteritum über perfektive
Lesarten verfügt. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn der
sprachliche Kontext eine einzelne Situation mit Endpunkt vorsieht.
(10) Gestern regnete es zwei Stunden lang.
Hier spezifiziert das durative Grenzadverbial zwei Stunden lang
das Geschehen, welches durch das Positionsadverb gestern einmalig
auf der Zeitachse lokalisiert wird. Eine solche einzelne vergangene
Situation mit adverbial spezifiziertem Endpunkt ist mit einem
imperfetto inkompatibel (vgl. Squartini 1995: 120):
(10°) *Ieri pioveva per due ore.
Sprachliche Mittel, die beim Präteritum zu einer perfektiven
Interpretation führen, sind wiederum Adverbiale - in diesem Fall
durative Grenzadverbiale wie zwei Stunden lang, bis Mitternacht, von
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2 bis 3 Uhr - und telische Verben, wie am Beispiel von aufstehen in
(9) erörtert wurde.
Wie ich in Schumacher (2008a) gezeigt habe, lassen sich
interlinguale
Identifizierungen
von
imperfetto
und
Präteritum
erkennen, die im Bereich der Rezeption zu einer nicht-nativen
Satzverarbeitung führen, da italienische Lernende durch ihre L1
bedingt auf aspektual fundierte Verarbeitungsprinzipien zurückgreifen, die nicht den Verarbeitungsprinzipien deutscher L1-Sprecher
entsprechen 8. Studien zu einer interlingualen Identifizierung in der
Produktion stehen meines Wissens noch aus 9. Für italienische
Lernende ist es relevant, dass für die Frage der Wahl von Präteritum
und Perfekt nicht der die Aufmerksamkeit lenkende grammatische
Aspekt, sondern vor allem die pragmatische Dimension der Distanz
zentral ist.
3.3
Distanz statt Aspekt
Das Präteritum signalisiert Distanz, das Perfekt hingegen Nähe,
was morphologisch im Präteritalmorphem bzw. im als Nullmorphem
realisierten Präsensmorphem seinen Ausdruck findet. 10 Diese die
Intentionalität des Sprechers und seine «Instruktion» dem Adressaten
gegenüber betreffende Dimension entspricht vielfach der Relevanz,
8
Inwiefern diese Tendenzen auch in Texten greifen, wäre ein weiterer
spannendender Forschungsgegenstand.
9
Interessant wäre es hierfür z.B., in Analogie zu Willkop (2003a) E-Mails fortgeschrittener italienischer DaF-Lernender, etwa im Universitätskontext, zu untersuchen.
10
Vgl. Schumacher (2005: 212ff.) für didaktisierte Form-Bedeutungszusammenhänge der einzelnen Tempusmorpheme im gesamten Tempussystem.
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die einer Aussage beigemessen wird, was sowohl für schriftliche als
auch für mündliche Textsorten gilt; jeder Sprecher/Schreiber hat
«eine/n Adressaten/in im Blick [...] – real in der face-to-face-Kommunikation oder zumindest vor dem geistigen Auge, selbst bei
‚monologischen Texten‘» (Willkop 2003a: 237). 11 Durch die auf
Weinrichs (1964 / 1985, 1993) adressatenbezogenen Registerkategorien Erzählen und Besprechen basierende Klassifzierung des
Präteritums als Distanztempus und des Perfekts als Nähetempus lässt
sich der Gebrauch dieser beiden Tempora für didaktische Zwecke
angemessen erfassen (vgl. Willkop 2003a, b, Fandrych / Thurmair
2011: 257ff., 347).
Anhand der folgenden beiden Äußerungen lässt sich zeigen,
dass die Wahl von Perfekt und Präteritum nicht wie diejenige von
passato prossimo und imperfetto durch den grammatischen Aspekt,
sondern durch die pragmatische Distanzkategorie determiniert ist.
(11) Im August 2003 passierte viel. S. entlarvte sich als Politgangster und...
(12) Genug ist genug. S. hat sich damit gestern endgültig als Politgangster
entlarvt.
Die Differenz zwischen den jeweils zweiten Sätzen ist nicht
aspektual. In beiden Fällen liegen perfektive Vergangenheitslesarten
vor, bei denen das Ereignis des Sich-Entlarvens als abgeschlossen, mit
11
Vgl. für weitere (temporale und deiktische) Dimensionen von Distanz beim
Präteritum Schumacher (2005: 186ff., 2008b, 2011).
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Endpunkt, perspektiviert wird. Die Differenz liegt vielmehr darin,
dass die Sprecher / Schreiber jeweils eine unterschiedliche «Haltung
zum Sachverhalt» (Willkop 2003a: 240) einnehmen. (11) ist eine
typische schriftliche, monologische Erzählsituation, vorstellbar etwa
in einem Zeitungsartikel, in dem das Präteritum gewählt wird, da der
Schreiber zu dem kodierten Ereignis «innerlich Abstand gewonnen
hat» (Wierzbicka / Schlegel 2008: 17) und dem Leser eine entspannte
Rezeptionshaltung nahelegt. Es wird darum gebeten, eine – virtuelle –
Diskussion über die einzelnen Äußerungen zunächst einmal aufzuschieben, um eine Erzählung entfalten zu können (vgl. Weinrich 1993:
198ff., Willkop 2003a: 241ff., b: 97ff.). Dies ist typischerweise in
literarischen Texten der Fall, bei denen die dem Präteritum inhärente
Distanz oftmals so genutzt wird, dass das deiktische Zentrum von
einer faktischen Sprech- / Schreibsituation in die fiktive Welt eines
Textes verschoben wird (vgl. Schumacher 2008b: 93ff., 2011). Zudem
wird das Präteritum verwendet, «um eine interaktive Distanz im
Dienste der Höflichkeit zu erzeugen (wie bei Wie war noch ihr
Name?)» (Willkop 2003a: 243).
In (12) hingegen, einer mündlich oder schriftlich denkbaren
Äußerung etwa in einem mündlichen Dialog oder zu Beginn eines
Zeitungsartikels, wird das Perfekt gewählt, weil der Sprecher /
Schreiber der vergangenen Situation des Sich-Entlarvens Relevanz für
die unmittelbare Gegenwart der Sprechsituation beimisst und folglich
eine gespannte Rezeptionshaltung beim Leser hervorruft. Er
signalisiert seine Bereitschaft, über seine Äußerung zu diskutieren
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(vgl. Weinrich 1993: 198ff., Willkop 2003a: 240ff., 2003b: 97ff.). Die
dem Perfekt inhärente Nähe führt nicht nur dazu, dass es primär
dialogisch-mündlich sowie in hot-news-Kontexten, in mündlichen
Erzählungen, Gesprächen und Privatbriefen Verwendung findet,
sondern dass es in schriftlichen Erzählungen zudem Erzählebenen und
relevante Ereignisse markiert sowie textstrukturierend wirkt (vgl.
Willkop 2003a: 249ff.).
Diese
(11)
und
(12)
unterscheidende
relevanzbezogene
Dimension der Distanz würde im Italienischen nicht durch die
Verwendung von imperfetto vs. passato prossimo realisiert; das
imperfetto wäre in beiden Beispieläußerungen ungrammatisch, da es
die perfektiven Vergangenheitslesarten gar nicht zuließe. Zudem ist es
kein Distanztempus wie das Präteritum, sondern wird in sämtlichen
mündlichen und schriftlichen Varietäten gebraucht (vgl. Schumacher
2008b).
Das Präteritum und das imperfetto haben durchaus mehrere
Gemeinsamkeiten: Beide verbinden sich typischerweise mit Auxiliar-,
Zustands- und Modalverben, sind anaphorisch und werden häufig
verwendet, um Hintergrundinformationen zu geben – jeweils im
Gegensatz zum Perfekt bzw. passato prossimo, bei denen diese
Verwendungen nicht präferiert werden (vgl. Willkop 2003a,
Schumacher 2005: 247ff., Wierzbicka / Schlegel 2008: 48ff.,
Fandrych / Thurmair 2011: 257). Gleichwohl, so kann an dieser Stelle
resümiert werden, verfügt das imperfetto im Gegensatz zum
Präteritum über Gebrauchsbeschränkungen in perfektiven Kontexten,
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wohingegen das Präteritum in Distanzkontexten bevorzugt wird, was
wiederum für das imperfetto nicht konstitutiv ist. Auch dieser Befund
lässt den Schluss zu, dass italienische Lernende bei der Rezeption und
Produktion des Präteritums eher von dem aspektual determinierten
Gebrauch des Imperfetto ausgehen und diesen auf das Präteritum
übertragen, als die Dimension der Distanz zu berücksichtigen.
Inwiefern dies im Klassenzimmer berücksichtigt werden sollte, ist
Gegenstand des abschließenden Abschnitts.
4.
FOKUSSIERUNG WORAUF? AUSBLICK
Die Beantwortung der Frage «Fokussierung worauf?» baut auf
der Auseinandersetzung mit der Frage «Fokussierung woher?» auf.
Wie die kontrastive Analyse gezeigt hat, umfasst das Woher im
Wesentlichen drei Punkte.
(i) Wegen der interlingualen Identifizierung von passato
prossimo und Perfekt ist ein Transfer der Gebrauchsbeschränkungen
des perfektiven italienischen Tempus auf einen progressiven
Gebrauch des Perfekts erwartbar, was sich in einem underuse des
Perfekts und einem overuse des Präteritums in progressiven
Vergangenheitskontexten zeigen würde. Diese wären in mündlichen,
dialogischen Situationen, d.h. in Nähekontexten, nicht angemessen.
(ii) Aufgrund der interlingualen Identifizierung von imperfetto
und Präteritum findet ein Transfer der Gebrauchsbeschränkungen des
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italienischen Tempus auf einen perfektiven Gebrauch des Präteritums
statt, der sich in habituellen Vergangenheitslesarten des Präteritum mit
telischen Verben und Grenzadverbialen zeigt. Diese entsprechen nicht
den von deutschen L1-Sprechern präferierten Lesarten.
(iii) Da der grammatische Aspekt den Gebrauch von passato
prossimo und imperfetto determiniert, werden italienische Lernende
auf der Suche nach entsprechenden L2-Ausdrucksmitteln die
Hypothese verfolgen, dass sich auch das Perfekt und das Präteritum
aspektual unterscheiden. Dies entspricht nicht deren Gebrauch, der
sich primär nach der pragmatischen Kategorie der Distanz richtet.
Bei der Vermittlung des Gebrauchsunterschieds zwischen
Perfekt und Präteritum sollte für italienische Lernende folglich das
Phänomen der Distanz inklusive einer Bewusstmachung der
sprachlichen Mittel, die zu aspektualen Vergangenheitslesarten
führen, fokussiert werden, um möglicherweise nicht-zielsprachenadäquate Verarbeitungsstrategien umzulenken.
Hierbei sollte statt einer Reduktion auf die Dichotomie
Mündlichkeit-Schriftlichkeit die Differenz zwischen dialogischen und
monologischen Textsorten herausgearbeitet werden (vgl. Willkop
2003a, b, Fandrych / Thurmair 2011: 258). Denn, wie Willkop
(2003a), (2003b) anhand von E-Mails ausländischer Studierender
nachweist, kann eine Beschränkung der in DaF-Lehrwerken
verbreiteten Regel ‘Präteritum in schriftlichen Texten, Perfekt im
mündlichen Gebrauch’ zu einem overuse des Präteritums selbst in
fortgeschrittenen Lernervarietäten führen:
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Guten Tag, ich füllte die Formulare aus und schickte sie ab. Heißt es,
dass ich für die Seminare, die ich wählte schon angemeldet bin?
Danke im Voraus [...] (Willkop 2003a: 255, b: 101).
Mit Willkop (2003a), (2003b) und Thurmair / Willkop (2003)
liegen bereits überzeugende Didaktisierungen des Weinrichschen
Tempusmodells vor, die vielfältige Textsorten, Kompetenzen und
Fertigkeiten berücksichtigen. Es werden u.a. folgende Merkverse
vorgeschlagen:
Steht im Text ein Verb im Perfekt, dann sei deine Aufmerksamkeit
geweckt und Steht das Verb im Präteritum, dann geh mit dem Inhalt
gelassen um (Wilkop 2003b: 10).
Um italienischen Lernenden auch den von der L1 abweichenden
aspektualen Gebrauch von Perfekt und Präteritum salient zu machen,
bietet es sich an, im Rahmen einer textsortenbasierten und
bedeutungszentrierten Steuerung, bei der in verschiedener Weise die
mit den Dimensionen der Nähe und Distanz zusammenhängenden
Tempusfunktionen herausgearbeitet werden, auch auf die sprachlichen
Mittel zu fokussieren, die aspektuale Bedeutungen kodieren.
Einerseits könnten hierfür Texte insofern modifiziert werden, als sie
um progressive Nähekontexte ergänzt und mit Perfektformen im
Zusammenhang mit atelischen Verben (13a) und Adverbialen wie
gerade (13b) geflutet werden wie in dem folgenden Dialog.
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(13) A Warum hast du dich denn so aufgeregt?
(13a) B Naja, als du nach Hause gekommen bist, habe ich telefoniert, und
ich wollte einfach nicht gestört werden.
(13b) B Naja, als du nach Hause gekommen bist, habe ich gerade
telefoniert, und ich wollte einfach nicht gestört werden.
Eine solche Inputflut könnte noch um Techniken des input
enhancement ergänzt werden, indem die Verbformen bzw. das Adverb
grafisch hervorgehoben (oder aber mündlich intonatorisch markiert)
werden:
(13c) B Naja, als du nach Hause gekommen bist, habe ich telefoniert, und
ich wollte einfach nicht gestört werden.
(13d) B Naja, als du nach Hause gekommen bist, habe ich gerade
telefoniert, und ich wollte einfach nicht gestört werden.
Diese relativ unaufdringlichen Formfokussierungstechniken
(vgl. Doughty / Williams 1998b: 258, Handwerker 2009: 98, Handwerker / Madlener 2009: 33, Schifko 2011: 145) ließen sich im Klassenzimmer noch ergänzen, indem – in Anlehnung an die Beispiele in
(4) – kontrastiv in zweierlei Hinsicht gearbeitet würde: Es könnten
atelische und telische Verben im Perfekt sowie die Adverbien gerade
und sofort und/oder die italienischen und deutschen Entsprechungen
miteinander kontrastiert werden. Auf diese Weise würde darauf
abgezielt, nicht nur ein noticing, sondern möglicherweise auch ein
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Verstehen der Form-Bedeutungs-zusammenhänge von Perfekt und
Progressivität hervorzurufen, die nicht den Form-Bedeutungszusammenhängen des passato prossimo entsprechen.
Entsprechend könnten Inputflut und input enhancement eingesetzt werden, um für italienische Lernende die sprachlichen Mittel
salient zu machen, mit denen perfektive Präteritumslesarten kodiert
werden. Hierfür könnten – wiederum innerhalb eines ingesamt textsortenbasierten und bedeutungszentrierten Rahmens – Texte mit Präteritalformen im Zusammenhang mit telischen Verben und Grenzadverbialen (ohne Frequenzadverbiale) geflutet werden, in Anlehnung
etwa an Sätze wie (1) oder (9), für die Distanzkontexte geschaffen
werden müssten. Wieder könnten die entsprechenden Verben und
Adverbiale grafisch markiert und durch weitere Aufgaben ergänzt
werden, in denen Grenz- und Frequenzadverbiale und / oder die
deutschen und italienischen Entsprechungen miteinander kontrastiert
werden.
Die hier nur angedeuteten Ideen zu einer Formfokussierung
derjenigen Wörter, die – im Rahmen von Nähe bzw. Distanz
signalisierenden Tempora in bestimmten Textsorten und -abschnitten
– die aspektualen Bedeutungen transportieren, nach denen italienische
Lernende in der L2 suchen, bedürfen noch weiterer Ausarbeitung in
verschiedener Hinsicht: Aufgaben fürs Klassenzimmer müssten entwickelt, didaktisch umgesetzt und bezüglich ihres Lernförderpotenzials empirisch überprüft werden. Zudem müssten die hier einerseits aus der Interpretation einzelner Präteritumsätze gefolgerten und
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andererseits hypothetisch angenommenen Schwierigkeiten italienischer Lernender beim Gebrauch von Perfekt und Präteritum durch
Evidenz aus empirischen Studien mit verschiedenen Textsorten und
Tempora ergänzt werden. Auch die Frage, inwiefern das passato
remoto interlingual mit dem Präteritum identifiziert wird, wäre in
diesem Zusammenhang hochinteressant zu verfolgen.
Mit meinen Ausführungen wollte ich ansatzweise zeigen, inwiefern der Weg vom Wort zum Text in der DaF-Didaktik gewissermaßen rückwärts beschritten werden kann: Die Aufmerksamkeit der
Lernenden wird von den verschiedenen nähe- und distanzdominanten
Textsorten und -abschnitten aus auf die temporalen Wörter (Verben
mit ihren Tempusmarkierungen und Adverbiale) fokussiert. Die
Tempora werden in ihren grammatischen und pragmatischen
Dimensionen erfasst, um die von Lernenden durch ihre L1 bedingten
Fokussierungen umzulenken. Mit einem entsprechenden vertieften
wort-, satz- und textbezogenen Wissen kann dann auch immer wieder
zum Text zurückgekehrt werden.
5.
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