Mouhanad Khorchide, Milad Karimi, Klaus von Stosch (Hrsg.) Theologie der Barmherzigkeit? Zeitgemäße Fragen und Antworten des Kalām Waxmann 2014 Münster • New York Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Schriftenreihe Graduiertenkolleg Islamische Theologie, Band 1 ISSN 2198-5537 Print-ISBN 978-3-8309-2981-9 E-Book-ISBN 978-3-8309-7981-4 © Waxmann Verlag GmbH, 2014 Postfach 8603, 48046 Münster www.waxmann.com [email protected] Umschlaggestaltung: Gregor Pleßmann, Ascheberg Satz: Sven Solterbeck Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung: Theologie der Barmherzigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Teil I Eine Theologie der Barmherzigkeit? Anstöße zu einer Theologie der Barmherzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Mouhanad Khorchide Barmherzigkeit als Leitkategorie für Islamische Theologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Klaus von Stosch „Wā Allāhu a‘lam – Und Gott weiß es besser.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Ufuk Topkara Teil II Offenbarung und Barmherzigkeit Understanding God’s Mercy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Mohammad Ali Shomali Offenbarung als Barmherzigkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Serdar Kurnaz Teil III Attributenlehre und Gottes Barmherzigkeit Wie Gott als Barmherzigkeit gedacht werden kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Ahmad Milad Karimi Raḥma und raḥim. Zur weiblichen Assoziation der Barmherzigkeit Allahs . . . . 117 Nimet Seker Gottes Attribute und die Beziehung zu seiner Barmherzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 133 Andreas Renz Teil IV Gottes Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und lebenspraktische Implikationen Muslim Theologians on Evil: God’s Omnipotence or Justice, God’s Omnipotence and Justice . . . . . . . . . . . . . 147 Mohammed Ghaly Die Asymmetrie der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Hureyre Kam Bio- und medizinethische Probleme als Herausforderung für die Muslime und die Barmherzigkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Ilhan Ilkilic Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Einleitung: Theologie der Barmherzigkeit? Die islamisch-theologischen sowie die koranexegetischen Ansätze der Gegenwart zeichnen sich durch eine so große Bandbreite aus, dass man kaum noch einen roten Faden in der Islamischen Theologie oder eine Mitte des Korans erkennen kann. Einerseits ist gerade diese Heterogenität eine Stärke der islamischen Kultur und Gelehrsamkeit, die es wahrzunehmen und darzustellen gilt. Andererseits droht sie in der gegenwärtigen Diskurssituation so Überhand zu nehmen, dass völlig gegensätzliche und unvereinbare Positionen mit dem Koran legitimiert werden. Auf diese Weise erscheint die Vielfalt islamischen Denkens gerade Außenstehenden nicht mehr als Bereicherung, sondern als Bedrohung, weil man auch die abstrusesten und gewalttätigsten Positionen mit dem Koran zu legitimieren versucht. Bei aller Legitimität von Pluralität und Heterogenität in islamisch geprägten Diskursen braucht es also Leitkategorien und Schlüsselbegriffe, die als innere Mitte islamischer Diskurse fungieren können und die diese zu orientieren vermögen, ohne sie in ihrer Mannigfaltigkeit und Vielstimmigkeit zu sehr einzuschränken. Die Herausgeber dieses Bandes sind der Meinung, dass die Barmherzigkeit eine solche Kategorie sein könnte, so dass es sich lohnt, sie auf ihre Tauglichkeit als eine Leitkategorie für islamische Denkbewegungen zu überprüfen. Die Kategorie der Barmherzigkeit bietet sich schon aufgrund ihrer rein quantitativen Häufigkeit innerhalb des Korans für eine solche Funktion an. Aber auch qualitativ spielt sie eine herausragende Rolle im Koran, wenn man nur daran denkt, dass sie bereits in der Eröffnungssure des Korans in prominenter Weise als Gottesprädikat eingeführt wird (Q 1:3) und dass laut Koran Gott den Propheten Muhammad „als Barmherzigkeit für die Welten entsandt“ hat (Q 21:107). Bedenkt man, wie oft im Koran die Barmherzigkeit Gottes gepriesen wird und wie zentral auch ihre Bedeutung in der islamischen Mystik und im alltäglichen muslimischen Sprachgebrauch ist, fällt auf, wie wenig sie in der traditionellen islamischen Gelehrsamkeit als Schlüsselbegriff theologischen Arbeitens etabliert und wie wenig sie für islamisches Denken systembildend wurde. Gegen diese Vernachlässigung der Kategorie der Barmherzigkeit in der Tradition möchte dieser Band Bausteine einer Theologie der Barmherzigkeit entwickeln und erproben, die die Zentralität der Rede von Gottes Barmherzigkeit zum Anlass nehmen, um alle Disziplinen islamischen Denkens mit dieser Schlüsselkategorie zu konfrontieren. Kann eine Theologie der Barmherzigkeit – so gilt es zu fragen – die grundlegende Botschaft des Korans systematisch erschließen und ggf. vom Koran her einen Paradigmenwechsel in der islamischen systematischen Theologie (Kalām) begründen? Welche Konsequenzen hätte eine solche Fokussierung auf Gottes Barmherzigkeit für das Verständnis der Beziehung zwischen Gott und der Schöpfung sowie für das Verständnis des Handeln Gottes in der Welt? Welche Auswirkungen hätte sie auf den Umgang mit dem Koran und der prophetischen Tradition (Sunna)? Wie verändert sich durch sie das Verständnis der islamischen Ethik? Bietet sie Perspektiven 10 Einleitung für eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen außerislamischen Diskursen, wie beispielsweise dem feministischen Denken, und vermag sie den Islam anschlussfähig für Paralleldiskurse anderer Wissenschaften zu machen? Den Herausgebern dieses Bandes ist bewusst, dass jede Fokussierung auf einen bestimmten Aspekt des Korans in der Gefahr steht, einseitig zu werden und immer der Ergänzung durch weitere Facetten bedarf. Entsprechend ist es auch nicht ihr Ansinnen, die Botschaft des Korans auf die Rede von Gottes Barmherzigkeit zu reduzieren. Aber sie wollen eine Debatte darüber anregen, ob die Rede von der Barmherzigkeit Gottes nicht eine stärkere hermeneutische Schlüsselposition im islamischen Denken verdient, als ihr bisher zugekommen ist. Sie wollen erproben, wie weit man mit dieser Kategorie in der Erschließung der zentralen Gehalte des Korans kommt und wie sich Diskurse der Tradition transformieren lassen, wenn sie vom Leitgedanken der Barmherzigkeit her neu aufgerollt werden. Dabei geht es den Herausgebern nicht darum, eine theologische Schule zu gründen oder ein gemeinsames Bekenntnis zu einer Theologie der Barmherzigkeit abzulegen. Bewusst vereint der Band Denker verschiedener theologischer Ausrichtungen und sogar verschiedener Religionen. Innere Mitte des Bandes ist also kein gemeinsames Bekenntnis, sondern das Interesse, die Kategorie der Barmherzigkeit als Leitidee islamisch-theologischen Denkens zu erproben, ohne hier zu einheitlichen Resultaten zu kommen. Entsprechend kann die Leserin und der Leser in der Lektüre des Buches selbst erproben, ob die Kategorie der Barmherzigkeit als Leitgedanke der Theologie auch dann funktioniert, wenn in heterogener Weise auf sie Bezug genommen wird und ob sie theologische Ideen zu verketten vermag, die aus ganz unterschiedlichen Kontexten auf sie zugehen. Denn statt alle Beiträge auf ein systematisches Verständnis der Rolle von Gottes Barmherzigkeit oder auf eine Theologie der Barmherzigkeit einzuschwören, geht es dem Band darum, den Begriff dadurch als Schlüsselkategorie zu profilieren, dass er sich in dem Band als hermeneutische Klammer einer heterogenen Vielzahl von Denkbewegungen bewährt, die alle in unterschiedlicher Weise um dieses Gottesattribut kreisen und denen – gewissermaßen im pragmatischen Vollzug der theologisch in Anspruch genommenen Barmherzigkeit – auch diese Vielfalt zugestanden wird. Von daher bewährt sich die Theologie der Barmherzigkeit gerade nicht durch eine Uniformität der Rede von Barmherzigkeit, sondern dadurch, dass sie Bewegungsräume für islamisch-theologisches Denken unterschiedlicher Disziplinen schafft, Bewegungsräume, in die auch Nichtmuslime zu einem konstruktiven Miteinander eingeladen sind, Bewegungsräume, die aber insbesondere innermuslimisch durch eine große Vielfalt gekennzeichnet sind, ohne beliebig zu werden – eben weil sie sich an einer gemeinsamen Leitmetapher abarbeiten. Eröffnet wird der vorliegende Sammelband von einem programmatischen Plädoyer für eine Theologie der Barmherzigkeit des Münsteraner Theologen Mouhanad Khorchide. Nachdem Khorchide seinen theologischen Grundansatz bereits in Form einer Monographie ausgeführt hat, versucht er den dort entwickelten Grundgedanken hier Einleitung noch einmal zu profilieren und zuzuspitzen. In einer christlichen Replik auf Khorchides bisher vorgelegtes Gesamtwerk versucht der Paderborner katholische Fundamentaltheologe Klaus von Stosch Chancen, Leistungen und Grenzen der von Khorchide vorgelegten Theologie der Barmherzigkeit und der Bestimmung von Barmherzigkeit als Leitkategorie für Islamische Theologie auszuloten. Der muslimische Nachwuchswissenschaftler Ufuk Topkara, Doktorand im Graduiertenkolleg Islamische Theologie, rundet schließlich den Eröffnungsteil mit einer eigenen Replik ab, in der er eine kritische Würdigung des Ansatzes Khorchides aus muslimischer Sicht vornimmt. Er verortet Khorchide vor dem Hintergrund moderner Deutungsansätze des Islams und plädiert in kritisch-differenzierender Absetzung von manchen Leitgedanken der Theologie der Barmherzigkeit für eine Rehabilitierung der islamischen Tradition. Nach diesem programmatischen Eröffnungsteil geht es im zweiten Hauptteil des Buches um eine Verhältnisbestimmung der Kategorie der Barmherzigkeit zur Offenbarung. Der iranische Theologe Mohammad Ali Shomali präsentiert in seinem Artikel quantitative und qualitative Dimensionen der Barmherzigkeit Gottes, wie sie sich im Koran darstellen, und zeigt die zentrale Bedeutung der Kategorie der Barmherzigkeit für das religiöse Denken und Handeln auf. In seiner Erwiderung setzt sich der Frankfurter Nachwuchstheologe und Kollegiat des Graduiertenkollegs Serdar Kurnaz kritisch mit Shomalis offenbarungstheologischer Einordnung der Barmherzigkeit Gottes auseinander und verbindet sie mit der Frage nach der Motivation Gottes zur Offenbarung und der Beziehung zu seiner Gerechtigkeit. Nach dieser offenbarungstheologischen Verhältnisbestimmung geht es im dritten Teil des Buches darum, Gottes Barmherzigkeit in die traditionelle islamischtheologische Attributenlehre einzuordnen und eine Theologie der Barmherzigkeit auf diese Weise mit der traditionellen Gelehrsamkeit in Beziehung zu setzen. Der Münsteraner systematische Theologe und Philosoph Milad Karimi nutzt diese Gelegenheit, um den Begriff der göttlichen Barmherzigkeit näher zu bestimmen und zu überlegen, ob und wie Gott als Barmherzigkeit gedacht werden kann. Im Anschluss an die offenbarungstheologischen Bestimmungen des zweiten Teils fragt Karimi in seinem Beitrag nach dem Grund der Offenbarung und der Rolle der Barmherzigkeit darin und kommt zu dem Schluss, dass Gott aus seiner Sehnsucht heraus die Welt in einem ewigen Schöpfungsprozess barmherzig erschafft. Seine Herausstellung der Rolle der Barmherzigkeit Gottes im Schöpfungsprozess veranlasst die Münsteraner Nachwuchstheologin und Kollegiatin im Graduiertenkolleg Nimet Seker dazu, weiblichen Assoziationen im Begriffsfeld der arabischen Begriffe für Barmherzigkeit nachzuspüren und im Gespräch mit den entsprechenden hebräischen Begrifflichkeiten zu entfalten. In Aufnahme einiger Forschungsergebnisse der feministischen Theologie geht Seker dabei der Frage nach, wie über die Barmherzigkeit Gottes in geschlechtlich assoziierter Rede gesprochen werden kann. Sie nutzt dafür die Epistemologie Ibn Arabis, um schließlich den Zusammenhang zwischen raḥma (Barmherzigkeit) und raḥim (Mutterschoß) aufzudecken. Der katholische Theologe und Islamwissenschaftler Andreas Renz rundet den dritten Teil des Bandes ab, 11 12 Einleitung indem er die Beziehung zwischen Gottes Attributen und seiner Barmherzigkeit aus christlich-theologischer Perspektive auslotet und das enge Verhältnis von Nächstenliebe, Freiheit und Barmherzigkeit betont. Abgeschlossen wird der vorliegende Sammelband durch einen Teil, der Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zusammendenken und lebenspraktische bzw. ethische Implikationen der Theologie der Barmherzigkeit ausloten will. Der niederländische Theologe Mohammed Ghaly bietet in seinem Beitrag einen Überblick über die systematisch-theologische Einordnung der Frage nach der Existenz des Übels in der Welt, wie sie durch die verschiedenen Denkschulen der islamischen Tradition vorgenommen wurde, und schlägt eine Brücke zur medizinethischen Arbeit mit muslimischen Patienten. Der Frankfurter Nachwuchstheologe Hureyre Kam nimmt die von Ghaly dabei implizit vertretenen Positionierungsmöglichkeiten zum Theodizeeproblem auf und versucht deren aporetische Grundstruktur deutlich zu machen, um zu neuen Denkbewegungen im Kontext der Theodizee einzuladen. Abgeschlossen wird der Band von der Auseinandersetzung mit bioethischen Fragen der modernen Medizin, die der Mediziner und Bioethiker Ilhan Ilkilic als Herausforderung für die Islamische Theologie und Ethik profiliert. Er nimmt dabei eine interdisziplinäre Perspektive ein, die die bio- und medizinethischen Herausforderungen, die die Lebensrealität an theologische Denkmodelle stellt, in Bezug zur Barmherzigkeit setzt. Der vorliegende Sammelband geht zurück auf die erste Sommerakademie des Graduiertenkollegs Islamische Theologie der Stiftung Mercator und der Universitäten Erlangen-Nürnberg, Frankfurt am Main, Hamburg, Münster, Osnabrück, Paderborn und Tübingen, die im Sommer 2012 an der Universität Münster stattfand. Bewusst bringt der Band arrivierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland mit Kollegiatinnen und Kollegiaten dieses Kollegs ins Gespräch, um so einerseits den islamisch-theologischen Diskurs in Deutschland zu profilieren und andererseits die Nachwuchswissenschaftlerinnen und –wissenschaftler in dieses Gespräch zu integrieren und ihnen eigene Positionierungen zu ermöglichen. Die Herausgeber dieses Sammelbands möchten deswegen zuallererst der Stiftung Mercator für ihr großherziges Engagement danken. Namentlich erwähnen möchten wir dabei Dr. Wolfgang Rohe und Dr. Cornelia Schu, die beide mit großem persönlichen Einsatz dieses Engagement der Stiftung begründet haben und begleiten. Ein besonderer Dank gilt auch dem Projektkoordinator Jan Felix Engelhardt, der das vorliegende Buch lektoriert und mit vorbildlichem Einsatz an seinem Entstehen mitgewirkt hat, der aber schon bei der Durchführung der Akademie und der Betreuung der Kollegiaten unersetzliche Dienste geleistet hat. Zu danken haben wir schließlich auch dem Tagungshaus des Deutschen Roten Kreuzes Münster, dessen Gastfreundschaft wesentlich zum guten Geist der Akademie beigetragen hat, sowie dem Waxmann Verlag, der, beginnend mit diesem Band, die Schriftenreihe des Graduiertenkollegs Islamische Theologie beherbergen wird. Münster/Paderborn im Juni 2013 Milad Karimi, Mouhanad Khorchide, Klaus von Stosch Anstöße zu einer Theologie der Barmherzigkeit Mouhanad Khorchide Angelehnt an den Koran können wir Muslime von zwei Prämissen bezüglich Gottes ausgehen: Zum einen: Er ist das Unbedingte.1 Zum anderen: Er bleibt für uns Menschen unbegreiflich.2 Wenn das Bedingte (der Mensch) Aussagen über das Unbedingte (Gott) macht, so kann es dies nur in seinen eigenen Kategorien tun. Das Unbedingte bleibt zwar unbegreiflich3, es muss jedoch eine Verständigung darüber geben, was wir damit meinen, wenn wir von Gott sprechen. Eine solche Verständigung über und – vor allem für Gläubige – mit Gott ist zentral. Die erste Hauptquelle für den Islam, in der Gott – nach islamischem Glauben – sich selbst beschreibt und vorstellt, ist der Koran, der für Muslime als das Wort Gottes gilt: „Und wenn dich meine Diener nach mir fragen, so bin ich (ihnen) nahe und erhöre, wenn einer zu mir betet, sein Gebet. Sie sollen nun (auch ihrerseits) auf mich hören und an mich glauben. Vielleicht werden sie den rechten Weg einschlagen.“4 Der Koran ist daher der Prüfstein, um das eigene Gottesverständnis als Muslim sowie die Frage, ob man angemessen von Gott spricht, durch eine ständige Reflexion des eigenen Verhältnisses zu Gott immer wieder kritisch zu prüfen.5 Dieser kritische Prüfprozess ist für den islamischen Glauben unverzichtbar. Ein diesbezügliches Verstehen des Korans verlangt jedoch ein hohes hermeneutisches Problembewusstsein, insofern die unterschiedlichen koranischen Gottesbeschreibungen zu einem in sich stimmigen Gottesverständnis zusammenzufügen sind. Der Koran warnt an mehreren Stellen vor einem unangemessenen Gottesverständnis: „Und sie haben Allah nicht richtig eingeschätzt“.6 Denn alle Angehörigen monotheistischer Religionen geben zwar an, an einen Gott zu glauben; die Vorstellungen dessen, wie er attributiv behaftet ist, können allerdings auch innerhalb der einzelnen Konfessionen weit auseinandergehen. Neben dem Koran und der prophetischen Tradition ist ein vom Koran geleitetes theologisches Denken (arab.: kalām) für diesen Prüfprozess zentral. 1 2 3 4 5 6 Koranübersetzungen folgen in diesem Beitrag – wenn nicht anders angegeben – der Übersetzung von Rudi Paret. Hier vgl. Q 42:11: „Es gibt nichts, was ihm gleichkommen würde.“ Vgl. Q 6:103: „Die Sehkraft (der Menschen) erreicht ihn nicht, wird aber von ihm erreicht. Und er ist der Allgütige und ist (über alles) wohl unterrichtet.“ Vgl. Abū Bakr al-Marʿašī, našr aṭ-ṭawāliʿ. Ed. Muḥammad Idrīs, Ammān 2011, 365. Q 2:186. Der Koran verlangt an mehreren Stellen das Nachdenken und das kritische Hinterfragen seiner eigenen Beziehung zu Gott und kritisiert eine unangemessene Vorstellung von Gott. Vgl. z.B. Q 6:91, 22:74, 39:67. Q 6:91. 16 Mouhanad Khorchide Eine islamische Theologie der Barmherzigkeit, wie sie in diesem Beitrag skizziert wird, gibt Anstöße zu einem Gottesverständnis und geht von der These aus, dass Barmherzigkeit eine Wesenseigenschaft Gottes ist. Was sind die theologischen Konsequenzen daraus, wenn Barmherzigkeit nicht als relatives Attribut Gottes, das von seinem Willen abhängt (Gott kann, wenn er will, manchmal barmherzig und manchmal unbarmherzig sein), sondern wenn es als eine absolute Wesenseigenschaft Gottes gedacht wird (Gott ist immer und zu allen barmherzig)? Um so einem Entwurf einer Theologie der Barmherzigkeit gerecht zu werden, muss zuerst geklärt werden, was mit Barmherzigkeit Gottes überhaupt gemeint ist. Es ergibt sich die Frage, warum Barmherzigkeit als Wesenseigenschaft und nicht nur als ein Attribut Gottes, welches von seinem Willen abhängig ist,7 kategorisiert wird und was das für das gesamte islamisch-theologische Gefüge heißt. Was bedeutet das für die Gott-Mensch-Beziehung? In welchem Verhältnis steht die Barmherzigkeit Gottes zu seinen anderen Attributen? 1. Die Bedeutung der Barmherzigkeit Gottes Etymologisch bezeichnet der arabische Begriff für Barmherzigkeit raḥma Sanftheit im Herzen (arab.: riqqa), Zuneigung/Mitgefühl (arab.: taʿāṭṭuf) und Güte (arab.: iḥsān)8. Daraus abgeleitet ist das Wort raḥim (Mutterleib)9. Aus der Fülle der von der Wurzel r-ḥ-m abgeleiteten Verbal- und Nominalformen haben zwei Nomina, „ar-raḥmān“ und „ar-raḥīm“, durch den Islam eine zentrale Bedeutung gewonnen. Spricht der Koran von der Barmherzigkeit Gottes, dann verwendet er diese zwei Bezeichnungen, die beide vom Begriff raḥma (Barmherzigkeit) abgeleitet werden.10 Aṭ-Ṭabarī wirft in seiner Erklärung der Basmala (die islamische 7 Die Abhängigkeit der Barmherzigkeit vom Willen Gottes vertreten sowohl die Ašʿariten als auch die Māturīdīten. Vgl. z.B.: Muḥammad Al-Bāqillānī, tamhīd al-awāʾil wa-talḫiṣ addalāʾil. Ed. ʿImād ad-Dīn Ḥaydar, Bayrūt 1987, 299. 8 Vgl. Ibn Manẓūr, lisān al-ʿarab. Ed. Abdullāh al-Kabīr, u.a., Al-Qāhira o.A., 1611 f. 9 Vgl. ebd., 1613. 10 Vgl. z.B. Muḥammad Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī, ǧāmiʿ al-bayān. Ed. Abdullāh at-Turkī, Al-Qāhira 2001, Bd. 1, 125, sowie Abū ʿAbdullāh al-Qurṭubī, al-ǧamiʿ li aḥkām al-qurʾān. Ed. Abdullāh at-Turkī, Bayrūt 2006, Bd. 1, 160, und Al-Qādī al-Bayḍāwī, anwār at-tanzīl wa-asrār attaʾwīl, Istanbul 1998, Bd. 1, 27. Folgenden Hadith haben at-Tirmiḏī und Aḥmad überliefert: „Der Prophet Muhammad sagte: ‚Gott der Erhabene sagte: Ich bin Ar-Rahmān, habe den Mutterleib (arab.: raḥīm) erschaffen und habe ihm einen Namen aus meinem Namen gemacht‘“. Dadurch gewinnt ar-rahmān eine physische und emotionale Konnotation mütterlicher Liebe. Dazu schreibt Abdoldjavad Falaturi: „Das Gott-Mensch-Verhältnis bekommt somit im Islam mütterliche, also weibliche Züge und nicht wie im Christentum väterliche, also männliche Züge. Sein Verhältnis zu den Menschen ist somit nicht in seiner Allmacht, also seiner Stärke begründet, sondern mehr von der Raḥma (Barmherzigkeit) bestimmt, die als oberstes Handlungsprinzip sogar dieser, seiner Allmacht eine bestimmte Richtung weist.“ Vgl. Abdoldjavad Falaturi, „Der Islam – Religion der raḥma, der Barmherzigkeit“, in: Ders. (Hrsg.), Der Islam im Dialog – Aufsätze von Professor Abdoljavad Falaturi, Hamburg 1996, 76. Anstöße zu einer Theologie der Barmherzigkeit Formel, mit der u.a. koranische Suren eingeleitet werden: „Im Namen Gottes, der Allbarmherzige, der Allerbarmer“) zu Beginn seines exegetischen Werkes ğāmiʿ albayān fī taʾwīl al-qurʾān die Frage auf: „Wenn beide Namen von der Barmherzigkeit abgeleitet sind, was ist dann Sinn dieser Wiederholung?“11 Tatsächlich sind sich die meisten Gelehrten darüber einig, dass beide Namen ar-raḥmān und ar-raḥīm keine Synonyme sind, denn ar-raḥmān (bedeutet sprachlich derjenige, der unübertreffliche „raḥma“ besitzt)12 bezieht sich auf die Barmherzigkeit Gottes seiner gesamten Schöpfung gegenüber, während ar-raḥīm auf seine Barmherzigkeit gegenüber den Gläubigen limitiert ist.13 Ar-raḥmān umfasst also Muslime wie Nichtmuslime, arraḥīm nur Muslime.14 Ar-raḥmān ist demnach umfassender als ar-raḥīm und impliziert daher eine andere Qualität der Barmherzigkeit Gottes als ar-raḥīm (s. unten).15 Daher betont al-Qurṭubī, dass ar-raḥmān derjenige Begriff sei, dessen substanzieller Gehalt von Barmherzigkeit nicht zu übertreffen sei, weshalb es – anders als bei arraḥīm – weder einen Dual noch einen Plural davon gebe.16 Was ist jedoch genau damit gemeint, wenn gesagt wird, dass die Barmherzigkeit Gottes in seiner Eigenschaft als ar-raḥmān alle Menschen (Gläubige wie Nichtgläubige) umfasst, während seine Barmherzigkeit als ar-raḥīm nur Gläubigen zugute kommt? Aṭ-Ṭabarī fasst es folgendermaßen zusammen: Was die Gläubigen angeht, so bezieht sich die Barmherzigkeit Gottes als ar-raḥīm darauf, dass er „ihnen den Weg erleichtert hat (arab.: laṭṭafa lahum), ihm zu gehorchen, an ihn und seine Propheten zu glauben, seinen Geboten zu folgen und seine Verbote zu vermeiden […] dazu kommt, was er, gepriesen sei er, an ewigen Lohn und klarem Gewinn im Jenseits für den, der an ihn geglaubt hat, vorbereitet hat.“17 Die Barmherzigkeit Gottes als arraḥmān dagegen bezieht sich auf das, „womit er die Muslime und Nichtmuslime18 an Gaben und Großzügigkeiten umgibt, dazu gehören alle Formen der Versorgung, der Regen aus den Wolken, das Wachsen der Landschaft aus der Erde, die Gesund11 Aṭ-Ṭabarī, ğāmiʿ, Bd. 1, 125. 12Vgl. lisān al-ʿarab, 1612. Ibn Manẓūr zitiert darin al-Azharī: „man darf niemanden außer Gott mit ar-rahmān bezeichnen“, weil ar-rahmān die unübertreffliche Barmherzigkeit zum Ausdruck bringen soll. Ibn ʿArabī hält ar-rahmān für den edelsten Namen Gottes (vgl. alQurṭubī, al- ğāmiʿ, Bd. 1, 163). 13 Vgl. aṭ-Ṭabarī, ğāmiʿ, Bd. I, 126, al-Qurṭubī, al-ğāmiʿ, Bd. I, 162, Abū l-Qāsim Ibn Ǧuzzī al-Kalbī, at-tashīl li ʿulūm at-tanzīl. Ed. Muḥammad Ḥāšim, Bayrūt 1995, Bd. I, 43, sowie Abū l-Barakāt an-Nasafī, madārik at-tanzīl. Ed. Marwān aš-Šaʿʿār, Bayrūt 2005, Bd. I, 30. 14 Vgl. aṭ-Ṭabarī, ğāmiʿ, Bd. I, 127. 15 Vgl. al-Bayḍāwī, anwār, Bd.1, 27, Ibn Ǧuzzī al-Kalbī, at-tashīl, Bd. I, 43, an-Nasafī, madārik, Bd. I, 30, sowie Ismāʿīl Ibn Kaṯīr, tafsīr al-qurʾān al-ʿaẓīm. Ed. Sāmī as-Salāma, Riyād 1999, Bd. I, 124. 16 Vgl. al-Qurṭubī, ğāmiʿ, Bd. 1, 160. 17 Aṭ-Ṭabarī, ğāmiʿ, Bd. 1, 127. 18 Hier wird der Begriff „kuffār“ bei aṭ-Ṭabarī deshalb mit „Nichtmuslime“ wiedergegeben, weil er ihn in diesem Zusammenhang als Bezeichnung für alle verwendet, die dem Islam nicht angehören und nicht als Bezeichnung für Verleugner des Islams. Er spricht hier von Muslimen versus Nichtmuslimen. 17 18 Mouhanad Khorchide heit des Körpers und des Geistes, sowie alle Gaben, die unzählbar sind, all diese teilen Muslime und Nichtmuslime gleichermaßen.“19 Auf das Argument mancher Gelehrter, die damaligen Araber hätten den Begriff ar-raḥmān nicht gekannt und der Koran habe ihn neu eingeführt, antwortet aṭ-Ṭabarī mit Entschiedenheit: „Einige wenig Wissende (arab.: ahlu l-ġabāʾ) behaupteten, dass die Araber ar-raḥmān nicht kannten und dieser Begriff nicht in ihrem Sprachgebrauch vorhanden war, denn die Polytheisten sagten zu Muhammad, Gottes Friede und Segen mit ihm, als Zeichen der Verleugnung dieses Namens: ‚Und wenn man zu ihnen sagt: Werft euch (in Anbetung) vor dem Barmherzigen nieder!, sagen sie: Was soll das heißen: der Barmherzige? Sollen wir uns vor etwas niederwerfen, nur weil du es uns befiehlst? Und es bestärkt sie (nur noch) in ihrer ablehnenden Haltung.‘20 Als denke er [dieser Gelehrte, den aṭ-Ṭabarī nicht namentlich nennt], dass sie [die Polytheisten] Gott nicht auch verleugnen würden, wenn sie ihn kennen würden, oder hat er im Koran nicht gelesen: ‚Diejenigen, denen wir das Buch gegeben haben, kennen ihn‘21, damit ist Muhammed, Gottes Segen und Frieden mit ihm, gemeint, ‚wie sie ihre eigenen Kinder kennen‘22. Trotzdem haben sie ihn und seine Prophetie geleugnet?“23 Der spätere Gelehrte Ibn ʿĀšūr widerspricht in seinem Werk at-taḥrīr wa-t-tanwīr dieser Meinung aṭ-Ṭabarīs und geht davon aus, dass die alten Araber die Denomination ar-raḥmān nicht kannten: „Die Mehrheit der Gelehrten vertrat die Meinung, dass die Beschreibung ar-raḥmān von den vorislamischen Arabern nicht verwendet wurde. Der Koran führte diese Bezeichnung für Gott ein, um zu sagen, dass dies ein Eigenname für ihn und kein Adjektiv sei. Als Hinweis beriefen sich die Gelehrten auf den Vers ‚Und wenn man zu ihnen sagt: Werft euch (in Anbetung) vor dem Barmherzigen nieder!, sagen sie: Was soll das heißen: ‚der Barmherzige‘? Sollen wir uns vor etwas niederwerfen, nur weil du es uns befiehlst? Und es bestärkt sie (nur noch) in ihrer ablehnenden Haltung‘24 und ‚So haben wir dich in eine Gemeinschaft gesandt, vor der es schon (verschiedene andere) Gemeinschaften gegeben hat, damit du ihnen verliest, was wir dir (als Offenbarung) eingegeben haben, während sie an den Barmherzigen (ar-raḥmān) nicht glauben. Sag: Er ist mein Herr. Es gibt keinen Gott außer ihm. Auf ihn vertraue ich, und ihm wende ich mich (bußfertig) zu‘25, ähnliche Verse wiederholen sich gerade in der mekkanischen Phase, wie in Sure al-Furqān und al-Mulk. In Sure al-Mulk wird ar-raḥmān bzw. der Hinweis auf ihn acht Mal 19 Aṭ-Ṭabarī, ğāmiʿ, Bd.1, 127. 20 Q 25:60. 21 Q 2:146 (Nach eigener Übersetzung. Paret führt folgende Übersetzung an: „Diejenigen, denen wir die Schrift gegeben haben, kennen sie (so gut) [...]“, bezieht damit die Aussage auf den Koran und nicht auf Muhammad. Das Personalpronomen lässt im Arabischen allerdings beides zu.). 22 Aṭ-Ṭabarī, ğāmiʿ, Bd. I, 127. 23 Ebd., Bd. I, 130. 24 Q 25:60. 25 Q 13:30. Anstöße zu einer Theologie der Barmherzigkeit erwähnt, was das Ziel vermuten lässt, diesen Namen in die Herzen der Zuhörerschaft einzuprägen.“26 Die Gelehrten sind sich darüber einig, dass Menschen mit dem Attribut ar-raḥīm beschrieben werden dürfen,27 jedoch nicht mit dem Attribut ar-raḥmān, denn mit diesem Attribut dürfe nur Gott beschrieben werden.28 In diesem Zusammenhang macht aṭ-Ṭabarī darauf aufmerksam, dass der koranische Vers „Ruft Allāh, oder ruft ar-raḥmān […]“29 einen Hinweis darauf gibt, dass „auch wenn es berechtigt wäre, manche seiner Geschöpfe mit einigen Inhalten der Bedeutung von ar-raḥmān zu charakterisieren, da es legitim ist, einigen Geschöpfen Aspekte von Gottes Barmherzigkeit zuzuschreiben, darf niemandem etwas von der (absoluten) Heiligkeit Gottes zugeschrieben werden. Daher kam ar-raḥmān gleich an zweiter Stelle nach dem Namen Allāh.“30 Durch das Verbot, einen Menschen mit ar-raḥmān zu beschreiben, bekommt dieses Attribut eine spezifisch göttliche Konnotation, sie wird zum Bestandteil seiner immanenten Heiligkeit. Das Attribut ar-raḥīm kommt im Koran hauptsächlich im Zusammenhang mit der Vergebung von Sünden vor.31 Es handelt sich also um ein Tatattribut (s. unten). Wenn hier allerdings die Rede von Barmherzigkeit ist, dann nicht von der Barmherzigkeit als Vorgang der Vergebung durch Gott ar-raḥīm, sondern als Ausdruck seiner absoluten Barmherzigkeit als ar-raḥmān, von der alle Menschen gleichermaßen betroffen sind. Denn als ar-raḥīm vergibt Gott „wem er will, und er bestraft, wen er will.“32 [...] 26 Muḥammad Ibn ʿĀšūr, at-taḥrīr wa-t-tanwīr, Tunis 1984, 172. 27 Der Koran bezeichnet zum Beispiel Muhammad als raḥīm, vgl. Q 9:128. 28 Vgl. aṭ-Ṭabarī, ğāmiʿ, Bd. I, 132 f. Aṭ-Ṭabarī verweist auch auf al-Ḥasan al-Baṣrī, der diese Meinung vertreten habe und betont dann, dass es darüber einen Konsens unter den Gelehrten gebe, vgl. aṭ-Ṭabarī, ğāmiʿ, Bd. I, 134, vgl. auch al-Qurṭubī, ğāmiʿ, Bd. I, 163, al-Bayḍāwī, anwār, Bd. I, 27, Ibn Ǧuzzī al-Kalbī, at-tashīl, Bd. I, 43, an-Nasafī, madārik, Bd. I, sowie Ibn Kaṯīr, tafsīr, Bd 1, 126. In seinem Kommentar zu Sure al-Fatiha geht al-Māturīdī ausführlich auf die Unterscheidung zwischen ar-raḥmān und ar-raḥīm ein; ar-raḥmān ist ein Eigenname für Gott (ism ḏātī), während ar-raḥīm eine Handlung Gottes beschreibt (ism fiʿlī), daher darf niemand außer Gott selbst ar-raḥmān heißen. Als koranischen Hinweis darauf führt er den Vers „Ruft Allāh oder ruft ar-raḥmān […]“ (Q 17:110) an (vgl. Abū Manṣūr al-Māturīdī, taʾwīlāt ahl as-sunna. Ed. Fāṭima al-Ḫaymī, Bayrūt 2004, Bd. I, 5). Vgl. auch al-Qurṭubī, ğāmiʿ, Bd. I, 163. Dieser beruft sich ebenfalls auf denselben Vers: „Er [Gott] setzt ar-raḥmān mit seinem Namen, der niemand mit ihm teilen darf, gleich“, und al-Qurṭubī verweist auf Sure az-Zuḫruf, Vers 45, dass es ar-raḥmān ist, dem die Anbetung gebührt. 29 Q 17:110 (Nach eigener Übersetzung. Paret führt folgende Übersetzung an: „Sag: Ihr mögt zu Allah beten oder zum Barmherzigen (ar-rahmaan).“ Das arabische Wort udʿū kann sowohl mit „rufen“ als auch mit „beten“ übersetzt werden. Häufiger erfolgt die Übersetzung allerdings mit „rufen“). 30 Aṭ-Ṭabarī, ğāmiʿ, Bd. I, 133. 31 Vgl. z.B. Q 2:37, 2:54, 2:128, 2:160, 9:104, 9:118, 10:107, 12:98. 32 Q 3:129, vgl. auch 48:14. 19 Barmherzigkeit als Leitkategorie für Islamische Theologie? Christlich-theologische Anmerkungen zu Mouhanad Khorchides Theologie der Barmherzigkeit Klaus von Stosch 1. Vorbemerkung Die Theologie der Barmherzigkeit, die Mouhanad Khorchide in verschiedenen Publikationen beschreibt und die er jüngst in seinem Buch Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion ausführlich verteidigt,1 stellt einen der interessantesten Neuansätze der Islamischen Theologie der Gegenwart dar und bietet das Potenzial zu einer hochinnovativen Neukonfigurierung der Islamischen Theologie in ihrer Gesamtheit. Zugleich handelt es sich ganz offensichtlich um ein Projekt, das noch in der Entwicklung befindlich ist und das die Anstrengung einer Vielzahl von Gelehrten bräuchte, um wirklich in allen Verästelungen konsistent formuliert und zu Ende gedacht zu werden. So verstehe ich auch diesen Sammelband als einen ersten Versuch, muslimische Theologinnen und Theologen unterschiedlicher Provenienz und Ausrichtung zu einer Auseinandersetzung mit der Leitkategorie der Barmherzigkeit zu bringen, um auf diese Weise einer Theologie der Barmherzigkeit klarere Konturen zu geben. Angesichts des auch von seinem wichtigsten Protagonisten zugegebenen Werkstattcharakters des Projekts einer Theologie der Barmherzigkeit kann es in meinem Beitrag um keine abschließende Würdigung dieses theologischen Neuansatzes aus christlicher Sicht gehen. Auch eine christlich-apologetische oder kontroverstheologische Stellungnahme wäre zu diesem Zeitpunkt des Projekts völlig fehl am Platz. Vielmehr geht es mir erst einmal darum mitzuhelfen, dem bisher erst in Ansätzen erkennbaren Projekt zu klareren Konturen zu verhelfen. Erst auf der Basis einer jetzt noch nicht gegebenen Profilschärfung könnte dann sondiert werden, wie sich eine muslimische zu einer christlichen Theologie der Barmherzigkeit verhält, an welchen Stellen sich gemeinsame Anliegen formulieren lassen und wo bleibende Differenzen liegen könnten. >@ 1 Vgl. Mouhanad Khorchide, Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg-Basel-Wien 2012. Ich beziehe mich in dem vorliegenden Artikel nur auf dieses Werk aus Khorchides Schriften, weil es den neuesten Stand seines Denkens widerspiegelt und – soweit ich das überblicke – alle vorher geschriebenen Beiträge zu diesem Thema zu einer Gesamtthese verdichtet. Ich beziehe mich im folgenden Artikel auf dieses Werk immer durch Angabe der Seitenzahlen im Fließtext. Barmherzigkeit als Leitkategorie für Islamische Theologie? >@ Barmherzigkeit scheint ja zunächst einmal eine versöhnungsbereite Grundhaltung anzuzeigen, und der jüdische Religionsphilosoph Emmanuel Levinas warnt ganz zu Recht: „Eine Welt, in der die Versöhnung allmächtig ist, wird unmenschlich.“26 In ähnlicher Stoßrichtung gibt auch der im Apartheidkampf bekannt gewordene islamische Befreiungstheologe Farid Esack gegen allzu liberale theologische Traditionen zu bedenken, dass die Rede von einer allgemeinen Befreiung und Barmherzigkeit leicht dazu führen kann, die Interessen der Starken zu bedienen. Der Koran wolle aber nicht nur Almosen für die Armen, sondern eine gerechte Gesellschaftsordnung, die keine falschen Kompromisse mit den Mächtigen eingeht. Von daher ziele er auf mehr ab als auf Barmherzigkeit, und es sei theologisch nicht gerechtfertigt, Gott unterschiedslos als barmherzig zu charakterisieren.27 Sicher will Khorchide den Begriff der Barmherzigkeit nicht gegen den der Gerechtigkeit ausspielen und würde wohl auch die Gerechtigkeit als Folge der Barmherzigkeit verstehen. Aber so wichtig der Begriff der Barmherzigkeit im Koran auch ist, so wenig überzeugend erscheint mir bisher Khorchides Begründung dafür, ihn als universalen Schlüssel für alle theologischen Reflexionen ins Feld zu führen. 3.4 Offenbarung und Vernunft und der Status von Religion Wie gesagt kann es in diesem Beitrag weder um eine umfassende Würdigung noch um eine erschöpfende Kritik an Khorchides Theologie der Barmherzigkeit gehen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit will ich aber noch drei kleinere Punkte wenigstens benennen, die mir in seinem Ansatz noch nicht hinreichend geklärt zu sein scheinen. Zunächst einmal ist mir die bei ihm zu Grunde liegende Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft etwas unklar: „Die Vernunft gibt eine Antwort auf die Frage nach dem ‚Wie‘: Wie kann der Mensch vollkommen werden? Und die Offenbarung gibt primär eine Antwort auf die Frage nach dem ‚Warum‘: Warum soll sich der Mensch vervollkommnen?“ (84) Diese Aufteilung leuchtet mir nicht recht ein. Auch die autonome philosophische Vernunft kann mich dazu motivieren, nach Vollkom26 Zit. n. Paul Petzel, Christ sein im Angesicht der Juden. Zu Fragen einer Theologie nach Auschwitz, Mainz 2001, 192. 27 Farid Esack, „Unterwegs zu einer islamischen Befreiungstheologie“, in: Klaus von Stosch und Muna Tatari (Hg.), Gott und Befreiung. Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum, Paderborn u.a. 2012 (Beiträge zur Komparativen Theologie; 5), 19–42; sowie Klaus von Stosch, „Gott und Befreiung – eine Theologie der Barmherzigkeit und eine Theologie der Befreiung im muslimisch-christlichen Gespräch“, in: Cibedo-Beiträge zum Gespräch zwischen Christen und Muslimen 7 (2012), 58–65. 51 52 Klaus von Stosch menheit zu streben, und auch die Offenbarung kann mir dabei helfen, zu erkennen, welcher Weg für mich richtig ist und wie ich also vollkommener werden kann. Aber auch sonst müsste das Verhältnis von Offenbarung und Vernunft in Khorchides Ansatz noch genauer expliziert werden. So scheint er von der Möglichkeit von Gottesbeweisen auszugehen28, verrät aber an keiner Stelle, wie das gehen soll und wie sich diese Möglichkeit zu seinem freiheitstheologischen Ansatz verhält. Hier wäre sicher eine Denkformanalyse erforderlich, d.h. Khorchide müsste einmal explizit machen, auf welche Denkform er sich mit welchen philosophischen Mitteln einlässt. Sonst tappt man einfach an zu vielen Stellen im Dunkeln. Ein zweites Problem ist seine latent reduktionistische Sicht des Phänomens Religion. So schreibt er: „Religiöse Rituale wie das Beten und Fasten betreffen somit zwei Dimensionen, eine spirituelle und eine ethische.“ (106) Es ist gut, dass Khorchide, anders als viele Vertreter der Aufklärungsphilosophie, erkennt, dass Religion mehr als Ethik ist und dies auch unmissverständlich klarstellt (81). Aber kann man dieses Mehr wirklich durch das Stichwort der Spiritualität erschöpfend einholen? Was ist etwa mit der ästhetischen und der identitätsstiftenden Dimension des Glaubens? Kann man wirklich erfassen, was Scharia meint, wenn man sie nur auf ihre spirituellen und ethischen Aspekte reduziert? Mir scheint beispielsweise das Fasten im Ramadan nicht zureichend erfasst, wenn man nur auf seine spirituelle und ethische Dimension schaut. Natürlich hat es auch eine ethische Bedeutung zu fasten, weil es Menschen an die Solidarität mit den Armen erinnert. Und natürlich hat es auch eine spirituelle Dimension, insofern es auch in eine tiefere Gottesbeziehung hineinführen kann. Aber ist das alles? Gehört zum Ramadan nicht auch das Erleben von Gemeinschaft? Hat die Art des Fastens nicht auch eine ästhetische Dimension? Wenn Khorchide schreibt, dass religiöse Rituale nicht Gottesdienst sind, „sondern ein Mittel zur Vervollkommnung des Menschen“ (115), so fragt man sich doch, ob er es sich nicht zu einfach macht und die Komplexität dessen, was religiöse Rituale alles ausmacht, unterschätzt. Eng mit diesem Problem zusammen hängt ein ähnlicher Punkt bei Khorchides Einschätzung der Scharia. Er geht dabei wieder von dem Axiom aus, dass der Islam nichts als die Vervollkommnung des Menschen will und erläutert: „Vervollkommnung aber kommt nicht von außen, auch nicht durch den Zwang eines Gesetzes. Sie ist vielmehr ein Prozess, der von innen kommen soll und muss.“ (116) Ist das aber wirklich immer so? Kann eine Vervollkommnung nicht auch von außen vorangebracht werden? Ist alles Äußerliche wirklich oberflächlich und unwichtig? Braucht der Mensch nicht auch äußere Zeichen und Rituale, die ihn allererst innerlich freisetzen? Ist das Verhältnis von Glaube und Gesetz sowie von Innen und Außen nicht eigentlich ein dialektisches, das in Khorchides Formulierungen in das gegenteilige 28 Vgl. S. 28: „Der Verstand kann uns also sagen, dass die Schöpfung einen Verursacher braucht.“ Barmherzigkeit als Leitkategorie für Islamische Theologie? Extrem der von ihm kritisierten Haltungen umzuschlagen droht? Ein wenig scheint hier eine protestantische, fast pietistische Innerlichkeit auf, die mittlerweile eigentlich eher als Verbürgerlichung der Theologie erkannt wird29 und zumindest einer gründlichen Überprüfung bedarf, bevor man ihr so viel Vertrauen schenkt, wie die Theologie der Barmherzigkeit zum gegenwärtigen Stand ihrer Ausarbeitung bei Khorchide. 4. Fazit So vielfältig und inspirierend auch die Anknüpfungspunkte von Khorchides Theologie sind, so anfragbar ist doch seine Fokussierung auf eine Theologie der Barmherzigkeit. Die Einschreibung der Barmherzigkeit in die Beziehungsfähigkeit Gottes scheint mir als freie Handlung der unverfügbaren Selbstbestimmung Gottes gedacht werden zu müssen, die mit der freien Tat der Schöpfung korrespondiert, und nicht als eine Wesenseigentümlichkeit oder als eine Tat, die immer schon der Fall ist. Möglicherweise kann eine angemessenere Einordnung der Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit Gottes eher in einer Theologie gelingen, die der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit Gottes jeweils ihr eigenes hermeneutisches Recht einräumt und sie nicht gegeneinander ausspielt. Möglicherweise wäre dann eher der tauḥīd Gottes das übergeordnete Prinzip, das die verschiedenen Attribute Gottes zusammenhält und zusammendenkt. Allerdings müsste dieser tauḥīd dann so gedacht werden, dass er Einheit nicht mehr als Gegenbegriff zu Differenz versteht und Dynamik und Relationalität nicht aus Gottes Wesen ausschließt. Aber ich will an dieser Stelle auf keinen Fall der weiteren Entwicklung muslimischer Theologie in Deutschland vorgreifen. Mein Artikel sollte nur deutlich machen, dass Khorchides theologische Konzeption nicht nur in exegetischer, sondern auch in spekulativer Hinsicht noch einiger Präzisierungen bedarf. Zugleich wäre es schade, wenn ihre emanzipatorischen Impulse durch ihre ja vielleicht behebbaren Ungenauigkeiten verloren gehen. 29 Vgl. zur entsprechenden Kritik der politischen Theologie etwa Johann B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie. 5. Aufl., Nachdr. der 4. Aufl. 1984 mit einem neuen Vorw. des Autors, Mainz 1992, 41–44. 53 „Wā Allāhu a‘lam – Und Gott weiß es besser.“ Eine Replik auf die Theologie der Barmherzigkeit vor dem Hintergrund der islamischen Tradition1 Ufuk Topkara 1. Vorüberlegungen Islamische Theologen haben früh die Prämisse aufgestellt, dass das Denken des Menschen zu limitiert sei, um Gottes Weisheit allumfänglich zu verstehen.2 Daraus haben sie aber keine Nachrangigkeit des Denkens abgeleitet, sondern vielmehr das Denken über Gott verbunden mit einer aufrichtigen Bescheidenheit.3 In Anlehnung an dieses Bewusstsein wurde jede Abhandlung mit der Formulierung „Wā Allāhu a’lam – Und Gott weiß es besser“ abgeschlossen. Man darf nicht dem Irrtum erliegen, dies als salvatorische Klausel oder gar als Bescheidenheitsfloskel abzutun. Hier kam vielmehr die Erkenntnis zum Ausdruck, dass jede Suche nach dem göttlichen Willen eine Suche unter vielen darstellt. So sehr die Suche nach Gott weder eine objektive noch eine singuläre Wahrheit zum Vorschein bringen wird, umso mehr galt es, jeden Versuch Gottes Willen zu ergründen als Manifestation des göttlichen Willens zu akzeptieren. 4 Gerade das Miteinander verschiedener Positionen, „die einander nicht die Existenzberechtigung absprechen, sondern miteinander sowohl ringen als auch koexistieren“, war in der Folge das Merkmal der islamischen Tradition.5 Die Scharia, wie sie von Generationen von Muslimen verstanden und praktiziert wurde, bringt nichts Geringeres als das zum Ausdruck. >@ 1 Der folgende Beitrag versteht sich als Replik auf das Buch Islam ist Barmherzigkeit von Mouhanad Khorchide aus dem Jahr 2012. Der Beitrag Khorchides in diesem Band nimmt im Gegensatz zum Buch die begrüßenswerte Auseinandersetzung mit der islamischen Tradition auf. Fraglich bleibt aber, inwieweit sich die Ausführungen in diesem Band in die Argumentationsstruktur des Buches einbetten lassen. Es entstehen zumindest eine Reihe von weiteren Anschlussfragen, die in meinem Beitrag angesprochen werden und die weiterhin Gültigkeit haben. 2 Vgl. Khaled Abou El Fadl, „Reading the Signs: The Moral Compass of Transcendent Engagement“, in: Mouhand Khorchide und Klaus von Stosch (Hg.), Herausforderungen an die Islamische Theologie in Europa – Challenges for the Islamic Theology in Europe, FreiburgBasel-Wien 2012, 223. Vgl. hierzu auch Navid Kermani, Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2011, 116–117. 3 Vgl. Khaled Abou El Fadl, Speaking in God’s Name. Islamic Law, Authority and Women, Oxford 2008, 32. 4 Vgl. ebd., 33. 5 Vgl. Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, 43. 68 Ufuk Topkara 3.1 Die notwendige Unterscheidung zwischen traditioneller Islamischer Theologie und puritanischen Auslegungen In Khorchides Theologie der Barmherzigkeit verbinden sich „Vorbehalte gegen die traditionalistische islamische Theologie“ mit „der Frage nach einer modernen Theologie des Islam“.66 Leider beschreibt er nicht, welche Positionen eine traditionalistische Islamische Theologie einnimmt, noch weist er darauf hin, wer die Protagonisten einer solchen Theologie sind. Falls Khorchide mit der Bezeichnung „traditionalistische islamische Theologie“ fundamentalistische Kreise meint, wäre es nötig gewesen, diese zu benennen. Wie eingangs dargelegt, können ja die Unterschiede zwischen dem Wahhabismus auf der einen und der traditionellen Islamischen Theologie auf der anderen Seite gravierender nicht sein. Khorchide unterstreicht zwar seine Kritik an einem wahhabitischen Islam, wenn er zu Beginn von seinen Erlebnissen in Saudi-Arabien berichtet und das dort vorherrschende Islambild mit einem Katalog von Geboten und Verboten vergleicht.67 Auch die interessanten Ausführungen zum Begriff kufr (Leugnung) und die Subsumierung von Fundamentalisten unter die Kategorie von Verleugnern oder Leugnern der göttlichen Liebe sind unzweifelhaft Ausdruck einer Ablehnung fundamentalistischer Auslegungen.68 Khorchide versäumt es allerdings, eine Trennlinie zu traditionell-islamischen Auffassungen zu ziehen. Zumindest wird an keiner Stelle im Buch ein eindeutig zu identifizierender Versuch unternommen, die islamische Tradition vor der Vereinnahmung durch die Fundamentalisten zu schützen. Wo Khorchide sich auf die islamische Tradition bezieht, geschieht dies nur punktuell. Es werden zwar Positionen unterschiedlicher Gelehrter kurz angesprochen, diese Bezugnahme bleibt aber nur Stückwerk und ist weit davon entfernt, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der islamischen Tradition darzustellen. Die Ausführungen Khorchides zur Eschatologie im Islam werden zum Beispiel lediglich durch ein Zitat von Ibn Qaiyim al-Ǧauzīya untermauert.69 Dabei gab es eine sehr lebhafte Debatte um die Jenseitsvorstellungen im Islam, die bis in die Gegenwart reicht, aber leider mit keinem Wort Erwähnung findet.70 Gerade mit Blick auf Khorchides freiheitstheologische Ausführungen wäre es von besonderer Bedeutung gewesen, diese unter Bezugnahme auf die islamische Tradition zu erörtern. Khorchide stellt seine freiheitstheologischen Überlegungen zu Recht in den Kontext der Selbstbestimmung des Menschen und den Stellenwert seiner Vernunft.71 Konsequent gelangt er zu der Überzeugung, dass sowohl das 66 67 68 69 70 Khorchide, 11. Vgl. ebd., 11–28, 215. Vgl. ebd., 89–91. Vgl. ebd., 57. Vgl. Mohammed Hassan Khalil, Islam and the Fate of Others: The Salvation Question, Oxford 2012. 71 Vgl. Khorchide, 74. „Wā Allāhu a‘lam – Und Gott weiß es besser.“ herkömmliche metaphysische Gottesbild weitergedacht werden muss als auch die Beziehung des Menschen zu Gott. Khorchide bestimmt das „Verhältnis zwischen Gott und Mensch als ein dialogisches Freiheitsverhältnis, in dem Gott allein mit den Mitteln der Liebe und Barmherzigkeit versucht, die Liebe des Menschen und somit Mitliebende zu gewinnen.“72 Hiermit wird eine Reihe neuer Begrifflichkeiten und Zusammenhänge in die Diskussion geworfen, die einer eingehenden Erklärung und Erläuterung bedürfen: Was genau beinhaltet ein dialogisches Freiheitsverhältnis und wie kann es in den Zusammenhang islamischen Denkens gestellt werden? Woher stammt die Idee, dass Gott versucht, die Liebe des Menschen und somit Mitliebende zu gewinnen? Islamische Theologie kann nicht zusammenhanglos weitergedacht werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die zum Teil harschen Reaktionen im Inund Ausland auf die Theologie Khorchides darin begründet liegen, dass er keinen methodischen Zwischenschritt eingelegt, sondern das ehrgeizige Ziel verfolgt hat, die Islamische Theologie direkt in das 21. Jahrhundert zu befördern. Es liegt mir fern, Khorchide Vorgaben zu machen, wie er seine Theologie der Barmherzigkeit methodologisch umzusetzen hätte. Im Lichte der Ausführungen in diesem Beitrag wäre es aber wohl wichtig gewesen, den Stand der Islamischen Theologie kurz zu erläutern, die Notwendigkeit der neuen Denkrichtung zu begründen, nach Ansätzen für die neue Denkrichtung zu suchen und erst dann den Schritt in diese Richtung zu unternehmen. Ohne diese Zwischenschritte kommt Khorchides Werk nicht über den Stand eines Entwurfs hinaus. Es wird die Aufgabe der Islamischen Theologie sein, das Erfordernis einer doppelten Übersetzung im Hinterkopf zu behalten. Islamische Theologie in deutscher Sprache ist für die Mehrheit der Muslime in Deutschland ein Novum. Es wäre hilfreich, wenn ihnen Zeit gegeben würde, um sich einerseits die Terminologie anzueignen und andererseits ein Sprachgefühl für die religiösen Zusammenhänge im neuen Gewand zu entwickeln. Auch hier fehlt es Khorchide an der erforderlichen Sensibilität, wenn er vorauseilt und viele bis dato in diesem Kontext nicht verwendete Termini ohne ausreichende Einbettung in die religiöse Sprachkultur der Muslime voraussetzt. Khorchides Theologie weist über diese methodologischen Schwächen hinaus auch inhaltlich bedenkenswerte Punkte auf, die vor allem mit Blick auf Schlüsselkonzepte des Islams zu Recht Widerspruch erregt haben. [...] 72 Vgl. ebd., 218. 69 „Wā Allāhu a‘lam – Und Gott weiß es besser.“ 4. Schlussüberlegungen Khorchide gebührt für seine Theologie der Barmherzigkeit Anerkennung. Zweifelsohne befindet sich dieser Ansatz noch in der Entwicklungsphase und wird sicherlich durch die breit aufgestellte Diskussion weiter an Profil gewinnen. Es wird spannend sein zu beobachten, wie Khorchide die verschiedenen Fragen an seine Theologie verarbeitet. Wichtige Ansätze, wie die Rezeption der anthropologischen Wende oder das theologische Freiheitsdenken wurden von ihm zwar inkorporiert, bleiben aber größtenteils Stückwerk, da sie die islamische Tradition nur bruchstückhaft reflektieren. Dieses Urteil ist im weiten Sinne dann auch für den gesamten Entwurf zutreffend. Es bleibt abzuwarten, wie sich Khorchide zur islamischen Tradition positioniert. Die in seiner Theologie der Barmherzigkeit zum Ausdruck gebrachte Standortbestimmung ist meiner Ansicht nach nicht tragbar. An einer Auseinandersetzung mit der islamischen Tradition wird Khorchide nicht vorbeikommen. Problematisch ist auch, dass die Theologie der Barmherzigkeit Schlüsselkonzepte der Islamischen Theologie wie die Scharia in unverständlicher Weise reduziert und damit der ohnehin belasteten Wahrnehmung der Scharia weiterhin Vorschub leistet. Anstatt sich direkt und offen gegen die Vereinnahmung der Scharia durch puritanische Gruppen zu wehren, übernimmt Khorchide die unreflektierte Position, in der die Scharia als ein juristisches Gebilde grob vereinfacht und falsch dargestellt wird. Es fehlt an dieser Stelle das entschiedene Eintreten für eine Rehabilitierung des Begriffs sowie der islamischen Tradition als Ganzes. Weder ist die islamische Tradition ein normativer Maßstab, der uneingeschränkte, letztgültige Autorität in Anspruch nimmt, noch legt die gewachsene Denktradition im Islam jemandem geistige Fesseln an. Im Gegenteil, unter anderem auch die in diesem Aufsatz angeführten Arbeiten zeigen, wie lohnend die kritische Auseinandersetzung mit der islamischen Tradition sein kann. Kontinuitäten wie Diskontinuitäten sind fester Bestandteil der islamischen Tradition, und hierin unterscheidet sie sich nicht von anderen Traditionen.92 Für die Akzeptanz seines Entwurfs wäre es definitiv von Vorteil gewesen, wenn Khorchide nach Anknüpfungsstellen in der islamischen Tradition gesucht hätte. Auf diesem Wege wäre es ihm gelungen, nicht nur aufzuzeigen, wie wir die islamische Tradition in die Diskussion hätten einbringen können, sondern auch, wie wir die islamische Tradition weiterdenken könnten.93 91 Vgl. Masud, 6. 92 Vgl. Moosa, Debts, 112. 93 Vgl. ebd., 111. 73 Understanding God’s Mercy Mohammad Ali Shomali God’s mercy is by far the most frequently mentioned divine quality in the Qur’an. In addition to its theological significance, divine mercy plays a central role in Islamic spirituality and moral outlook. Trying to understand God’s mercy, followed by trying to be merciful to others, form the core of the spiritual journey and moral practice of Islam. This paper will try to briefly study several aspects of God’s mercy with respect to His qualities.1 It starts with a description of God’s different names and qualities which relate to His mercy as mentioned in the Qur’an. Attributes derived from the root raḥma, such as ar-Raḥmān, ar-Raḥīm, Arḥamu-r-Rāḥimīn, Ḫayru-r-Rāḥimīn, Ḏū ar-Raḥma, and Ḏū Raḥmat-in Wāsiʿa as well as related attributes which are not derived from the same root, such as Ġafūr and Wadūd, are described. The paper goes on to discuss some of the characteristics of divine mercy, such as the fact that His mercy coexists with His omnipotence, His omniscience and absolute reach. Divine mercy is all-embracing as God has made mercy incumbent upon Himself. 1. Divine Names in the Qur’an – Overview 1.1 Ar-Rahmān ∙ Ar-Raḥmān is used 171 times in different Qur’anic passages, 122 times in connection one being Allah and the other Ar-Rahmān – like a person who has with other attributes and 49 times separately. Sometimes it is used independently, two names and attribute, is calledorboth, for example Abraham and David. The without any other as a proper noun like Allah. God has two proper nouns in the Qur’an – one being Allah and the other Ar-Rahmān – like a person who has Qur’an reads: two names and is called both, for example Abraham and David. The Qur’an reads: ء ا ا ن أا اا ﷲ أو اد اد ا ‘Say, “Call upon Allah, or call upon Ar-Rahmān: by whatever name ye call upon Him, (it is ‘Say, well): for to Himupon belongAllah, the Mostor Beautiful NamesAr-Rahmān: […]”’ (Q 17:110).by “Call call upon whatever name ye call upon Him, (it is well): for to There was a dispute at the time of the Prophet Muhammad (s) about whether to call Him belong the Most (Q God Allah or Ar-Raḥmān, or by someBeautiful other name.Names In answer[…]”’ to this question, God states that it is people’s decision which of the two to call Him. This is highly impor17:110) tant since it shows that amongst all of His names only Ar-Raḥmān can be put on the same level other names are of secondary. As mentioned earlier, (s) Ar-Raḥmān There was asa Allah; dispute at the time the Prophet Muhammad about is sometimes used in connection with other qualities or other names. For example, whether to call God Allah or Ar-Raḥmān, or by some other name. In answer to this question, God states that it is people’s decision which 1 The author has tried to address other aspects of God’s mercy like those relating to His mercy of the two to call Him. This and is highly in respect to His actions of creation guidance important in other papers.since it shows that amongst all of His names only Ar-Raḥmān can be put on the same level as Allah; other names are secondary. As mentioned earlier, ArRaḥmān is sometimes used in connection with other qualities or 78 level as Allah; other names are secondary. As mentioned earlier, ArRaḥmān is sometimes used in connection with other qualities or Mohammad Ali Shomali other names. For example, there are 114 occasions where Arthere are 114 occasions where Ar-Raḥmān is usedand in connection with God, and with Raḥmān is used in connection with God, with Raḥīm: Raḥīm: ا ﷲ ا ‘In the Name of God, the All-Beneficent, the All-Merciful.’ ‘In the Name of God, the All-Beneficent, the AllShi’a Muslims believe that this phrase, which comes at the beginning of a chapter, Merciful’ is considered part of that chapter. The number of times this phrase occurs is equal to the number of chapters in the All the chapters of the Qur’an with this Shi’a Muslims believe thatQur’an. this phrase, which comes at thestart beginning phrase except for chapter 9 at-Tawba (The Repentance). However, as the chapter 27 ofan-Naml a chapter, is considered part of that chapter. The number of times (The Ant) contains it twice, the number of times it occurs equals the total this phrase occursThis is equal number chapters in theemphasises Qur’an. number of chapters. means to thatthe God revealedof it 114 times, which its significance. An Imām aṣ-Ṣādiq (a) hadith thisphrase phrase asexcept ‘the greatest All the chapters of the Qur’an start introduces with this for 2 verse’ (aʿẓamu āyatin) of the Qur’an. In any case, this phrase by itself shows that chapter 9 at-Tawba (The Repentance). However, as the chapter 27 amongst all the different qualities and names of God, which number more than one an-Naml Ant)tocontains it twice, of times it occurs thousand, (The He prefers be described in this the way number – Ar-Raḥmān ar-Raḥīm – even equals totalhave number of chapters. This means thatname Godofrevealed it though the He could used many other attributes, e.g. ‘in the God the Forgiving, the Mighty’. This indicates that these are the attributes closest to His reality. 1.2 Ar-Rahīm ∙ The next name is Raḥīm. Raḥīm is mentioned 227 times in the Qur’an. Once it is used to refer to the Prophet Muhammad (s) and 226 times for God. In the Qur’an, both the Prophet (s) and God Himself are referred to as Raḥīm. In Arabic, raḥīm and ar-raḥmān are both adjectives and mean ‘the one who is very merciful’. 1.3 Hayru-r-rāhimīn ˘ Other divine names also derive from the same root as mercy. For example, in verses 109 and 118 of the chapter mu’minūn (The Believers), God refers to Himself as Ḫayru-r-rāhimīn (‘the best of those who show mercy’). We may consider, for example, mothers to be merciful; yet they cannot be compared to God. His mercy precedes the mercy of anyone. If we were to imagine the most merciful mother in the world, her mercy would be a drop in the ocean compared to God’s mercy. There is a story about a person at the time of the Prophet Moses who had a very old mother and was tired of her. In the end he decided to free himself of her by taking her to a mountain and leaving her there, so that she could not find her way back to him. Despite all the mercy and attention that he had received from his mother he was prepared to do such a thing to her. By the time he was returning from leaving her on the mountain it was getting dark. God informed the Prophet Moses about the woman 2 Imām aṣ-Ṣādiq, Bihār al-Anwār, vol. 82, 21; vol. 89, 238. Understanding God’s Mercy and told him to visit her. So Moses went to see the woman and found her praying to God, ‘Oh God! Please protect my son. It is dark and he is going back home, so maybe he will injure himself, or maybe he will get into some kind of difficulty.’ A mother who was treated like that by her son still prayed for him to be safe instead of cursing him. God however declared His love for His servants much greater than the love of that mother for her son. So we should never think that if God punishes people who are bad, it is because He is angry and wants to satisfy His anger or take revenge. No! Even His punishment originates from His mercy, and it is in fact not God who is punishing us. It is us who cause problems for ourselves. God’s mercy is greater than anyone else’s. In some spiritual literature, fatherly love has been compared to the love of God. The Prophet Jacob had twelve sons, and as a prophet he knew that he had to show his love equally to each of his sons. However, his fatherly love for Joseph was so great that he could not hide it, for Joseph was special. Joseph was not merely his son. He was a chosen servant of God, and so Jacob did not love him simply as his son. He loved Joseph so much that when Joseph was taken away from him he grieved to the extent ∙ that he became blind. Being a prophet of God, Jacob had great patience, and when he was informed by the brothers that Joseph had been killed by a wolf, he tried to show ‘beautiful patience’ (Q 12:18). However, he was still in so much pain that his body could not tolerate it, and therefore he became blind. A hadith explains that the love of God for His servants is seventy times greater than Jacob’s love for Joseph. It should be noted that here seventy is not just meant as a number. In Arabic, the numbers seven and seventy are often used to indicate ‘many’. Therefore, we cannot compare ∙ ∙ ˉ ˉ mercy, God’s mercy to anyone else’s even a father’s like in Jacob’s case. This is why in the Qur’an God refers to Himself as ‘the best of the merciful’ (Q 23:109, 118). >@ 79 Offenbarung als Barmherzigkeit Gottes Serdar Kurnaz Aw taqūlu law annā unzila ʿalaynā l-kitābu lakunnā ahdā minhum. Fa-qad ǧāʾakum bayyinatun min rabbikum wa-hudan wa-raḥmatun. (Q 6:157) 1.Einleitung Im obigen Koranvers, der eine zentrale Aussage bezüglich der Wichtigkeit der Offenbarung für die Menschen enthält, heißt es: „Oder sagt: ‚Wenn die Schrift zu uns herabgesandt worden wäre, dann wären wir auf einem besseren Wege als sie.‘ Doch nun kam ein Beweis (bayyina) zu euch von eurem Herrn und Führung (hudā) und Barmherzigkeit (raḥma).“1 Wie an dieser Stelle wird im Koran in vielen Passagen die Barmherzigkeit Gottes betont und in Verbindung mit der Herabsendung des Korans gebracht. Mohammad Ali Shomali stellt in seinem Aufsatz dar, dass die Barmherzigkeit an mehr als 600 Stellen im Koran erwähnt wird und schließt daraus, dass uns hierdurch ein Hinweis auf die zentrale Rolle, die die Barmherzigkeit Gottes im Koran spielt, vorliege. Beispielsweise werde die Gerechtigkeit Gottes im Vergleich zu seiner Barmherzigkeit in geringerem Maße genannt. Shomali erwähnt die verschiedenen Eigenschaften Gottes, die seine Barmherzigkeit darstellen und setzt sie auch in Relation zu vielen weiteren Attributen bzw. Eigenschaften Gottes, etwa seiner Gerechtigkeit oder seinem Zorn gegenüber seiner Barmherzigkeit. Die Argumentation Shomalis bezüglich der Bedeutung der Barmherzigkeit Gottes im Koran, die er an der Quantität der angeführten Begriffe festmacht, erklärt meines Erachtens allerdings nicht die Beziehung der Barmherzigkeit zur Existenz der Offenbarung. Shomali geht leider nicht darauf ein, was der Grund der Offenbarung ist: Ist es die Barmherzigkeit Gottes, oder handelt es sich hierbei um eine andere Eigenschaft, die ihn zur Offenbarung veranlasst hat? Um auf die letzte Frage eingehen zu können, werde ich zunächst das gängige Offenbarungskonzept islamischer Auffassung zusammenfassend darstellen, hiernach auf die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes eingehen und mich schließlich auf die Beziehung zwischen der Offenbarung und Barmherzigkeit Gottes in Verbindung mit seiner Gerechtigkeit konzentrieren. Die Informationen bezüglich der Barmherzigkeit und weiteren Eigenschaften Gottes bauen auf den Ausführungen Shomalis auf. 1 Im Folgenden wird die Koranübersetzung von Bobzin verwendet, wenn nicht anders vermerkt. Vgl. Der Koran. Neu übertragen von Hartmut Bobzin, München 2012. 92 Serdar Kurnaz 2. Die Offenbarung (al-wahy) ∙ Wörtlich bedeutet al-waḥy „ein(e) schnelle, verborgene Nachricht bzw. Zeichen“.2 Diese wörtliche Bedeutung, die in der vorislamischen Zeit vorherrschte, wird auch im Koran verwendet, wodurch der Begriff waḥy in verschiedenen Bedeutungen auftaucht. Im Koran sind die folgenden drei Bedeutungen zu erfassen: 1 Eingebung; etwa in Q 28:7: „Und wir gaben Moses Mutter ein: Nähre ihn an deiner Brust!“ oder in Q 16:68: „Dein Herr gab der Biene ein: ‚Mach dir in den Bergen etwas zu Häusern […]‘.“ 2 Schlechte bzw. böse Einflüsterung (waswasa); etwa in Q 6:121: „Ja, die Satane reden ihren Vertrauten etwas ein, um mit euch zu streiten.“ 3 Offenbarung bzw. Nachricht von Gott zum Menschen; etwa in Q 42:51: „Keinem Menschen steht es an, dass Gott mit ihm spricht, es sei denn, durch Eingebung oder hinter einer Trennwand. Oder er sendet einen Gesandten, dass der mit seiner Erlaubnis offenbart, was er will.“ Mit Blick auf ihre wörtliche Bedeutung stellen alle drei Arten eine verborgene und schnelle Nachricht dar. Aus diesen Bedeutungen hat sich der Terminus technicus des al-waḥy mit Konzentration auf den bereits erwähnten Vers 42:51 entwickelt. Al-waḥy ist die Nachricht von Gott an den Menschen, die ihm eingegeben wird. Dies geschieht entweder auf direktem Wege, hinter einem Vorhang oder indem ein Bote gesandt wird. Die muslimischen Theologen haben zusätzlich mit Berücksichtigung der vorhandenen Hadithe bezüglich des Offenbarungsprozesses folgende Offenbarungsarten bestimmt: 1) Der vertrauenswürdige Traum (ar-ruʾyā aṣ-ṣāliḥa): Die ersten Offenbarungen begannen mit den Träumen des Propheten Muhammad, die sich nach dem Aufwachen bewahrheiteten. Auf diesen Umstand macht die Prophetengattin ʿĀʾiša aufmerksam.3 Ferner wird erwähnt, dass der Begriff „Eingebung“ (illā waḥyan) im Vers 42:51 auf diese Art hinweist.4 2 3 4 Vgl. Ǧamāl ad-Dīn Abu l-Faḍl Ibn Manẓūr, Lisān al-ʿArab (Die Sprache der Araber/Die arabische Sprache), Kairo 2003, 9:243. Vgl. Muḥammad b. Ismāʿīl al-Buḫārī, al-Ǧāmiʿ aṣ-Ṣaḥīḥ (Die authentische Kompilation). Kitāb Badʾ al-waḥy (Kapitel: Beginn der Offenbarung), Bāb 1, Hadith Nr. 3: „Von ʿĀʾiša, der Mutter der Gläubigen wird berichtet, dass sie sagte: ‚Die erste Form, mit der dem Propheten Muhammad die Offenbarung eingegeben wurde, waren die vertrauenswürdigen Träume während des Schlafs. Es gab keinen Traum, der sich nicht wie der Tageseinbruch bewahrheitete‘ ([…]ʿan ʿĀʾišata Ummi l-Muʾminīna annahā qālat: awwalu mā budiʾa bihī Rasūlu llāhi (ṣlʿm) min al-waḥyi r-ruʾyā ṣ-ṣāliḥatu fī n-nawm, fa-kāna lā yarā ruʾyā illā ǧāʾat miṯla falaqi ṣ-ṣubḥi).“ Vgl. Süleyman Ateş, Kur’an Ansiklopedisi (Koranenzyklopädie), Istanbul (o.J.), 22:69. AṭṬabarī nennt in der Auslegung der Verse 96:1–5 diesen Umstand, s. Ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī, Offenbarung als Barmherzigkeit Gottes 2) Die Überbringung der Nachricht durch Gabriel: Diese im Vers 42:51 dargestellte Art teilt sich in mehrere Kategorien auf: a) Gabriel überbringt Muhammad eine Offenbarung von Angesicht zu Angesicht, indem der Prophet Gabriel sehen und hören kann.5 b) Gabriel überbringt eine Botschaft, ist aber für den Propheten nicht sichtbar. Diese Art der Offenbarung nimmt der Prophet dem Glockenläuten ähnlich wahr. Wie einem Hadith zu entnehmen ist, ist dies die für den Propheten schwierigste Art, eine Offenbarung zu empfangen, die sogar dazu geführt hat, dass er im Winter an kalten Tagen vor Anstrengung durch die Offenbarung in Schweiß ausbrach. Es wird sogar dargestellt, dass der Prophet bei dieser Art der Übertragung die Form eines Engels angenommen habe. Dies ist allerdings umstritten.6 c) Der Engel Gabriel wird durch den Propheten und weitere Menschen in Gestalt eines Menschen gesehen. Es wird erwähnt, dass Gabriel oft in Gestalt von Diḥyat al-Kalbī erschienen ist.7 d)Im Schlaf wird Gabriel zum Propheten geschickt und überbringt ihm im Traum die Botschaft, die er verkünden soll. As-Suyūṭī (gest. 911/1505) bezeichnet diese Art der Offenbarung als nawmī („während des Schlafs“) und führt als Beispiel die Sure al-Kawṯar (Sure 108, Die Fülle) an, die auf diese Art und Weise herabgesandt wurde. Er stellt dar, dass die Prophetengefährten den Propheten schlummern sahen und er nach einiger Zeit seinen Kopf hob und zu lächeln begann. Auf die Frage, weshalb er lächle, antwortete er, dass ihm eine Sure offenbart wurde, und rezitierte die Sure al-Kawṯar. Jedoch sind sich die Gelehrten nicht einig, ob er diese Offenbarung wirklich im Schlaf erhielt oder ob der Prophet sich so verhielt, weil er sich im Prozess einer Herabsendung befand und ihn die Last der Offenbarung als Schlafenden erscheinen ließ.8 3) Die direkte Eingebung in das Herz des Propheten Muhammad im Sinne des Einflüsterns und Pustens. Hierauf weist der Vers 42:51 durch die Aussage „hinter einem Vorhang“ (min warāʾ ḥiǧābin) hin.9 [...] 5 6 7 8 9 Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-Qurʾān (Kompilation der Aussagen bezüglich der Auslegung der Koranverse), Kairo 2009, 27:526. Vgl. Q 53:6–14. Vgl. al-Buḫārī, Ṣaḥīḥ, Badʾ al-waḥy, Bāb 1, Hadith Nr. 2; Ateş, 22:68; Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī, al-Itqān fī ʿUlūm al-Qurʾān (Die Perfektion in den Koranwissenschaften), ed. Maḥmūd Aḥmad al-Qaysiyya u.a., Abu Dhabi 2003, 1:203 f. Vgl. al-Buḫārī, Ṣaḥīḥ, Badʾ al-waḥy, Bāb 1, Hadith Nr. 2; as-Suyūṭī, 1:204 f. Vgl. as-Suyūṭī, 1:101, 205. Für denselben Hadith s. Abu l-Ḥusayn Muslim b. al-Ḥaǧǧāǧ, alǦāmiʿ aṣ-ṣaḥīḥ (Die authentische Kompilation), Kitāb aṣ-ṣalāt (Kapitel über das Gebet), Bāb 14, Hadith Nr. 53 (400). Vgl. as-Suyūṭī, 1:204 und Ateş, 22:68 f. 93 Wie Gott als Barmherzigkeit gedacht werden kann Ahmad Milad Karimi „Was wäre denn sonst der Mühe wert zu begreifen, wenn Gott unbegreiflich ist?“ (Hegel) Zunächst ist es mehr als eigentümlich, dass sich Gott im Koran die Barmherzigkeit vorschreibt, ja er scheint sich zu dieser Eigenschaft (ṣifa) selbst zu verpflichten. So ist aus dem Koran zu hören: „Euer Herr hat Sich selbst Barmherzigkeit vorgeschrieben.“1 Eigentümlich ist dies vornehmlich deshalb, weil das Vorschreiben der Barmherzigkeit (raḥma) als eine Tat (fi‛l) Gottes an ihm selbst insofern „äußerlich“ wirkt, als sie eine gesetzte und nicht eine an und für sich seiende Bestimmung Gottes – wie etwa die Einheit (tauḥīd) – ausdrückt.2 Wenn sich Gott selbst die Barmherzigkeit vorschreibt, ja Gott sich als Barmherzigkeit nahezu identifiziert3, so ist darzulegen, wie die Barmherzigkeit hinsichtlich der Gotteslehre systematisch zu denken ist. Bloß anzunehmen, weil es im Koran stehe, dass sich Gott Barmherzigkeit vorschreibe bzw. dass es identisch sei nach Gott oder dem Barmherzigen zu rufen, bleibt ohne eine inhärente Begründung ebenso sehr eine „äußerliche“ Betrachtung. Dabei stellt der Hinweis, dass dieses Attribut ziemlich häufig im Koran auftrete, nur ein Scheinargument dar.4 Zu klären bleibt, was gesagt ist, wenn von raḥma im Koran die Rede ist. Was ist die Barmherzigkeit? In welchem Verhältnis stehen die Einheit und die Barmherzigkeit Gottes? Wie ist die Barmherzigkeit innerhalb der anderen Eigenschaften Gottes systematisch einzuordnen? Welche theologischen Implikationen ergeben sich, wenn die Barmherzigkeit nicht bloß unter den Tateigenschaften (ṣifāt al-fi‛l) Gottes subsumiert wird? 1 2 3 4 Q 6:54; vgl. auch Q 6:12. Zur Kritik der äußerlichen Reflexion vgl. die harsche Kritik der deutschen Idealisten: G.W.F. Hegel, Werke. In 20 Bdn., auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, hg. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1969–1971, Bd. 6, 31; J.G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 234, und F.W.J. Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur, in: Sämtliche Werke, I.2, 13 f. Vgl. Q 17:110; vgl. auch Q 7:56. Man könnte vielleicht daraus ein Argument basteln, aber dann muss man begründen können, warum ausgerechnet diese Eigenschaft genauso oft vorkommt und nicht einmal mehr oder weniger; denn sonst handelt es sich nur um eine quantitative Benennung, die mehr über die arithmetische Fähigkeit des Zählenden aussagt als über die nämliche Eigenschaft selbst. 108 Ahmad Milad Karimi 1. Von der Totalität Gottes Gott, der eine Gott – „ohne alle weitere Bestimmung.“5 Er ist vollständig er selbst. Diese restlose Selbstheit ist demnach Vollendung,6 Totalität. Da nichts außer, vor oder gar in Gott angenommen oder gedacht werden kann, muss Gott die Ursache, ja der Grund von sich selbst sein.7 Grund und Existenz werden nicht unterschieden gedacht;8 vielmehr: Gott ist die Selbst­begründung schlechthin. Die Rede von seiner Existenz im Unterschied zu ihm, insofern er der Grund ist, ist an dieser Stelle deshalb überflüssig, weil er als die reine Selbstheit, also in sich relationslos, gedacht wird oder nicht gedacht werden kann, was aber dasselbe ist. Damit sei der Trinitätstheologie jeglicher Couleur entschieden abgesagt. Das ist ausnahmslos in der islamischen Geistestradition gesagt worden: Gott ist die absolute Einheit. In seiner absoluten (muṭlaq), also durchgängigen (ṣamad) Einheit hat Gott keinen Unterschied in sich. Das ist nur konsequent, wenn sich Gott nicht zu sich selbst verhalten soll;9 denn dann müsste man einen – wie auch immer gearteten – Unterschied in Gott annehmen, aber mit diesem Gedanken wäre man bereits inmitten einer trinitarischen Konzeption und der daraus deduzierbaren Christologie. Demnach ist Gott im eminenten Sinne Alles. Damit werden mitnichten dem Pantheismus Zugeständnisse gemacht;10 dass Gott buchstäblich alles sei, gibt zunächst sein Begriff vor: Es gibt nichts, noch nicht einmal eine Gottheit außer dem einen Gott.11 Der Gedanke des Pantheismus im klassisch gewordenen Sinne versteht bekanntlich alles erst aus dem Gedanken des Ganzen, also der Welt bzw. der Schöpfung heraus;12 aber davon ist hier nicht die Rede. Gesagt ist allein: Gott als Gott ist in seiner Selbstheit gänzlich realisiert. Nichts ist neben ihm, wenn von einem neben überhaupt gesprochen werden kann: lā šarīka lahu. In seiner reinen Unmittelbarkeit ist also Gott derart mit sich gleich, dass er noch nicht einmal „ungleich13 gegen Anderes [ist – da auch hier nicht Anderes erwähnt werden kann], hat keine Verschiedenheit innerhalb seiner, 5 Hegel, Bd. 5, 82. Hegel beginnt mit diesem berühmten Nachtrag die erste Definition des Absoluten zu benennen, welche dem wohl umstrittensten Anakoluth der abendländischen Geschichte nachgestellt ist; diese hat bekanntlich allen voran zu einem Ärgernis bei Schelling geführt. Vgl. hierzu Lore Hühn, Kierkegaard und der deutsche Idealismus. Konstellationen des Übergangs, Tübingen 2009, 156. 6 „Er ist der Erste und der Letzte“ (Q 57:3). 7 Vgl. Baruch de Spinoza, Ethica. Ordine Geometrico demonstrate, Stuttgart 2002, 4. 8 Vgl. F.W.J. Schelling, Untersuchungen, 29 f. 9 Verhältnis, ja selbst und gerade Selbstverhältnis suggeriert Differenz, wenn das Selbst mit dem Akt des Verhältnisses determiniert wird. Vgl. Søren Kierkegaard, „Die Krankheit zum Tode“, in: Ders., Philosophische Schriften 2, Frankfurt a. M. 2009, 666. 10 Vgl. hierzu die Ausführungen von Schelling in: F.W.J. Schelling, Untersuchungen, 11–22. 11 Die Rede von dem Einen ist nicht von nummerischer Natur, sondern notwendig von qualitativer Art. 12Der locus classicus des Pantheismusstreits ist die Auseinandersetzung Jacobis mit dem Spinozismus. Vgl. Heinrich Scholz, Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, Berlin 1916. 13 Gott ist, so der Koran, inkommensurabel: „Und nicht gleich ist ihm einer“ (Q 112:6). Wie Gott als Barmherzigkeit gedacht werden kann noch nach außen“14; denn damit wäre seine absolute Reinheit verletzt. In dieser Entschiedenheit ist bereits die Bestimmung Gottes bei der Muʿtazila gedacht worden, wie Abū al-Ḥasan al-Ašʿarī berichtet: „Die Muʿtazila sind der Auffassung, dass Gott einer ist; nichts gleicht Ihm; […] Er hat keine Verbindung und keine Trennung“.15 Insofern lässt Gott als reine Identität, differenzlos in sich, keine Anschauung zu,16 ist er doch toto genere die reine Unbestimmtheit. Wäre dies das letzte Wort, so wäre damit bloß eine philosophische Gedankenfigur beschrieben, von der selbst Martin Heidegger zu berichten weiß: „Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern […] weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.“17 2. Die (Nicht-)Andersheit Gottes Die In­ kommensurabilität Gottes zeugt von seiner Vollkommenheit derart, dass er von allem Anderen unendlich verschieden ist, oder um richtiger zu reden, kein Ding ist mit ihm – auch nicht im negativen Sinn – in Relation zu setzen. Demnach ist Gott nicht bloß größer als gedacht werden kann; vielmehr ist er größer als jede Relation, die sich auf ihn zu beziehen versucht, also ist er größer als größer. Gott ist demnach derart anders, dass es nicht einmal adäquat wäre zu sagen, dass man von ihm unterschieden sei.18 So überrascht es nicht, bereits bei ‛Abdallāh Ibn Kullāb zu lesen: „Namen und Eigenschaften, die das Wesen Gottes betreffen, sind nicht Gott, aber auch nichts anderes als Gott.“19 Gott kennt mithin keinen Gegensatz,20 ja er ist insofern im besten Sinne Unendlichkeit, als er nicht die Endlichkeit als sein Gegenüber hat. Bereits Hegel hat auf diesen – um es mit den Worten von Aristoteles zu sagen – Kategorienfehler hingewiesen,21 der gemeinhin angenommen wird, weil 14 Hegel, Bd. 5, 82. 15 Abū al-Ḥasan al-Ašʿarī, Maqālāt al-islāmīyīn, ed. Hellmut Ritter: Die dogmatischen Lehren der Anhänger des Islam, Wiesbaden 1963, 155. 16 „Nicht erreichen Ihn die Blicke“ (Q 6:103). Vgl. Tim 6,16, Ex 3,3, Ex 19,12 und insbesondere Ex 33, 20: „Mein Angesicht kannst Du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ 17 Martin Heidegger, Identität und Differenz, Stuttgart 1957, 64. Geschweige von Friedrich Nietzsche, der im ersten Teil („Vom Lesen und Schreiben“) von Also sprach Zarathustra fordert: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde.“ 18 Vgl. Nicolai de Cusa, opera omnia, Bd. 13, Directio speculantis seu de non aliud, hg. Ludovicus Baur und Paulus Wilpert, Leipzig 1944. 19 Al-Ašʿarī, 169. 20 Demnach ist es plausibel, wenn der große Gelehrte al-Ašʿarī in seinem Maqālāt al-islāmiyyīn wa-iḫtilāf al-muṣallīn konstatiert, dass sich Gottes Wesensattribute von seinen Tatattributen insofern unterscheiden, als sie keinen Gegensatz haben. Vgl. al-Ašʿarī, 508. 21 Hegel zeigt bekanntlich, warum das Unendliche als das Unendliche des Verstandes letztlich nicht die wahrhafte Unendlichkeit erreicht. Den entscheidenden Mangel hat das „SchlechtUnendliche“ nämlich dadurch, dass es dem Endlichen „gegenüberbleibt“. Das Un-endliche als die bloße Negation des Endlichen bleibt endlich, es kann sich nicht vom Endlichen loslösen, ja zum Absoluten hinausgehen; vielmehr bleibt es „das verendlichte Unendliche“. Vgl. 109 110 Ahmad Milad Karimi der Verstand die Unendlichkeit als Negation der Endlichkeit denkt und somit die Unendlichkeit durch die Endlichkeit begrenzt und mithin verfehlt. In seiner unübertrefflichen Vollkommen­heit hat Gott also kein Gegenüber, so dass er der unendlich Beständige (qayyūm) ist.22 3. Die ewige Bewegtheit Gottes Die Beständigkeit Gottes wird aber durch seine Lebendigkeit generiert.23 Er geht nicht erst in den Kampf und in den Unterschied, um sich erst als ein Lebendiges (ḥayy) zu erhalten; vielmehr ist er immer schon diese reine Lebendigkeit.24 Gott ist demnach ewige Bewegtheit, reine Prozessualität. Aristoteles würde zu Recht widersprechen; nach dem ersten Lehrer, wie er in der islamischen Geistesgeschichte genannt wird, hat alles, was ist, das Prinzip der Bewegung in sich. Entstehen und Vergehen sind konstitutive Momente des Seienden. Wenn aber alles, was ist, bewegt ist, dann muss es durch etwas anderes in Bewegung gesetzt sein, da ein regressus infinitum nicht möglich ist. Dieser immer tätige Beweger, von dem alle Bewegung erst ausgeht, ist selbst aber unbewegt.25 In Gott findet keine Bewegung statt; Gott ist demnach nicht bewegt, denn er verändert sich nicht; die Bewegtheit Gottes ist also zugleich keine Bewegtheit im Sinne vom Übergehen. Aber die hier vertretene These besagt nicht, dass Gott bewegt sei; mit der Bewegtheit Gottes ist selbstverständlich nicht eine räumliche oder zeitliche, sondern eine (wesens-)logische Bewegtheit intendiert.26 Gottes ewige Bewegtheit wird vielmehr als ein apriorisches Perfekt gedacht. Gott ist immer schon Bewegtheit, reine Bewegung, reine Veränderung. Er ist nämlich Prinzip (al-awwal) und Telos (al-aḫir) im gleichen Atemzug.27 Gott als der Erste unterscheidet sich nicht vom Gott als der Letzte deshalb, weil der Übergang vom Ersten zum Letzten immer schon übergangen ist, es ist eben ein apriorisches Perfekt des „Je-schon-Übergegangenseins“, wie Hegel es pointiert zum Begriff bringt.28 >@ 22 23 24 25 26 27 28 Hegel, Bd. 5, 149 u. 173. Vgl. auch Ahmad Milad Karimi, Hegel und Heidegger. Identität – Differenz – Widerspruch, Freiburg 2012, 172 f. Vgl. Q 28:88: „Alles ist untergehend: nicht Sein Antlitz.“ So heißt es am Beginn des Thronverses: „Gott, kein Gott außer Ihm, dem Lebendigen, dem Beständigen! Ihn ergreift nicht Schlummer noch Schlaf.“ (Q 2:255). Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch XII, 7 b-e. Vgl. ebd., 6–8. Vgl. Hegel, der diese notwendige Einsicht darlegt: Hegel, Bd. 8, 229. „Er ist der Erste und der Letzte“ (Q 57:3). Vgl. Hegel, Bd. 5, 83. Rahma und rahim. Zur weiblichen Assoziation der ∙ ∙ Barmherzigkeit Allahs Nimet Seker „Gott kann nicht getrennt von der Materie gesehen werden, und Er wird vollkommener in der menschlichen Materie als in irgendeiner anderen gesehen und vollkommener in der Frau als im Mann.“ Ibn ʿArabī 1. Zum Zusammenhang von rahma und rahim ∙ ∙ qāl Allāhu ʾana r-raḥmānu wa-hiya r-raḥimu šaqaqtu lahā isman min ismī man waṣalahā waṣaltuhu wa-man qaṭaʿahā batattuhu.1 Gott sagte: Ich bin ar-Raḥmān und sie ist ar-raḥim. Ich habe ihren Namen von Meinem Namen abgeleitet.2 Wer sich in den Mutterschoß3 begibt, mit dem werde ich Mich vereinen, wer sie abtrennt, den werde ich [von Mir] abtrennen. Dieser ḥadīṯ qudsī setzt die Barmherzigkeit Gottes mit dem Mutterschoß auf eine besondere Weise in Relation: Zunächst ist er Ausdruck der Bedeutsamkeit und des heiligen Status des Mutterschoßes (raḥim) als Symbol für das weibliche Geschlecht und als Reflexion der göttlichen Barmherzigkeit, die sich in der Schöpfung manifestiert. Doch der ḥadīṯ qudsī sagt uns mehr als dieses. Seinem Wortlaut ist zu entnehmen, dass der Name des Mutterschoßes (raḥim) vom Namen des Barmherzigen (arRaḥmān) stammt. Die Verbindung zwischen raḥim und raḥma ist auf sprachlicher Ebene klar zu erkennen. Aus der arabischen Wortwurzel r-ḥ-m („barmherzig sein“) werden sowohl die Begriffe raḥim (Mutterschoß) und raḥma (Barmherzigkeit) als auch die Gottesnamen ar-Raḥmān und ar-Raḥīm (der Allerbarmer, der Barmherzige) gebildet. Die klassische Verbindung der Mutterliebe mit der Liebe und Barmherzigkeit Gottes ist eine starke Grundlage für die Achtung von Müttern und Mutterschaft im Islam. In der mütterlichen Fürsorge für das Kind spiegelt sich die Barmherzigkeit Gottes wider; sie wendet sich ihrem Kinde in bedingungsloser Liebe und Barmherzigkeit zu, so wie sich der Schöpfer seiner Schöpfung zuwendet, wie in diesem Hadīth überliefert ist: 1 Ich danke meinem Kollegen Ali Ghandour für die Durchsicht dieses Manuskripts. Ibn Ḥanbal, 10474; Abū Dawūd, zakāt: 1694 f.; Tirmiḏī, birr: 2031. al-Ḥākim an-Nīsābūrī: 7267, 7268, 7269, 7270, 7271, 7272; al-Bayhaqī: 7566. aḏ-Ḏahabī stufte diese Überlieferung als ṣaḥīḥ ein, vgl. al-Ḥākim: al-Mustadrak ʿalā aṣ-Ṣaḥīḥayn, Beirut 1990, Band 4, 173 ff. 2 Wörtlich: „abgetrennt“. 3Mit raḥim sind auch die Verwandtschaftsbande gemeint. 118 Nimet Seker inn Allāha ḫalaqa yawma ḫalaqa s-samawāti wa-l-arḍa miʾata raḥmatin kullun raḥmatin ṭibāqa mā bayna s-samāʾin wa-l-arḍi. fa-ǧaʿala minhā fī l-arḍi raḥmatan fīhā taʿṭifu l-wālidatu ʿalā waladihā.4 Wahrlich, an dem Tag, an dem Gott Himmel und Erde erschuf, erschuf Er die Barmherzigkeit in einhundert Teilen. Jedes Teil der Barmherzigkeit entspricht der Entfernung zwischen Himmel und Erde. Von dieser Barmherzigkeit ließ Er einen Teil auf die Erde herabkommen. Und aus dieser Barmherzigkeit stammt die Zuneigung einer Mutter zu ihrem Kinde. Was meint der eingangs zitierte ḥadīṯ qudsī aber, wenn er davon spricht, dass der Name raḥim vom Namen ar-Raḥmān wörtlich: „abgetrennt“ wurde? Kann es einen Zusammenhang von raḥma und dem weiblichen Schoß als archetypischer Verkörperung der raḥma geben? Der ḥadīṯ qudsī weist weit mehr Implikationen auf als die Verbindung von Mutterliebe und göttlicher Liebe sowie raḥma. Vielmehr enthält er eine Aussage, die sich nicht auf eine lexikalische oder semantische Verwandtschaft reduzieren lässt. Er impliziert, dass der weibliche Mutterschoß selbst eine Manifestation der göttlichen raḥma ist, und zwar nicht irgendeine Manifestation, sondern eine ganz spezifische, die ich in diesem Aufsatz am Beispiel des Status von Maryam in der theologischen Anthropologie entfalten möchte. Hierzu stellt sich zunächst die grundlegende Frage, wie über die Eigenschaften Gottes in menschlich begrenzter Sprache und, im erweiterten Sinne, ob und wie die Barmherzigkeit Gottes in geschlechtlich assoziierter Rede reflektiert werden kann. Dazu ist es wichtig zu erkennen, wie sich die sprachlichen Formen von Anthropomorphismen und Manifestationen von Gottesattributen gestalten – handelt es sich in beiden Fällen um eine Form von metaphorischer Rede? Die christlich-feministische Theologie hat sich der Reflexion über die weibliche Dimension Gottes gewidmet und dabei die vielfältigen Formen weiblicher Anthropomorphismen in der hebräischen Bibel entdeckt (siehe 2.). Die Rede vom weiblich assoziierten Heiligen nimmt auch im Taṣawwuf breiten Raum ein. Im Werk des andalusischen Mystikers Ibn ʿArabī finden sich unzählige Reflexionen über das Weibliche als Schöpfungsprinzip und als Manifestation göttlicher Attribute. Dieser Beitrag stellt somit einen Versuch dar, den eingangs zitierten ḥadīṯ qudsī durch die Brille Ibn ʿArabīs zu lesen. 2. Weibliche Gottesbilder in der hebräischen Bibel Für die christliche Gotteslehre ist die Idee von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht nur von anthropologischer Relevanz, sondern auch für eine geschlechtlich assoziierte Rede von Gott prägend gewesen. Denn aus Sicht der mehrheitlich von Frauen betriebenen theologischen Reflexion über geschlechtersensible Implika4 Muslim, tawba: 6634/7153. Rahma und rahim . . . Zur weiblichen Assoziation der Barmherzigkeit Allahs tionen der christlichen Lehre ist die in Kirche und Theologie dominierende Sprache männlich geformt. Dies laufe auf eine „geschlechtliche Engführung des menschlichen Redens und Nachdenkens über Gott“ hinaus.5 So hat sich eine der Befreiungstheologie nahe stehende feministische Hermeneutik innerhalb der systematischen Theologie und den Bibelwissenschaften herausgebildet, die die Frage nach einem geschlechtlich assoziierten Gottesbild in der hebräischen Bibel eingehend studiert hat. Die in den Schriften der hebräischen Bibel transportierten Gottesbilder repräsentieren in dieser Hermeneutik das Gottesbild des Juden Jesus von Nazareth. Die Betonung liegt hier auf dem Plural Bilder, was, wenn man bedenkt, dass die islamische Glaubensgrundlage des Einssein Gottes (tawḥīd) in einer abrahamischen Kontinuität steht, zunächst erstaunen mag. Hier finden sich für Helen Schüngel-Straumann, die eine Pionierin in diesem Gebiet war, authentische historisch-theologische Spuren des biblischen Gottesbildes. Ihr zufolge ist die vorherrschende Idee eines „Vatergottes“ eine androzentrische Überlagerung der christlichen Theologie: „Alle Probleme spitzen sich in der Gottesfrage zu. Hier ist auch zugleich das androzentrische Muster am stärksten, d.h. ein Denken, welches das Männliche zum Maß des Menschlichen erklärt. Wenn ‚Mensch‘ gleich ‚Mann‘ bedeutet, kann Gott nur männlich gedacht werden, oder wie es die amerikanische Feministin Mary Daly sehr polemisch formuliert hat: ‚Wenn Gott männlich ist, ist das Männliche Gott.’“6 In logischer Fortführung dieses Gedankens schreibt Schüngel-Straumann weiter: „Ein auf Männlichkeit festgelegter Gott wäre danach ein Götze.“7 Die Wiederentdeckung femininer Gottes- und Christusbilder löste auch eine Reflexion über „das Heilswirken Gottes in der Inkarnation als der Menschwerdung, nicht der Mannwerdung“ Gottes aus.8 Wenn es bezüglich der Gottesebenbildlichkeit des Menschen keinen Unterschied zwischen Mann und Frau gibt, und die Menschen in ihrer geschlechtlichen Identität männliche und weibliche Bilder Gottes sind, dann „müssen sie auch im Göttlichen ihr Urbild haben. Abbild und Urbild entsprechen einander“.9 Anders gewendet, wenn Frau und Mann Ebenbild Gottes sind, muss es eine männliche und eine weibliche Dimension in Gott geben – was freilich nicht bedeutet, dass hier Gott geschöpfliche Eigenschaften zugeschrieben werden, sondern dass Begriffe aus der menschlichen Lebenswirklichkeit das Gottesbild in Form von sprachlichen Gleichnissen umschreiben. >@ 5 6 7 8 9 Ilona Riedel-Spangenberger und Erich Zenger, „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), „Gott bin ich, kein Mann“. Beiträge zur Hermeneutik der biblischen Gottesrede. Festschrift Helen Schüngel-Straumann, Paderborn 2006, 4. Helen Schüngel-Straumann, Denn Gott bin ich, kein Mann. Gottesbilder im Ersten Testament – feministisch betrachtet, Mainz 1996, 7. Ebd., 20. Hervorhebung im Original. Teresa Berger, „Von Christusbildern und Geschlechterkonstruktionen“, in: Riedel-Spangenberger und Zenger, 61. Hervorhebung im Original. Schüngel-Straumann, 20. Hervorhebung im Original. 119 Gottes Attribute und die Beziehung zu seiner Barmherzigkeit Eine christliche Perspektive mit Seitenblicken auf den Islam Andreas Renz 1. Die Lehre von den Eigenschaften Gottes als Versuch konsistenter Gottrede Wie der Koran so enthält auch die Bibel eine Vielzahl von Aussagen über Gott, aber keine systematische Gotteslehre. Eine solche hat sich in beiden Religionen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, im Laufe der Theologiegeschichte herausgebildet, und zwar vor allem unter dem Einfluss und durch die Rezeption der griechischhellenistischen Philosophie. Letztlich war diese Rezeption auch eine Reaktion auf die Anfragen seitens der heidnischen (zunächst vor allem mittel- und neuplatonisch geprägten) Philosophie an den christlichen Gottesbegriff1 und später seitens der christlichen Theologie an die noch junge islamische Religion.2 Es ging jeweils um Inkulturation, aber auch um Apologetik, um den Aufweis der Vernünftigkeit des eigenen Gottesglaubens gegenüber dem anderen und letztlich auch gegenüber der eigenen Vernunft.3 Tatsächlich geht es in der klassischen Lehre von den Eigenschaften oder Attributen Gottes um ein in sich logisches, also konsistentes Sprechen von Gott.4 Die Theologiegeschichte macht aber auch deutlich, dass die Entfaltung der theologischen Gotteslehre und damit auch die Aussagen über die Eigenschaften Gottes stets mit einem bestimmten Weltbild verknüpft sind. Den Höhepunkt in der Ausbildung einer systematischen Gotteslehre bildet in der westkirchlichen Tradition die Scholastik des Hochmittelalters, die dank der Übermittlung durch arabisch-islamische Philosophen wie Ibn Rušd/ Averroes (gest. 595/ 1198) und in Auseinandersetzung damit aristotelisch geprägt war. In der scholasti1 2 3 4 Zur Problematik vgl. Magnus Löhrer, „Dogmatische Bemerkungen zur Frage der Eigenschaften und Verhaltensweisen Gottes“, in: MysSal II, Einsiedeln-Zürich-Köln 1967, 291–314, 292 f.; Wolfhart Pannenberg, „Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie“, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie, Bd. I, Göttingen 31979, 296–346. Vgl. Harry Austryn Wolfson, The Philosophy of the Kalām, Harvard 1976. „Im Hinblick auf die Begegnung mit den nichtchristlichen Religionen und vor allem mit dem östlichen Denken in seinen verschiedenen Ausdrucksformen stellt sich das Problem einer Transposition der theologischen Gotteslehre in neue Denkformen der Kirche heute nicht weniger dringlich als den Kirchenvätern in der Begegnung mit dem griechisch-hellenistischen Denken.“ Löhrer, 294. Bei den griechischen Kirchenvätern hießen die Eigenschaften Gottes – wie im Koran und in der islamischen Tradition – „Namen Gottes“. 134 Andreas Renz schen christlichen Gotteslehre folgte auf die Reflexion über die Existenz, das Dasein Gottes, die metaphysische Erörterung über das Wesen und die Eigenschaften Gottes, wobei die Eigenschaften das Wesen Gottes näher bestimmen. Dabei war man sich stets bewusst, dass das Wesen Gottes das menschliche Fassungsvermögen unendlich übersteigt. Insofern war die Formulierung der Eigenschaftslehre eher spekulativabstrakt. Andererseits macht die biblische Offenbarung sehr konkrete Aussagen darüber, wie Gott in der Geschichte und in der Beziehung zum Menschen handelt. Gott ist nicht ausschließlich fern, transzendent, unerkennbar, sondern wurde und wird von den gläubigen Menschen als gegenwärtig, als sich selbst mitteilend erfahren. Nach Wolf Krötke ist die traditionelle Lehre „von den Eigenschaften Gottes ein gewissermaßen diffuses Lehrstück, das aus den unterschiedlichsten Elementen der biblischen Rede von Gott und der vernünftigen Gotteserkenntnis zusammengesetzt ist.“5 Er will deshalb mehr Klarheit in die Rede von Gottes Eigenschaften bringen, doch zunächst ein Blick in die Theologiegeschichte. 2. Die traditionelle Unterscheidung von Wesensund Handlungseigenschaften Vor allem die Eigenschaftslehre des Thomas von Aquin (gest. 1274) wurde für die westliche Theologiegeschichte bestimmend. Thomas, der sich in der Summa theologica (S.th. I, 3–16) ausführlich mit dem Wesen Gottes beschäftigt, stellt einige Grundsätze theologischen Sprechens über die göttlichen Eigenschaften (Attribute) auf: „Da Gott das in sich selbst stehende Sein (ipsum esse subsistens) ist, sind in Gott nicht nur Dasein (existentia) und Wesen (essentia) sachlich identisch, sondern auch Wesen und Eigenschaften (propria).“6 Die Unterscheidung zwischen Wesen und Eigenschaften Gottes erscheint damit lediglich als theoretische Unterscheidung, die allerdings in der Spätscholastik (Wilhelm von Ockham) und – grundgelegt schon bei Augustinus – dann bei Martin Luther stärkeres Gewicht bekam.7 Die häufig bei muslimischen Theologen oder auch bei Fremdinterpretationen des Islams begegnende Auffassung, wonach letztlich nur Aussagen über Gottes Handeln, nicht aber über sein Wesen möglich seien, um damit seine Transzendenz zu wahren, ist vor diesem Hintergrund kritisch zu befragen, denn „Aussagen, wonach Gott handelt oder etwas bewirkt, erschafft, hervorbringt, […] sind indirekt Aussagen über Gott selbst. […] 5 6 7 Wolf Krötke, Gottes Klarheiten, Tübingen 2001, 2. Dieser Verunklarung in der Rede von Gott und seinen Eigenschaften will Krötke mit dem Begriff der „Klarheit“ Gottes entgegnen, den er im Sinne der biblische Rede von Gottes dóxa (Herrlichkeit, Macht, Schwere) als „Göttlichkeit Gottes“ versteht. Alle Eigenschaften Gottes sind demnach als Konkretisierungen oder Äußerungsweisen dieser Göttlichkeit Gottes zu interpretieren. Vgl. ebd., 110. Georg Kraus, Gott als Wirklichkeit. Lehrbuch zur Gotteslehre, Frankfurt am Main 1994, 362. Vgl. dazu Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd.1, Göttingen 1988, 376 f. und 391 ff. Gottes Attribute und die Beziehung zu seiner Barmherzigkeit Jedes ‚Wirkattribut‘ ist in diesem Sinne ein dispositionelles ‚Wesensattribut‘.“8 Thomas allerdings geht den umgekehrten Weg: aus den metaphysischen Gottesbeweisen, die aus heutiger Sicht natürlich keine zwingenden Beweise im logischen oder empirischen Sinn sind, leitet er die Gott notwendig zukommenden Eigenschaften ab.9 Zum anderen betont Thomas im Anschluss an Aristoteles die Analogizität der Aussagen über die Eigenschaften Gottes – eine Erkenntnis, die später das IV. Laterankonzil (1215) als verbindliche kirchliche Lehre festschreiben wird: Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf sind demnach weder völlig verschieden (äquivok) noch völlig gleich (univok), sondern ähnlich (analog) in ihrem Sein. Deshalb weisen alle Aussagen, die der Mensch über Gott macht, eine Ähnlichkeit mit dem wirklichen Wesen Gottes auf, die Unähnlichkeit zwischen Aussage und Wirklichkeit aber ist unendlich größer, weil Gott alle menschlichen Vorstellungsmöglichkeiten übersteigt, er stets größer ist als das, was gedacht werden kann – Deus semper major. Die islamische doxologische Formel „Allāhu akbar“ drückt dieselbe Erkenntnis der ontologischen Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf aus.10 Die Ähnlichkeit aber und natürlich das Sich-selber-zur-Sprache-bringen Gottes in seiner Offenbarung lassen sinnvolle Aussagen über Gott zu, wobei stets zu definieren ist, welche Aspekte oder Konnotationen eines Begriffs (z.B. beim Begriff „Person“) nun auf Gott zutreffen und welche nicht.11 Thomas unterscheidet im Weiteren – ähnlich wie der Kalām und die jüdische Religionsphilosophie des Mittelalters – zwischen Eigenschaften göttlichen Seins und göttlichen Handelns, also zwischen Wesens- und Tätigkeitsattributen.12 Zu den Seinseigenschaften zählt er an erster Stelle die Einfachheit (simplicitas), also dass Gott im Gegensatz zu allen geschöpflichen Dingen nicht zusammengesetzt ist, >@ Armin Kreiner, Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen, Freiburg-Basel-Wien 2006, 70. Heutige Entwürfe einer christlichen Gotteslehre können deshalb auch ohne eine explizite Eigenschaftslehre auskommen. 9 Vgl. dazu Alexander Loichinger, Frage nach Gott, Paderborn 2003, 41–68. 10 Vgl. Andreas Renz, Mohammed Gharaibeh, Anja Middelbeck-Varwick und Bülent Ucar (Hg.), „Der stets größere Gott“. Gottesvorstellungen in Christentum und Islam, Regensburg 2012. 11 Vgl. dazu ausführlich Kreiner, 77–91. „Die Pointe analoger Rede könnte darin bestehen, bestimmte Konnotationen zu bejahen und andere auszuschließen. So könnte die analoge Verwendung des Personenbegriffs etwa ausschließen, dass Gott einen Körper besitzt“, ebd., 87. Das heißt aber auch, dass die Übergänge zwischen analoger und univoker Gottesrede meist fließend sind. Kreiner geht noch weiter, indem er auch Prädikate in Bezug auf Gott annimmt, die nicht analog, sondern univok zu verstehen sind, wie z.B. das Seinsprädikat (Gott existiert). Vergleichbares gilt für die Metaphorizität der Gottesrede: Religiöse Rede von Gott ist sehr oft metaphorisch, weil sie reiche Konnotationen enthält und Assoziationen evoziert, aber jede Metapher muss „zumindest ansatzweise in wörtliche Rede übersetzbar sein, um semantische Bedeutung zu gewinnen und verstanden werden zu können.“ Ebd., 96. 12 Vgl. dazu David Kaufmann, Geschichte der Attributenlehre in der jüdischen Religionsphilosophie, Gotha 1877 (Nachdr. Hildesheim-New York 1982). 8 135 Muslim Theologians on Evil: God’s Omnipotence or Justice, God’s Omnipotence and Justice Mohammed Ghaly Belief in a flawless and perfect character of God is one of the basic tenets of Islam. The existence of different forms of evil in life is usually seen as one of the basic challenges to the logical correctness of this belief. Theologians of almost every religion have had to address questions such as the following, ‘How can we understand the presence of harmful and painful things given that God – the Compassionate, the Merciful – has control over this universe?’ Responses provided by Muslim theologians to questions such as the above have led to a highly sophisticated and diverse body of literature. Despite the diversity of opinions expressed by Muslim theologians on this point, one basic point is generally recognised – any possible explanation for the existence of evil in life should never come at the expense of the belief in a perfect and flawless character of God. In other words, no defect or deficiency can be attributed to God in order to develop a logical explanation for evil in life. It follows that Muslim theologians addressing the issue of evil have been confronted with the challenge that no human catastrophe may call into question the omnipotence and all-embracing will of God, or his justice, mercy and solicitude for the welfare of humankind. These beliefs remained sacrosanct – any violation would amount to a transgression.1 The main point of disagreement among these theologians was how to highlight the perfect character of God while addressing the theological questions raised by the existence of evil in life. Within this context, three main groups of theologians can be distinguished. The first group maintained that emphasis on the divine attributes which highlight God’s omnipotence is the best approach to address the theological problems raised by the existence of evil. The second group stood on the other end of the spectrum. To them, emphasis on the divine attributes which underline God’s justice, mercy and wisdom is the best way to show that the different forms of evil in this life do not tarnish the perfect character of God. The third group tried to adopt a ‘middle-way’ approach demonstrating that both sides of God’s character should be stressed in a balanced way. The following sections will discuss the respective approaches advocated by the three groups; these will fall under the headings ‘the Primacy of God’s Omnipotence’, ‘the Primacy of God’s Justice’ and finally ‘God’s Omnipotence and Justice’. 1 However, some voices within the Islamic tradition did transgress these limits. For more information, see Mohammed Ghaly, Islam and Disability: Perspectives in Theology and Jurisprudence, London 2010, 18–20. This paper is based on chapter 2 and 3 of this book. 148 Mohammed Ghaly 1. The Primacy of God’s Omnipotence The approach advocated by this group, mainly representatives of the Ashʿarī school, stressed that the perfect character of God – in light of evil, suffering and pain in life – must first and foremost be seen within the context of God’s omnipotence and self-sufficiency. In other words, things in life happen which are contrary to our own wishes, desires and expectations, and we eventually perceive them as evil because we as humans have no control over what is going on in life. It is only God who decides, and he acts as he pleases. Judging God’s acts in accordance with the same criteria used for judging human acts diminishes God’s unlimited power and tarnishes his perfect character. In fact, against this backdrop, no intellectual attempts should be made to search for wise purposes (ḥikam) underlying God’s acts, including those that we perceive as evil. In his book al-Ibāna (‘Illumination’), Abū al-Ḥasan al-Ashʿarī (d. 324/935–6) touched upon this issue and wrote, ‘We assert that God has prowess (quwwa), as He says, “Saw they not that God who had created them was mightier than they?” (Q 41:14) [...] and that there is not good nor evil on earth, save what God wills and that things exist by God’s will and that not a single person has the capacity to do anything until God causes him to act, and we are not independent of God nor can we pass beyond the range of God’s knowledge; and that there is no creator save God and the works of human beings are things created and decreed by God. He has said “God has created you and what you make” (Q 37:94). Human beings have not the power to create anything but are themselves created [...] Human beings do not control for themselves what is hurtful or what is helpful, except what God wills and that we ought to commit our affairs to God and assert our complete need and dependence upon Him.’2 Abū Ḥāmid al-Ghazālī (d. 505/1111), one of the prominent Ashʿarī theologians, reiterated this point by affirming that God can inflict pain on humanity – indeed he can torment humanity – without hope of reward and for no particular reason.3 In this sense, all sorts of evil are to be traced back to God. He is the one who created them and willed them to be, and human beings play no role in this regard. The question then is, ‘Why does God create and will all these evils? What is the wise purpose (ḥikma) behind all this? Where is God’s justice in this case?’ 2 3 Abū al-Ḥasan ʿAlī b. Ismāʿīl al-Ashʿarī, Al-Ibāna ʿan Uṣūl al-Diyāna: The Elucidation of Islam’s Foundation, trans. Walter C. Klein, New Haven, Conn. 1940, 50–51. See Eric L. Ormsby, Theodicy in Islamic Thought: The Dispute Over al-Ghazālī’s ‘Best of all Possible Worlds’, Princeton, NJ 1984, 237. It is to be noted that al-Ghazālī himself elsewhere emphasised the role of wisdom although this conflicted with the beliefs of his fellow Ashʿarīs, for whom any attempt to rationalise God’s actions was dubious. See ibid., 47. Cf. Muḥammad b. Ibrāhīm Ibn al-Wazīr, Īthār al-ḥaqq ʿalā al-khalq fī radd al-khilāfāt ilā al-madhhab al-ḥaqq min uṣūl al-tawḥīd, vol. 1, Beirut 21987, 202. Muslim Theologians on Evil In fact, Ashʿarī theologians condemned questioning God, as he is the Almighty who runs his own kingship (mulk) as he pleases and therefore is not to be questioned.4 This point is also made by the Ẓāhirī scholar Ibn Ḥazm (d. 456/1064).5 To advocates of this school, searching for the wise purposes of God’s actions is not only meaningless but also means seriously disobeying him.6 They considered such behaviour contrary to the perfect and flawless character of God. Defending their arguments, these theologians advanced three main positions:7 Firstly, if God’s acts are precipitated by a cause (ʿilla), then this ʿilla originates from something (ḥāditha) and therefore requires another cause, and so on ad infinitum. If God acted or originated on account of a cause or wise purpose, this would entail an endless chain or infinite regress (tasalsul) of causes, which the Ashʿarīs saw as something impossible. Secondly, such a scenario implies need in God. They argued that someone or something acting by virtue of a specific cause will be perfected by it because if the existence of the cause were not better than its nonexistence, it would not be a cause. Someone who is perfected by another is imperfect in himself, which is impossible for God. It is clear that the Ashʿarīs’ concern to deny need within God is rooted in their belief that God’s acts are completely free and unrestricted by any necessity. A God who acts on the basis of a wise purpose must be acting out of prior lack and imperfection. The third argument was specifically directed against the Muʿtazilī school which maintained that God acts on the basis of a cause that is disjoined (munfaṣil) from his essence. As a counterargument, the Ashʿarīs stated that this cause must have some impact on God; otherwise it would not be a cause. If then it is disjoined from God, his acting for its sake implies that the cause – which is something outside himself – perfects him. >@ 4 5 6 7 Abū al-Ḥasan ʿAlī b. Ismāʿīl al-Ashʿarī, Risāla ilā ahl al-thaghr, ed. ʿAbd Allāh Shākir Muḥammad al-Junaydī, vol. 1, Damascus 1988, 268. Abū Muḥammad ʿAlī Ibn Ḥazm, Al-Muḥallā bi al-āthār, vol. 3, Beirut (n.d.), 41. Fazlur Rahman, Revival and Reform in Islam: A Study of Islamic Fundamentalism, ed. Ebrahim Moosa, Oxford 2000, 62. These selected Ashʿarī arguments were explained in detail by the Ashʿarī theologian ʿAḍud al-Dīn al-Ījī (d. 757/1355), see ʿAḍud al-Dīn ʿAbd al-Raḥmān b. Aḥmad al-Ījī, Kitāb almawāqif, ed. ʿAbd al-Raḥmān ʿImāra, vol. 1, Beirut 1997, 422–474. These arguments have been summed up in three main points by the Ḥanbalī scholar Ibn Taymiyya. See Ibn Taymiyya, Minhāj al-sunna al-nabawiyya fī naqḍ kalām al-Shīʿa wa al-Qadariyya, ed. Muḥammad Rashād Sālim, Beirut, vol. 1, 1406/1985, 144–145; Jon Hoover, ‘An Islamic Theodicy: Ibn Taymiyya on the Wise Purpose of God, Human Agency and Problems of Evil and Justice’, a thesis submitted to the University of Birmingham for the degree of Doctor of Philosophy, 2002, 85–86. A revised version of this thesis has later been published, see Jon Hoover, Ibn Taymiyya’s Theodicy of Perpetual Optimism, Leiden 2007. 149 Die Asymmetrie der Gerechtigkeit Kritischer Kommentar zu Muhammed Ghalys Aufsatz „Muslim Theologians on Evil“ Hureyre Kam 1.Einleitung Dieser Aufsatz versteht sich als Replik auf Muhammed Ghalys in diesem Band veröffentlichten Aufsatz „Muslim Theologians on Evil: God’s Omnipotence or Justice, God’s Omnipotence and Justice“. In seinem Aufsatz erörtert Ghaly die verschiedenen Positionen, die die muslimischen Gelehrten klassisch in Bezug auf die Frage des Übels in der Welt vor dem Hintergrund eines barmherzigen und gütigen Gottes gegeben haben. Ich werde zuerst die relevanten Positionen, die Ghaly erörtert, darstellen, um darauf später kritisch Bezug zu nehmen und zum Schluss einen Ausblick eigener Betrachtung zu geben. Ich werde dabei versuchen, auch moderne Ansätze in meine Kritik einzubauen, um die Diskussion in den gegenwärtigen Diskurs zu holen.1 2.Rekonstruktion Ghaly unternimmt in seinem Beitrag den Versuch, die wichtigsten verschiedenen Positionen der muslimischen Tradition in Bezug zur Theodizee systematisch zu erörtern. Er argumentiert, dass jeder Ansatz, das Problem anzugehen, stark an die entsprechende Gottesvorstellung gekoppelt sei. Im Sinne eines ersten Schrittes zur Lösung des Problems fragt Ghaly daher nach dem klassischen Gottesverständnis muslimischer Theologen. Er schlägt vor, die Diskussion an den Namen Gottes zu entfalten, da das allgemeine Gottesbild von diesen Namen getragen werde.2 Dieser Punkt bedarf einiger Aufmerksamkeit. Die Namen Gottes werden als ḥusnā beschrieben – also die schönsten Namen (wörtl. al-asmāʾ al-ḥusnā).3 Kein Fehl und kein Mangel kann Gott angeheftet werden. Entsprechendes muss auch von allem gesagt werden, das ihm eigentümlich ist. Das bedeutet, dass, da wir ohnehin nicht auf direktem Wege über Gottes Wesen sprechen können, sondern immer nur über die Umwege seiner Eigenschaften, angenommen 1 2 3 Es muss anfangs darauf hingewiesen werden, dass Ghalys Aufsatz auf seinem Buch Islam and Disability: Perspectives in Theology and Jurisprudence basiert. Daher werde ich mich in meiner Replik auch mit dessen Argumentationsstrukturen auseinandersetzen. Vgl. Muhammed Ghaly, Islam and Disability: Perspectives in Theology and Jurisprudence, London-New York 2010. Ebd., 17 Vgl. Q 59:24 und Q 7:180. 174 Hureyre Kam werden darf, dass diese Eigenschaften auf sein Wesen hindeuten. Wenn sie auf sein Wesen hindeuten, liegt der Gedanke nahe, dass sie diesem entsprechen. Genau an diesem Punkt entzündet sich eine der größten klassischen Diskussionen der islamischen systematischen Theologie. Es gilt nämlich die Frage zu klären, ob die Gottesattribute als ein Teil seines Wesens zu verstehen sind oder ob sie eher als von ihm getrennt vorzustellen sind.4 Anstatt hier in die Details dieser Diskussion einzusteigen, will ich aufbauend auf Ghalys Ausführungen die verschiedenen Positionen zusammenfassend darstellen. Nach Ghaly gab es immer schon Positionen, die Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in Zweifel gezogen haben. Ǧahm b. Ṣafwān wird genannt, der Gott die Barmherzigkeit abgestritten haben soll, al-Maʿarrī, der auf Fleisch verzichtete, weil er es nicht als gerecht empfand, unschuldige Tiere zu essen, und ar-Rāwandī, der Gott als rach- und streitsüchtig beschimpfte. Am anderen Extrem dieser Randpositionen nennt Ghaly vor allem die Philosophen und die Sufis, die die Frage nach dem Bösen in der Welt als kein wirkliches Problem auffassten.5 Den Ansatz der Mehrheitsmeinungen teilt Ghaly in zwei Hauptgruppen ein: Der Pro-TheodizeeAnsatz und der Anti-Theodizee-Ansatz. Eine letzte Gruppe wird als „der mediative Ansatz“ eingeführt. Diese Gruppe versucht die Kontradiktion zwischen den beiden Hauptgruppen zu lösen und einen Kompromiss zwischen beiden zu finden. 2.1 Der Anti-Theodizee Ansatz: Mystifikation Dieser Ansatz wird von den Ašʿariten verteidigt und lehnt die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes ab, indem er postuliert, dass Gott omnipotent und über allem erhaben sei. Nach Gründen für Gottes Handlungen zu suchen ist diesem Ansatz zufolge sinnlos und unehrerbietig. Gott handle nicht nach moralischen Maßstäben, sondern er sei die Moral. Er handle nicht, weil etwas gut oder schlecht ist, sondern weil er handelt, sei etwas gut oder schlecht.6 Erstens, so argumentieren sie, hätte Gottes Handeln eine Ursache, dann müsste dieser Ursache eine Ursache vorangehen usw. bis in die Unendlichkeit, was zu denken sinnlos sei. Zweitens: Hätte Gottes Handeln eine Ursache, würde das suggerieren, dass Gott nicht vollkommen wäre, sondern bedürftig. Denn das Handeln nach einem Zweck bedeute, dass der Zweck erwünscht sei. Er sei erwünscht, weil er etwas vervollständige. Deswegen strebe Gott keinem 4 5 6 Zu der Diskussion siehe: ʿAbd al-Qādir al-Baġdādī, al-farq bayna al-firāq (Der Unterschied zwischen den Parteien), Beirut 1982; Abu l-Ḥasan al-Ašʿarī, Maqālāt al-islāmiyyīn wa-ḫtilāf al-muṣallīn (Die Aussagen/Ansichten der Islamanhänger und der Zwist der Das-GebetVerrichtenden), Kairo 1950; aš-Šahristānī: al-milal wa nihal (Buch der Gruppierungen und Glaubensrichtungen), Beirut 1992. Ghaly, 18-24. Vgl. Qāḍī Abū Bakr al-Bāqillānī, at-Taqrīb wa-l-iršād (Das Erleichtern/Verständlich-Machen und die Rechtleitung), Beirut ²1998, 1:281 ff.; Abū Ḥāmid Muḥammad b. Muḥammad alĠazālī, al-Mustaṣfā min ʿilm uṣūl al-fiqh (Das Vollständige in der Wissenschaft der Wurzeln des Rechts/ der Rechtsmethodik), Medina (o.J.), 1:178 ff. Die Asymmetrie der Gerechtigkeit Zweck nach, denn es sei unmöglich, dass irgendetwas Gott vervollkommnen und dass er nach etwas streben würde. Drittens: Wenn Gott einem Zweck nachstrebte, so sei der Beweggrund seines Willens entweder außerhalb Gottes oder aber innerhalb seiner. Ist er außerhalb, so bedeute dies, dass Gott unvollkommen sei, da er etwas anstrebe, was außerhalb seiner liege. Ist er aber in ihm, so bedeute dies, dass das Erschaffene in ihm subsistiere. Da aber alles Erschaffene vergänglich sei, bedeute das wiederum, dass Gott selbst dem Gesetz der Zeit unterworfen wäre, was unmöglich sei. Deshalb bleibe hiernach nur übrig, dass Gott absolut frei und willkürlich handle. Er sei nicht beschränkt durch unsere Vorstellungen von Moral.7 2.2. Der Pro-Theodizee-Ansatz: Justifikation Die Verfechter dieses Ansatzes, hauptsächlich Muʿtaziliten und Schiiten, verlagern die Gewichtung der Diskussion über den Charakter Gottes und sagen, dass nicht seine Omnipotenz die dominierende Idee in diesem Diskurs sein solle, sondern seine Einheit und Gerechtigkeit. Denn seine Omnipotenz sage nichts weiter, als dass er existiere. Sobald wir aber annehmen, dass er existiert, müsse er sowieso als omnipotent gedacht werden. Seine Omnipotenz sage uns aber nichts über seine Gerechtigkeit. Deswegen ziehen die Vertreter dieses Ansatzes seine Gerechtigkeit zusammen mit seiner Weisheit in Betracht. Zwar gestehen sie ein, dass es Übel auf der Welt gibt, teilen es aber – ähnlich wie später Leibniz – in zwei Arten des Übels ein. Zum einen führen sie das Übel an, wofür der Mensch selbst verantwortlich ist.8 Ähnlich wie die moderne Willensfreiheitstheodizee leugnen sie, dass Gott sich in menschliches Handeln einschalten würde und beharren darauf, dass allein der Mensch für dieses Übel verantwortlich sei. Zum zweiten verweisen sie auf unverschuldetes Übel wie Krankheit und Behinderung, für das sich in der abendländischen Tradition die Bezeichnung malum physicum eingebürgert hat. Hier bestreiten sie, dass es sich überhaupt um „Übel“ handelt und interpretieren derartiges Leiden als Folge einer Handlung mit weisen Absichten. In diesem Sinn wird das vermeintlich Üble nun als eine „Prüfung“ bewertet und bezeichnet.9 Leid zu erleiden sei auf jeden Fall ein Übel. Allerdings sei dieses Übel hinnehmbar, wenn es das kleinere von mehreren Übeln darstellt oder wenn den Leidenden eine größere Entschädigung erwartet. In diesem Fall sei es sogar in gewisser Weise gut. Leid, dass Gott zufügt, sei immer als gut anzusehen, weil es entweder eine verdiente Bestrafung sei oder aber eine Prüfung, und mit Verweis auf das Jenseits werde die Entlohnung weit größer sein als der Schaden, den man erlitten hat.10 >@ 7 8 Ghaly, 24-26. In der abendländischen Tradition ist dieser Gedanke unter dem Begriff malum morale bekannt. 9 Vgl. Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār, Šarḥ al-Uṣūl al-ḫamsa (Kommentar der fünf Grundlagen), Kairo ³1996, 564 ff. 10 Ghaly, 26-29. 175 Bio- und medizinethische Probleme als Herausforderung für die Muslime und die Barmherzigkeit Gottes Ilhan Ilkilic Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der modernen Medizin werden heutzutage überall auf der Welt und damit auch in Ländern mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen angewendet. Diese modernen biomedizinischen Technologien ermöglichen neue diagnostische und therapeutische Interventionen, lassen aber zugleich bis jetzt unbekannte komplexe ethische Konflikte entstehen. Solche Probleme werden wiederum in Abhängigkeit vom jeweiligen Menschen- und Weltbild wahrgenommen, verstanden und beurteilt. In diesem Beitrag werden die ethischen Hauptpositionen in der innerislamischen Diskussion über einige biomedizinische Anwendungen am Lebensbeginn und Lebensende dargestellt und damit verbundene bioethische Konfliktfelder diskutiert. Dabei geht es nicht um eine bloße Beschreibung der bioethischen Positionen zu diesen Themenbereichen in der islamischen Welt. Ich werde vielmehr versuchen, in Bezug auf die dargestellten Probleme die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des Begriffs der Barmherzigkeit Gottes zu problematisieren. Die Barmherzigkeit Gottes wurde als theologischer Begriff mit einer normativen Funktion in den bisherigen bioethischen Debatten kaum angewandt. Da diese Problematisierung einen Versuchs­charakter hat, beschränkt sich der Beitrag dieses Artikels auf die Konkretisierung dieser Fragen und der Schwierigkeiten bei der Anwendung dieses theologisch normativen Begriffs in bioethischen Konfliktfeldern. Zentrale Fragestellung dabei ist, ob der Begriff der Barmherzigkeit Gottes eine normativ-theologische Funktion in den bioethischen Debatten und Fragestellungen übernehmen kann. Wenn ja, wie könnte diese Funktion aussehen? Welche ethischen Implikationen könnte dieser Begriff beinhalten? Welche ethisch legitimierbaren Handlungsoptionen könnten für die medizinische Praxis daraus abgeleitet werden? 1. Beginn des menschlichen Lebens Im Koran, der wichtigsten religiösen Quelle der Muslime, werden das menschliche Leben im Mutterleib, das Auf-die-Welt-Kommen, das Sterben nach einer gewissen Lebenszeit sowie die Wiederauferstehung im Jenseits als Komponenten eines Kontinuums mit unterschiedlichen ontologischen Seinsqualitäten dargestellt: „Und wahrlich, Wir schufen den Menschen aus einem entnommenen Ton. Dann machten Wir ihn zu einem Tropfen (nuṭfa) in einem festen Aufenthaltsort. Dann schufen Wir 186 Ilhan Ilkilic den Tropfen zu einem Blutklumpen (‘alaqa), und Wir schufen den Embryo zu einem Fötus (muḍġa), und Wir schufen den Fötus zu Knochen. Und Wir bekleideten die Knochen mit Fleisch. Dann ließen Wir ihn als eine weitere Schöpfung entstehen. Gott sei gesegnet, der beste Schöpfer! Dann werdet ihr nach all diesem sterben. Dann werdet ihr am Tag der Auferstehung auferweckt werden.“ (Q 23:12–16. Vgl. auch Q 32:7–9). Konkrete Angaben über den Zeitpunkt der Beseelung finden sich im Koran nicht. Im Gegensatz dazu macht ein Hadith folgende Angaben: „Wahrlich, die Schöpfung eines jeden von euch wird im Leibe seiner Mutter in vierzig Tagen [als Samentropfen (nuṭfa)] zusammengebracht; danach ist er ebenso lang ein Blutklumpen (‘alaqa); danach ist er ebenso lang ein kleiner Fleischklumpen (muḍġa). […] Dann haucht Er ihm die Seele ein.“1 Es gibt jedoch andere Hadithe, die den Embryo zu anderen Zeitpunkten als beseelt erklären. Obwohl der Koran den genauen Zeitpunkt der Beseelung nicht nennt, hat sich in manchen Rechtsschulen, basierend auf dem zitierten Hadith, folgende Berechnung durchgesetzt: Für alle oben genannten Entwicklungsstadien bis hin zur Einhauchung der Seele, also vom Wassertropfen zum Embryo bis hin zum Fötus, werden jeweils 40 Tage berechnet. Insgesamt sind es somit 120 Tage bis zum Zeitpunkt der Beseelung. Berücksichtigt man allerdings andere Hadithe, so gelangt man indirekt zu anderen Zeitpunkten (z.B. 40., 42., 45. oder 80. Tag) für die Beseelung.2 Auslöser für die Diskussionen um den moralischen Status des Embryos in der islamischen Geistesgeschichte waren in erster Linie strafrechtliche oder familienrechtliche Themen wie Schwangerschaftsabbruch oder Empfängnisregelung. Die philosophischen Fragestellungen und Diskussionen, zurückgehend auf die aristotelische und galenische Tradition, entwickelten sich später als die juristischen Diskussionen.3 Auch wenn die systematischen Debatten über die Schutzwürdigkeit des Embryos erst nach der Etablierung der Rechtsschulen im 2./8. und 3./9. Jahrhundert entstanden sind, sind uns frühere juristische Urteile über Schwangerschaftsabbruch bzw. dessen Ursache und die damit verbundenen Strafmaßnahmen bekannt. Diese Urteile gehen bis zur Zeit des Propheten Muhammad und der rechtgeleiteten Kalifen zurück.4 Für al-Ġazālī (gest. 505/1111), einen der einflussreichsten Gelehrten des islamischen Mittelalters, gilt die 120-Tagefrist nicht als ausschlaggebender Zeitpunkt, wenn über 1 2 3 4 Vgl. Ahmad Ibn Rassoul (Übers.), Auszüge aus dem ṣaḥīḥ al-Buḫāryy, Köln 1996, 673. Vgl. Ibrahim Canan (Übers.), Kütüb-i Sitte (Die sechs Hadith-Sammlungen), Bd. 14, Ankara 1991, 5–21; und Şeref Mahmut El-Kuzât, „Cenine Ruh Ne Zaman Verilir? (Ab wann ist der Fötus beseelt?)“, in: Diyanet İlmi Dergi (38:2, 2002). Vgl. Basim Musallam, „The Human Embryo in Arabic Scientific and Religious Thought“, in: Gordon R. Dunstan (Ed.), The Human Embryo, Aristotle and the Arabic and European Traditions, Exeter 1990, 32–46. Vgl. Adel Theodor Khoury, Abtreibung im Islam, CIBEDO-Dokumentation, Nr. 11, Köln 1981, 8–11. Bio- und medizinethische Probleme als Herausforderung den Status des Embryos nach moralischen Kriterien entschieden werden soll. Auch wenn der Embryo bis zur Geburt je nach Entwicklungsstadium mit unterschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestattet sei, handelt es sich nach al-Ġazālī um ein und dasselbe Lebewesen. Deswegen spricht er sich für den Schutz der befruchteten Eizelle aus, unabhängig von ihrer körperlichen Entwicklung und dem Zeitpunkt der Beseelung. Er bezeichnet die Tötung des Embryos als ein Verbrechen, dessen Ausmaß parallel mit dem Alter des Embryos bzw. Fötus zunehme. Er plädiert daher für eine abgestufte Schutzwürdigkeit des Embryos. Die Frage nach dem moralischen Status des Embryos unterscheidet sich laut al-Ġazālī nur in gradueller und nicht in kategorischer Hinsicht. Die Konsequenzen dieser Argumentationsweise lassen sich in der Praxis anhand der Strafmaßnahmen der Rechtsschulen feststellen, die sich verschärfen, je später der Abbruch innerhalb einer Schwangerschaft vollzogen wird. 1.1Stammzellforschung Da die embryonale Stammzellforschung (ES-Zellen) mit der Tötung des Embryos verbunden ist, wurde sie von vielen Autoritätskreisen mit einem Schwangerschaftsabbruch gleichgesetzt. Daher ist es nicht überraschend, wenn in den Diskussionen über die Stammzellforschung der Fokus auf den Moment der Beseelung des Embryos gelegt wird. Dazu der arabische Rechtswissenschaftler Isam Ghanem: „Embryo Research is […] legal under Islamic Jurisprudence provided the foetus is under 120 days old and provided both the mother and husband together consent to such research.“5 Die Stellungnahme der First International Conference on Bioethics in Human Reproduction Research in the Muslim World im Jahr 1991 argumentiert mit dem im europäischen Diskurs problematischen Begriff „prä-embryo“ und plädiert für eine Forschung mit Embryonen, die nach einer In-vitro-Fertilisation übrig geblieben sind.6 „The excess number of fertilized eggs (pre-embryo) can be preserved by cryopreservation [das Konservieren von Zellen durch Einfrieren]. […] These preembryos can be used for research purposes on methods of cryopreservation provided a free and informed consent is obtained from the couple.“7 >@ 5 6 7 Isam Ghanem, „Embryo Research: An Islamic Response“, in: Medicine, Science and the Law (32:1, 1991), 14. Vgl. Gareth D. Jones und Barbara Telfer, „Before I was an Embryo, I was a Pre-Embryo: Or was I?”, in: Bioethics (9,1995), 32–49. Gamal I. Serour und Abdal-Rahim Omran (Eds.), Ethical Guidelines for Human Reproduction Research in the Muslim World, Cairo 1992, 30–31. Vgl auch Gamal I. Serour, „Islamic Developments in Bioethics“, in: Andrew Lustig (Ed.), Theological Developments in Bioethics: 1992–1994, Dordrecht 1997, 171–188. 187