SE IT E N 2 · M I T T WO C H , 1 9 . F E B RUA R 2 0 1 4 · N R . 4 2 Natur und Wissenschaft F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G Ein gängiger Test, um mehr über die Neglect-Symptomatik zu erfahren: Der Patient Raphael E. zeichnete kurz nach seinem Schlaganfall nur die eine Seite der vorgegebenen Blume (links und Mitte). Wochen später war sein Bild wieder vollständig (rechts). Fotos Ina Hübener (3), A1PIX/BIS (1) Die halbierte Welt it einem Schlag war nichts mehr, wie es war. Eben saß Raphael E., Leiter einer großen IT-Abteilung, noch mit seiner Kollegin beim Mittagessen in der Kantine. Plötzlich verzog sich sein Gesicht. Essensbrocken fielen ihm aus dem Mund. Seine Atmung stockte. In seiner rechten Gehirnhälfte war gerade ein Gefäß geplatzt, Blut strömte unaufhörlich in sein Gehirn. Es ist der Moment, in dem für Raphael E. die linke Hälfte seiner Welt aufhörte zu existieren. Wie der 53-Jährige erleiden jedes Jahr in Deutschland knapp 270 000 Menschen einen Schlaganfall. Nach Krebs- und Herzerkrankungen ist er die dritthäufigste Todesursache. Bei achtzig Prozent der Betroffenen ist ein Gefäß „verstopft“. Bei den übrigen kommt es genau wie bei Raphael E. zu einer Hirnblutung. Beides führt zu einem Sauerstoffmangel im Gehirn. Dass Schlaganfälle zu Lähmungen, Sprach- und Sehstörungen führen können, wissen die meisten. Dass jedoch etwa ein Drittel aller Schlaganfallpatienten unter einem „Neglect“ – einer tückischen und schwer zu begreifende Erkrankung – leiden, ist den wenigsten bekannt. Im Englischen bedeutet „neglect“ vernachlässigen. Durch die Schäden in einer Hirnhälfte gelingt es Betroffenen wie Raphael E. plötzlich nicht mehr, ihre Aufmerksamkeit in die gegenüberliegende Raum- und Körperhälfte zu lenken. Sie verhalten sich so, als gäbe es die Seite nicht mehr für sie. Obwohl die Sinnesorgane der Patienten in der Regel intakt sind, sehen, hören und fühlen sie auf der Seite nichts mehr. Arm und Bein fühlen sich für sie an wie die eines Fremden. Es kommt vor, dass Frauen nur noch eine Seite ihres Gesichts schminken oder Männer halbseitig unrasiert aus dem Haus gehen. Manche beschweren sich auch über zu kleine Essensportionen, dabei ist die eine Seite ihres Tellers noch voller Spaghetti. Das Verrückteste: Viele Patienten nehmen ihre Krankheit gar nicht wahr. Bei ihnen gestaltet sich die Therapie dann besonders schwierig. Auch Raphael E., der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, kennt Probleme wie diese nur allzu gut. Seit Jahren liest er regelmäßig die „Wirtschaftswoche“. Doch nach dem Schlaganfall bereitete ihm das Lesen keine Freude mehr. „Ich war richtig ärgerlich auf die Zeitung“, erzählt er. In den Artikeln fehlten Wörter. „Schlechtes Lektorat, habe ich gedacht. Ich habe dann die fehlenden Wörter gesucht und gemerkt: Die sind immer links.“ Ihm ging ein Licht auf. Nicht die Redaktion war schuld, sondern er selbst. Er hatte die Zeilenanfänge „vernachlässigt“. In den Kliniken Schmieder in Heidelberg erkämpft sich Raphael E. nun Stück für Stück die linke Seite seiner Welt zurück. Dass seine linke Hälfte betroffen ist, ist typisch. Betroffene, die die rechte Seite vernachlässigen, gibt es so gut wie nicht. Vermutlich liegt es daran, dass die rechte Gehirnhälfte die Aufmerksamkeit in beiden Raumhälften koordiniert. Doch wo genau liegen die für einen Neglect kritischen Bereiche? Lange gingen Mediziner davon aus, dass eine Schädigung im unteren Parietallappen eine NeglectSymptomatik hervorrufen kann. Neuere Untersuchungen des Neurologen HansOtto Karnath vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung der Universität Tübingen zeigen jedoch, dass vor allem der obere Temporallappen sowie die Inselregion in der rechten Hemisphäre bei der Erkrankung eine entscheidende Rolle spielen. Aber auch Schäden in subkortikalen Bereichen auf dieser Seite, wie den Basalganglien, können die Störung auslösen. Im Gegensatz dazu ist die linke Hirnhälfte nur für die rechte Raumhälfte zuständig. Wird also die linke Gehirnhälfte M Ein Schlaganfall kann das Leben radikal verändern. Manche Patienten verhalten sich regelrecht merkwürdig: Sie rasieren nur noch eine Gesichtshälfte oder essen nur eine Seite des Tellers leer. Für sie hat eine Hälfte ihrer Welt aufgehört zu existieren. „Neglect“ ist ein Leiden, das auch die Mediziner extrem beschäftigt. Von Ina Hübener geschädigt, kann die rechte den Verlust kompensieren – andersherum nicht. Warum unser Gehirn eine derartige Arbeitsteilung betreibt, ist bis heute nicht geklärt. Die Tage in der neurologischen Reha sind für Raphael E. vollgepackt mit Therapien. Gleich nach dem Frühstück rollt er in seinem dunkelblauen Rollstuhl zur Ergotherapie. Seine Frau begleitet ihn. Wie sehr viele Neglect-Patienten hat auch er zusätzlich mit Lähmungen der linken Körperhälfte zu kämpfen. Eine problematische Kombination, denn um eine Lähmung zu therapieren, muss man den betroffenen Körperteilen besonders viel Aufmerksamkeit schenken – gerade das fällt jedoch Neglect-Patienten extrem schwer. Der junge Ergotherapeut Nicolas Morinière versucht daher, sowohl die Wahrnehmung als auch die Kraft in Engels linker Körperhälfte zu stärken. In der heutigen Sitzung dreht sich alles um seinen linken Arm. Raphael E. darf sich auf die Liege legen und entspannen. „Wohlfühltherapie“ nennt es Mornière. Engels linker Arm ist allerdings noch alles andere als entspannt. Verkrampft und angewinkelt liegt er neben seinem Körper. Der Ergotherapeut streicht mit seiner rechten Hand von Raphael E.s gesunder rechter Schulter über seine Brust hinüber zur linken Schulter, den Arm entlang bis hinunter zu den Fingerspitzen. Er fragt: „Geht das Gefühl für meine Hand irgendwo verloren?“ „Nein“, antwortet Raphael E. Das ist schon ein großer Fortschritt. Anfangs hatte er überhaupt kein Gefühl in seinem Oberarm. ann zieht der Therapeut einen durchsichtigen Plastikbeutel über Raphael E.s linken Arm. Er verschließt ihn mit einem Reißverschluss und pustet den Beutel wie einen Schwimmflügel auf. Der linke Arm von Raphael Engel wird immer fester eingequetscht. Hautfalten drücken sich in das Plastik. Der Arm ist jetzt völlig ausgestreckt. Nun streckt der Therapeut E.s Arm senkrecht in die Höhe. Obendrauf legt er ein bügeleisenförmiges Vibrationsgerät. Durch den Beutel wird jede Bewegung auf den ganzen Arm übertragen. Jeder Rüttler bringt Aufmerksamkeit. Der Ergotherapeut fordert E. auf, seine Schulter nach oben zu schieben. Er sagt immer wieder: „Schieb hoch! Schieb, schieb!“ Raphael E. steht die Konzentration und der Wille ins Gesicht geschrieben. Er bleibt konzentriert bei seinem Arm. Mit Hilfe des Therapeuten schiebt er seinen Arm nach oben. „Super. Noch mal. Schieb hoch. Komm. Schieb, schieb!“ Mit jedem „Schieb“ wird die Stimme des Therapeuten energischer. „Jetzt bist du da. Versuchen Sie mal, den Arm zu drehen.“ Der Arm regt sich nicht. Raphael E. schüttelt den Kopf. „Null Verbindung“, sagt er und dreht den Kopf zur Wand. Mit dem abgewendeten Blick entgleitet ihm auch die Aufmerksamkeit für seinen linken Arm. Ihm ist die Enttäuschung deutlich anzumerken. „Es ist ein mühseliges Geschäft“, weiß E. Hier in der neurologischen Reha wird Erfolg mit anderen Maßeinheiten gemessen. Kleinste Schritte zählen viel. Für Raphael E., der voll im Berufsleben stand und zu dessen Selbstverständnis es gehört, immer zu funktionieren, ist das nur schwer zu ertragen. Was ihn trotz allem beruhigt, ist, dass es für sein Leiden einen Namen gibt. Bis Raphael E. jedoch erfuhr, dass er unter einem Neglect leidet, vergingen einige Wochen. Schon viel früher merkte er, dass mit seiner linken Seite etwas ganz und gar nicht stimmt. Das sei damals direkt nach dem Schlaganfall auf der Intensivstation gewesen, erinnert sich seine Frau. Sein Puls sei stark gestiegen, er habe geweint. Mit seinem rechten Bein suchte er immer wieder nach seinem linken. Um ihm klarzumachen, dass sein linkes Bein noch da war, begann sie auf das Bein zu klopfen, was ihn beruhigte. Die eigentliche Diagnose Neglect fiel schließlich erst hier auf der neurologischen Rehastation. Raphael E.s Frau hat den Moment noch genau vor Augen: „Er sollte zwei Linien in der Mitte teilen, die eine rechts auf dem Blatt und die andere links. Die rechte hat er schön in der Mitte geteilt, die linke zwei Drittel, ein Drittel“, erzählt sie. „Und dann ist er auch links überall mit dem Rollstuhl dagegengefahren.“ Für die Ärzte war schnell klar, dass Raphael E. unter Neglect litt. Neben dem Linienhalbiertest gehören zu den üblichen klinischen Tests Durchstreich-, Such- oder Zeichenaufgaben. Sie können die Neglect-Symptomatik besonders sensitiv nachweisen. Die einzelnen Sympto- me der Patienten sind extrem facettenreich. Bei vielen ist auch die mentale Repräsentation gestört. Bittet man sie, aus der Erinnerung ihr Wohnhaus zu zeichnen, gelingt ihnen das auf der rechten Seite gut. Die linke wird jedoch verschwommen und eher unscharf. Trotz der vielschichtigen Symptome nehmen viele Patienten ihre Erkrankung nicht wahr und sind daher äußerst schwer zur Therapie zu motivieren. Ihnen fehlt die Krankheitseinsicht. „Wenn ich nicht wahrnehme, dass mein Arm da hängt, gibt es auch keinen Grund etwas zu verändern“, sagt die Psychologin Gundhild Leifert-Fiebach. In der Therapie sei es daher sehr wichtig auch an dieser sogenannten Anosognosie zu arbeiten. „Es hilft, die Patienten mit ihrer Erkrankung zu konfrontieren und ihre Aufmerksamkeit zum Beispiel auf das zu lenken, was sie in der Diagnostik ausgelassen haben. So kann das Störungsbewusstsein verbessert werden.“ Für Außenstehende oder Angehörige ist die fehlende Krankheitseinsicht kaum zu begreifen, und es ist schwer, mit ihr umzugehen. Für die Patienten kann sie sogar gefährlich werden. „Der Patient würde auch aufstehen trotz einer schweren Lähmung links und nimmt das gar nicht wahr, dass sein linkes Bein null funktioniert, und fällt hin. Das sind die absolut sturzgefährdeten Patienten“, sagt Tobias Brandt, Facharzt für Neurologie und Sozialmedizin und Leiter der Neurorehabilitation der Kliniken Schmieder. Raphael E. versteht auf der Meta-Ebene zum Glück schon recht gut was, Neglect ist. Daher darf er an einer neuen Therapieform teilnehmen: dem mentalen Training. Mentales Training kommt aus dem Hochleistungssport. Gedanklich spielen die Sportler bestimmte Bewegungsabläufe immer wieder durch, um so die tatsächliche Bewegung zu trainieren. Auch Klavierspieler trainieren mental. Seit fünf bis sechs Jahren wird mentales Training verstärkt in der Rehabilitation eingesetzt. Bisher galt jedoch Neglect als Ausschlusskri- D Eine Computertomographie kann zeigen, welche Hirnzonen der Schlaganfall schädigte. terium, weil es oft nicht einfach ist, bei diesen Patienten einen therapeutischen Zugang zu finden, da sie ihre Störung nicht oder nur teilweise wahrnehmen. Die Psychologinnen Anouk Welfringer und Gundhild Leifert-Fiebach wollten das ändern. Daher erforschten sie an den Kliniken Schmieder, ob sich Neglect-Patienten überhaupt die linke Seite oder den linken Raum mental vorstellen können. Die Ergebnisse ihrer Studien, von denen eine 2013 im Fachjournal „NeuroRehabilitation“ publiziert wurde, sind vielversprechend. Sie konnten zeigen, dass mentales Training tatsächlich die gestörte Körperwahrnehmung der Patienten verbessern kann (doi: 10.3233/NRE- 130822). aphael E. ist derweil bei der nächsten Therapie, der Gesichtsfeldgruppe, angekommen. Weil zu den Hauptsymptomen des Neglect gehört, dass sich die Patienten der linken Raumseite nicht mehr gut zuwenden können, wird mit ihnen hier trainiert, linksseitigen Reizen wieder mehr Beachtung zu schenken. Als Hilfsmittel dienen kleine Computerspiele wie Pingpong. Raphael E. widmet sich als Erstes Labyrinthen. Mit der Maus steuert er einen roten Punkt in der Größe eines Cent-Stückes. Nach 83 Sekunden hat er den Ausgang gefunden. Das nächste Spiel hat es in sich. Raphael E. fällt es sichtlich schwer, am linken Rand Wege zu planen. Er läuft wiederholt in den gleichen Irrweg. Seine Frau fiebert mit ihm. Erst nach 235 Sekunden erreicht er das Ziel. Obwohl Neglect viele Schlaganfallpatienten betrifft, ist die Erkrankung in der Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Neglect ist nicht so offensichtlich wie eine Lähmung oder eine Sprachstörung. Verhält sich ein Angehöriger oder Bekannter nach einem Schlaganfall merkwürdig, heißt es dann schnell: Der hatte einen Schlaganfall, der ist verwirrt. „Man denkt, die Patienten haben geistig abgebaut, dabei haben sie ein sehr spezielles Problem“, sagt Tobias Brandt. In Heidelberg ist bereits Essenszeit. Und so sitzt Raphael E. Wochen nach dem Schlaganfall wieder am Mittagstisch, vor ihm ein graues Tablett. Auf dem Speisezettel stehen Röstkartoffeln, Fleischkäse, Gemüsebrühe, Salat und Mandelpudding. Rein äußerlich wirkt Raphael E. mit seinem roten Poloshirt, der Brille und den graumelierten Haaren völlig normal – so, als säße er wie damals in der Kantine seiner Firma. Geistig hakt er jedoch den Speisezettel ab. Hilfskonstruktionen wie diese sind beim Neglect unheimlich wichtig, um den Alltag wieder besser zu meistern. Ohne sie würde E. vielleicht den Fleischkäse auf der linken Seite seines Tellers nicht bemerken oder sich wundern, warum es heute keinen Nachtisch gibt. „Das sind so kleine Tricks, womit man das Gehirn auch wieder überlisten muss“, erklärt Anouk Welfringer. Denn seit dem Schlaganfall schlägt E.s Gehirn ihm täglich Schnippchen und gaukelt ihm eine falsche Realität vor. Auf die Idee mit dem Speisezettel ist er von ganz allein gekommen. Andere Patienten lernen beispielsweise, ihren Teller nach einer Weile um 180 Grad zu drehen. Nach einer kurzen Ruhepause geht der Therapiemarathon am Nachmittag weiter. Auf dem Weg durch die verwinkelten Gänge erzählt Raphael E., wie fremd ihm die linke Körperhälfte vor kurzer Zeit noch war. „Am Anfang bin ich mit dem Rollstuhl über meinen Fuß gefahren und habe es nicht gemerkt. Jetzt ist es besser, ich merke es früher. Vor drei, vier Wochen bin ich drübergefahren und habe mich gewundert, warum es nicht gut rollt. Jetzt tut es gleich weh.“ Die Verletzungsgefahr ist bei Patienten wie ihm sehr R groß. Blaue Flecke auf der linken Seite sind keine Seltenheit. Warum die linke Körper- und Raumseite von Neglect-Patienten vernachlässigt wird, ist bis heute umstritten. Mehrere Modelle werden diskutiert. Das erste sieht eine Aufmerksamkeitsstörung als Ursache des Phänomens. Das zweite geht von einer gestörten mentalen Repräsentation der Umwelt aus. Das dritte hat eine Störung der subjektiven Körperachse im Verdacht. So würden immer mehr Untersuchungen darauf hindeuten, dass die subjektiv wahrgenommene Körperachse der Patienten nicht mehr zur Orientierung im Raum passt, erklärt Gundhild Leifert-Fiebach. Die Folge ist, dass viele mit ihrem gesamten Körper nach rechts gedreht sind und selbst das Gefühl haben, gerade zu sitzen. „Wenn man sie ausrichtet, wehren sie sich dagegen, weil sie natürlich das Gefühl haben, da will mich jemand in die Schiefe drücken“, sagt sie. Es sei dann hilfreich, wenn auch die Familie der Patienten mit ins Boot geholt werde und sie die Betroffenen gezielt nur von links ansprechen. Sinnvoll sind auch Explorationsübungen am Computer, wie sie im optokinetischen Training durchgeführt werden, das Raphael E. an diesem Nachmittag absolviert. Er sitzt in einem abgedunkelten Raum vor einem großen Monitor. Um ihn herum Stille. Nur ab und zu fährt draußen ein Auto vorbei. Überall auf dem Bildschirm wandern erbsengroße himmelblaue Punkte von rechts nach links. Seine Aufgabe ist es, mit den Augen die Punkte nach links zu verfolgen. Sie dienen als Anker für seine Aufmerksamkeit. Den Kopf darf er dabei nicht mitbewegen. Taucht irgendwo ein Buchstabe auf, soll er ihn laut sagen und auf die Leertaste drücken. Dann kommt der nächste. Raphael E. schaut konzentriert auf den Bildschirm und sagt: „K, G, F, H, I, E, H, V, R, O, H. . .“ Längere Pause. Der Buchstabe versteckt sich diesmal ganz links unten am Rand – höchste Schwierigkeitsstufe. Dann endlich sieht er ihn: „Z“. Am Ende der Übung wird eine Statistik seiner Reaktionszeiten angezeigt. „Man merkt es an den Reaktionszeiten, dass es links ein wenig länger braucht und je weiter links, desto länger,“ erläutert Anouk Welfringer die Zahlen. „Merken Sie das selber?“ „Hmm“, bestätigt E. Seine Augenlider kämpfen gegen die Schwerkraft. Für heute hat er genug am Computer trainiert. Bei der Übung sei es auch nicht wichtig, sie lange durchzuführen, sondern lieber mehrmals über den Tag verteilt, um immer wieder den Impuls nach links hin zu setzen, erklärt Welfringer. Wie viel seiner linken Körper- und Raumhälfte Raphael E. einmal zurückgewinnen wird, weiß heute noch niemand. ANZEIGE FAZ-3VX14rL N AT U R U N D WISSENSCHAFT ONLINE. VON 1993 BIS ZUR AKTUELLEN AUSGABE. W W W.FA Z-W I S S E N S C H A F T.D E A B 24 ,90 € PRO JAHR Normalerweise klingt die stark ausgeprägte Neglect-Symptomatik spontan innerhalb einiger Wochen ab. Nach fünfzehn Monaten ist sie bereits bei 65 Prozent der Betroffenen nicht mehr nachweisbar. Bei den übrigen 35 Prozent bleibt der Neglect bestehen. Für sie bedeutet das eine erhebliche Behinderung im Alltag. Besonders tückisch ist es, wenn der klinische Neglect nicht mehr so offensichtlich ist und die Patienten in den meisten Situationen gut kompensieren können. Dann bleibt häufig das Phänomen der Extinktion noch übrig. Einen einzelnen Reiz rechts oder links nehmen sie wahr. Taucht jedoch rechts und links gleichzeitig etwas auf, bemerken sie nur den Reiz auf der rechten Seite. Das bedeutet auch, dass sie sich nicht mehr sicher alleine im Straßenverkehr bewegen können. Den Führerschein und damit ein Stück Freiheit abzugeben fällt vielen schwer. In Heidelberg neigt sich der anstrengende Tag dem Ende. Raphael E. rollt sich mit dem rechten Fuß in das von der Abendsonne warm gefärbte Büro von Anouk Welfringer. Die Neuropsychologin will mit einer Zeichenaufgabe, die sie ihrem Patienten bereits vor einigen Wochen gestellt hat, herausfinden, ob sich sein Neglect verbessert hat. Als Erstes ist ein viereckiger Stern dran. Er malt sich mit Punkten einen Plan vom Stern und verbindet dann die Punkte. Durch sein System entgeht ihm nichts. Der Stern ist vollständig. Nach dem Stern zeichnet er einen Würfel. Auch wenn noch etwas gestaucht, so ist er doch klar als Würfel zu erkennen. Welfringer freut sich sichtlich über seine Fortschritte. „Langsam, aber sicher weitet sich die Aufmerksamkeit wieder aus“, sagt sie und erklärt dem Ehepaar: „Auch wenn der Schalter nicht gefunden wird, mit dem die linke Seit wieder komplett wahrgenommen wird, ist es möglich, die Aufmerksamkeit zum Beispiel rüberzuziehen auf die andere Seite, etwa durch kleine Hilfen wie die Punkte – und den Neglect so zu kompensieren.“ Die letzte und schwerste Zeichenaufgabe ist eine Blume. Vor einigen Wochen hatte Raphael E. den Blütenblättern auf der linken Seite noch keinerlei Beachtung geschenkt und nur die rechte Seite der Blume gezeichnet. Heute ist es anders. E. malt die Blume vollständig. Am Ende zählt er sogar die Blätter beim Original „1, 2, 3, 4 . . .“ Seine Frau strahlt. „Respekt“, sagt sie. „Wir haben heute 21. Hochzeitstag. Danke für die schöne Blume.“