Die halbierte Welt - Kliniken Schmieder

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Natur und Wissenschaft
F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G
Ein gängiger Test, um mehr über die Neglect-Symptomatik zu erfahren: Der Patient Raphael E. zeichnete kurz nach seinem Schlaganfall nur die eine Seite der vorgegebenen Blume (links und Mitte). Wochen später war sein Bild
wieder vollständig (rechts).
Fotos Ina Hübener (3), A1PIX/BIS (1)
Die halbierte Welt
it einem Schlag war nichts
mehr, wie es war. Eben saß
Raphael E., Leiter einer großen IT-Abteilung, noch mit
seiner Kollegin beim Mittagessen in der
Kantine. Plötzlich verzog sich sein Gesicht. Essensbrocken fielen ihm aus dem
Mund. Seine Atmung stockte. In seiner
rechten Gehirnhälfte war gerade ein Gefäß geplatzt, Blut strömte unaufhörlich in
sein Gehirn. Es ist der Moment, in dem
für Raphael E. die linke Hälfte seiner
Welt aufhörte zu existieren.
Wie der 53-Jährige erleiden jedes Jahr
in Deutschland knapp 270 000 Menschen
einen Schlaganfall. Nach Krebs- und Herzerkrankungen ist er die dritthäufigste Todesursache. Bei achtzig Prozent der Betroffenen ist ein Gefäß „verstopft“. Bei den übrigen kommt es genau wie bei Raphael E.
zu einer Hirnblutung. Beides führt zu einem Sauerstoffmangel im Gehirn. Dass
Schlaganfälle zu Lähmungen, Sprach- und
Sehstörungen führen können, wissen die
meisten. Dass jedoch etwa ein Drittel aller
Schlaganfallpatienten unter einem „Neglect“ – einer tückischen und schwer zu begreifende Erkrankung – leiden, ist den wenigsten bekannt. Im Englischen bedeutet
„neglect“ vernachlässigen. Durch die Schäden in einer Hirnhälfte gelingt es Betroffenen wie Raphael E. plötzlich nicht mehr,
ihre Aufmerksamkeit in die gegenüberliegende Raum- und Körperhälfte zu lenken.
Sie verhalten sich so, als gäbe es die Seite
nicht mehr für sie. Obwohl die Sinnesorgane der Patienten in der Regel intakt sind, sehen, hören und fühlen sie auf der Seite
nichts mehr. Arm und Bein fühlen sich für
sie an wie die eines Fremden. Es kommt
vor, dass Frauen nur noch eine Seite ihres
Gesichts schminken oder Männer halbseitig unrasiert aus dem Haus gehen. Manche
beschweren sich auch über zu kleine Essensportionen, dabei ist die eine Seite ihres
Tellers noch voller Spaghetti. Das Verrückteste: Viele Patienten nehmen ihre Krankheit gar nicht wahr. Bei ihnen gestaltet sich
die Therapie dann besonders schwierig.
Auch Raphael E., der seinen richtigen
Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, kennt Probleme wie diese nur allzu
gut. Seit Jahren liest er regelmäßig die
„Wirtschaftswoche“. Doch nach dem
Schlaganfall bereitete ihm das Lesen keine Freude mehr. „Ich war richtig ärgerlich
auf die Zeitung“, erzählt er. In den Artikeln fehlten Wörter. „Schlechtes Lektorat, habe ich gedacht. Ich habe dann die
fehlenden Wörter gesucht und gemerkt:
Die sind immer links.“ Ihm ging ein Licht
auf. Nicht die Redaktion war schuld, sondern er selbst. Er hatte die Zeilenanfänge
„vernachlässigt“.
In den Kliniken Schmieder in Heidelberg erkämpft sich Raphael E. nun Stück
für Stück die linke Seite seiner Welt zurück. Dass seine linke Hälfte betroffen ist,
ist typisch. Betroffene, die die rechte Seite vernachlässigen, gibt es so gut wie
nicht. Vermutlich liegt es daran, dass die
rechte Gehirnhälfte die Aufmerksamkeit
in beiden Raumhälften koordiniert. Doch
wo genau liegen die für einen Neglect kritischen Bereiche? Lange gingen Mediziner davon aus, dass eine Schädigung im
unteren Parietallappen eine NeglectSymptomatik hervorrufen kann. Neuere
Untersuchungen des Neurologen HansOtto Karnath vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung der Universität Tübingen zeigen jedoch, dass vor allem der
obere Temporallappen sowie die Inselregion in der rechten Hemisphäre bei der
Erkrankung eine entscheidende Rolle
spielen. Aber auch Schäden in subkortikalen Bereichen auf dieser Seite, wie den Basalganglien, können die Störung auslösen. Im Gegensatz dazu ist die linke Hirnhälfte nur für die rechte Raumhälfte zuständig. Wird also die linke Gehirnhälfte
M
Ein Schlaganfall kann
das Leben radikal
verändern. Manche
Patienten verhalten sich
regelrecht merkwürdig:
Sie rasieren nur noch
eine Gesichtshälfte oder
essen nur eine Seite des
Tellers leer. Für sie hat
eine Hälfte ihrer Welt
aufgehört zu existieren.
„Neglect“ ist ein Leiden,
das auch die Mediziner
extrem beschäftigt.
Von Ina Hübener
geschädigt, kann die rechte den Verlust
kompensieren – andersherum nicht. Warum unser Gehirn eine derartige Arbeitsteilung betreibt, ist bis heute nicht geklärt.
Die Tage in der neurologischen Reha
sind für Raphael E. vollgepackt mit Therapien. Gleich nach dem Frühstück rollt er
in seinem dunkelblauen Rollstuhl zur Ergotherapie. Seine Frau begleitet ihn. Wie
sehr viele Neglect-Patienten hat auch er
zusätzlich mit Lähmungen der linken Körperhälfte zu kämpfen. Eine problematische Kombination, denn um eine Lähmung zu therapieren, muss man den betroffenen Körperteilen besonders viel
Aufmerksamkeit schenken – gerade das
fällt jedoch Neglect-Patienten extrem
schwer. Der junge Ergotherapeut Nicolas
Morinière versucht daher, sowohl die
Wahrnehmung als auch die Kraft in Engels linker Körperhälfte zu stärken. In der
heutigen Sitzung dreht sich alles um seinen linken Arm. Raphael E. darf sich auf
die Liege legen und entspannen. „Wohlfühltherapie“ nennt es Mornière. Engels
linker Arm ist allerdings noch alles andere als entspannt. Verkrampft und angewinkelt liegt er neben seinem Körper.
Der Ergotherapeut streicht mit seiner
rechten Hand von Raphael E.s gesunder
rechter Schulter über seine Brust hinüber
zur linken Schulter, den Arm entlang bis
hinunter zu den Fingerspitzen. Er fragt:
„Geht das Gefühl für meine Hand irgendwo verloren?“ „Nein“, antwortet Raphael
E. Das ist schon ein großer Fortschritt.
Anfangs hatte er überhaupt kein Gefühl
in seinem Oberarm.
ann zieht der Therapeut einen
durchsichtigen
Plastikbeutel
über Raphael E.s linken Arm. Er
verschließt ihn mit einem Reißverschluss und pustet den Beutel wie einen
Schwimmflügel auf. Der linke Arm von Raphael Engel wird immer fester eingequetscht. Hautfalten drücken sich in das
Plastik. Der Arm ist jetzt völlig ausgestreckt. Nun streckt der Therapeut E.s Arm
senkrecht in die Höhe. Obendrauf legt er
ein bügeleisenförmiges Vibrationsgerät.
Durch den Beutel wird jede Bewegung auf
den ganzen Arm übertragen. Jeder Rüttler
bringt Aufmerksamkeit. Der Ergotherapeut fordert E. auf, seine Schulter nach
oben zu schieben. Er sagt immer wieder:
„Schieb hoch! Schieb, schieb!“ Raphael E.
steht die Konzentration und der Wille ins
Gesicht geschrieben. Er bleibt konzentriert bei seinem Arm. Mit Hilfe des Therapeuten schiebt er seinen Arm nach oben.
„Super. Noch mal. Schieb hoch. Komm.
Schieb, schieb!“ Mit jedem „Schieb“ wird
die Stimme des Therapeuten energischer.
„Jetzt bist du da. Versuchen Sie mal, den
Arm zu drehen.“ Der Arm regt sich nicht.
Raphael E. schüttelt den Kopf. „Null Verbindung“, sagt er und dreht den Kopf zur
Wand. Mit dem abgewendeten Blick entgleitet ihm auch die Aufmerksamkeit für
seinen linken Arm. Ihm ist die Enttäuschung deutlich anzumerken. „Es ist ein
mühseliges Geschäft“, weiß E. Hier in der
neurologischen Reha wird Erfolg mit anderen Maßeinheiten gemessen. Kleinste
Schritte zählen viel. Für Raphael E., der
voll im Berufsleben stand und zu dessen
Selbstverständnis es gehört, immer zu
funktionieren, ist das nur schwer zu ertragen. Was ihn trotz allem beruhigt, ist, dass
es für sein Leiden einen Namen gibt.
Bis Raphael E. jedoch erfuhr, dass er
unter einem Neglect leidet, vergingen einige Wochen. Schon viel früher merkte er,
dass mit seiner linken Seite etwas ganz
und gar nicht stimmt. Das sei damals direkt nach dem Schlaganfall auf der Intensivstation gewesen, erinnert sich seine
Frau. Sein Puls sei stark gestiegen, er
habe geweint. Mit seinem rechten Bein
suchte er immer wieder nach seinem linken. Um ihm klarzumachen, dass sein linkes Bein noch da war, begann sie auf das
Bein zu klopfen, was ihn beruhigte.
Die eigentliche Diagnose Neglect fiel
schließlich erst hier auf der neurologischen Rehastation. Raphael E.s Frau hat
den Moment noch genau vor Augen: „Er
sollte zwei Linien in der Mitte teilen, die
eine rechts auf dem Blatt und die andere
links. Die rechte hat er schön in der Mitte
geteilt, die linke zwei Drittel, ein Drittel“,
erzählt sie. „Und dann ist er auch links
überall mit dem Rollstuhl dagegengefahren.“ Für die Ärzte war schnell klar, dass
Raphael E. unter Neglect litt. Neben dem
Linienhalbiertest gehören zu den üblichen klinischen Tests Durchstreich-,
Such- oder Zeichenaufgaben. Sie können
die Neglect-Symptomatik besonders sensitiv nachweisen. Die einzelnen Sympto-
me der Patienten sind extrem facettenreich. Bei vielen ist auch die mentale Repräsentation gestört. Bittet man sie, aus
der Erinnerung ihr Wohnhaus zu zeichnen, gelingt ihnen das auf der rechten Seite gut. Die linke wird jedoch verschwommen und eher unscharf.
Trotz der vielschichtigen Symptome
nehmen viele Patienten ihre Erkrankung
nicht wahr und sind daher äußerst schwer
zur Therapie zu motivieren. Ihnen fehlt
die Krankheitseinsicht. „Wenn ich nicht
wahrnehme, dass mein Arm da hängt,
gibt es auch keinen Grund etwas zu verändern“, sagt die Psychologin Gundhild Leifert-Fiebach. In der Therapie sei es daher
sehr wichtig auch an dieser sogenannten
Anosognosie zu arbeiten. „Es hilft, die Patienten mit ihrer Erkrankung zu konfrontieren und ihre Aufmerksamkeit zum Beispiel auf das zu lenken, was sie in der Diagnostik ausgelassen haben. So kann das
Störungsbewusstsein verbessert werden.“
Für Außenstehende oder Angehörige
ist die fehlende Krankheitseinsicht kaum
zu begreifen, und es ist schwer, mit ihr umzugehen. Für die Patienten kann sie sogar
gefährlich werden. „Der Patient würde
auch aufstehen trotz einer schweren Lähmung links und nimmt das gar nicht
wahr, dass sein linkes Bein null funktioniert, und fällt hin. Das sind die absolut
sturzgefährdeten Patienten“, sagt Tobias
Brandt, Facharzt für Neurologie und Sozialmedizin und Leiter der Neurorehabilitation der Kliniken Schmieder.
Raphael E. versteht auf der Meta-Ebene zum Glück schon recht gut was, Neglect ist. Daher darf er an einer neuen Therapieform teilnehmen: dem mentalen Training. Mentales Training kommt aus dem
Hochleistungssport. Gedanklich spielen
die Sportler bestimmte Bewegungsabläufe
immer wieder durch, um so die tatsächliche Bewegung zu trainieren. Auch Klavierspieler trainieren mental. Seit fünf bis
sechs Jahren wird mentales Training verstärkt in der Rehabilitation eingesetzt. Bisher galt jedoch Neglect als Ausschlusskri-
D
Eine Computertomographie kann zeigen, welche Hirnzonen der Schlaganfall schädigte.
terium, weil es oft nicht einfach ist, bei diesen Patienten einen therapeutischen Zugang zu finden, da sie ihre Störung nicht
oder nur teilweise wahrnehmen.
Die Psychologinnen Anouk Welfringer
und Gundhild Leifert-Fiebach wollten das
ändern. Daher erforschten sie an den Kliniken Schmieder, ob sich Neglect-Patienten überhaupt die linke Seite oder den linken Raum mental vorstellen können. Die
Ergebnisse ihrer Studien, von denen eine
2013 im Fachjournal „NeuroRehabilitation“ publiziert wurde, sind vielversprechend. Sie konnten zeigen, dass mentales
Training tatsächlich die gestörte Körperwahrnehmung der Patienten verbessern
kann (doi: 10.3233/NRE- 130822).
aphael E. ist derweil bei der
nächsten Therapie, der Gesichtsfeldgruppe, angekommen. Weil
zu den Hauptsymptomen des Neglect gehört, dass sich die Patienten der
linken Raumseite nicht mehr gut zuwenden können, wird mit ihnen hier trainiert,
linksseitigen Reizen wieder mehr Beachtung zu schenken. Als Hilfsmittel dienen
kleine Computerspiele wie Pingpong. Raphael E. widmet sich als Erstes Labyrinthen. Mit der Maus steuert er einen roten
Punkt in der Größe eines Cent-Stückes.
Nach 83 Sekunden hat er den Ausgang gefunden. Das nächste Spiel hat es in sich.
Raphael E. fällt es sichtlich schwer, am
linken Rand Wege zu planen. Er läuft wiederholt in den gleichen Irrweg. Seine
Frau fiebert mit ihm. Erst nach 235 Sekunden erreicht er das Ziel.
Obwohl Neglect viele Schlaganfallpatienten betrifft, ist die Erkrankung in der
Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Neglect ist nicht so offensichtlich wie eine
Lähmung oder eine Sprachstörung. Verhält sich ein Angehöriger oder Bekannter
nach einem Schlaganfall merkwürdig,
heißt es dann schnell: Der hatte einen
Schlaganfall, der ist verwirrt. „Man
denkt, die Patienten haben geistig abgebaut, dabei haben sie ein sehr spezielles
Problem“, sagt Tobias Brandt.
In Heidelberg ist bereits Essenszeit.
Und so sitzt Raphael E. Wochen nach
dem Schlaganfall wieder am Mittagstisch,
vor ihm ein graues Tablett. Auf dem Speisezettel stehen Röstkartoffeln, Fleischkäse, Gemüsebrühe, Salat und Mandelpudding. Rein äußerlich wirkt Raphael E. mit
seinem roten Poloshirt, der Brille und
den graumelierten Haaren völlig normal
– so, als säße er wie damals in der Kantine seiner Firma. Geistig hakt er jedoch
den Speisezettel ab. Hilfskonstruktionen
wie diese sind beim Neglect unheimlich
wichtig, um den Alltag wieder besser zu
meistern. Ohne sie würde E. vielleicht
den Fleischkäse auf der linken Seite seines Tellers nicht bemerken oder sich wundern, warum es heute keinen Nachtisch
gibt. „Das sind so kleine Tricks, womit
man das Gehirn auch wieder überlisten
muss“, erklärt Anouk Welfringer. Denn
seit dem Schlaganfall schlägt E.s Gehirn
ihm täglich Schnippchen und gaukelt ihm
eine falsche Realität vor. Auf die Idee mit
dem Speisezettel ist er von ganz allein gekommen. Andere Patienten lernen beispielsweise, ihren Teller nach einer Weile
um 180 Grad zu drehen.
Nach einer kurzen Ruhepause geht der
Therapiemarathon am Nachmittag weiter. Auf dem Weg durch die verwinkelten
Gänge erzählt Raphael E., wie fremd ihm
die linke Körperhälfte vor kurzer Zeit
noch war. „Am Anfang bin ich mit dem
Rollstuhl über meinen Fuß gefahren und
habe es nicht gemerkt. Jetzt ist es besser,
ich merke es früher. Vor drei, vier Wochen bin ich drübergefahren und habe
mich gewundert, warum es nicht gut rollt.
Jetzt tut es gleich weh.“ Die Verletzungsgefahr ist bei Patienten wie ihm sehr
R
groß. Blaue Flecke auf der linken Seite
sind keine Seltenheit.
Warum die linke Körper- und Raumseite von Neglect-Patienten vernachlässigt
wird, ist bis heute umstritten. Mehrere Modelle werden diskutiert. Das erste sieht
eine Aufmerksamkeitsstörung als Ursache des Phänomens. Das zweite geht von
einer gestörten mentalen Repräsentation
der Umwelt aus. Das dritte hat eine Störung der subjektiven Körperachse im Verdacht. So würden immer mehr Untersuchungen darauf hindeuten, dass die subjektiv wahrgenommene Körperachse der Patienten nicht mehr zur Orientierung im
Raum passt, erklärt Gundhild Leifert-Fiebach. Die Folge ist, dass viele mit ihrem gesamten Körper nach rechts gedreht sind
und selbst das Gefühl haben, gerade zu sitzen. „Wenn man sie ausrichtet, wehren sie
sich dagegen, weil sie natürlich das Gefühl
haben, da will mich jemand in die Schiefe
drücken“, sagt sie. Es sei dann hilfreich,
wenn auch die Familie der Patienten mit
ins Boot geholt werde und sie die Betroffenen gezielt nur von links ansprechen.
Sinnvoll sind auch Explorationsübungen
am Computer, wie sie im optokinetischen
Training durchgeführt werden, das Raphael E. an diesem Nachmittag absolviert. Er
sitzt in einem abgedunkelten Raum vor einem großen Monitor. Um ihn herum Stille.
Nur ab und zu fährt draußen ein Auto vorbei. Überall auf dem Bildschirm wandern
erbsengroße himmelblaue Punkte von
rechts nach links. Seine Aufgabe ist es, mit
den Augen die Punkte nach links zu verfolgen. Sie dienen als Anker für seine Aufmerksamkeit. Den Kopf darf er dabei nicht
mitbewegen. Taucht irgendwo ein Buchstabe auf, soll er ihn laut sagen und auf die
Leertaste drücken. Dann kommt der nächste. Raphael E. schaut konzentriert auf den
Bildschirm und sagt: „K, G, F, H, I, E, H, V,
R, O, H. . .“ Längere Pause. Der Buchstabe
versteckt sich diesmal ganz links unten am
Rand – höchste Schwierigkeitsstufe. Dann
endlich sieht er ihn: „Z“. Am Ende der
Übung wird eine Statistik seiner Reaktionszeiten angezeigt. „Man merkt es an den Reaktionszeiten, dass es links ein wenig länger braucht und je weiter links, desto länger,“ erläutert Anouk Welfringer die Zahlen. „Merken Sie das selber?“ „Hmm“, bestätigt E. Seine Augenlider kämpfen gegen
die Schwerkraft. Für heute hat er genug am
Computer trainiert. Bei der Übung sei es
auch nicht wichtig, sie lange durchzuführen, sondern lieber mehrmals über den Tag
verteilt, um immer wieder den Impuls nach
links hin zu setzen, erklärt Welfringer.
Wie viel seiner linken Körper- und
Raumhälfte Raphael E. einmal zurückgewinnen wird, weiß heute noch niemand.
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Normalerweise klingt die stark ausgeprägte Neglect-Symptomatik spontan innerhalb einiger Wochen ab. Nach fünfzehn
Monaten ist sie bereits bei 65 Prozent der
Betroffenen nicht mehr nachweisbar. Bei
den übrigen 35 Prozent bleibt der Neglect
bestehen. Für sie bedeutet das eine erhebliche Behinderung im Alltag. Besonders
tückisch ist es, wenn der klinische Neglect
nicht mehr so offensichtlich ist und die Patienten in den meisten Situationen gut
kompensieren können. Dann bleibt häufig das Phänomen der Extinktion noch übrig. Einen einzelnen Reiz rechts oder
links nehmen sie wahr. Taucht jedoch
rechts und links gleichzeitig etwas auf, bemerken sie nur den Reiz auf der rechten
Seite. Das bedeutet auch, dass sie sich
nicht mehr sicher alleine im Straßenverkehr bewegen können. Den Führerschein
und damit ein Stück Freiheit abzugeben
fällt vielen schwer.
In Heidelberg neigt sich der anstrengende Tag dem Ende. Raphael E. rollt sich
mit dem rechten Fuß in das von der
Abendsonne warm gefärbte Büro von
Anouk Welfringer. Die Neuropsychologin
will mit einer Zeichenaufgabe, die sie ihrem Patienten bereits vor einigen Wochen gestellt hat, herausfinden, ob sich
sein Neglect verbessert hat. Als Erstes ist
ein viereckiger Stern dran. Er malt sich
mit Punkten einen Plan vom Stern und
verbindet dann die Punkte. Durch sein
System entgeht ihm nichts. Der Stern ist
vollständig. Nach dem Stern zeichnet er
einen Würfel. Auch wenn noch etwas gestaucht, so ist er doch klar als Würfel zu
erkennen. Welfringer freut sich sichtlich
über seine Fortschritte. „Langsam, aber sicher weitet sich die Aufmerksamkeit wieder aus“, sagt sie und erklärt dem Ehepaar: „Auch wenn der Schalter nicht gefunden wird, mit dem die linke Seit wieder komplett wahrgenommen wird, ist es
möglich, die Aufmerksamkeit zum Beispiel rüberzuziehen auf die andere Seite,
etwa durch kleine Hilfen wie die Punkte –
und den Neglect so zu kompensieren.“
Die letzte und schwerste Zeichenaufgabe ist eine Blume. Vor einigen Wochen hatte Raphael E. den Blütenblättern auf der
linken Seite noch keinerlei Beachtung geschenkt und nur die rechte Seite der Blume gezeichnet. Heute ist es anders. E.
malt die Blume vollständig. Am Ende
zählt er sogar die Blätter beim Original „1,
2, 3, 4 . . .“ Seine Frau strahlt. „Respekt“,
sagt sie. „Wir haben heute 21. Hochzeitstag. Danke für die schöne Blume.“
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