Skript 10. Sitzung

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Skript zur Vorlesung Praktische Philosophie II: Angewandte Ethik
Dozent: Prof. Nida-Rümelin
10. Sitzung - 10.01.2012: Tierethik – Ökologische Ethik
aufgezeichnet von Nikolai Blaumer
A. TIERETHIK
Extensionismus und Revisionsmus als zwei Verfahren der Theoriebildung in der Tierethik
I. Extensionismus
-
„Extensionistische“ Verfahren gehen von einem geteilten Kernbereich
lebensweltlicher Praxis aus, über den ein ausreichendes Maß an Konsens herrscht.
Dieser Kernbereich, so die Annahme, schließt Bewährungsinstanzen ein, die eine
argumentative, rationale Klärung ethischer Begriffe möglich machen. Ausgehend
davon werden Analogien zwischen der zwischenmenschlichen Praxis und der Praxis
zwischen Mensch und Tier hergestellt.
-
Beispiel: Die allgemein geteilte Überzeugung „Man darf keinem Menschen ohne
gewichtigen Grund Schmerzen zufügen“ wird auf die Welt der Tiere „extendiert“.
Fraglich ist also, wie es sich rechtfertigen lassen soll, Lebewesen Schmerzen
zuzufügen, die genauso wie Menschen schmerzempfindlich sind.
-
Anthropomorphismus-Kritik: Es lässt sich einwenden, extensionistische Verfahren
seien irrational, da sie Kriterien menschlicher Praxis auf Tiere übertragen. Die
Zuschreibung von Interessen setzt etwa Fähigkeiten seitens des Interessenhalters
voraus, die Tieren fehlen, da sie keine mentalen Prädikate haben, so eine mögliche
Kritik (traditionelle Auffassung der Biologie/Behaviorismus). Schreiben wir Tieren
dennoch menschenähnliche Eigenschaften zu (Beispiele: „Liebe“ von Hunden oder
„Opferbereitschaft“ von Ameisen) so handelt es sich demzufolge um bloße
Antropomorphismen.
→ Verteidigung des Extensionismus: Kritiker die hinsichtlich des moralischen Status
eine grundsätzliche Verschiedenheit zwischen Mensch und Tier behaupten, haben sich
dem Speziesismus-Vorwurf zu stellen. Dieser besagt, dass die Unterteilung in
Spezien eine Klassifikation durch den Menschen ist, die moralisch nicht von
Bedeutung sei. Besonders Vertreter des sog. Sentientismus (von lat. sentire =
empfinden, fühlen) wie Peter Singer machen sich dieses Argument zueigen.
Peter Singer unterscheidet in seiner Tierethik zwischen Lebewesen mit und Lebewesen ohne
Personenstatus.1 Entscheidend sind die Kriterien Selbstbewusstsein, Empfindungsfähigkeit
und die Fähigkeit zur Ausbildung zukunftsgerichteter Präferenzen. Letztere müssen die
Bedingung der Kohärenz erfüllen. Während für Lebewesen mit entsprechenden Fähigkeiten
1
Peter Singer: Animal Liberation, 1975; bzw. in deutscher Übersetzung: Animal Liberation. Die
Befreiung der Tiere, 1996; Vgl auch ders.: The Great Ape Project: Equality beyond humanity, 1993.
1
präferenzutilitaristische Maßstäbe gelten, gilt für Lebewesen ohne jene Fähigkeiten der
klassische Utilitarismus (max. Lust / min. Leid).
-
Ethiken die rationale, vernünftige Wesen voraussetzen (so etwa Kant, Habermas,
Tugendhat u.a.) haben Probleme, ihren theoretischen Kern auf tierethische Probleme
zu erweitern. Da ihren Maßstäben nach die meisten Tiere als moralische Subjekte
ausfallen, fehlen überzeugende Kriterien. So bleibt lediglich der Umweg über
indirekte Pflichten, wie etwa bei Kant über das Verbot grausamer, abstumpfender
Handlungen. Diese Strategie hält jedoch nicht immer empirischen Untersuchungen
stand.
II. Revisionismus
-
„Revisionistische“ Verfahren der ethischen Theoriebildung nehmen zum
Ausgangspunkt, dass gängige ethische Theorien keine zufriedenstellenden Kriterien
für den menschlichen Umgang mit Tieren bieten. Sie fordern daher eine
grundlegende Revision ethischer Theorie.
Hans Jonas vertritt eine revisionistische Position, derzufolge die menschliche Ethik bloß ein
Teilbereich einer umfassenderen, holistischen Ethik sei.2 Dies spiegelt sich auch in seiner
auf den ersten Blick (vgl. etwa seinen „ökologischen Imperativ“) anthropozentrischen
Theorie, die sich dann aber auf einer tiefere, naturteleologisch geformte Ethik stützt.
Letztere fordert nach Jonas Respekt für den intrinsischen Wert des Lebens überhaupt.
Arne Naess prägte den Begriff der sog. Deep ecology.3 Ebenso wie Jonas postuliert auch
Naess, dass eine angemessene Tier- und ökologische Ethik den intrinsischen Wert alles
Seienden zu respektieren habe. Sein Ansatz ist in dem Sinne ontologisch, als dass er die
Frage nach dem richtigen Handeln mit unserem Erleben, unserem Fragen, unserer
Verbundenheit mit der Welt, zu integrieren versucht. Naess zufolge leben wir mit allen
anderen Lebewesen nicht in unterschiedlichen, sondern in einer gemeinsamen Realität.
-
Revisionistische Ansätze stellen die Frage nach der Perspektive tierethischer und
ökologischer ethischer Theorien. Kann der traditonelle Anthropozentrismus
verteidigt werden, oder sollten physiozentrische Maßstäbe ausschlaggebend sein?
Hat etwa der Schutz der Artenvielfalt einen eigenen, intrinsischen Wert oder bestehen
Pflichten zum Schutz der belebten und unbelebten Natur bloß aus Sorge um uns
selbst?
-
Neuere empirische Untersuchungen, etwa zu Blindsight oder Metakognition stellen
die starre Unterscheidung zwischen einer menschlichen Welt und einer Welt der Tiere
in Frage. Sie suggerieren stattdessen eine Art Stufentheorie des Bewusstseins, also
einen stufenweisen Übergang zwischen Eigenschaften, die traditionell als tierisch
bzw. menschlich angesehen werden.4 Forschungen, wie die von Michael Tomasello
2
Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation,
1979
3
Vgl. Arne Naes: Ecology, Community and Lifestyle: Outline of an Ecosophy, 1989.
4
Zu neuen Studien bezüglich der Metakognition von Hunden siehe: „Verständnis für den Fingerzeig“,
Süddeutsche Zeitung vom 07.01.2012
2
zeigen, dass nicht bloß Kinder, sondern etwa auch Primaten und andere Individuen der
Tierwelt eine Theory of Mind haben. Diese besteht in der Fähigkeit, Annahmen über
Bewusstseinsvorgänge (Überzeugungen, Intentionen, Wünschen, Wissen, etc.) in
anderen Personen vorzunehmen.
→ Insbesondere empirische Untersuchungen und ihre Erkenntnisse über zum Teil
erstaunliche Fähigkeiten von Tieren scheinen mehr eine Ausweitung ethischer Theorien
auf die Tierwelt (Extensionismus) als einen radikalen, revisionistischen
Paradigmenwechsel hin zum Physiozentrismus nahezulegen.
B. ÖKOLOGISCHE ETHIK
Auch in der ökologischen Ethik ist die Auseinandersetzung zwischen Anthropozentrismus
und Physiozentrismus eines der zentralen Probleme.
-
Der Utilitarist Dieter Birnbacher und andere arbeiten an einer anthropozentrischen
ökologischen Ethik, die insbesondere den langfristigen ökologischen Konsequenzen
menschlichen Handelns und damit einhergehenden Folgen für die Lebenswelt
zukünftiger Generationen Rechnung trägt.
-
Die physiozentrische Kritik an anthropozentrischen Ansätzen ökologischer Ethik
bringt u. a. vor, dass der Anthropozentrismus seine Ziele selbst nicht erfüllen kann, da
das Bild eines rein instrumentellen Verhältnisses zur Natur dem Wesen des Menschen
nicht gerecht werde. Ein strikter Anthropozentrismus ist dieser Auffassung nach zum
Scheitern verurteilt.
Robert Spaemann und Reinhard Loew beziehen mit ihrer Schrift „Die Frage Wozu“
Stellung gegen ein instrumentelles Verhältnis zur Natur und gegen Nutzenmaximierung
durch wissenschaftliche Naturbeherrschung.5 Ihnen zufolge ist der „Zweck“ der Natur nicht
durch den menschlichen Willen gesetzt. In Tradition des antiken griechischen Denkens
fordern sie, die Natur und die Behandlung die sie verlangt, aus der Natur selbst heraus zu
verstehen.
In seiner vom Platonismus beeinflussten Naturphilosophie kritisiert auch Klaus Michael
Meyer-Abich anthropozentrische Positionen.6 Das alttestamentarische Gebot sich die Erde
„untertan“ zu machen, kann ihm zufolge heute keine Gültigkeit beanspruchen. Meyer-Abich
fordert, menschliches Handeln müsse sich an der Natur selbst messen und habe ihre adäquate
Fortsetzung zu sein. Es gelte nach einem „Frieden mit der Natur“ zu streben.
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Ebenso wie die Tierethik und andere Felder der angewandten Ethik ist auch die
ökologische Ethik heute in einem wachsendem Maße institutionalisiert. Philosophen
sind dabei bloß in geringer Zahl vertreten. Die Prämissen auf deren Grundlagen
Umweltethik-Gremien entscheiden, sind allerdings häufig philosophische.
5
Robert Spaemann/Reinhard Löw: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung
teleologischen Denkens, 1981.
6
Klaus Michael Meyer-Abich: Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die
Umweltpolitik, 1984; Ders.: Praktische Naturphilosophie. Erinnerung an einen vergessenen Traum,
1997.
3
-
Dabei werden zum Teil physiozentrische Beurteilungskriterien herangezogen, die
weiterer Begründung bedürfen. In manchen Fällen reicht gemäß geltender Richtlinien
schon die Ansiedlung einiger seltener Pflanzen o. ä. um Großprojekte zu Fall zu
bringen. Philosophisches Denken kann hier eine ebenso klärende wie vermittelnde
Rolle einnehmen.
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