Ernest Manheim – Soziologe, Anthropologe und Komponist Ein biographischer Abriß Von Reinhard Müller (Graz)* Ungarn 1900-1920 Ernő Manheim (seit 1920 Ernst, seit 1934 und offiziell seit 1943 Ernest Manheim) wurde am 27. Jänner 1900 in Budapest als Sohn des Schneidereibesitzers József (Joseph) Manheim (*Ada 1863, †Budapest 1925) und dessen Ehefrau Hermine, geborene Wengraf (*Nikolsburg [Mikulov (Mähren)] 1870, †Budapest 1953; später verheiratete Déri), geboren. Ein Jahr früher war seine Schwester Margit, verheiratete Ivan (*Budapest 1899, †Budapest 1974), zur Welt gekommen. 1909 bis 1917 besuchte Ernő Manheim das Oberrealgymnasium in Budapest IV., wo er im Juli 1917 die Reifeprüfung ablegte. Danach besuchte er die Militärakademie für Honvéd in Budapest („Ludoviceum“) und inskribierte zugleich im Herbst 1917 ein Semester Chemie an der kir. József-műegyetem (königl. Technische Joseph-Hochschule) in Budapest. Anfang 1918 wurde er als Soldat der österreichisch-ungarischen Armee im Rang eines Korporals an die italienische Front abkommandiert. Ende des Ersten Weltkriegs kehrte Manheim nach Budapest zurück und setzte im Wintersemester 1918/19 bis Sommersemester 1919 sein Studium der Chemie und Mathematik (mit Ausflügen in die Musik- und Literaturwissenschaft) an der Universität Budapest fort, hörte aber auch Vorlesungen aus Philosophie, unter anderem beim Philosophen Bernát Alexander (1850-1927). 1919 trat er als Freiwilliger in die Armee der ungarischen Räterepublik (März bis Juli 1919) von Béla Kun (1886-1939) ein, kämpfte zuerst an der ungarisch-tschechoslowakischen Grenze, dann in Rumänien, wo er das Ende der Räterepublik erlebte und in Kriegsgefangenschaft geriet. Nach geglückter Flucht aus dem Lager bei Arad im Oktober 1919 schlug er sich zunächst nach Budapest durch, wo er aber die Aufgreifung durch die rumänischen Besatzer befürchten mußte. Er zog sich in den Nordosten Ungarns zurück, wo er vorübergehend auch als Hauslehrer tätig war. Anfang 1920 setzte er sich schließlich nach Österreich ab. Österreich 1920-1923 Ernst Manheims erstes Exil führte ihn im Jänner 1920 nach Wien, wo er enge Kontakte zu den ungarischen Flüchtlingen der Räterepublik unterhielt, unter anderem zum Philosophen György Lukács (d.i. György Szegredi Löwinger; 1885-1971). Manheim studierte 1920/21 bis 1923 sechs Semester an der Universität in Wien: zunächst Chemie und Physik, seit dem Wintersemester 1921/22 Philosophie und Geschichte, belegte aber auch eine Lehrveranstaltung beim Soziologen Max Adler (1873-1937) über „Geschichte und Theorie des Marxismus“. Von November 1921 bis Juni 1922 hielt sich Manheim in Schwaz in Tirol auf und war währenddessen formell auch Student an der Universität Innsbruck. Deutschland 1923-1933 Auf Initiative eines Kieler Studienfreundes übersiedelte Ernst Manheim im Herbst 1923 nach Kiel, wo er an der dortigen Christian-Albrechts-Universität 1923/24 bis 1924/25 drei Semester Philosophie studierte, daneben aber auch soziologische Lehrveranstaltungen bei Ferdinand Tönnies (1855-1936) besuchte. Hier befreundete er sich 1923 mit dem damaligen Professor der Philosophie Hans Freyer (1887- 1969), der 1925 als Professor der Soziologie nach Leipzig berufen wurde und der Manheim überredete, mit ihm nach Leipzig zu gehen. Manheim setzte sein Studium der Philosophie an der Universität Leipzig 1925 bis 1926/27 vier Semester lang fort. Er hörte daneben auch Volkswirtschaftslehre und Soziologie, letzteres vor allem bei Hans Freyer. Im August 1928 wurde er aufgrund seiner Arbeit „Zur Logik des konkreten Begriffs“ bei Kurt Wiedenfeld (1871-1955), Theodor Litt (1880-1962) und Hans Freyer zum Dr. phil. (Philosophie) promoviert. 1926 bis 1933 arbeitete Manheim als Assistent ohne Etat bei Hans Freyer an der Universität Leipzig, wo er auch 1929 bis 1932 Lehrveranstaltungen abhielt. Außerdem lehrte er 1926 bis 1933 an der Volkshochschule in Leipzig. 1928 heiratete Ernst Manheim in Leipzig Anna Sophie Vitters (*Osnabrück 1899, †Kansas City, Missouri 1988), die sich später Ann Sophy Manheim nannte. Zunächst als Lehrerin tätig, studierte sie seit 1924 an der Universität Leipzig und promovierte mit der Arbeit „[Lothar] Bucher und [Ferdinand] Lassalle (1848-1864). Ein Beitrag zur Geschichte politischer Ideenbildung im 19. Jahrhundert“ 1929 zum Dr. phil.; später erwarb sie noch ein „Certificate in Industrial Psychology“ an der University of London und war zeitweilig als Sozialarbeiterin tätig. Der Ehe entstammt der Sohn Tibor Franz Dietrich (später Frank Tibor) Manheim (*Leipzig 1930), der an der Harvard University (A.B. 1951), der University of Minnesota (M.Sc. 1953) und der Universität Stockholm (Dr. phil. 1961) studierte und eine Universitätskarriere als Geochemiker einschlug. Im April 1931 erhielt Manheim ein eineinhalbjähriges Stipendum von der August Stern-Stiftung in Leipzig, um an seiner Habilitationsschrift über „Die Träger der öffentlichen Meinung“ zu arbeiten. Im Herbst 1932 initiierte Hans Freyer die Zulassung Manheims als Privatdozent, doch zog Manheim auf Anraten Freyers – bereits nach Annahme der Habilitationsschrift durch die Fakultät – wegen der inzwischer erfolgten Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sein Ansuchen „freiwillig“ am 28. März 1933 zurück, da er nunmehr als Ausländer und Jude keine Chance auf Habilitierung gehabt hätte. Manheim reiste mit seiner Familie nach Budapest, wo er den Sommer und Herbst verbrachte. Großbritannien 1933-1937 Im Dezember 1933 übersiedelte Ernest Manheim mit seiner Frau – der Sohn folgte 1935 – nach London, wo er 1934 bis 1937 Soziologie und Anthropologie an der University of London und der London School of Economics and Political Science studierte und im Juli 1937 mit seiner Arbeit „Security, authority, and society: an ethnological introduction into sociology“ bei Morris Ginsberg (1889-1970), Bronislaw Malinowski (d.i. Bronisław Kaspar Malinowski; 1884-1942) und bei seinem Cousin Karl Mannheim (d.i. Károly Mannheim; 1893-1947) zum Ph.D. (Anthropology) promoviert wurde. 1935 bis 1937 arbeitete Ernest Manheim bei Karl Mannheim als Assistant an der London School of Economics und am Institute of Sociology der University of London, wo er unter anderem 1935/36 mit einem Stipendium des Jewish Professional Committee unter der Leitung von Morris Ginsberg an der Studie über das „Authoritarian element in the family“ arbeitete. Vereinigte Staaten von Amerika seit 1937 Nach einem kurzen Aufenthalt in New York im Frühjahr 1937 und in Budapest im Juli 1937 übersiedelte Ernest Manheim mit seiner Familie im Juli 1937 mit einem Stel- lenangebot und einem Visum für Kanada in die USA, wo er 1943 amerikanischer Staatsbürger wurde. 1937 bis 1938 arbeitete er als Assistant Professor of Sociology an der University of Chicago in Chicago, Illinois. 1938 erhielt er ein zweijähriges Stipendium der Rockefeller Foundation und übersiedelte im August 1938 nach Kansas City, Missouri, wo er noch heute lebt. Seit 1938 war er Mitglied der University of Kansas City (seit 1968: University of Missouri) in Kansas City, Missouri: 1938 bis 1940 Rockefeller-Forschungsstipendiat, 1940 bis 1945 Associate Professor of Sociology, 1948 bis 1970 Professor of Sociology und Chairman des Department of Sociology, das er aufbaute und wesentlich prägte. 1970 hätte er altersbedingt aus dem Universitätsbetrieb ausscheiden müssen, doch konnte er den 1958 für ihn geschaffenen, über Drittmittel finanzierten Lehrstuhl „Henry Haskell Chair of Sociology“ beibehalten und lehrte bis 1991. Daneben nahm Ernest Manheim auch Gastprofessuren im Ausland wahr. 1955/56 verbrachte er ein Jahr als Fulbright Professor an den Universitäten in Graz – auf Initiative des Grazer Soziologen Johann Mokre (1901-1981) – und in Wien sowie 1960/61 ein Jahr an der Universität in Teheran. Außerdem war Ernest Manheim als Consultant des City Government von Kansas City, Missouri tätig. 1991 heiratete Ernest Manheim in Kansas City, Missouri die kanadische Psychologin Sheelagh Bull, geborene Hope (*Oliver, British Columbia 1943). Ernest Manheim ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften, unter anderem der American Sociological Association, der Southwest Sociological Society (1941 Vice-president), der Midwest Sociological Society (1945-1946 President), der American Sociological Society, der Missouri Sociological Society und der American Association of University Professors. 1973 erhielt Ernest Manheim den Thomas Jefferson Award der University of Missouri, 1997 das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst der Republik Österreich, und 1998 wurde ein Gebäude an der University of Missouri in „Ernest Manheim Hall“ umbenannt. 1997 gestaltete Christian Reiser, Graz, den Videofilm „Bewegte Bilder aus dem Leben eines Geschichtsnomaden“, ein filmisches Porträt Manheims, das auf der Diagonale 98 gezeigt wurde, und Elisabeth Welzig, Graz, veröffentlichte 1997 die biographische Monographie „Die Bewältigung der Mitte. Ernst Manheim: Soziologe und Anthropologe“. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war Ernest Manheim stets ein begeisterter und geschickter Handwerker, der unter anderem einen Großteil der Möbel in seinem Haus selbst fertigte. Ein anderes Hobby war das Wandern, durch das er die Landschaften Amerikas kennen und schätzen lernte und das seine Naturverbundenheit manifestiert. Obwohl seit mehr als einem halben Jahrhundert Amerikaner, zeigt sich Ernest Manheims Verbundenheit mit seiner ungarischen Heimat gerade in seinen Kompositionen, in denen immer wieder ungarische Volksliedweisen anklingen oder diese direkt zum Gegenstand haben. Übrigens ist es überaus selten, daß ein Soziologe auch als Komponist an die Öffentlichkeit tritt. Obwohl das Komponieren stets ein Hobby war, zeichnet sich Manheims musikalisches Schaffen durch einen hohen Grad an Professionalität aus. Schon während seiner Studentenzeit an den Universitäten in Budapest und Wien 1918 bis 1923 besuchte er nebenbei das Konservatorium. Um 1922 entstand sein „Quintett für Flöte, Violine, Viola, Cello und Laute“, welches er in den letzten Jahren mehrmals überarbeitet hat. In den Leipziger Jahren, besonders 1928 bis 1932, komponierte er vor allem Chorwerke in lutherischer Tradition, unter ande- rem auf Texte von Martin Luther (1483-1546). Auch in Manheims Londoner Zeit, insbesondere in den Jahren 1934 bis 1936, entstanden Chor- und Liedwerke, nun aber auf Texte irischer und englischer Dichter. Der Schwerpunkt seines kompositorischen Schaffens fällt in die Jahre in Kansas City, Missouri. Hervorzuheben sind seine Eingangsmusik zum klassischen chinesischen Drama „Der Kreidekreis“ nach der Bearbeitung von Klabund (d.i. Alfred Henschke; 1890-1928), welche am University of Kansas City Playhouse im Dezember 1949 zur Uraufführung gelangte, weiters seine im Dezember 1950 durch die Kansas City Philharmonic in der City Hall von Kansas City uraufgeführte „Symphony in B Minor“, seine „Rhapsody for four strings“, welche 1961 durch das Volker Quartet an der University of Missouri in Kansas City uraufgeführt wurde, schließlich seine 1983 beim Falmouth Music Association Concert uraufgeführten Arrangements ungarischer Volkslieder „Ritkabúza, ritkaárpa, ritkarózs“. * Zuerst abgedruckt in: Ernő – Ernst – Ernest Manheim. Soziologe, Anthropologe, Komponist. Zum 100. Geburtstag. Katalog zur Ausstellung anläßlich des 100. Geburtstags an der Universitätsbibliothek Graz vom 3. März bis 14. April 2000. Herausgegeben von Reinhard Müller. Graz: Universitätsbibliothek Graz [2000], S. 7-9.