Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 05.02.11 3/2007 (2000) (empfohlene Zitierweise: Detlef Zöllner zu Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 3/2007 (2000), 05.02.2011, in: http://erkenntnisethik.blogspot.de/) (Einführung: Was ist das „kulturelle Gedächtnis“?, S.11-44; Unsichtbare Religion und kulturelles Gedächtnis, S.45-61; Monotheismus, Gedächtnis und Trauma. Reflexionen zu Freuds Moses-Buch, S.62-80; FünfStufen auf dem Wege zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum; S.81-100; Erinnern, um dazuzugehören. Schrift, Gedächtnis und Identität, S.101-123; Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, S.124-147; Text und Ritus. Die Bedeutung der Medien für die Religionsgeschichte, S.148-166; Officium memoriae: Ritus als Medium des Denkens, S.167-184; Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, S.185-207; Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes, S.210-222) 1. Oberfläche und Tiefe 2. Haltung und „vertikale Verankerung“ 3. Lebenswelt und Gedächtnis Nachdem wir zwischen Bewußtsein und Gedächtnis differenziert haben (siehe meinen Post „Oberfläche und Tiefe vom 04.02.11), müssen wir jetzt noch auf die Differenz von Lebenswelt und Gedächtnis eingehen. Das fällt insofern leicht, als ich schon einmal die Lebenswelt als ein Bewußtseinsphänomen (siehe meinen Post vom 23.01.11) beschrieben hatte und zwischen Lebenswelt und Gedächtnis insofern dieselbe Differenz besteht wie zwischen Bewußtsein und Gedächtnis. Diese Differenz können wir hier noch einmal dahingehend pointieren, daß die Lebenswelt, anders als das kulturelle Gedächtnis, keinen Außenhorizont hat (den Außenhorizont des kulturellen Gedächtnisses bildet die Schrift (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.106f.)). Aus diesem Merkmal ergeben sich nun mehrere Konsequenzen. Zunächst wäre festzuhalten, daß die Lebenswelt nicht tradiert bzw. überliefert wird, jedenfalls nicht im Sinne einer bewußten Traditionspflege, wie sie zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis gehört. Denn Lebenswelt findet auch dort statt und wird auch dort ‚überliefert‘, wo nicht rezipiert wird. Die Lebenswelt bildet also keinen ‚Text‘ im Sinne Assmanns, demzufolge wie auch immer gespeicherte Symbol- und Zei- chensysteme nur durch Rezeption zu Texten werden. Außerdem beinhaltet zwar die Lebenswelt notwendigerweise, daß sie nur unbewußt, also hinter unserem Rücken ‚funktioniert‘, aber diese Unbewußtheit hat keine zeitliche ‚Tiefe‘, wie das kulturelle Gedächtnis: „Das kulturelle Gedächtnis umfaßt ... das Uralte, Abgelegene, Ausgelagerte“ (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.41). – Damit ist also das Unbewußte des kulturellen Gedächtnisses um einige Ebenen tiefer anzusetzen als die Lebenswelt. Die Lebenswelt befindet sich also außerhalb der Zeit. Sie ist ähnlich dem Mythos (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.192) eine zeitlose Dimension, aber anders als der Mythos beinhaltet ihre Zeitlosigkeit eben keine Tiefe. Es ist einfach der Unterschied, ob etwas niedergeschrieben und dann vergessen wurde, um so eine Dimension des kulturellen Unbewußten zu formen, oder ob lebensweltliche Mechanismen hinter unserem Rücken unser Denken beeinflussen. Wenn die Lebenswelt mit einer Gedächtnisfunktion in Verbindung gebracht werden kann, dann vor allem mit dem kommunikativen Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis ist mit dem individuellen Bewußtsein identisch, insofern seine Mechanismen unsere Wahrnehmung und unser Erleben strukturieren. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.13f., 108ff., S.116f.) Wir sehen und wir erleben – mehr oder weniger – das, was wir in bestimmte vorgeprägte Muster einfügen können. (vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.189u.ö. (hier gehört natürlich ein Verweis auf meinen Post vom 23.01.11 hin)) Das hier von mir dazwischen geschobene „mehr oder weniger“ bildet dabei den Spielraum der individuellen Urteilskraft. Exakt so wie Assmann das kommunikative Gedächtnis beschreibt, funktioniert auch die Lebenswelt. Aus dieser Funktionsweise des kommunikativen Gedächtnisses bzw. der Lebenswelt ergibt sich, daß es bzw. sie ‚unsichtbar‘ ist, was nur ein anderes Wort für ‚unbewußt‘ ist, uns aber weitere Aufschlüsse über die Funktionsweise gibt. So verweist Assmann z.B. auf Ethnologen, die, um den ältesten Menschheitskulturen auf die Spur zu kommen, sich vor allem bei Völkern umschauen, die noch in mündlichen Kulturen leben, und das nicht etwa in erster Linie, weil mündliche Kulturen per se älter sind als Schriftkulturen, sondern weil sich „im Schutz der Unsichtbarkeit des Gedächtnisses archaische Kulturbestände erhalten haben könnten.“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.103) Der Grund dafür liegt darin, daß diese Völker ihren Kulturbesitz noch nicht in sichtbarer Gestalt vor Augen haben. Ihr Kulturbesitz ist noch identisch mit ihrer Lebenswelt. Das Vergessen ist für sie deshalb noch kein Problem, zumindestens aus ihrer Innenperspektive heraus, – denn wenn sie etwas ‚vergessen‘, so wissen sie nichts davon, und es ist so endgültig weg, daß es nicht wiederentdeckt werden kann. Auch im Laufe der Zeit auftretende Variationen des Kulturbestandes werden aufgrund der fehlenden Sichtbarkeit nicht bemerkt. Wenn eine Variation auftritt, so ist sie schon im Moment ihres Auftretens schon immer dagewesen. Erst mit der Sichtbarkeit des Kulturbestandes können Veränderungen bemerkt und sogar als Innovation angestrebt werden: „Erst durch die Schriftform gewinnt die Überlieferung eine Gestalt, gegenüber derer sich ihre Träger kritisch und innovativ verhalten können.“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.142) Da also mündliche Kulturen Variation nicht aktiv wollen und experimentell umsetzen können, weil die Kultur als Lebenswelt praktiziert wird, und nicht als bewußte Tradition, sind mündliche Kulturen insgesamt viel langlebiger als Schriftkulturen, und ihre Epochenwechsel liegen viel weiter auseinander: „Die Perioden der Ur- und Frühgeschichte zählen nach Jahrtausenden und -zehntausenden.“ (Kulturelles Gedächtnis 2000, S.102) – Genau dieser langsame Wechsel der Epochen ist es, was mündliche Kulturen für Ethnologen so interessant macht. Erst die Schriftkultur bringt also eine neue Sichtbarkeit in die Welt des Menschen und eröffnet ihm eine neue Perspektive außerhalb seiner Lebenswelt, einen neuen Außenhorizont. Um dem nun auftretenden Innovationsdruck entgegenzutreten, wird innerhalb des Kulturbestandes noch einmal ein bestimmter kultureller Textbestand ‚geheiligt‘, sprich kanonisiert. So „wird Kultur zu einer Insel im Ozean des Vergessens, die Kontinuität über Jahrhunderte, ja Jahrtausende ermöglicht.“ (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.105; vgl. auch S.133f., 142, 145f.) Die Heiligung bzw. Kanonisierung eines bestimmten kulturellen Textbestandes wirkt also ähnlich stabilisierend wie die lebensweltliche Unsichtbarkeit mündlicher Kulturen. Die unsichtbare Lebenswelt funktioniert letztlich wie eine „unsichtbare Religion“, und diese ist aufgrund ihrer Unsichtbarkeit „säkularisierungsresistent“. (Vgl. Kulturelles Gedächtnis 2000, S.115) Umso wichtiger ist es, ihr so viel wie möglich auf die Spur zu kommen, denn sie ist es, die uns am Gebrauch des eigenen Verstandes hindert. Zugleich aber bildet sie geradezu eine Voraussetzung unseres Verstandes, weshalb ich immer von einem Wechselverhältnis von Naivität und Kritik spreche. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der mit der Unsichtbarkeit der Lebenswelt verbunden ist. Wir kennen inzwischen Plessners „Noli me tangere“, mit dem er das Bedürfnis der Seele nach Unsichtbarkeit beschreibt. In dem Moment, wo die Seele durch einen Mißbrauch von Intimität oder durch ein Versagen gesellschaftlicher Umgangsformen sichtbar wird, wird sie traumatisiert. Die Lebenswelt ist so etwas wie die Seele einer Gemeinschaft. Auch sie wird durch Sichtbarkeit ‚beschädigt‘, allerdings nur, um sich aufs neue zu verbergen und in eine neue Form lebensweltlicher Unsichtbarkeit zurückzuziehen. Nicht umsonst liest man immer wieder Berichte über die Weigerung von ‚Naturvölkern‘, sich photographieren zu lassen. Die damit verbundene Angst, es könnte einem die Seele geraubt werden, ist weniger abergläubisch als man als aufgeklärter ‚Europäer‘ denkt. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bilden also eine Grenze der Lebenswelt. Die Lebenswelt ist prinzipiell unsichtbar, weil sie nur hinter unserem Rücken, also außerhalb unseres Blickfeldes funktioniert. Deshalb kann sie auch nie eine Gestalt annehmen, z.B. als kulturelles Gedächtnis und schon gar nicht als kultureller Text. Die Lebenswelt bildet kein ‚formatives‘ Wissen; sie tritt überhaupt nicht als Wissen auf, also auch nicht als normatives Wissen. Ethnologen und Altertumswissenschaftler haben bei der Erforschung archaischer Lebensformen einfach den Vorteil, den jeweiligen Lebenswelten von außen gegenüberzutreten und dort ‚Gestalten‘ zu erkennen, wo die ‚indigenen‘ Bevölkerungen nur ihre Innenperspektive zur Verfügung haben. Auch dies ist ein weiterer Grund, warum ein Altertumswissenschaftlicher wie Jan Assmann wohl niemals Nihilist sein kann. Er muß sich einfach dem Faktum stellen, daß, wo und wann immer Menschen gelebt haben, ihr ganzes Leben lang und über Generationen hinweg Sinn hervorgebracht und akkumuliert wurde. Der Nihilismus von Günther Anders war genährt von der Vernichtungsgewalt der Atombombe. Inzwischen sind aber viele neue Generationen herangewachsen und es sind mehr als 60 Jahre seit Hiroshima und Nagasaki ins Land gegangen. Die Menschen haben gelebt und gehandelt, sicher so – da wäre Anders rechtzugeben –, als wären sie Nihilisten und als gäbe es keine Zukunft, jedenfalls keine, für die man sich verantwortlich fühlt. Aber unvermeidlich wurde auch sinnhaft gelebt, und diesen Sinn zu leugnen, wäre nur eine weitere Form der Menschenfeindlichkeit und Inhumanität. Und Anders selbst wäre der letzte, der sich eine so menschenfeindliche Haltung durchgehen ließe.