Joachim Poß, MdB

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Predigt von Joachim Poß
am 16. März 2003
in der Gottesdienstreihe „In Gottes Ohr“ in der Evangelischen Lukas-Kirchengemeinde
Gelsenkirchen, Buer-Hassel
„Glaube und soziale Verantwortung“
Liebe Gemeinde,
Ihre Einladung, hier im Rahmen Ihrer Reihe „In Gottes Ohr“ zu Ihnen zu sprechen,
habe ich gerne angenommen.
Zunächst hat mich diese Anfrage ein wenig überrascht, denn dies ist nach wie vor ein
ungewöhnlicher Ort für die Rede eines Politikers.
Ich will mir deshalb auch nicht die Rolle des Pfarrers anmaßen, der Ihnen von dieser
Stelle aus Gottes Wort verkündet und aus dem reichen Erfahrungsschatz der Bibel
Sinngebung, Hoffnung und Trost für das Alltagsleben vermittelt.
Reden von Politikern dienen dagegen dazu, im Streit der Meinungen das eigene Handeln
zu erklären, zu überzeugen und um Zustimmung zu werben.
Parteipolitische Auseinandersetzungen haben in der Kirche nichts zu suchen.
Gerade deshalb bietet ein solcher Anlass die sinnvolle Gelegenheit, einmal grundsätzlich
über die Motivation und die Richtschnur des eigenen Handelns wie auch über die
Grenzen politischer Betätigung nachzudenken.
Wenn ich heute hier in einer Kirche stehe, kehre ich damit nach über 30-jähriger
politischer Tätigkeit gewissermaßen an die Ursprünge meines gesellschaftlichen
Empfindens und Engagements zurück.
Denn als Kind und Jugendlicher war ich in der Kirche aktiv, und zwar in der katholischen
Gemeinde in Hassel. Teilweise zeitlich parallel/Altersfrage habe ich mich aktiv in einer
politischen Partei, nämlich der SPD, betätigt. Diese gleichzeitige Betätigung wurde
damals von beiden Seiten nicht als selbstverständlich angesehen. Grenzgänger zwischen
den Kulturen. Nach dem Kirchgang das 1. Pils bei Ellinghaus.
Ich gehöre zu den Mitgliedern meiner Partei, die als bekennende Christen und geprägt
durch die Gedanken der katholischen Soziallehre den Weg zur Sozialdemokratie
gefunden haben.
Entgegen landläufiger Meinung gehören zu den gedanklichen und weltanschaulichen
Wurzeln der SPD nicht nur die humanistische Philosophie, die Aufklärung und die
Marxsche Geschichts- und Gesellschaftslehre, sondern eben auch das Christentum!
Hinsichtlich der Werte, die es auch in der Politik zu beachten gilt, sehe ich mich in
dieser Tradition als Christ dem gesamten Evangelium und insbesondere den Zehn
Geboten und der Bergpredigt verpflichtet.
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Nicht in dem Sinne, dass sich daraus konkrete politische Rezepte ableiten ließen.
Das tun ja auch die katholische Soziallehre und die evangelische Sozialethik nicht.
Aber in dem Sinne, dass auch dem konkreten politischen Handeln ein bestimmter
wertbezogener Rahmen gesetzt ist.
In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch, dass der Bezug auf christliche Werte
und Normen einen bestimmten Umgang mit den politischen Konkurrenten und Gegnern
erfordert, denen ein Politiker - etwa im Bundestag, aber auch in den Wahlkreisen vor
Ort - tagtäglich begegnet.
Der entscheidende Antrieb, zunächst in der Kirche und dann politisch aktiv zu werden,
war für mich als Kind einer Bergarbeiterfamilie hier aus dem Eppmannshof das Streben
nach sozialer Gerechtigkeit.
Dafür wollte ich mich einsetzen, und zwar stets im Sinne von Oswald von Nell-Breuning,
der die Kirche und die Gläubigen aufgefordert hat, nicht nur geistreich über unsere Welt
zu philosophieren, sondern sie herzhaft anzupacken, sie zu verändern, sie gegebenenfalls
umzukrempeln, vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Ich habe hier immer eine Zielgleichheit zwischen christlichem Glauben, Kirche und
aktiver parteipolitischer Betätigung gesehen.
Gerechtigkeit wurde schon in der Antike als ein entscheidender Faktor für das friedliche
Zusammenleben der Menschen erkannt.
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk“, heißt es in den Sprüchen Salomos (14, 34).
Und in frühchristlicher Zeit formulierte der Kirchenlehrer Augustinus die zeitlos aktuelle
Frage: „Fehlt die Gerechtigkeit, was sind dann die Reiche anderes als große
Räuberbanden?“
Der schottische Nationalökonom und Moralphilosoph Adam Smith erklärte: „Gerechtigkeit
ist eine Hauptsäule, die das ganze Gebäude trägt. Wird sie entfernt, so muss der große,
ungeheure Bau der menschlichen Gesellschaft sofort in seine Atome zerfallen.“
Und Immanuel Kant meinte gar: „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen
Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben.“
Diese allgemeinen Aussagen zur Bedeutung von Gerechtigkeit sind heute sicherlich
Konsens in unserer Gesellschaft. Ebenso wie die Erkenntnis, dass es in dieser Welt
keine absolut gerechte Gesellschaft gibt. Es gibt nur den Weg hin zu einer gerechteren
bzw. zu einer weniger ungerechten Gesellschaft. Diesen Komparativ, diese gerechtere
Gesellschaft zu verwirklichen, ist die Aufgabe des Politikers.
Die schwierigste Frage, die sich dabei stellt, ist jedoch:
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Was ist soziale Gerechtigkeit eigentlich und mit welchen Mitteln können wir sie erreichen?
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Wie hat vor allem eine sozial gerechte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik auszusehen
- und zwar gerade in Zeiten großer ökonomischer Turbulenzen und hoher und von
keinem zu akzeptierender Arbeitslosigkeit? Und in Zeiten, in denen die Konsequenzen
des gesellschaftlichen Wandels, des demografischen und technologischen weitaus
deutlicher sichtbarer werden als noch in den letzten Jahrzehnten. Der Besuch in
Pflegeeinrichtungen macht das z.B. deutlich.
Wenn ich es richtig sehe, versteht die Kirche die Arbeit für Gerechtigkeit in erster Linie
als Integrationsaufgabe : Diejenigen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt oder
aus ihr ausgeschlossen werden, sollen wieder in die Mitte der menschlichen Gemeinschaft
geholt werden.
Das ist für mich der rote Faden, der sich auch durch das Leben Jesu zieht, und der
auch den Kern unserer Politik ausmachen sollte.
Die zentrale Bedeutung - auch für das persönliche Seelenheil! - der als soziale
Verantwortung verstandenen Gerechtigkeit wird bei Matthäus im 25. Kapitel, Vers 40
besonders deutlich, wo es heißt: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt,
das habt ihr mir getan“.
Dort geht es um die Not und die Bedürfnisse der Hungrigen und Durstigen, der Fremden
und Obdachlosen, der Unbekleideten, der Kranken und der Gefangenen.
Ohne Zweifel liegt hierin ein konkreter Aufruf in unsere Gegenwart hinein, der sich auf
die Armut und Not in der südlichen Hemisphäre, aber auch in unserem eigenen Land
bezieht, der sich aber ohne weiteres auch auf Asylbewerber und Flüchtlinge bezieht,
also auch auf die Fremden, die heute bei uns um Aufnahme bitten.
Wie man heute als Christ und christlich auf diesen Aufruf reagieren kann, haben Sie
in der Lukas-Gemeinde schon häufig in beispielhafter Weise vorgelebt.
Mit Ihrem Einsatz für Fremde, für Menschen in Not orientieren Sie sich an dem Grundwert
menschlichen Zusammenlebens, der unerlässlich ist, um das Ziel einer sozial
gerechteren Gesellschaft zu erreichen, nämlich am Grundwert der Solidarität.
Die größte Ungerechtigkeit und größte sozialpolitische Aufgabe in unserem Land ist
für mich die anhaltende Massenarbeitslosigkeit, durch die vielen jungen Menschen der
Einstieg ins Arbeitsleben verwehrt wird und die auf der anderen Seite mit dazu führt,
dass arbeitslose Männer und Frauen häufig schon Mitte 40 als zu alt für den Arbeitsmarkt
abgestempelt werden.
Diese Ungerechtigkeit zu beseitigen, ist die wichtigste Aufgabe, die sich den Politikern
aller Parteien und allen anderen Akteuren in der Wirtschaft, den Gewerkschaften,
Medien u.a. heute stellt. Für ihre Lösung gibt es kein Patentrezept - auch wenn das
in der öffentlichen Debatte manchmal so scheinen mag.
In Beschreibungen unserer heutigen Gesellschaft findet sich immer wieder die Feststellung,
dass die Bereitschaft zur Solidarität beständig abnimmt.
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Mit Zahlen nachweisen lässt sich das offensichtlich für die „organisierte Solidarität“.
Immer weniger Menschen glauben, dass es durch gemeinsame Anstrengungen am
Ende allen besser gehen könne.
Die ständig zurückgehenden Mitgliederzahlen der großen Organisationen - der Parteien,
der Kirchen, der Gewerkschaften - sind ein Beleg für diese Tendenz.
Sie können sich vorstellen, dass ich mit dieser Entwicklung nicht zufrieden bin.
„Partei nehmen“ - ob in politischen Parteien, in den Kirchen oder in anderen großen
Organisationen - erhöht nicht nur die Schlagkraft einer Sache, sondern dient auch der
eigenen Selbstvergewisserung.
Ich finde es z.B. sehr schwer, ohne das Gespräch mit Gleich- oder Ähnlichgesinnten
schwierige politische Situationen überhaupt durchzustehen. Mein politischer Weg, der
jetzt auch schon über 30 Jahre dauert, hat mir gezeigt, dass man in der Politik als
Einzelkämpfer nicht oder nur selten überleben und auch nichts bewirken kann.
Mein Plädoyer für organisierte Solidarität soll nicht das solidarische Handeln Einzelner
oder kleinerer Gruppen geringschätzen. Da würde ich missverstanden. Die entsetzliche
Flutkatastrophe im letzten Jahr war z.B. ein beeindruckendes Beispiel für diese spontane
Solidarität.
Viele Menschen sind bereit, in Notsituationen, für karitative Zwecke und für
Entwicklungshilfeprojekte zu spenden. Viele Menschen engagieren sich in gemeinnützigen
Zusammenhängen. Und das ist auch gut so!
Mit Sorge betrachte ich jedoch, dass die Menschen, insbesondere die Jungen sich
immer weniger zu den gesellschaftlichen Solidarsystemen bekennen.
Gesetzliche Rentenversicherung, gesetzliche Krankenversicherung,
Arbeitslosenversicherung und Pflegeversicherung sind aber nichts anderes als in Gesetz
und eine bestimmte Form gegossene zwischenmenschliche Solidarität.
Das Wesen unserer Sozialsysteme ist Umverteilung: von Gesunden auf Kranke, von
Berufstätigen auf Rentner, von Arbeitnehmern auf Arbeitslose. Für den Einzelnen
bedeutet das, dass die Bilanz dessen, was er in das System hineingibt und was er
dafür herausbekommt, in der Regel eben nicht ausgeglichen ist.
Man kann den Wert eines Solidarsystems keiner individuellen Kosten-Nutzen-Rechnung
unterwerfen. Viele tun aber heute genau das!
Sie vergessen sehr schnell, dass ein Solidarsystem nicht zu einem privatwirtschaftlichen
Geschäftssystem umgestaltet werden kann;
dann hat es nämlich keine Existenzberechtigung mehr.
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Viele wollen aus ideologischen Gründen aber gerade das!
Wer keine Solidarsysteme mehr will, verlässt nach meinem Verständnis die Basis
unseres staatlichen Gemeinwesens und auch christliche Traditionen! Er sollte sich im
klaren sein, dass er damit den sozialen Konsens aufkündigt, der jahrzehntelang als ein
Prägemerkmal unserer Gesellschaftsordnung galt.
Zur Stabilisierung der solidarischen Sicherungssysteme mussten wir in der letzten Zeit
nach schwierigen Abwägungen einige schmerzliche Entscheidungen fällen. Die Rede
des Bundeskanzlers vom Freitag hat deutlich gemacht, dass es ohne weitere Zumutungen
schwierig wird, die solidarischen Sicherungssysteme zukunftssicher zu machen und
auf die großen demografischen und technologischen Veränderungen (Veränderungen
der Erwerbsbiografien) einzustellen.
Was ich nicht nachvollziehen kann, ist allerdings, wenn Mitbürger mit überdurchschnittlichen Einkommen sich vehement gegen die durchgeführten Regelungen wenden,
weil sie Einkommenseinbußen in einer Höhe von 60, 70 oder 80 Euro im Monat zu
erwarten haben.
Sie empfinden diesen Beitrag, der ihnen zur Stabilisierung der Sozialsysteme abverlangt
wird, als zutiefst ungerecht und nicht zumutbar.
Ich halte das für unsolidarisch! Das ist jedenfalls nicht mein Wertesystem!
Auch wer den Individualismus nicht zum Popanz erhebt, muss allerdings sehen, dass
Solidarität andererseits natürlich auch keine Einbahnstraße sein darf!
Es sollte aus meiner Sicht keinen Dissens darüber geben, dass die solidarischen
Sozialsysteme in Deutschland erhalten werden müssen. Auch wenn heute viel über
verstärkte Eigenvorsorge und Eigenverantwortung (was richtig ist) geredet wird: Es
bleibt Fakt - das wissen gerade wir hier in Gelsenkirchen! -, dass viele Menschen
finanziell ohne Hilfe gar nicht in der Lage sind, sich und ihre Familien gegen Krankheit,
Arbeitslosigkeit und Altersarmut ausreichend abzusichern. Wir werden deshalb auch
in Zukunft große staatliche Umverteilungssysteme und starke staatliche Förderungen
brauchen, neben eigener Anstrengung, Eigeninitiative, die für die Zukunftschancen
junger Menschen wichtig ist.
Es ist auch ein ursprünglich christlicher Gedanke, dass menschenwürdiges Leben auch
ein Mindestmaß an Gerechtigkeit in der Verteilung materieller Ressourcen voraussetzt.
Dass der Reiche moralisch verpflichtet ist, auch materiell für den Armen einzustehen,
ist nach meinem Verständnis eine starke christliche Tradition.
Es gehört zur frohen Botschaft des Christentums, dass man sich um die Armen und
Beladenen zu „kümmern“ hat. Jeder Mensch hat als Ebenbild Gottes eine unzerstörbare
Würde - und dafür hat man bitteschön auch etwas zu tun!
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Deshalb konnte Heinrich Böll schreiben: „Selbst die allerschlechteste christliche Welt
würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum
gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Krüppel und Kranke, Alte
und Schwache, und mehr noch als Raum gab für sie: Liebe, für die, die der heidnischen
wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen...“
Der Sozialstaat entwickelt den Fürsorge- und Solidargedanken weiter. Er verwandelt
die Schwachen, die Bedürftigen, aus einem Objekt der Barmherzigkeit in ein Subjekt
von Rechtsansprüchen.
Das ist die eigentliche Leistung unseres Sozialstaates. Indem der Sozialstaat das tut,
gibt er - soweit Politik und Staat das überhaupt tun können - dem Schwachen und
Bedürftigen einen Moment seiner Würde zurück, nicht nur Caritas.
Aber der lange Weg dahin - in Deutschland hat das eine Geschichte von 120 Jahren
- zeigt eben auch, dass soziale Gerechtigkeit und Solidarität zunächst einmal nicht
mehr sind als Worte:
Die Gesellschaft muss soziale Gerechtigkeit und Solidarität auch wollen.
Wenn sich keine Mehrheit mehr findet, die die Solidarität als Wert schätzt und schützt,
dann wird es Solidarität in dieser Gesellschaft auch so nicht mehr geben.
Dann ist es kein großer Schritt hin zu einer Beliebigkeit, ja Rücksichtslosigkeit, die die
soziale Einbindung des Einzelnen vernachlässigt oder sogar darauf verzichtet,
den Staat auf den Rückzug bringen will und eine Zukunft propagiert, in der jeder seines
Glückes Schmied auch dann sein soll, wenn er gar nicht schmieden kann.
Nur reiche Bürger können sich einen armen und sozial ungerechten Staat leisten. Sie
brauchen kein flächendeckend gutes Bildungswesen. Sie können ihre Kinder in teure
private Internate zur Ausbildung schicken. Sie brauchen auch keine funktionierende
öffentliche Verwaltung; Wohn- und Kindergeld brauchen sie schon gar nicht.
Mit ihrem gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage haben die
evangelische und die katholische Kirche in Deutschland 1997 einen wichtigen Beitrag
zu dieser Diskussion geleistet.
Sie stellen sich in diesem Text mit aller Entschiedenheit auf die Seite der „Armen,
Benachteiligten und Machtlosen auch der kommenden Generation und der stummen
Kreatur“ und treten nicht nur für individuelle Solidarität und Barmherzigkeit, sondern
für Strukturen und eine Politik ein, die sich an den Maßstäben der Solidarität und
Gerechtigkeit orientiert.
Dieser Text ist von den Parteien einstimmig begrüßt worden. In der aktuellen Diskussion
sollten wir das gemeinsame Wort der evangelischen und katholischen Kirche von 1997
wieder häufiger zu Rate ziehen. Das gilt auch für die nächsten Wochen in meiner Partei.
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Es muss auch in Zukunft noch Werte geben, die nicht an der Börse gehandelt werden.
Wer, wenn nicht wir Christen, wäre aufgefordert daran zu erinnern, dass der Mensch
mehr ist als ein Homo oeconomicus!
Diese wissenschaftliche Kunstfigur ist nicht dazu geeignet, ein Gesellschaftsbild
abzugeben. Dieses Phantom eines egoistischen Wesens ist kein menschliches Ideal.
Menschen sind für Menschen da.
Viele Menschen haben ein solches Gesellschaftsbild, als ob jeder die Freiheit der
Entscheidung über sein Leben, seine Umwelt, seine Arbeitsbedingungen und sein
Einkommen habe. Nicht nur in dieser Frage vermag die Kirche für diese Gesellschaft
mehr zu leisten als Seelsorge und moralische Nachsorge.
Das ignoriert die soziale Wirklichkeit, ist aber im Parlament, in den Talkshows und den
Kommentaren jeden Tag präsent.
Gerade in einer Zeit rasanter Veränderungen können die Kirchen in unserer Gesellschaft
eine substantielle Rolle spielen und den Menschen helfen.
Der zeitlose Orientierungsmaßstab, der ihnen durch das Evangelium vermittelt wird,
macht sie frei, jedenfalls prinzipiell von der Rücksichtnahme auf die Reichen und
Mächtigen und auch frei von der Rücksichtnahme auf Gruppeninteressen oder den
Beifall derer, die die öffentliche Meinung prägen.
So können die Kirchen einen entscheidenden Beitrag zur Bewahrung und Aktivierung
des ethischen Potentials leisten, ohne das unser Gemeinwesen verdorren und unsere
Gesellschaft in den Kampf aller gegen alle zurückfallen würde.
Diesen wichtigen Beitrag leisten die Kirchen u.a. in den Fragen der Gentechnik, der
Zuwanderung und der Integration von Ausländern.
In diesen Wochen und Monaten erleben wir die große Kraft des kirchlichen Wortes
insbesondere in der Diskussion über den drohenden Krieg im Irak. Für diesen Krieg
gibt es keine religiöse Rechtfertigung, wie es bei Bush und Blair anklingt. Der Wille zum
Krieg ist erschreckend.
Andererseits ist Kirche natürlich nicht gleich Politik.
Es wäre auch von Seiten der Kirche vermessen, zu verlangen, dass ihre Forderungen
von der Politik 1:1 umgesetzt würden. Das wird schon prinzipiell nicht gehen:
Politik ist im Gegensatz zur Kirche in einem vielschichtigen politischen Prozess gefangen
Politik muss vielfältige Rahmenbedingungen beachten.
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Die Politikvermittlung durch Teile des Medienbetriebs, die Zeitung mit den großen
Buchstaben und den täglichen Manipulationen bei uns ist nur ein Beispiel, was Sorgen
macht. Derartige Entwicklungen sind aktuell in den USA, England, Italien und anderswo
zu beobachten.
Politik ist immer ein irgendwie gearteter Kompromiss von widerstrebenden Interessen.
Das mag meist unbefriedigend sein, ist nach meiner langjährigen Erfahrung aber
unvermeidbar.
Auch in anderer Hinsicht ist die Problemlösungskompetenz der Politik
grundsätzlich begrenzt:
So sind individuelles Glück und das individuelle „Seelenheil“ natürlich nicht politisch
organisierbar - auch wenn die politische Klasse vor dieser Anmaßung manchmal nicht
ganz gefeit ist.
Politik ist eben auch nicht gleich Glaube und Kirche! Nach wie vor legt allein der Glaube
unsere existenzielle Basis - und nicht die Politik und schon gar nicht die Ökonomie!
Ich möchte einen der größten deutschen Sozialdemokraten, Herbert Wehner, zitieren:
„Es gibt Probleme des Zusammenlebens der Menschen und der Völker, die in unserer
Zeit nur mit den Mitteln der Politik gelöst oder geregelt werden können. Es gibt andere
Probleme, an denen die Politik versagen muss. Dafür zu sorgen, dass die Politik sich
nicht verbrauche an Problemen, die ihr verschlossen sind, ist Christenpflicht. Dazu
beizutragen, dass die Mittel der Politik richtig und gerecht angewandt werden, ist eine
Möglichkeit für Christen.“
Es ist und bleibt die Aufgabe jedes einzelnen von uns, soziale Verantwortung aktiv
auszuüben und dies gegründet auf den Werten des Glaubens.
Wer es mit seinem so verstandenen Glauben ernst meint, der wird sich nicht auf die
Förderung des eigenen Seelenheils und Akte individueller Barmherzigkeit beschränken,
sondern für gerechte und menschliche Strukturen kämpfen und sich dafür engagieren,
dass für alles Tun ein wertbezogener Rahmen vorgegeben bleibt.
Ein Rahmen, der den Menschen davor schützt, zum willenlosen Objekt eines
übermächtigen Staates, einer übermächtigen Ideologie oder eines übermächtig
gewordenen ökonomischen Prinzips zu werden.
Wegweisend bei diesem Engagement ist für mich die Maxime:
„Ein Blick auf das, das sein könnte, kann das was ist, verändern.“
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