Einleitung Es gibt im Kindergartenalter für Kinder wichtige Fähigkeiten, die für das spätere lesen und schreiben lernen von Bedeutung sind. Dazu gehören: –motorische Fähigkeiten, v. a. feinmotorische Fähigkeiten, z. B. wie sicher kann das Kind feine Bewegungen ausführen? – visuelle Fähigkeiten, z. B. kann ein Kind gleiche Formen erkennen oder aus einer Menge von Figuren eine vorher bestimmte Figur heraussuchen? – auditive Fähigkeiten, z. B. wie genau und in welchem Umfang kann es Hörreize – auch Sprache – verarbeiten und wahrnehmen? – Fähigkeiten der Speicher- und Abruffunktion des Gedächtnisses, z. B. kann sich das Kind kurzfristig etwas merken, kann es auch Wissen abrufen, das vor längerer Zeit gespeichert wurde? (Küspert P, 2001, 71) In vielen Kindergärten gibt es für Vorschulkinder meist einmal in der Woche eine Kleingruppenarbeit. Meistens sind es Mal- und Schneidearbeiten. Dabei werden Fähigkeiten wie die Auge-Hand-Koordination und die Feinmotorik geübt (motorische Fähigkeiten). Arbeitsblätter, auf denen die Kinder gleiche Gegenstände herausfinden müssen oder eine Figur aus einer Menge von Figuren heraussuchen sollen, üben die visuelle Wahrnehmung, d. h. die Verarbeitung von Sehreizen (visuelle Fähigkeiten). Lt. zahlreichen wissenschaftlichen Studien sind bestimmte Fähigkeiten von so großer Bedeutung für das Erlernen des Lesens und Schreibens, dass sie eine gezielte Vorhersage über eventuelle spätere schulische Problembereiche ermöglichen. Eine dieser wichtigen Fähigkeiten ist die auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistung. Unter auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistung versteht man die Weiterleitung von Hörreizen, die korrekte Verarbeitung auf dem Weg zum Gehirn sowie die Aufnahme, Aufbereitung, Zuordnung und Auswertung in den Hör- und Sprachzentren des Gehirns. Die auditive Verarbeitung und Wahrnehmung setzt sich aus mehreren Teilfunktionen zusammen. Einige dieser Teilfunktionen werden in Abhängigkeit von der Auswahl der Literatur (u. a. Skowronek H, Marx H, 1989) auch als Phonologische Bewusstheit bezeichnet. In Anlehnung an diese Einteilung nennen wir diese Teilbereiche „auditive Analyse im weiteren Sinne“ sowie „Analyse im engeren Sinne und Synthese“. Die auditive Verarbeitung und Wahrnehmung erfuhr bei Vorschulkindern bisher wenig Beachtung und es gibt kaum Material, wie dieser Bereich spielerisch im Kindergarten oder in der logopädischen Therapie geübt werden kann. Daher ist es wichtig, dass auch dieser Bereich gerade im Vorschulalter seinen Stellenwert sowohl in der Arbeit im Kindergarten als auch in der logopädischen Therapie bekommt. Durch ein gezieltes Training auditiver Fähigkeiten im Vorschulalter sind die Chancen groß, dass auch ein auffälliges Kind gute Rechtschreib- und Lesefertigkeiten erwerben wird (s. dazu u. a. Lundberg et al. 1988, Lundberg 1994, Schneider et al. 1997, Schneider et al. 1999 und Schneider et al. 2000). 7 B 1923 Umbruch 001-026.indd 7 03.02.2011 8:51:32 Uhr Wir haben in diesem Buch Übungen zusammengestellt, die unterschiedliche Bereiche der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung für Vorschulkinder fördern. Das Material ist so gestaltet, dass man durch Kopieren der Vorlagen ohne große Mühe in der Lage ist, eine kleine „Hörstunde“ im Kindergarten oder eine logopädische Therapieeinheit zusammenzustellen, die die wichtigen Teilaspekte der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung abdeckt. Hinweis: Vor jedem Bereich ist eine Seite mit Kästchen zum Ankreuzen. Wenn man diese Seiten kopiert und damit arbeitet, kann man schnell erkennen, welche Übungen man mit den Kindern schon bearbeitet hat und welche in der Folgestunde sinnvoll anschließen. Spiele, die verwendet wurden, besitzt in der Regel jeder Kindergarten – ebenfalls jede Praxis, die mit Kindern arbeitet. Wir wünschen Ihnen und den Kindern viel Spaß und Freude mit dem Übungsprogramm und Ihnen außerdem spannende Erfahrungen bei der „Hör-Arbeit“ mit den Kindern! 8 B 1923 Umbruch 001-026.indd 8 03.02.2011 8:51:32 Uhr „Da der Mensch bloß durch das Gehör die Sprache der lehrenden Natur empfängt und ohne das die Sprache nicht erfinden kann, so ist Gehör auf gewisse Weise der mittlere seiner Sinne, die eigentliche Tür zur Seele und das Verbindungsband der übrigen Sinne geworden.“ (Johann Gottfried Herder, 1770). A. Einführung in die Theorie der auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen Wie Sie sicher wissen, kann sich die Sprache beim Menschen nur entwickeln, wenn sein „Gehör“ komplett funktioniert. Was wir als GEHÖR bezeichnen, besteht aus verschiedenen Bereichen: 1. Das periphere Gehör (äußeres Ohr, Mittelohr, Innenohr bis zum Hör-Nervenkern im Hirnstamm) 2. Die auditive Verarbeitung (zentrale Weiterleitung und Verschaltung von Nervenimpulsen zwischen Hörnerv und primärer Hirnrinde, d. h. in der zentralen Hörbahn) 3. Die auditive Wahrnehmung (Aufbereitung und Auswertung der aus der zentralen Hörbahn kommenden Nervenimpulse in der Großhirnrinde bis zu den Sprachzentren) Wir wollen uns in diesem Buch mit den Kindern beschäftigen, die Probleme in den Bereichen 2 und 3 haben. Jedoch sollte vor Therapiebeginn abgeklärt werden, a) dass das periphere (äußere) Hörorgan des Kindes (s. o. 1.) in Ordnung ist; dies lässt sich durch eine Vorstellung des Kindes bei einem Pädaudiologen oder HNO-Arzt, der einen Hörtest durchführt, prüfen; b) dass das Kind ansonsten regelrecht entwickelt ist, d. h. entsprechend seines Alters – in der Grob- und Feinmotorik – in den Wahrnehmungsbereichen (visuell, taktil-kinästhetisch) – im Sozialverhalten – in der Intelligenz (= „geistige Grundausstattung“) die zu erwartenden Leistungen erbringen kann (d. h. wir suchen nach speziell auditiven Problemen). Kann es das nicht, ist häufig auch die auditive Verarbeitung und Wahrnehmung beeinträchtigt, aber eben nicht nur. Auch dieses Kind profitiert von einem Training, jedoch sind hier ausgehend vom Entwicklungsstand des Kindes und von den Defiziten in den entsprechenden anderen Bereichen dem Therapieerfolg erwartungsgemäß Grenzen gesetzt. Es gibt kein Training, das aus einem lernbehinderten oder geistig behinderten Kind ein durchschnittlich intelligentes Kind machen kann, weil die Fähigkeiten dieser Kinder zu lernen zwar ausbaufähig, jedoch begrenzt sind. 9 B 1923 Umbruch 001-026.indd 9 03.02.2011 8:51:32 Uhr I. Auditive Teilfunktionen und Untersuchungsverfahren 1.Teilfunktionen im Bereich der auditiven Verarbeitung (Ausführliche Information in: Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen bei Schulkindern, Nickisch et al. 2001) auditive Differenzierung ist die Fähigkeit, Hörereignisse unterscheiden zu können und zu bestimmen, ob diese gleich oder verschieden sind; auf Klang-, Geräusch- und Sprachebene. Testverfahren: Heidelberger Vorschulscreening (HVS) – 5. und 6. Lebensjahr Mottier-Test – 5 bis 16 Jahre auditive Selektion ist die Fähigkeit, informationsrelevante Schallereignisse aus Störlärm herauszufiltern. Testverfahren: Mainzer Sprachaudiometrie – 3 bis 4 Jahre oder Göttinger Sprachaudiometrie I und II – 5 bis 8 Jahre auditive Separation ist die Fähigkeit, auf jedem Ohr zeitgleich einlaufende unterschiedliche Informationen korrekt auszuwerten (dichotisches Hören). Testverfahren: Dichotischer Hörtest nach Uttenweiler (1982) – ab 5 Jahren binaurale Summation ist die Fähigkeit, beidseits unterschiedliche Frequenzspektren eines Wortes miteinander zu verschmelzen. Testverfahren: Binauraler Summationstest; bei 5- bis 6-jährigen Kindern bereits durchführbar auditive Zeitauflösung ist die Fähigkeit, bedeutend schneller gesprochene Sprache im Gegensatz zu in normalem Sprechtempo gesprochener Sprache zu verstehen. Testverfahren: Hörtest mit zeitkomprimierter Sprache; altersspezifische Toleranzbereiche liegen für 5- bis 7-Jährige vor (Nickisch 1988) auditive Lokalisation ist die Fähigkeit des Menschen festzustellen, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt (Richtungshörvermögen). Diese Fähigkeit ist beim Menschen sehr fein ausgeprägt. Testverfahren: z. B. audiologische Richtungshörprüfungen auditive Musteranalyse ist die Fähigkeit, Muster in der Zeitabfolge oder der Tonhöhe bzw. die Dauer von Tönen oder Geräuschen zu erkennen. Testverfahren: z. B. Gap-Detection, Ordnungsschwellen – Streubreite bei 5-Jährigen zu hoch ­(Nickisch 1999) Hördynamik ist die Fähigkeit, ganz laute und ganz leise Schallereignisse zu hören (die Spanne vom leisest hörbaren zum lautest hörbaren Schallereignis). Testverfahren: Unbehaglichkeitsschwelle, Lautheitsskalierung – ab 5 Jahren möglich Die auditive Verarbeitung wird mit audiologischen Testverfahren geprüft. 10 B 1923 Umbruch 001-026.indd 10 03.02.2011 8:51:32 Uhr 2.Teilfunktionen im Bereich der auditiven Wahrnehmung auditive Aufmerksamkeit ist die Fähigkeit, sich einem Hörereignis zu zuwenden, zu horchen. Testverfahren: Kein spezieller Test, die Aufmerksamkeit wird jedoch während der durchgeführten Testverfahren beobachtet und genau dokumentiert. auditive Analyse – lässt sich unterteilen in: a) die Fähigkeit, ein Hörereignis zu erkennen, – auf Geräuschebene z. B. einen Schlüssel, – auf Klangebene z. B. ein Xylophon, – auf Lautebene z. B. ist ein [e] in „Eva“? = Identifikation (Anlaut) = Identifikation (Auslaut) z. B. ist ein [a] in „Oma“? z. B. ist ein [o] in „Kobra“? = Identifikation (Inlaut) Testverfahren: Bielefelder Screening: Laut zu Wort zuordnen – 4 bzw. 10 Monate vor Einschulung Heidelberger Vorschulscreening: expressive Anlautanalyse 5.2 bis 6.10 Jahre b) die Fähigkeit, Einzelelemente herauszuhören, – auf Geräusch- oder Klangebene: ein Geräusch/einen Klang aus anderen Geräuschen oder Klängen heraushören, – auf Lautebene: Lautlokalisation; an welcher Stelle (Anfang/Mitte/Ende) ist das [s] in Maus – auf Wortebene: Wörter in Silben segmentieren; wie oft kann man klatschen (segmentieren) zu dem Wort „Ba-na-ne“? – auf Satzebene: Bestimmung der Anzahl der Wörter im Satz; – auf Textebene: auf ein vorher bestimmtes Signalwort klopfen, hupen oder klingeln Testverfahren: Bielefelder Screening: Silben segmentieren Heidelberger Vorschulscreening: Silben segmentieren auditive Synthese ist die Fähigkeit, Einzellaute zu Wörtern zusammenzuziehen. Testverfahren: Psycholinguistischer Entwicklungstest (PET): Laute verbinden – 4 bis 9 Jahre Bielefelder Screening: Laute assoziieren auditive Ergänzung ist die Fähigkeit, unvollständige Lautkombinationen zu sinnvollen Wörtern zu ergänzen. Testverfahren: Psycholinguistischer Entwicklungstest (PET): Wörter ergänzen – ab 5 Jahren auditive Kurzzeitspeicherung und Sequenzierung ist die Fähigkeit, sich eine altersentsprechende Menge an Geräuschen, Tönen, Silben, Wörtern, Zahlen kurzzeitig zu merken (Kurzzeitspeicherung) und diese in der korrekten Reihenfolge zu reproduzieren (Sequenzierung). Testverfahren: Mottier-Test: Sinnlossilben nachsprechen Bielefelder Screening: Pseudowörter nachsprechen PET: Zahlenfolgegedächtnis oder HVS: auditive Merkspanne Kaufmann Assessment Battery for Children (K-ABC): Wortreihe Heidelberger Sprachentwicklungstest (HSET): Imitation grammatischer Strukturformen (Sätze) Die auditive Wahrnehmung wird mit psychometrischen Verfahren geprüft. 11 B 1923 Umbruch 001-026.indd 11 03.02.2011 8:51:32 Uhr 3.Objektive audiometrische Untersuchungsverfahren Es gibt zahlreiche objektive Verfahren (s. Nickisch et al. 2002 in: Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen bei Schulkindern, verlag modernes lernen, Dortmund, S. 27); der Vollständigkeit halber werden an dieser Stelle nur die klassischen Verfahren genannt, und zwar die – Hirnstammaudiometrie (FAEP = Frühe Akustische Evozierte Potentiale) und die – Stapedius-Reflexaudiometrie. 4. Zusammenfassung der Untersuchungsverfahren – Abklärung des peripheren Hörvermögens beim Pädaudiologen oder HNO-Arzt – Abklärung der Gesamtentwicklung beim Psychologen – Untersuchung der auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen in einer Abteilung oder bei einem Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie (www.dgpp.de) Psychologinnen und Psychologen in Erziehungsberatungsstellen führen ebenfalls die psychometrischen Testverfahren durch und können die Gesamtentwicklung des Kindes beurteilen. 12 B 1923 Umbruch 001-026.indd 12 03.02.2011 8:51:32 Uhr