Krankheitsbewältigung bei neuroimmunologischen

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Krankheitsbewältigung bei neuroimmunologischen Erkrankungen
Heinz Weiß
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
als ich eingeladen wurde, einen Beitrag zum diesjährigen Rheinfelder
Symposium „Psychosomatik und Neurowissenschaften“ beizusteuern,
hatte
ich
zunächst
daran
gedacht,
einen
Überblick
über
die
neurologische Psychosomatik als ganze zu geben. Dies wäre auch aus
historischen Gründen reizvoll gewesen. Denn Psychoanalyse und
Psychosomatik haben ihre Wurzeln ja in der Neurologie. Dann erschien
mir dieses Thema aber doch zu umfassend und ich entschloß mich, mich
auf
ein
Teilgebiet
Darstellungen
zur
zu
beschränken,
neurologischen
welches
in
Psychosomatik
einschlägigen
oft
nicht
die
Berücksichtigung findet, die ihm im klinischen alltag zweifellos zukommt
–
nämlich
auf
Fragen
der
Krankheitsverarbeitung
und
der
Krankheitsbewältigung. Wir haben hierzu in den letzten Jahren eine
Reihe von Forschungen durchgeführt. Bevor ich aber auf diese
Ergebnisse
–
speziell
zur
Krankheitsverarbeitung
bei
neuroimmunologischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose, der
Myasthenia gravis oder dem Guillain-Barré-Syndrom zu sprechen
komme, möchte ich doch einige allgemeine Überlegungen zur
Psychosomatik in der Neurologie anstellen.
Dabei verstehe ich die neurologische Psychosomatik nicht als
Randbereich zur Differentialdiagnose und Psychotherapie einiger
„psychogener“ Krankheitsbilder wie etwa der Konversionsstörungen oder
1
der funktionellen Syndrome, sondern als Teil der Neurologie. Tatsächlich
liegen ja gerade bei den letztgenannten Krankheitsbildern gar nicht so
selten zusätzliche organische Krankheitsbefunde vor, um die herum sich
der „psychogene“ Anteil der Erkrankung organisiert - und werden
umgekehrt organische neurologische Erkrankungen oft so weit von
psychischen Belastungen überlagert, daß der limitierende Faktor in der
Behandlung
oftmals
nicht
in
den
somatischen
Behandlungs-
möglichkeiten, sondern in der Compliance und Krankheitsbewältigung
des Patienten liegt. Deswegen handelt mein heutiger Beitrag von
psychosomatischen Aspekten neurologischer Erkrankungen und nicht
von psychogenen Erkrankungen in der Neurologie. Und aus dem
gleichen
Grund
möchte
Forschungsergebnisse
ich
zur
Ihnen
heute
auch
vorwiegend
Krankheitsverarbeitung
bei
neuroimmunologischen Erkrankungen vorstellen und nicht so sehr
theoretische Überlegungen zur Psychodynamik und Psychotherapie.
Eine
Schwierigkeit
der
Integration
einer
psychosomatische
Betrachtungsweisen in die somatische Medizin liegt ja manchmal darin,
daß diese - wie ich meine oft zu unrecht - mit den somatischen Fächern
um die „richtige“ Ätiologie, das „umfassendere“ Krankheitsverständnis,
die „bessere“ Therapie u.s.w. konkurriert. Ich halte diese Abgrenzungen
für wenig fruchtbar und denke im Gegenteil, daß somatische Behandlung
und Psychotherapie ihre Möglichkeiten nur dann voll ausschöpfen
können, wenn sie sich gegenseitig ergänzen und eng miteinander
kooperieren.
Dann erschließt sich in der Tat ein breites Feld von Indikationen, bei
denen psychosomatische Interventionsmöglichkeiten die neurologische
Diagnostik und Therapie sinnvoll ergänzen und begleiten können (Abb.
1).
2
Abb . 1
Die Konversionssyndrome und die funktionellen Störungen in der
Neurologie habe ich bereits erwähnt. Diese umfassen bekanntlich ein
weites Spektrum, welches von der psychogenen Lähmung über
komplexe dissoziative Störungen, wie psychogene Anfälle, amnestische
Syndrome bis hin zum psychogenen Schwindel oder chronischen
Schmerzsyndromen,
reichen
kann.
Hier
kommt
es
darauf
an,
psychosomatische Überlegungen frühzeitig in die Diagnostik und
Therapie miteinzubeziehen; denn wir wissen, wie schnell diese
Krankheitsbilder chronifizieren und wie leicht es gerade hier auch
iatrogen
zu
einer
Verstärkung
Krankheitsvorstellungen
Untersuchung
an
53
kommen
Patienten
und
Fixierung
kann.
mit
In
einer
an
bestimmte
retrospektiven
psychosomatischen
und
psychoneurotischen Krankheitsbildern, die Reimer und Mitarbeiter 1979
publizierten, betrug die durchschnittliche Dauer vom Symptombeginn bis
zur ersten psychosomatischen Konsultation bei Frauen 7,5 Jahre.
Besonders ausgeprägt waren diagnostischer Delay undinadäquate
Vorbehandlung,
wenn
die
Patienten
somatoforme
Beschwerden
präsentierten. Wenn Sie bedenken, dass die meisten Patienten in
diesem Zeitraum kaum symptomfrei waren, immer wieder neuer
Diagnostik und erfolglosen Behandlungsversuchen unterzogen wurden,
so wird die sozioökonomische Bedeutung dieses Problems sofort
deutlich. Oft sind dann beim ersten psychosomatischen Kontakt die
Krankheitsvorstellungen und Lebensumstände (z.B. durch Berentung,
Tranquilizer- oder Schmerzmittelabusus) bereits so fixiert, dass es
außerordentlich schwierig ist, diese Patienten für ein psychosomatisches
Behandlungsangebot zu gewinnen. Oft fühlen sie sich durch eine
3
psychosomatische Sichtweise gekränkt, verletzt, mit ihren körperlichen
Symptomen nicht ernst genommenen, so dass ein großer Teil der
Bemühungen
zunächst
darauf
gerichtet
sein
muss,
eine
Vertrauensbeziehung herzustellen. Dies wird am ehesten gelingen,
wenn man auch den somatischen Beschwerdeanteil ernst nimmt und die
Ängste und subjektiven Erklärungsmodelle der Patienten zunächst
einmal als solche akzeptiert. Die Situation wird weiter kompliziert, wenn
Medikamentenabusus, Rückzugstendenzen, fixierende Lebensumstände
oder komorbide Persönlichkeitsstörungen hinzukommen. Dann haben
wir es mit dem Vollbild des „schwierigen Patienten“ zu tun, der die ArztPatientbeziehung häufig abbricht und immer wieder in einen Zyklus von
unrealistischer Hoffnung, Enttäuschung und kränkender Zurückweisung
gerät. In anderen Fällen stellt sich die Situation jedoch einfacher dar und
es gelingt relativ schnell, eine Schwindelsymptomatik mit einer
Selbstwertkrise, ein Schwächegefühl mit einer Depression oder eine
Schmerzsymptomatik mit einem unerträglichen inneren Spannungszustand in Verbindung zu bringen.
Immerhin stellen diese Patienten nicht nur für den Neurologen, sondern
auch für uns als Psychosomatiker eine Herausforderung dar, und lassen
sich Fortschritte oft nur dann erzielen, wenn es gelingt, gemeinsam eine
längerfristige
Behandlungsperspektive
zu
vermitteln.
In
einer
Untersuchung an 70 konsekutiven Patienten, die wir im Rahmen des
psychosomatischen Konsiliardienstes an der Würzburger Neurologischen Universitätsklinik sahen (Schubert 2001), konnten wir diesen
klinischen Eindruck bestätigen (Abb. 2):
Abb. 2
4
Etwa ein Drittel dieser Patienten erhielt jeweils die Diagnose einer
somatoformen
Störung
oder
einer
Anpassungsstörung
bei
neurologischer Grunderkrankung, wie z.B. einer Multiplen Sklerose oder
einer Myasthenie. Bei 21% wurde eine Konversions- bzw. dissoziative
Störung
diagnostiziert.
11%
erhielten
eine
andere
psychische
Erstdiagnose, wie z.B. eine dysthyme Störung. Vergleicht man nun die
drei drei Hauptdiagnosegruppen in Hinblick auf die Einschätzung der
Motivation, der globalen Prognose und der Qualität der therapeutischen
Arbeitsbeziehung durch psychotherapeutisch erfahrene Untersucher, so
ergeben
sich
signifikant
günstigere
Werte
für
Patienten
mit
Anpassunsgstörung bei neurologischer Grunderkrankung gegenüber bei
den somatoformen bzw. dissoziativen Störungen. Es sind also die
gleichen Patienten, die Neurologen und Psychosomatiker im klinischen
Umgang als „schwierig“ erleben.
Ich möchte mich nun im Folgenden vor allem der dritten Patientengruppe
zuwenden, jenen Patienten mit zugrunde liegender neurologischer
Erkrankung und zusätzlichen psychischen Problemen - nicht weil diese
Patienten „leichter“ zu behandeln sind, sondern weil ich glaube, dass es
sich hierbei um eine große, klinisch relevante Patientengruppe handelt,
welche von der Psychosomatik bislang eher vernachlässigt wurde.
Tatsächlich haben wir es hier aber mit einer Vielzahl von verschiedenen,
z.T. komplexen psychischen Krankheits-bildern zu tun, deren adäquate
Diagnose und psychotherapeutische Mitbehandlung eine Verbesserung
nicht nur der psychischen Situation, sondern auch der Lebensqualität
und des Umgangs mit der neurologischen Erkrankung verspricht.
Ein Beispiel hierfür wären etwa die posttraumatischen Belastungsstörungen nach vorausgegangener neurologischer Erkrankung: So
5
behandelte ich vor einiger Zeit gemeinsam mit den neurologischen
Kollegen eine 54jährige, sehr jugendlich wirkende Patientin, bei der aus
völliger Gesundheit heraus ein Kleinhirninsult, glücklicherweise ohne
wesentliche
neurologische
neurologischer
Behandlung
und
einer
Residuen,
kardiologischer
aufgetreten
Abklärung,
Hypercholesterinämie
und
war.
Nach
Marcumarisierung,
entsprechenden
Verlaufskontrollen entwickelte die Patientin rasch das Vollbild einer
posttraumatischen Belastungsstörung: Sie kam in ihrem Denken von
dem bedrohlichen Ereignis nicht mehr los, fürchtete dessen Wiederkehr,
vor der sie sich durch zwanghafte Selbstbeobachtung zu schützen
suchte. Jede Unregelmäßigkeit ihres Herzschlags, jeder kurze Schwindel löste Panik in ihr aus. Sie zog sich immer mehr in die häusliche
Umgebung zurück, konnte aus Angst vor einer Wiederholung des
Ereignisses nicht mehr einschlafen. Nachts traten Alpträume auf, in
denen sie vom Rettungswagen abgeholt werden mußte. Gleichzeitig
versuchte sie das Ausmaß ihrer Ängste vor ihrem Ehemann und den
Kindern herunterzuspielen, um diese nicht zu beunruhigen. Die
Vorstellung, in einer Situation, in der sie nicht gerettet werden könnte,
einen erneuten Schlaganfall zu erleiden, führte dazu, daß sie das Haus
nur noch zu einigen wenigen Besorgungen verließ, große Teile des
Stadtgebiets mied, nicht mehr Auto fuhr, eine Agoraphobie und
schließlich depressive Symptome entwickelte, so daß sie immer häufiger
Tranquilizer einnahm, sich von Freundinnen und Bekannten zurückzog,
was wiederum das Ausmaß ihrer ängstlichen Selbstbeobachtung
erhöhte. Im Verlauf einer Psychotherapie, die sich anfangs in
wöchentlicher Frequenz über den Zeitraum von einem Jahr hinzog,
gelang
es
der
Patientin,
ihre
Angstsymptome
schrittweise
zu
überwinden. Dabei spielte die Bearbeitung ihres Vermeidungsverhaltens,
von Konflikten, die innerhalb der Familie aufgetreten waren, aber auch
von biographischen Hintergründen, wie dem Schlaganfall ihrer Mutter,
6
die lange in einem tetraplegischen Zustand pflegebedürftig war, eine
wichtige Rolle. Am Ende ihrer Psychotherapie konnte die Patientin
wieder ein normales Leben führen, was, wie ich meine, auch damit
zusammenhing, daß die psychische Problematik neurologischerseits so
rasch identifiziert und in die Behandlungsplanung miteinbezogen worden
war.
Nicht immer jedoch stellt sich die Situation so erfreulich dar. In vielen
Fällen wird den psychischen Problemen in Zusammenhang mit
schweren körperlichen Erkrankungen nicht die nötige Beachtung
geschenkt, und auch die psychosomatische Forschung hat erst in den
letzten
Jahren
damit
begonnen,
den
posttraumatischen
Belastungsstörungen im Kontext schwerwiegender Erkrankungen oder
einschneidender
Behandlungsmaßnahmen
ihre
Aufmerksamkeit
zuzuwenden.
In anderen Fällen erfordert die Situation eine Beurteilung komplexer
Zusammenhänge, wenn etwa am Zustandekommen einer Depression
organische
Veränderungen,
maladaptive
Bewältigungsstrategien,
komorbide Persönlichkeitsmerkmale und psychosoziale Belastungen
beteiligt sind. Ein Beispiel wäre etwa die Depression nach Schlaganfall.
Ein weiteres Beispiel ist die Multiple Sklerose, bei der psychische
Belastungen von der Bewältigung der Diagnosemitteilung bis hin zur
Akzeptanz krankheitsbedingter Einschränkungen im Zusammenspiel mit
der Persönlichkeit des jeweiligen Patienten eine wichtige Rolle spielen.
Ich möchte dies kurz am Beispiel einer 49jährigen Multiple SklerosePatientin illustrieren, die die Praxis einer Allgemeinärztin aufsuchte:
Diese Patientin, von Beruf Chefsekretärin, fiel vor allem durch ihr
perfektes Auftreten und ihr makelloses Äußeres auf. Über Jahre hinweg
7
war sie nur gelegentlich in der Praxis aufgetaucht, um sich Rezepte für
Antazida abzuholen. Erst als sie wegen einer Fußverletzung vorstellig
wurde, fiel auf, dass sich die Patientin weigerte, sich zur körperlichen
Untersuchung auszuziehen. Die niedergelassene Kollegin, die aus
diesem Grund nicht einmal ein EKG ableiten konnte, fand in einer Reihe
von Gesprächen, zu denen die Patientin zunächst nur widerwillig und
höchst misstrauisch erschien, dass sie seit zehn Jahren an einer
Multiplen Sklerose litt. Gleichzeitig mit der Diagnose der Erkrankung
hatte sie zuhause alle Spiegel entfernt bzw. zugehängt, weil sie es nicht
mehr ertragen konnte, ihr eigenes Bild zu sehen. Alle Schübe - oder
vermeintlichen Schübe – des im großen und ganzen sehr benignen
Krankheitsverlaufs hatte sie selbst mit Kortikoiden behandelt, die sie sich
heimlich von einer asthmakranken Freundin besorgte. Nur wegen der
Nebenwirkungen hatte sie sich in der Praxis Antazida geholt.
Vor einem halben Jahr nun hatte diese Patientin einen Knoten in ihrer
linken Brust bemerkt. Widerum löste dieses Ereignis solch katastrophale
Angst in ihr aus, dass sie sich mit dieser Realität nicht auseinandersetzen konnte. Seither behielt sie denselben Büstenhalter tag und Nacht,
sogar beim Duschen und Baden, an. Hinterher trocknete sie ihn auf der
Haut mit einem Fön. Der Büstenhalter – wie auch das Verhängen der
Spiegel – diente hier als Container für eine katastrophale Realität, eine
Realität, die mit solcher Vernichtungsangst verbunden war, dass das
Abnehmen der Schutzschicht – ähnlich dem Bersten einer schützenden
Hülle – mit massiver Verfolgungs- und Fragmentierungsangst verbunden
war. Charakteristisch für die Borderline-Organisation dieser Patientin war
der Umstand, dass ein anderer Teil ihrer Persönlichkeit geradezu perfekt
an die Realität angepasst war. Durch die Untersuchung und die
Gespräche mit der Ärztin drohte diese Spaltung zusammenzubrechen.
Für uns alle überraschend gelang es ihr dann doch, eine Beziehung zu
8
dieser Kollegin aufzubauen. Nach einem halben Jahr regelmäßiger
Gespräche ließ sie sich schließlich untersuchen und befindet sich
mittlerweile mit einem neuen Schub ihrer Erkrankung in neurologischer
Behandlung. Der Knoten in der Brust hat sich aber als ein Produkt ihrer
Phantasie herausgestellt.
In diesem Fall war die Anerkennung der Realität von Krankheit und
Beeinträchtigung mit solch massiver Angst verbunden, dass sie nur
notdürftig verklebt oder omnipotent verleugnet werden konnte – und
somit auch lange Zeit keine adäquate medizinische Behandlung
zustande kam. Fehl- und Missrepräsentationen der Erkrankungssituation
scheinen nach unserer Erfahrung bei MS-Patienten gerade in der frühen
Erkrankungsphase
durchaus
eine
Rolle
zu
spielen.
Sie
haben
möglicherweise – wie im beschriebenen Fall – mit der Abwehr von
Bedrohungsgefühlen und depressiven Ängsten zu tun, von denen sich
manche Patienten überwältigt fühlen.
Andererseits können depressive Zustände bei Multiple SklerosePatienten auch direkt mit den immunologischen Veränderungen in
Verbindung stehen. So wurden die hohe Prävalenz depressiver
Syndrome (in neueren Untersuchungen 30-45%; Abb. 3) und die gegen-
Abb. 3
über vergleichbaren Altersgruppen um das Doppelte bis 7,5fache
erhöhten Suizidraten bei MS-Patienten (Sadovnick et al. 1991 [hier war
9
Suizid die dritthäufigtse Todesursache unter 3126 MS-Patienten: 18 v.
119 Sterbefällen mit bek. Todesursache = 15,1%; Stenager et al. 1992)
häufig direkt mit den entzündlichen ZNS-Veränderungen bzw. den
dadurch bedingten kognitiven Defiziten in Zusammenhang gebracht
(Dalos et al. 1983, Schiffer u. Babigian 1984; Schiffer 1987, Callanan et
al. 1989, Jennekens-Schinkel et al. 1990, 1990, Feinstein et al. 1993,
zus. Strenge 1994). Demgegenüber haben andere Autoren auf die
Bedeutung
reaktiver
Komponenten
und
die
Bedeutung
von
Krankheitsbewältigungsprozessen aufmerksam gemacht (Seidler 1985;
Görres et al. 1988) und auf die Bedrohung des Selbstbildes, der
psychosozialen Identität sowie Verlustängste hingewiesen. McIvor und
Mitarbeiter (1984) konnten an 120 Patienten mit spinaler klinischer
Manifestation zeigen, daß die Ausprägung einer Depression in hohem
Ausmaß von der psychosozialen Unterstützung durch Familienmitglieder
und Freunde abhängig ist. Und auch neuere Arbeiten (Muthny et al.
1992a) legen nahe, daß Lebensqualität und emotionales Befinden vor
allem
in
der
Frühphase
Krankheitsbewältigungsprozesse
einer
und
MS
psychosoziale
eng
an
Unterstützung
gebunden sind. Offenbar ist Depressivität im Verlauf einer Multiplen
Sklerose
sehr
differenziert
zu
bewerten,
wobei
prämorbide
Persönlichkeitsmerkmale, psychosoziale Belastungen, Bewältigungsstrategien,
krankheitsbedingte
Medikamentennebenwirkungen
jeweils
ZNS-Veränderungen
in
unterschiedlicher
und
Weise
miteinander interagieren (Abb. 4):
Abb. 4
10
In einer eigenen retrospektiven Untersuchung an 109 Patienten (Holler
1996) war negative emotionale Befindlichkeit sogar signifikant mit eher
kürzerer Krankheitsdauer (< 2 Jahre) und niedrigem EDSS-Score (> 3)
korreliert - auch dies ein Hinweis dafür, daß vor allem jüngere Patienten
in der Zeit nach Diagnosestellung durch die Ungewißheit über den
weiteren Krankheitsverlauf und die Verunsicherung ihrer psychosozialen
Identität besonders belastet sind.
In einer weiteren Untersuchung haben wir prospektiv den Verlauf von
Krankheitsverarbeitung, Depressivität und einigen immunologischen
Parametern in den ersten 12 Monaten nach Diagnosestellung bzw. nach
einem akuten Schub überprüft (Kahl et al. 2001). Dabei zeigte sich eine
deutliche
Abnahme
der
Depressivität
im
Verlauf
des
ersten
Behandlungsjahres (Abb. 5)
Abb. 5
Hierin spiegeln sich offenbar sowohl Behandlungseffekte wie auch die
Stabilisierung von Bewältigungsmustern nach der initialen Reaktion auf
die Diagnosemitteilung wider. Interessanterweise waren unter den
immunologicschen Parametern die Werte für TNF-α zu jedem einzelnen
Untersuchungszeitpunkt
signifikant
mit
den
BDI-Summenscores
korreliert (Abb. 6 u. 7.)
Abb. 6 u. 7
11
In einer weiteren Fragestellung beschäftigten wir uns mit den subjektiven
Überzeugungen der Patienten, was mögliche Ursachen ihrer Erkrankung
anbelangt (Weiß 1997). Wie wir heute wissen, können solche „subjektive
Theorien“ relativ unabhängig von den „objektiven“ Informationen über die
medizinischen Krankheitsursachen gebildet werden und oft auch parallel
zu diesen weiterbestehen (vgl. Riehl-Emde et al. 1989, Faller 1990,
1993, 1998, Muthny et al. 1992, Küchenhoff u. Mathes 1994). Für die
Krankheitsbewältigung
wie
auch
für
die
daraus
abgeleiteten
Verhaltensweisen, wie z.B. die Inanspruchnahme paramedizinischer
Behandlungsangebote, kommt ihnen eine wichtige Bedeutung zu.
In einer Untersuchung an 71 MS-Patienten fanden sich bei etwas mehr
als
der
Hälfte
solche
subjektive
Vorstellungen
zu
möglichen
Krankheitsursachen (Mehl et al. 1998; Mehl 2001; Abb. 8).
Abb. 8
Diese reichten von Veranlagung, Umweltfaktoren wie Amalgam bis hin
zu
persönlichem
Stress,
belastenden
Kindheitserlebnissen
und
Schuldvorstellungen. Vergleicht man nun die Patienten mit und ohne
Krankheitsursachenvorstellungen (Abb. 9), so finden sich bei den
ersteren
häufiger
die
Angabe
einer
belastenden
Situation
am
Krankheitsbeginn sowie höhere Depressionswerte.
Abb. 9
12
Noch deutlicher wird dieser Unterschied, wenn man die subjektiven
Ursachenvorstellungen nach extern-körperlichen und intern-psychischen
wie persönlicher Stress, Sorgen und Ängste, schlechte Kindheit etc.
gruppiert (Abb. 10)
Abb. 10
Letztere Untergruppe zeigt im Vergleich eindeutig die höchsten
Depressionswerte (Abb. 11)
Abb. 11
Man
ist
deshalb
zu
der
Vorstellung
gelangt,
daß
subjektive
Krankheitstheorien weniger als Indikatoren für eine psychosomatische
Krankheitsentstehung als vielmehr als Hinweise auf eine depressive
Krankheitsverarbeitung zu verstehen sind. Sie stellen gewissermaßen
eine Art von „Hadern“ mit dem Schicksal dar (Faller 1993, 1998, S. 50 ff.)
- ein Befund, der bei verschiedenen anderen Krankheitsbilder ähnlich
darstellt.
Wir haben die gleiche Frage bei Patienten nach Erstdiagnose einer
Myasthenia gravis untersucht (Knieling et al. 1995). Auch hier sah ein
gutes Drittel (35%) von 46 Myastheniepatienten in einem relativ kurzen
13
Zeitraum
(<
1
Jahr)
nach
Diagnosestellung
subjektiv
einen
Zusammenhang zwischen psychosozialen Belastungsfaktoren und dem
Erkrankungsbeginn. Diese Patientengruppe blieb über die weiteren
Untersuchungszeitpunkte nach 6 bzw. 18 Monaten stabil. Im Vergleich
zu jenen 65%, die kein subjektives psychosoziales Erklärungsmodell
bildeten,
erschienen
diese
Patienten
testpsychologisch
anfangs
depressiver, erregbarer, in ihrem Köreprerleben stärker verunsichert und
auch weniger sozial orientiert. Krankheitsdependente Variablen wie
Schweregrad,
hingegen
Myasthenietyp
keinen
Einfluß
oder
auf
Medikamentendosierung
die
Bildung
einer
hatten
subjektiven
Krankheitstheorie. Im weiteren Verlauf bildeten sich die Unterschiede
zwischen den Vergleichsgrppen jedoch zurück und nach 1 1/2 Jahren
erschienen Patienten mit psychosozialem Erklärungsmodell sowohl in
der Selbsteinschätzung der Krankheitsbewältigung wie auch in der
Fremdbeurteilung durch psychotherapeutisch erfahrene Untersucher
tendenziell sogar etwas weniger depressiv (Abb. 12 u. 13)
Abb. 12 u. 13
Möglicherweise
Erklärungsmodells
läßt
also
sich
die
zunächst
Bildung
als
eines
Ausdruck
psychoszialen
einer
stärkeren
psychischen Vulnerabilität verstehen. Im weiteren Verlauf könnte die
subjektive
Theorie
aber
durchaus
dazu
beitragen,
die
Krankheitserfahrung sinnvoll in den Lebenskontext zu integrieren und
damit auch weitere Bewältigungsschritte zu ermöglichen.
14
Andererseits sind es gerade jene Patienten mit leichten, generalisierten
myasthenen
Symptomen
und
depressiven
Zügen,
die
ihre
Krankheitserscheinungen mit psychischen Belastungen in Zusammenhang bringen, welche häufig Anlaß zu diagnostischen Fehleinschätzungen geben. Wurde bei den von uns untersuchten Patienten
primär eine psychische Störung vermutet, so betrug der Zeitraum bis zur
richtigen Diagnosestellung 46 satt 11 Monate (Schalke et al. 1993; Abb.
14)
Abb. 14
Hier handelt es sich um das gleiche Phänomen, wie ich es eingangs bei
den funktionellen Syndromen beschrieben habe, allerdings mit dem
Unterschied, daß in diesem Fall eine psychische Diagnose (bis hin zu
kontraindizierten Behandlungversuchen mit Benzodiazepinen u.s.w.) die
Diagnose der somatischen Erkrankung erschwert.
Wie wichtig andererseits gerade die Mitbehandlung der psychischen
Belastungen für die Vermeidung krisenhafter Verschlechterungen und
die
Optimierung
der
Interventionsmöglichkeiten
medikamentösen
ist,
wird
durch
und
die
chirurgischen
Einschätzung
der
behandelnden Neurologen selbst nahegelegt. Wir führten hierzu eine
Fragebogenuntersuchung an 200 Myastheniepatienten durch (Möhler
1998, Abb. 15).
Ab. 15
15
Die behandelnden Neurologen diagnostizierten in der Hälfte der Fälle
emotionale Unausgeglichenheit, bei 43 % klinische Depressivität. Bei
28% vermuteten sie eine psychogene Überlagerung der myasthenen
Symptome, bei 20% bzw. 29% Aggravations- oder Dissimulationstendenzen
sowie
bei
24%
Über-
oder
Unterdosierung
der
Cholinesterasehemmer. Krankheitsadaptation und Compliance waren
eng mit den Merkmalen emotionale Stabilität und Abwesenheit
depressiver Symptome korreliert (Abb. 16-20).
Abb. 16-20
Darüber hinaus fanden sich Zusammenhänge zwischen der Qualität der
Arzt-Patienten-Beziehung, emotionaler Stabilität (Ärzteeinschätzung)
sowie Lebenszufriedenheit in der Selbsteinschätzung der Patienten (FPISkala). Unter den krankheitsdependenten Variablen war Depressivität
vor
allem
mit
Generalisierung
und
aktueller
Krankheitsschwere
(Myasthenie-Score n. Besinger u. Toyka) korreliert. Hinsichtlich der
Compliance und compliance-bezogener Bewältigungs-strategien zeigte
sich eine relativ gute Übereinstimmung zwischen der Ärztebeurteilung
und der Selbsteinschätzung der Patienten (Sixt 1997). Alle diese
Befunde geben einen Hinweis darauf, wie eng körperliche Erkrankung,
psychisches
Befinden,
Krankheitsbewältigung
und
Arzt-Patient-
Beziehung miteinander verbunden sind.
Ich möchte dies abschließend noch an einem Krankheitsbild der
neurologischen Intensivmedizin aufzeigen, welches häufig mit einer
psychischen Extrembelastung einhergeht - dem akuten Guillain-Barré16
Syndrom. Wir haben hierzu seit 1990 systematisch Untersuchungen an
intensivbehandelten Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom durchgeführt.
Wie Ihnen bekannt ist, geht diese durch zelluläre und humorale
Mechanismen
vermittelte
Autoimmunerkrankung
des
peripheren
Nervensystems häufig mit aufsteigenden Lähmungen, Sensibilitätsstörungen sowie unter Umständen lebensbedrohlichen Störungen des
vegetativen Nervensystems einher. Sind die Lähmungen sehr ausgeprägt, ergibt sich die Notwendigkeit zu maschineller Beatmung und
liegen gleichzeitig multiple Hirnnervenausfälle vor, so befindet sich der
Patient bis zur allmählichen Rückbildung der neurologischen Ausfälle oft
wochenlang in einem Zustand extremer Deprivation. Funktionell liegt ein
peripheres Locked-in-Syndrom mit weitgehender Einschränkung aller
Bewegungs- und Verständigungsmöglichkeiten vor. Ausgehend von
Beobachtungen, daß es in diesem Zustand der Hilflosigkeit und des
Ausgeschlossenseins von aktiver Kommunikation oft zu schweren
psychischen Veränderungen kommt (vgl. zus. bei Lauter 1997),
kontaktierten wir diese Patienten während des gesamten stationären
Behandlungsverlaufs im Abstand von wenigen Tagen, wobei wir
versuchten, unter Ausnutzung minimaler motorischer Restfunktionen und
durch Einsatz entsprechender Kommunikationstechniken etwas über das
Krankheitserleben
und
die
Krankheitsverarbeitung
in
dieser
Extremsituation zu erfahren (Abb. 21).
Abb. 21
17
Parallel wurden auch die behandelnden Ärzte, das Pflegepersonal und
die Angehörigen der Patienten kontinuierlich befragt, um deren
Einschätzung der psychischen Situation des Patienten kennenzulernen.
Dabei zeigte sich, daß fast alle Patienten, die an ausgeprägteren
Lähmungen litten, zunächst über eine Zunahme von Träumen
berichteten, die in ihrer Intensität oft als unheimlich-wirklich beschrieben
wurden und in einigen Fällen von der Realität kaum zu unterscheiden
waren. Oft war diese Krankheitsphase mit massiven Ängsten verbunden,
die von Angst, keine Luft zu bekommen, Ungewißheit über den weiteren
Verlauf, verzweifelter Angst, sich nicht mitteilen zu können, bis hin zu
wahnhaften Verarbeitungsformen reichten (Abb. 22).
Abb. 22
84% erlebten während des stationären Aufenthaltes ausgeprägte
Ängste, 71% zeigten depressive Symptome, und fast jeder fünfte Patient
hatte vorübergehend jede Hoffnung auf Besserung verloren. Während
der maximalen Ausprägung der neurologischen Symptome fanden wir
bei 23,1% der 52 Patienten produktiv-psychotische Symptome wie
Halluzinationen und Wahnbildungen, darunter in sieben Fällen (13,5%)
oneiroide Psychosen i.S. länger andauernder traumartiger, szenisch
gestalteter Psychosen.
Wie die nachfolgende Abbildung (Abb. 23) zeigt, war das Auftreten
psychotischer Symptome eng mit dem Schweregrad der neurologischen
Ausfallserscheinungen, insbesondere dem Vorliegen einer schweren
18
Tetraparese (KG < 2), multiplen Hirnnervenfunktionsausfällen und
maschineller Beatmung assoziiert, so daß wir sie am ehesten als
Ausdruck des Deprivationseffektes verstehen. Dabei erwies sich die
Kombination von Tetraparese und maschineller Beatmung als bester
Prädiktor. Lagen zusätzlich multiple Hirnnervenfunktionsausfälle vor, so
lag die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten psychotischer Symptome bei
fast 85%.
Abb. 23
Daneben zeigte auch die Höhe der Liquoreiweißkonzentration einen
signifikanten
Zusammenhang
mit
dem
Auftreten
psychotischer
Symptome (Abb. 24):
Abb. 24
Bei allen Patienten mit einer maximalen Liquorproteinkonzentration von
mehr als 400mg/dl traten psychotische Symptome auf, was für die
mögliche
zusätzliche
Bedeutung
einer
Schrankenstörung
bzw.
proinflammatorischer Cytokine spricht. Kontrollierte man allerdings den
klinischen Schweregrad in der multivarianten Statistik, so erwies sich
dieser Zusammenhang nur noch als tendenziell signifikant.
Kraniale Computer- und Kernspintomographien, die bei 24 von 52
Patienten - darunter sieben psychotische Patienten - durchgeführt
19
wurde,
zeigten
dagegen
keinerlei
Hinweise
auf
das
Vorliegen
struktureller entzündlicher ZNS-Läsionen.
Ich möchte nun abschließend noch etwas ausführlicher auf die
Krankheitsbewältigung
und
das
Traumerleben
dieser
Patienten
eingehen. Wie bereits erwähnt, befanden sich die am schwersten
betroffenen Patienten ja in einem Zustand, in dem sie sich weder
bewegen noch aktiv kommunizieren konnten. In dieser extremen
Deprivation kann das Träumen als ein konstruktiver Versuch verstanden
werden, mit dem Verlust der Kommunikations- und Bewegungsmöglichkeiten fertigzuwerden und die damit verbundenen emotionalen
Erfahrungen
zu
symbolisieren.
Betrachten
wir
die
Träume
inhaltsanalytisch (Abb. 25), so finden wir in der Tat in der Phase
zunehmender und maximaler neurologischer Symptomausprägung ein
Überwiegen
von
Flucht-
und
Katastrophenszenarien,
während
kompensatorische Traumbilder - wie z.B. Traumszenen, in denen der
Patient wieder gehen kann oder bei seinen Angehörigen zuhause ist vermehrt erst in der Rückbildungsphase auftreten.
Abb. 25
Das
intensive
Träumen
läßt
sich
somit
als
ein
Versuch
der
Repräsentation der Krankheitssituation und damit auch einer Ersetzung
der fehlenden äußeren Kommunikation durch ein In-Beziehung-Treten
mit Bildern der inneren Welt verstehen. Dadurch wird es dem Patienten
möglich, die Erfahrung von Ohnmacht und Beziehungslosigkeit bis zu
einem gewissen Grad zu bearbeiten. Gelingt es jedoch nicht, die
alptraumhafte Situation auf solche Weise in Traumbilder zu trans20
formieren, so entwickeln sich möglicherweise jene Derealisationszustände, Wahnideen und produktiv-psychotischen Phänomene, wie wir
sie bei einem Teil der Patienten beobachten konnten.
Eine besonders interessante Situation stellt dabei die Ausbildung eines
Oneiroids dar, wie wir es vor allem bei den am schwersten betroffenen
Patienten feststellen konnten. Diese Patienten gerieten entweder über
ein mit Panik verbundenes psychotisches Zwischenstadium oder direkt
über vermehrtes Träumen in einen Zustand hinein, in dem sie trotz
fehelender medikamentöser Sedierung wie „weggetreten“ erschienen
und für uns praktisch nicht mehr erreichbar waren. Oneiroide Psychosen
wurden
bei
Guillain-Barré-Patienten
wiederholt
beschrieben
(vgl.
Schmidt-Degenhard 1992). Sie lassen sich wie ein langer Traum
während des Wachzustandes verstehen, den der Patient mit absoluter
sinnlicher Gewißheit erlebt. Im Gegensatz zu einzelnen Halluzinationen
sind die oneiroiden Erfahrungen szenisch strukturiert, und anders als im
Wahn wird halluzinativ eine neue Wirklichkeit kreiert und nicht nur die
vorhandene Realität falsch interpretiert. Nach unserer Auffassung
kristallisiert sich das oneiroide Erleben aus Erfahrungen im Grenzbereich
von Wachen, Halluzinieren und Träumen (vgl. Meltzer 1983) beschrieb.
In
der
imaginären
Welt
des
Oneiroids
erlebten
die
Patienten
Erfahrungen, die teilweise mit Erleichterung, teilweise aber auch mit
Angst und Bedrohung verbunden waren: Die genauere Betrachtung der
oneiroiden Psychose zeigt allerdings, daß auch hier der Kontakt mit der
Wirklichkeit nie ganz aufgehoben war:
So erlebte sich ein 23jähriger Patient, während er panplegisch und
maschinell beatmet auf der Intensivstation lag, als Mitarbeiter auf einem
großen Landgut, dessen Besitzer der Chefarzt war. Er fuhr mit dem Auto
durch die Stadt, wurde aber immer wieder von Frauen - den Kranken21
schwestern - angehalten, die ihn auszogen und wuschen. In einem
anderen Bild spazierte er durch eine morgendliche Parklandschaft,
stolperte dabei über einen herumliegenden Ast und entdeckte entsetzt,
daß er den Schlauch der Beatmungsmaschine abgerissen hatte...
Ein anderer Patient projizierte im Zustand der oneiroiden Psychose
Panik und Bedrohung in seine Besucher, während er sich selbst durch
die Maschinen, an die er angeschlossen war, in absoluter Sicherheit
wähnte. In seinem oneiroiden Erleben mußten die Besucher durch einen
engen Schlauch kriechen, um auf die Intensivstation zu gelangen, und
drohten dabei zu ersticken. Die Plasmapheresebehandlung erlebte er
so, daß er seinem Bruder Blut spendete und ihm damit das Leben rettete
...
Versucht man das Oneiroid unter der Perspektive der Modellbildung zu
verstehen, so könnte man sagen, daß die oneiroide Welt einen Ort
relativer Sicherheit bietet, an den sich der Patient zurückziehen und an
dem er psychisch überleben kann. Ganz offenkundig haben wir es beim
Oneiroid mit einem psychotischen Zustand zu tun - jedoch mit einem
Zustand, der den Patienten bis zu einem gewissen Grad vor weiterer
Desintegration und Fragmentierung schützt. Es handelt sich hier um ein
ähnliches Phänomen, wie wir es von gewissen akuten psychotischen
Zuständen kennen, bei denen es zu einer vorüber-gehenden Entlastung
von unerträglicher Angst kommen kann, sobald sich aus dem Chaos
psychotischen Erlebens ein Wahn konturiert. Andererseits bleibt dem
Patienten aber auch der Kontakt mit depressiven Gefühlen der
Ohnmacht, der Abhängigkeit und Ausweglosigkeit erspart.
In seinem Buch Psychic Retreats hat der britische Psychoanalytiker J.
Steiner (1993) solche hochorganisierte seelische Rückzugszustände
22
beschrieben. Ein Aspekt dieser komplexen Rückzugs-Organisation
besteht darin, daß sie es unterschiedlichen Versionen der Wirklichkeit
erlaubt, scheinbar widerspruchslos zu koexistieren. Ein anderer Aspekt
ist darin zu sehen, daß ein „Psychic Retreat“ sowohl vor psychotischer
Fragmentierung wie auch vor dem Überwältigtwerden durch depressive
Gefühle bis zu einem gewissen Grad Schutz gewährt (Abb. 26).
Abb. 26
Natürlich sind solche Zustände nur selten stabil und ständig vom
Zusammenbruch in die eine oder andere Richtung bedroht. Wir haben
bei unseren oneiroiden Patienten beide Phänomene beobachtet: Meist
war das Ende des Oneiroids mit intensiver Verzweiflung und depressiven
Gefühlen verbunden. Manchmal existierte das Oneiroid aber auch noch
eine Zeit lang neben der Realität her oder kehrte als Residualwahn
vorübergehend zurück, was meist mit intensiver Verfolgungsangst
verbunden war. Gerade in dieser Phase des Übergangs erwies sich ein
enger Kontakt mit dem Patienten als besonders wichtig, um seine Angst
und Verzweiflung durchzuarbeiten und ihm zu ermöglichen, mit
verschiedenen Aspekten der Realität und seiner Umgebung in
Beziehung zu treten.
Welche Rolle spielt in dieser Situation der Kontakt mit der Umgebung der
Intensivstation? Ist der Patient überhaupt noch in der Lage, mit anderen
in Beziehung zu treten und deren Zuwendung zu registrieren?
Erstaunlicherweise
besonderer
Weise
scheinen
auf
den
Guillain-Barré-Patienten
emotionalen
Kontakt
sogar
mit
in
nahen
Bezugspersonen angewiesen zu sein. Fragt man die Patienten nämlich,
23
was ihnen bei der Bewältigung ihrer Extremsituation am meisten
geholfen hat (Abb. 27), so stehen regelmäßige Besuche durch ihre
Angehörigen sowie ein Gefühl der Sicherheit, das ihnen die Umgebung
der Intensivstation vermittelt, an erster Stelle.
Abb. 27
Wie aber stellt sich umgekehrt die psychische Situation des Patienten
aus der Sicht der am Behandlungsprozeß Beteiligten dar? Wir sind
dieser Fragestellung im Sinne eines Mehrebenenansatzes anhand eines
Fragebogens nachgegangen, mit dessen Hilfe Ärzte, Angehörige und
Pflegepersonal kontinuierlich über den gesamten Behandlungszeitraum
hinweg den psychischen Zustand der Patienten einschätzten (vgl. Kohler
1999). Aus den 14 parallelisierten Items dieses Fragebogens wurden
zwei Faktoren „Hoffnung“ und „Anspannung“ gebildet und sowohl für das
Stadium der Zunahme und maximalen Symptomausprägung wie auch
während der Rückbildungsphase für die drei Beobachterebenen getrennt
berechnet (Abb. 28 u. 29).
Abb. 28, 29
Dabei zeigte sich, daß die Angehörigen ihren schwer erkrankten
Familienmitgliedern im Vergleich zum Pflegepersonal und zu den
behandelnden Ärzten durchweg mehr Hoffnung zuschrieben. Dieser
Unterschied war varianzanalytisch - unabhängig vom klinischen
Schweregrad - in beiden Krankheitsphasen signifikant, während sich in
24
Hinblick auf die Skala „Anspannung“ keine Unterschiede zwischen den
drei
Beurteilerebenen
ergaben.
Interessanterweise
nahmen
die
Angehörigen die Patienten während der Rückbildungsphase auch als
weniger ängstlich, interessierter an der Umgebung und weniger
belastend im Umgang wahr (Abb. 30).
Abb. 30
Wenn wir diese Befunde in Zusammenhang mit dem Umstand sehen,
daß die Patienten selbst oft völlig hoffnungslos waren, aber gerade im
Kontakt mit den Angehörigen die wichtigste Unterstützung sahen, so
könnte man vermuten, daß diese Unterstützung auch darauf beruht, daß
die Angehörigen im Vergleich zu Pflegepersonal und behandelnden
Ärzten in ihre schwer erkrankten Familienmitglieder mehr eigene
Hoffnung projizieren. Dies macht sie möglicherweise zu „Hoffnungsträgern“ in einem Zustand, in dem der Patient selbst kaum noch
kommunizieren kann und, wie wir wissen, zeitweilig jede Hoffnung
verliert. Für die psychische Unterstützung des schwer erkrankten
Guillain-Barré-Patienten kommt deshalb - neben psychopharmakologischen Maßnahmen - v.a. dem Aufrechterhalten der Kommunikation eine
besondere Bedeutung zu. Hierbei kann der enge Kontakt mit Angehörigen, die für den Patienten einen Teil seiner vertrauten Lebenswelt
repräsentieren, eine wichtige Hilfe sein. So sehr die Hoffnung, die
Angehörige dem Patienten vermitteln können, für diesen von entscheidender Bedeutung ist, so sehr muß man allerdings auch sehen, daß
deren Einschätzung zum Teil auf Projektion beruht und insofern
unrealistisch
ist.
Auch
für
die
Angehörigen
stellt
nämlich
die
Erkrankungssituation eine erhebliche psychische Belastung dar, so daß
25
sie vor Überforderung geschützt werden müssen und oft selbst
psychosozialer Unterstützung bedürfen.
Ich möchte damit meine Ausführungen abschließen. Sie konnten nur
einen
kleinen
Teil
des
Themas
„Psychosomatische
Aspekte
neurologischer Erkrankungen“. Sicher sind dabei vor allem die
klassischen psychosomatischen Krankheitsbilder in der Neurologie dabei
zu kurz gekommen. Ich wollte aber zum Ausdruck bringen, daß
Psychosomatik in der Neurologie mehr umfaßt als Differentialdiagnose
und Psychotherapie einiger spezieller Krankheitsbilder, sondern überall
dort sinnvoll zum Tragen kommt, wo Krankheitsbewältigungs-prozesse
mit über Therapie, Verlauf und Lebensqualität entscheiden.
26
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Prof. Dr. med. H. Weiß
Abteilung für Psychosomatische Medizin
Robert-Bosch-Krankenhaus
Auerbachstr. 110
70376 Stuttgart
29
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