SINN ALS ZIEL – WERTEORIENTIERUNG UND EMANZIPATIVE

Werbung
SINN ALS ZIEL – WERTEORIENTIERUNG UND EMANZIPATIVE
KRAFT DER SUCHTTHERAPIE
Den Titel, wie er mir für meinen Vortrag vorgegeben worden ist, könnte man als
regelrechte Wort-Kaskade bezeichnen. Hören wir dieser herniederstürzenden
Wortfolge hinterher: Sinn – Ziel – Werte – Emanzipation – Kraft – Sucht –
Therapie! Wie gut, dass es den Fettdruck in Ihrem Tagungsheft gibt. So wird
schnell klar, dass alle diese Programm-Reizworte von einem Hauptbegriff
domestiziert werden sollen. Sinn, an diesem Phänomen wollen und sollen sie
neu ausgerichtet werden, justiert oder aufgestellt, wie man im neudeutschen
Pragmatik-Stil formuliert.
Mit anderen Worten gefragt: Wie kann das Phänomen von Sinn zum Therapieziel, zur Werte-Ordnung, zur Emanzipation in die Freiheit, zu einer effektiven
Kraft in der Überwindung einer Sucht nicht nur etwas Positives im allgemeinen
beitragen, sondem noch mehr, was könnte und sollte eine Sinn-Reflexion für
Sie, die Sie im “Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe” zusammen
arbeiten, für Ihre professionelle Berufsleistung erbringen, so dass diese unter
dem Begriff “Sinn” sogar einen neuen Elan bekommen könnte.
DER HAUPTBEGRIFF DER TAGUNG: FUNKTIONALITÄT
Der Hauptbegriff für diese Tagung ist indes ein anderer. Nämlich der Begriff
“Funktion” und in dessen Zuspitzung die “funktionale Gesundheit”. Es ist nun
von Anfang an wichtig, den Begriff “Sinn” nicht einfach zum Gegenbegriff von
“Funktion” zu stilisieren, so als würde die Sinn-Programmatik die Funktions-Programmatik aushebeln und der Funktionalität einen ethischen Anspruch streitig
machen.
Die Logik des Funktionalen ist offenkundig. Es geht dabei um eine rational verantwortete Zuordnung von Ziel und Methode, von Mitteleinsatz und Zweck.
Funktionalität rangiert als Gegenprogramm gegen alle spekulativ-idealistische
Träumerei, gegen Geldverschwendung im Gesundheitswesen, gegen halbwissenschaftliche Pfuschermethoden. Funktionalität steht dagegen für ein weites
Konzept einer empirisch-kontrollierten Validierung von Therapieeffekten.
Wie anders sollte man denn auch einen Lebensbereich ordnen können, der so wie der Sektor der Medizin – in den letzten 50 Jahren eine derartige Expansion erlebt hat und dabei zugleich zu einer der dynamischsten Faktoren wurde
für eine Demokratisierung der Gesellschaft – zumindest im Westen Deutschlands.
Wir können kaum mehr nachvollziehen, was es bedeutet hat, dass eine geregelte und garantierte Gesundheitsversorgung nach und nach alle Bevölkerungsschichten einzuschließen begann. So wäre z.B. die Tatsache angemessen zu würdigen, daß zumindest für eine gewisse Zeit gelten konnte, wer immer
ins Krankenhaus eingeliefert worden war, durfte damit rechnen, unabhängig
von seiner Unterbringung in der 1. oder 2. oder einer weiteren Klasse, zumindest bei den Medikamenten, klassenfrei behandelt zu werden.
2
Diese Egalisierungsleistung durch eine durchgängige Krankenversorgung der
Bevölkerung nach einheitlichen Leistungsgesetzen, wenn auch bei weiterhin
dezentralisierten Leistungsträgem, legitimiert im Nachhinein sogar die Tatsache, dass der Gesundheitsanteil am Bruttosozialprodukt eine derart hohe und
womöglich noch ansteigende Bedeutung erlangt hat.
(In 2003 wurden für jeden einzelnen Bundesbürger 2900 Euro ausgegeben für
Gesundheit, das sind 240 Milliarden, was 11,3% des Bruttoinlandsprodukts
entspricht, 1993 betrug dieser Anteil l0,2 %.)
Betrachtet man eine Gesellschaft als geschlossene Wirtschaftseinheit, so
wären die Kosten, die nicht direkt in die Produktivität des Systems als Mehrwert
einzurechnen sind, Kosten allenfalls zu dessen Systemerhaltung.
Wie viel davon der medizinischen Grundversorgung und wie viel dem Luxus
einer höheren Lebensqualität zuzurechnen wäre, wird in Zukunft ernsthaft
diskutiert werden müssen, ebenso die Frage, wie viel davon jeweils die Solidargemeinschaft aufzubringen hat. Die Hauptschwierigkeit wird aber in der Abgrenzung beider Bereiche liegen, wie die Viagra-Diskussion und die Anerkennung von Schönheitsoperationen gezeigt hat. Nicht zu übergehen sind dabei
die Risikozuschläge, die jeder Versicherte selbst zu verantworten hat. Das alles
hat auch mit der Eigen-Verantwortung der Betroffenen zu tun und damit mit
Ethik. Gleichwohl werden trotz einer größeren Eigenbeteiligung die Gesamtbeträge im Gesundheitswesen weiter steigen.
Wie soll dieser immense Aufwand jetzt und in Zukunft politisch und moralisch
überhaupt gerechtfertigt werden?
Auch für diese ökonomische wie ethische Legitimationsfrage gibt es eine
funktionale Lösung: wenn wir schon den Grad einer übeireizten Konsumgesellschaft erreicht haben, die vom Massenkonsum zehrt, dann muss auch eine
entsprechende Konsumfähigkeit, die sog. Teilhabefähigkeit am Verbrauch von
Lebensgütem geschaffen und garantiert werden. So wird schließlich sogar die
Genussfähigkeit endgültig zu einem Definitionsfaktor für Gesundheit; ähnliches
gilt für eine möglichst weit reichende Lebensverlängerung.
Wir erkennen: Die Rede von der Funktionalität einer Sache oder Maßnahme
muss nicht als solche schon unethisch, amoralisch sein, als würde allein eine
materialistische Ökonomie über Menschenschicksale entscheiden. Eine funktionale Betrachtungsweise kann in sich selbst ethisch wertvoll sein, je nachdem, welches Referenzsystem für die Funktionalität gewählt wird.
Zu einer effektiven rationalen Funktionalisierung gehört es dann allerdings
auch, dass die Grenzen markiert werden, wo Funktionalität in Dysfunktionalität
umschlägt. Es gehört nämlich zu den Anforderungen an eine aufgeklärte
Vemunft, dass sie sich über ihre eigenen Grenzen aufzuklären vermag. Gerade
im Gesundheitswesen sind solche Grenzwahmehmungen von besonderer
Bedeutung. So kann und darf z.B. der personale Anteil an der Therapie nicht
einfach aus monetären Gründen wegrationalisiert oder vertechnisiert werden.
3
FUNKTIONALITÄT ZUGUNSTEN EINER DEMOKRATISIERUNG
Wer nach der Funktionalität eines Elementes sucht, setzt mithin immer schon
eine Struktur voraus, innerhalb derer das einzelne Element als zweckrational
analysierbar ist.
Wie ich bereits feststellte, ist der forcierte Prozess der sog. Demokratisierung
der westdeutschen Bevölkerung nach dem II. Weltkrieg als ein Vorgang zu verstehen, in dem Klassen- und Rassenschranken, Geschlechtsdifferenzierungen,
landsmannschaftliche und konfessionsgeschichtliche Unterschiede, ja auch
nationale immer mehr zurück traten zugunsten einer Neuorientierung, wie sie
unsere Verfassung in der Formulierung der Grundrechte fixiert hat. Teilweise
geht diese Egalisierung der Volksgemeinschaft auf die beiden Weltkriege
zuruck.
Heutzutage sprechen wir im weltweiten Kontext von solchen Grundrechten als
von den allgemeinen Menschenrechten, mit denen das Teilhaberecht jedes
einzelnen Menschen an den Ressourcen des Lebens gesichert werden sollte.
(Siehe dazu bes. die Formulierung von “Gesundheit” durch die WHO 2001 mit
ihrem paradiesisch - utopischen Charakter!)
Strebt man - wie bislang in der Bundesrepublik Deutschland - als gesellschaftliches Idealbild eine egalisierte Mittelschichtgesellschaft an, mit möglichst wenig
extremen Flügeln von übermäßiger Armut oder übermäßigem Reichtum, und
will man zugleich die vorhandenen Ressourcen dementsprechend gerecht
verteilen, so bleibt gar nichts anderes übrig, als im Sinne einer strikten Funktionalisierung, vor allem über die Finanzen, dieses Gesellschaftsideal erreichen
zu wollen.
(Die derzeitige Erosion der Sozialen Sicherungssysteme gefährdet freilich diese
Ideal vorstellung erheblich!)
Der Staat und seine Apparate hätten im Falle einer interessegeleiteten Selbststeuerung des Systems nur noch die Aufgabe, erst dann steuernd einzugreifen,
wenn der ökonomische Markteines freien Güter- und Leistungsaustauschs nicht
funktioniert oder wenn die Gesamtgesellschaft zur Regulierung von dadurch
entstandenen Ungleichheiten gefordert ist.
Die in jüngster Zeit mit diesem “neoliberalen Konzept" durchgeführten Deregulierungen und Privatisierungen haben indes nicht den Effekt gezeitigt, den man
vorausgesagt hat, dass dadurch der allgemeine Wohlstand steigen werde zu
aller Nutzen, vielmehr wurde die Ungleichheit der Chancen eher noch verstärkt,
zumal solche Privatisierungen die Kapitaleigner begünstigten und das “Gemeineigentum” der Gesellschaft minderten.
Damit ist zugleich der derzeitige Common Sense für alle politischen Parteien in
der Bundesrepublik nachgezeichnet, wie sehr oder richtiger wie wenig sich
diese auch in konzeptionellen Einzelfragen unterscheiden mögen. Die deutschen politischen Parteien stehen nicht mehr für einzelne ökonomische oder
ideologische Bevölkerungsgruppen wie ehedem, sie stehen allenfalls in der
Konkurrenz einer möglichst rationalen Funktionalität ihrer praktischen Konzepte. Nur außenpolitische Irritationen oder Naturkatastrophen scheinen bislang
4
dieses Idealsystem einer homöostatischen technisch-zivilisierten Leistungsgesellschaft stören zu können.
Mit anderen Worten: Es gibt derzeit wohl nichts Ethischeres im politischen
Raum als eine funktionale Zweckrationalität bei geschlossenen Systemen mit
kalkulierbaren Außenstörungen.
Ethisch insofem, als nur so die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz auch in
eine Vergleichbarkeit von Lebenschancen umzusetzen ist. Jede neue Lebenschance, etwa durch ein neues Medikament oder ein neues Heilverfahren, wäre
sodann wiederum auf eine rationale Art möglichst für alle nutzbar zu machen.
Das hieße die Menschenrechte im umfassenden Sinne, eben nicht nur rechtlich, sondem auch sozial und individuell, ernst nehmen.
ÜBER DIE WESTORIENTIERUNG ZUR LIBERALISIERUNG GLOBALER
MÄRKTE
All das, was ich bis jetzt geschildert habe, entspricht natürlich mehr der unbewussten Phantasie von einer “gerechten Gesellschaft”, als dass diese im konkreten Leben bereits verwirklicht wäre. Gleichwohl, ohne solche IdealPhantasien wurde das kollektive Leben bei uns nicht funktionieren.
Heinrich August Winkler hat in seinem monumentalen Werk zur Zeitgeschichte
Deutschlands mit dem Titel “Der lange Weg nach Westen" diese Gesellschaftsphilosophie als erlernte Neuerwerbung in Deutschland geschildert. Die
Nachkriegsgeschichte wird so von ihm gedeutet als Annäherung an den aufgeklärt-rationalen Politikstil eines pluralen Parlamentarismus, und dies nach
Zeiten mit autoritären obrigkeitsstaatlichen bis diktatorischen Verhältnissen sowie nach den Konvulsionen einer Mythisierung des Nationalen. Nun endlich sei
der Weg frei hin zur Pragmatik eines rationalen und funktionalen Denkens und
Handelns, was dann in regelmäßigen Wahlen je neu zur Diskussion gestellt
werden muss.
Natürlich war Deutschland durch diese historische Hypothek einer derart
verspäteten liberal demokratischen Staatsform dann in den Jahren nach 1990,
bei der Öffnung der Grenzen nach Osten hin, nicht genügend gefeit dagegen,
die Gefahren einer globalen Liberalisierung der Geld- und Warenströme, wie
sie von den USA forciert betrieben wurde, richtig einzuschätzen. Die Grenzen
begannen nunmehr so sehr durchlässig zu werden, dass eine nationale Politik
der Abgrenzung nach nationalen Eigen-Interessen derzeit kaum mehr möglich
zu sein scheint. Dies führte zu einer neuen Problemlage: die Öffnung der
Märkte durch die ökonomische Globalisierung erzwingt auch bei uns ein
Absenken der Arbeitskosten mit der Folge von Arbeitslosigkeit und Steuerflucht
und damit zu einer erheblichen Verringerung der Einnahmen der Öffentlichen
Hand wie schlussendlich zu einer Krise des Modells einer “Sozialen Marktwirtschaft" als solcher, wie sie grundlegend war für die politische Stabilität der
letzten Jahrzehnte.
Viele Menschen spüren diese Plausibilitätsschwäche für das bisher Geltende.
Wenn etwas selbstverständlich war und nun nicht mehr selbstverständlich ist,
erzeugt das zwangsläufig Angst. Angst, die nicht direkt beziehbar ist auf die
5
eine oder andere Ursache, eine solche Angst wirkt diffus und führt direkt zu
dem, was man eine Sinn-Krise nennen kann.
SINNKRISE ALS AUSDRUCK VON ANGST VOR VERÄNDERUNG
Ich ließ mir von einem Arzt für Suchttherapie schildern, welchen Stellenwert
das Wort “Sinnkrise” denn in der praktischen Sucht-Therapie habe. Ich konnte
mir nicht vorstellen, dass sich Suchtkranke beim Arzt einführen, indem sie von
sich aus von ihrer Sinnkrise sprächen. Natürlich vermutete ich, es sei die
Diagnoseleistung des Therapeuten, bei seinen Klienten die Störfaktoren so zu
analysieren, dass sich am Ende eine Sinnkrise einkreisen lasse, die sich
dementsprechend in ein Therapienprogramm eintragen ließe. Ich wurde jedoch
eines anderen belehrt: die Therapie reagiert nicht auf scheinbar klar erkennbare Sinnkrisen, nein, sie generiert erst selbst solche Sinnkrisen.
Wir Theologen sagen dazu: nur im Lichte der Gnade kann man sein Elend
überhaupt erst richtig erkennen!
Der Vertrauensraum einer humanen Zuwendung setzt erst die Möglichkeit frei,
die Sinnfrage zu stellen, hier natürlich zunächst als Suche nach dem Sinn. Die
Sinnkrise wird so zu einem Teil der Therapie und deren Folgen.
Wenden wir diese Erkenntnis auf das vorhin Gehörte an, wo ich mich mehr mit
der sozialphilosophischen kollektiven Gesellschaftsphantasie von Geborgenheit
beschäftigt habe, dann ließe sich ohne weiteres behaupten: An der Suchttherapie für einzelne Menschen wird ein Verfahren studierbar, das auch für die
Gesamtgesellschaft heilsam sein könnte. Nur wer sich leidend zu seinen Süchten bekennt, vermag sein Leben wieder mit der Sinn-Thematik in Beziehung zu
setzen und so auf Besserung oder gar auf Heilung hoffen. Also Realitätssinn
gegen Realitätsflucht!
Die Sinnfrage zu stellen, unter fehlendem Sinn zu leiden, ist mithin so etwas
wie ein Fieber der Existenz, ein Vorbote für Gesundung oder aber für das
endgültige Ende.
Halten wir fest: Die Sinn-Frage stellt sich offen in Sinn-Krisen. Sinnkrisen
wiederum enthalten die Chance einer Weiterentwicklung des Lebens, gerade
durch die erlittenen Widersprüche, durch Erfahrungen von Scheitern hindurch.
Sinnkrisen konkretisieren sich in Schulderfahrungen, in Hoffnungslosigkeit
sowie in Form von Situationen, in denen man weder sich noch andere erträgt.
Solche Sinnkrisen ereignen sich merkwürdigerweise nicht vermehrt dort, wo ein
Mensch mit all seinen Kräften gefordert oder gar überfordert wird. Sinnkrisen
und Stress können sogar kontrafaktisch sein, es sei denn der Stress führt zur
totalen Erschöpfung der Kräfte. Sinnzweifel stellten sich bekanntermaßen
seltener ein, wenn das Leben akut bedroht ist durch Krankheit oder Krieg.
Die Tatsache, dass es in den Kriegsjahren des II. Weltkriegs zwar massenhaft
körperliche Schäden und auch psychische Traumatisierungen gab, psychosomatische Störungen jedoch auffallend wenige, ist ein Beleg für diese Erfahrungswahrheit.
6
Sinnkrisen hatten damals deshalb eine geringere Chance, erst recht nicht für
eine Somatisierung im Kreislauf- oder Magen-Darm-System, well die Konfrontation mit der Gefahr geistig und seelisch so offen lag, dass das Überleben als
solches bereits sinnstiftend wirkte.
Wir dürfen nun nicht umgehend auf den Kurzschluss verfallen, die zivilisatorische Verweichlichung habe dem heutigen Menschen diese Seuche der Sinnverwirrung eingebracht. Die nationalsozialistische Ideologie der biologischen
Stärke, aber auch bereits Nietzsches Analyse einer Modeme ohne Metaphysik
hatte diese Ausflucht einer Erklärung samt Gegenprogramm angeboten.
Immerhin, Sinnlosigkeits-Erfahrungen als Pandemie sind mit Sicherheit als ein
modemes Phänomen zu bezeichnen. Nicht dass es so etwas in der menschlichen Geschichte, sofem sie literarisch bezeugt ist, nicht schon immer gegeben
hätte. Weltverdrossenheit, Skepsis bis hin zum Zynismus war jedoch ersichtlich
nur jenen Kreisen vorbehalten, die sich nicht für das bloße Überleben körperlich
und seelisch abrackern mussten.
Das bezeugt z.B. der Sammler der Sprüche des “Predigers Salomo”, der in
höfischen Kreisen lebte. Auch die Debattierclubs in den alten Stadt-Staaten
Griechenlands, vor allem in Athen, wo Sokrates gegen die Sophisten für den
Logos plädierte – wie es sein Schiller Platon dann aufden Begriff brachte –,
waren nicht vom täglichen Existenzkampf aufgerieben worden.
Logos ließe sich in diesem Zusammenhang sogar direkt mit Sinn, mit Ordnung,
aber auch mit Wort übersetzen.
SINN, EIN MEHRSCHICHTIGER BEGRIFF
Und damit sind wir endlich dort, wo ich definieren muss, was mit Sinn letztendlich gemeint sein soll.
Antwort: Sinn wird nicht von einer einzigen Definition erfasst. Sinn ist eigentlich
kein Begriff, Sinn ist ein Symbol mit Bedeutungen gleich auf mehreren Ebenen.
Das Wort “Sinnen” kommt aus dem Althochdeutschen und meint soviel wie
“reisen, streben gehen; einer Richtung nachgehen”.
Sinn “ersinnt” den Menschen also von Anfang an nicht als ruhend oder stehend, sondem als ein sich bewegendes Wesen, das wo auch immer hin
vorwärts geht, also eine Richtung hat.
Auf der körperlichen Ebene bewegt sich der Mensch mit Sinn demnach in eine
bestimmte Richtung.
Auf der Ebene des Wollens, der Absicht, hat er etwas im Sinn, verfolgt er einen
Zweck.
Auf der Ebene des Empfindens umschließt seine Gesinnung, seine Sinnesart,
Gemüt, Seele und Herz zu einem einheitlichen Ganzen.
Auf der Ebene der geistigen Wahmehmung ist für ihn etwas sinnhaft, sinnvoll,
wenn es vor dem Verstand, vor der Vemunft bestehen kann und wenn es
seinen übrigen Wahmehmungen und auch dem Gefühl adaquat ist.
7
Schon von dieser Wort-Phänomenologie her lässt sich leicht verstehen, welche
Vielzahl von Ebenen, welche großen Raume das Wort Sinn umfasst. Vom einfachen zweckgerichteten Handeln, dass es z.B. sinnvoll ist, mit einem eisernen
Hammer einen eisernen Nagel einzuschlagen, bis hin zum Lebenssinn, der sich
dann zeigt, wenn alles zusammenzustimmen scheint. Schließlich im Erahnen
eines letzten Sinnes der Weltgeschichte und der Natur als Schöpfung. Solche
Ahnungen stellen sich besonders in Augenblicken des Glücks ein.
Ergebnis dieser Wort-Analyse: Sinn scheint ein Klammerbegriff zu sein, ein
Begriff für Synthesen, in denen das je eigene individuelle Erleben zusammengeschaut und zusammengehalten werden kann mit dem Ganzen der Wirklichkeit. Solche Sinnerfahrung ereignet sich und stellt sich ein wie ein Geschenk.
Machbar oder funktional konstruierbar scheint dieses Ereignis gerade nicht zu
sein!
Die deutsche Sprache gibt diesen Sachverhalt präzise wider. Sinn wird gefunden, Sinn erschließt sich, es kommt einem in den Sinn, Sinn stellt sich ein; man
erkennt, dass etwas sinnvoll oder sinnlos ist.
Der deutschen Sprachtradition nach lässt sich also vielerlei mit dem Wort Sinn
verbinden, nur eines nicht: “Sinn machen”.
Neuerdings hört man diese scheußliche Formulierung bis in anspruchsvolle
Texte hinein: das macht keinen Sinn!
Es handelt sich dabei um eine Übersetzung aus dem englischen Sprachgebrauch: to make sense = einen Sinn ergeben (these arguments do not make
sense to me).
Der Pragmatismus in der englischen Sprache mag diese Formel rechtfertigen,
zumal das „make sense” immer verbunden ist mt Sachen. Wenn aber in
heutiger Wortschlamperei das “make sense” verbunden wird mit eigenem
Wollen oder Tun, dann entartet das Wort regelrecht und ist allenfalls noch
identisch mit Handlungsziel oder Handlungszweck.
SINN” IN DER PHILOSOPHIE
Bleiben wir bei der klassischen deutschen Sprachtradition, nach der Sinn gefunden, erschlossen wird, so dass sich Sinn einstellt und ereignet, dann sind
wir zugleich nahe bei der philosophischen Bemühung um das Phänomen Sinn.
Fragt man, was die Philosophie durch die Zeiten hin mit diesem Wort zu tun
hatte, so ließe sich kühn behaupten: der wissenschaftliche Gegenstand der
Philosophie ist die Sinnfrage schlechthin. Warum? Weil es bei der Philosophie
stets um die Frage geht, wie das Sein, die sog. objektive Wirklichkeit auf der
einen Seite, und das Bewusstsein, die Erkenntnis solchen Seins auf der anderen Seite, miteinander zusammenhängen.
Nicht zuletzt die modeme Gehirnforschung ist diesem geheimnisvollen Zusammenhang von Sein und Bewusstsein aufder Spur, denn es muss eine tiefe und
8
starke Analogic zwischen beiden vorhanden sein. Das Bewusstsein hat namlich
durch die physischen Grundgesetze von Wahmehmung und Verarbeitung
einen unmittelbaren Anteil am Sein, d.h. an den Bedingungen der Natur. Und
umgekehrt vollzieht sich die Evolution nicht zuletzt auch über Bewusstseinsvorgänge.
Die platonische Philosophie vom Logos, als Seins- und Erkenntis-Ordnung
gleichermaßen, bringt das wohl am deutlichsten zum Ausdruck, zumal Logos
mit Wort wie Tat übersetzt werden kann. Als nicht weniger tauglich für diesen
Zusammenhang von Sein und Bewusstsein bewahrte sich sodann die idealistische Philosophie Kants, Hegels und Fichtes mit deren Geist-Begriff, zumal
Hegel einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Geistformen (subjektiver, objektiver und absoluter Geist!) herausstellte.
Es scheint die Bestimmung eines Menschen zu sein, und zwar jedes Menschen, an dieser Korrespondenz zwischen dem Sein und dem Bewusstsein,
der Wirklichkeit und deren verstehender Erkenntnis teilzuhaben. In der Sinnsuche auf den verschiedensten Ebenen entfaltet sich diese conditio humana.
Wie sehr die Sehnsucht nach Sinnerleben eine anthropologische Mitgift ist,
zeigt sich z.B. in der Grenzsituation des Suizids. Bei der Befragung von Suizidanten, die ins Leben zurückkehrten, ergab deren abgefragte Erinnerung an die
Minuten vor dem missglückten Versuch des Freitods, dass sie diesen als
Rettung des wahren, also sinnvollen Lebens vor der Realitat phantasiert hatten.
SINN ALS UNIVERSELLES THEMA
Es gibt keinen modemen Wissenschaftszweig, von dem dieses anthropologische Grundthema nicht mitverhandelt würde, sei es mehr erkenntnistheoretisch, ethisch oder religios, aber auch kulturphilosophisch, sprachtheoretisch
usf..
Jede Lexikon-Zeile muss die Bedeutung von Wörtern fixieren, vielleicht eine,
vielleicht mehrere, und transportiert so über die Zeiten hin die sinnstiftende
Kraft der Sprache.
Die Kulturphilosophen und Kultursoziologen haben schon seit längerem darauf
hingewiesen, dass die klassischen Institutionen wie Staat, Kirche, Schule,
Militär, eine wirtschaftende Großfamilie, also alle jene Einrichtungen, in denen
Normen für das Handeln und Verhalten (iber die Generationen hin vermittelt
werden, im Grunde Sinn-Stifter und Sinn-Erhalter seien. Dementsprechend
wurden dann auch die dort gewachsenen und bewahrten Symbole und Rituale
zu wesentlichen Sinn-Trägern erklärt. Welche Gefahr droht für das Menschsein
des Menschen, wenn eine radikale liberalistische Individualisierung dieses
historische Kulturerbe verscherbelt, wie wir es derzeit erleben?
Allerdings wird neben solchem Niedergang und der Aushöhlung von traditionellen Symbolen und Institutionen auch eine Gegenentwicklung beschreibbar: der
Geltungsausfall von traditionellen Ritualen wird aufgefangen von sog. neuartigen Clusterbildungen in Milieus und Mentalitäten.
9
Mit der Erwähnung von Sinnstiftungs-Instanzen, namlich den kollektiven
Symbolen und Ritualen, wird zugleich die Überforderung sichtbar, die darin
besteht, dass wir heutzutage von jedem Einzelnen verlangen, er selbst müsse
dafür sorgen, glücklich und zufrieden zu sein, er selbst sei der Schmied seines
eigenen Lebensglücks. Zufrieden mit sich selbst, das heißt nichts Geringeres,
als mit sich und anderen im Frieden zu leben, eine solche Sinnfülle vom Einzelleben zu erhoffen, ist allerdings eine Illusion. Woher soll einer dieses Glück
erfahren können, wenn weder seine eigenen Träume und erst recht nicht der
ihm abhanden gekommene Himmel solchen Sinn schenken?
“SINN” ALS GÖTZE AN DER STELLE GOTTES
Sinnleere, Sinn-Sehnsucht macht sinnbegierig: und so gibt es bereits Stimmen,
die davor wamen, den Sinn zu einem neuen Götzen zu machen, zumal die
Fixierung auf die Sinn-Bedürftigkeit mit Sicherheit den Sinn noch nicht hervorlockt. Die Gefahr dabei ist, dass wir als Abhängige der Technik diesen Sinn
anfangen produzieren, ersatzweise Sinn konstruieren zu wollen.
Die für uns alle unentrinnbar gewordene Werbung für Waren und Dienstleistungen ist der Beweis dafür, dass wir längst einen Ersatz-Sinn geschaffen
haben. Inwiefern? Insofern, als die Wertebenen schlichtweg miteinander vermischt werden: das Herzensglück soll von einem bestimmten Hemden-Label
abhängen, der Seelenfrieden von einem DVD-Gerät, das Weltverständnis von
einer Erlebnisreise.
Mit dieser Sinn-Hypertrophie durch die Verseuchung mit Werbeparolen, von
denen allen möglichen Gegenständen eine existentielle Bedeutung zugeschrieben wird, haben wir aus der Sinnkrise eine eigene neue Sinnleere entstehen
lassen.
Ein solcher Versuch, das viel beschriene Ende der Metaphysik auf diese Weise
zu bewältigen, nämlich durch eine Sinn-Banalisierung, ist mithin das eigentlich
Beängstigende an unserer Lage.
Die Konsequenz aus dieser Analyse: eine Sucht-Therapie müsste nicht nur für
einzelne Individuen bereit gehalten werden, die auffällig geworden sind; suchtkrank nach Schein-Sinn- Erfahrungen ist nahezu die ganze Bevölkerung.
Es gelingt tatsachlich nicht, dem Besitz von 20 Paar Schuhen einen größeren
Sinn zuzusprechen als dem von 5 Paaren, zumal kein einziges Schuhpaar die
vorausgesagte Nutzungsdauer überhaupt erreicht. Das gilt nicht nur für Schuhe, das gilt inzwischen für nahezu alles, was wir in Gebrauch nehmen und
besitzen.
Die Gegenstrategie, durch eine Askese vom Materiellen immaterielle Werte zu
suchen, führte wohl manche Menschen auf neue Sinnpfade, andere stürzte
diese oft ideologisierte Sinn-Verkrampfung in noch tiefere Nöte.
10
NEUE SINN-POTENTIALE
Wie konnte der Ausweg aus einem solchen Sinn-Dilemma aussehen?
Wo sind die Kreativitätspotentiale auszumachen, die dem Menschen dafür
anscheinend immerfort zur Verfügung stehen? Sicherlich bemühen sich die
institutionalisierten Seelsorger um diese Nöte, zu denen gehören indes nicht
nur die Kirchenleute und Psychologieexperten, zumal Gott von vielen heutzutage ernsthaft einfach mit Sinn gleichgesetzt wird. Wir hätten es also bei den
verschiedenen Sinnangeboten mit einer säkularen Religiosität zu tun, die ernst
genommen werden will.
Ich will die Identifikation Gottes mit dem Sinn-Begriff an dieser Stelle nicht
weiter kritisch kommentieren, sondern direkt mein Augenmerk auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts richten, und dort vor allem auf die ExistentialPhilosophie, von der das Sein, und das heißt die Seins-Erfahrung als Dasein,
mit dem Bewusstsein vom Sterben in Verbindung gebracht wird.
Das “Sein zum Tode” als Sinnerschließung zu leben, d.h. als geschichtlich
einmaliges Dasein, sollte zwei klassische Themen der abendländischen Geschichte in unsere Zeit transferieren: einmal die Selbstbescheidung des Menschen, nicht Gott zu sein, nicht absolut zu sein, das große Aniiegen der jüdischchristlichen Tradition.
Sodann aber das Element der Zeitgerichtetheit allen Lebens, eschatologische
Existenz genannt, so dass das Jetzt- und Hiersein eine Zeitrichtung erhält dahin, wo es einst seine Bedeutung zu- oder aberkannt bekommen wird. Dies entlastet den Menschen von der unsäglichen Anstrengung, sich selbst seine Bedeutung schaffen und sichern zu müssen, und das meist auf Kosten anderer.
Die großen Symbole von Glaube, Hoffnung und Liebe als Ausdruck einer
dialektischen Welterfahrung, in der Tod und Leben in einen Zusammenhang
miteinander gebracht und wo das Gute mit dem Bösen ebenfalls in ein Verhältnis zueinander gesetzt sind , eröffnen erst die neuen Sinn-Horizonte. Daüber zu
meditieren wäre der rechte Pfad von Sinn-Suchern.
Da wir als Ebenbilder Gottes bezeichnet werden, sollten wir uns auch an dem
Bilde Gottes ausrichten: er wollte nicht für sich allein Gott sein, genauso wenig
werden wir unsere menschliche Bestimmung finden können je für uns allein. So
ist es auch gar nicht verwunderlich, dass von den meisten Autoren, die sich
zum Sinn äußern, die Liebe als die Sinn-Erfahrung schlechthin bezeichnet wird.
Nicht zuletzt dadurch, dass sich Sinn erst einstellt, wenn man nicht mehr nach
ihm schreit.
11
JA ZUM LEBEN SAGEN HEISST: DEN SINN FINDEN
Am Ende dieses Vortrags wäre es nun geradezu unterhaltsam, Sinn-Definitionen aus der heutigen Philosophie und Theologie zu zitieren, und zwar so,
wie am Ende eines Kirchgangs oft die Glocken erklingen. Die Mehrfachklänge
ergeben ein Geläut, bei dem die einzelnen Töne nicht mehr als einzelne herauszuhören sind. Immerhin erklingt das Ganze festlich.
Martin Heidegger: Sinn ist “streng genommen ... das Woraufhin des primaren
Verstehens von Sein”.
Niklas Luhmann: Sinn ist “ d i e Form der Erlebnisverarbeitung”, die es leistet,
,,die Aktualität des Erlebens mit der Transzendenz seiner anderen Möglichkeiten zu integrieren” Jacques Derrida: “Der Sinn will sich bezeichnen, und er
drückt sich nur in einem sagen-wollenden Be-deuten aus, das ein Sich-selbstsagen-Wollen der Präsenz des Sinns ist.”
Sinn ist, so Papst Johannes Paul II., das “ewige Leben zu gewinnen”.
Die meisten Sinn-Definitionsangebote – auch in der Philosophie – gehen
erwartungsgemäß in die bekannte Richtung, Sinn zu deuten als Verstehen des
Ganzen, meist im intuitiven Einfall, vor allem aber als Sinnerleben im Glück der
Liebe. In diesem Sinne kann man bei der Sinn-Thematik von einer weitverbreiteten impliziten Religiosität sprechen, die sich mit den Widersprüchen des
eigenen Lebens, mit dessen Niederlagen und Glücksmomenten so identifizieren kann, dass der Mensch zum Frieden findet und so “im Sinne” ist mit allen
Sinnen.
Die differenzierteste Existenzanalyse für dieses Phänomen hat wohl Viktor E.
Frankl geliefert, indem er im Konzentrationslager, einem Ort höchster SinnZerstörung, auf Sinnsuche ging und erleben durfte, wie sich für ihn und andere
Sinn einstellte. Sein Buch:
„ ... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager” ist mit Recht zum Begründungsdokument der Sinn-Psychologie geworden. Selbst wenn man die Gefahr einer Ethisierung der Sinnfrage in dieser
Konzeption wittert, wird man dieser existentialen Vertiefung des Themas, auch
gegen eine psychologistische Verflachung der Sinn-Not des modernen Menschen, eine hohe Wertschätzung nicht versagen. In diesem Konzept finden die
beiden Leitbegriffe dieser Tagung, Funktion und Sinn, wirklich konstruktiv zusammen, ohne sich gegenseitig zu schwächen.
Zusammenfassend können wir formulieren:
Dem Menschen ist es wohl funktional eingestiftet, nach Sinn zu suchen. Mit
anderen Worten: das Leben selbst zu bejahen, well das höchste Geschenk für
das Leben das Leben selbst ist. Insofern ist der scheinbar frömmelnde Ausspruch des Papstes, der Lebenssinn sei es, das ewige Leben zu erlangen, von
einer tiefen Wahrheit: den Sinn des Lebens zu erfahren heißt nämlich zu
erkennen, dass alles Leben nicht nur wie alles Glück die Ewigkeit sucht und
will, sondern als solches von Ewigkeit ist und dass es auch durch den Tod
diesen Charakter nicht verliert, sondern erst voll gewinnt.
12
Wer aus seinem realen Leben fliehen will, macht dieses sinnlos. Nicht Flucht
aus dem Leben, sondem Flucht ins Leben, in das wirkliche Leben, rettet, ganz
im Hölderlinschen Sinne: “mit der Gefahr wächst das Rettende auch”.
Die Sucht als Flucht aus dem realen Leben umzukehren in eine neue versöhnte Vertrautheit mit sich, das ist Sinn-Erfahrung schlechthin.
Herunterladen