Analyse der politischen Kultur Brandenburgs

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Gutachten:
Analyse der politischen Kultur Brandenburgs im Hinblick auf ihre demokratiestützende oder demokratieproblematische Wirkung
Im Auftrag der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von
Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land
Brandenburg“ des Landtags Brandenburg
Erstellt von
Prof. Dr. Hans-Gerd Jaschke, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR), Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement, Professur für Politikwissenschaft
November 2011
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ursachen für politische Entfremdung und politische Apathie und deren Wirkung auf das
demokratische Gemeinwesen Brandenburg
2.1. Politische Kultur und Politische Kultur-Forschung
2.2. Zivilgesellschaftliches Engagement
2.3. Politische Beteiligung
2.4. Zur Entwicklung politischer Einstellungen
2.5. Zwischenergebnis
2.6. Ursachen und Wirkungen
3. Entwicklung des Rechtsextremismus, seine Ursachen, Mobilisierungsfähigkeit und Wirkung auf das demokratische Gemeinwesen
3.1. Die Entwicklung des organisierten Rechtsextremismus seit 1990
3.2. Rechtsextremismus und Gewaltbereitschaft
3.3. Soziale Basis
3.4. Mobilisierungsfähigkeit
3.5. Wirkung auf das demokratische Gemeinwesen
4. Rolle der Regierung und der politischen Organisationen im Hinblick auf die Herausbildung
einer demokratischen/undemokratischen politischen Kultur
4.1. Der verspätete Weg zum Konzept „Tolerantes Brandenburg“
4.2. Wirkungen des Konzepts „Tolerantes Brandenburg“
2
5. Wirkung des Elitentransfers auf die politische Kultur
6. Zusammenfassung
7. Empfehlungen
Literaturverzeichnis
3
1. Einleitung
Mit Schreiben vom 7. Februar 2011 hat die Vorsitzende der Enquete-Kommission 5/1 mich
gebeten, ein Gutachten zu verfassen zum Thema
„Analyse der politischen Kultur Brandenburgs im Hinblick auf ihre demokratiestützende oder
demokratieproblematische Wirkung“.
Zur Aufgabenstellung heißt es weiter:
„Bei der Analyse der politischen Kultur sollten insbesondere auf die
- Entwicklung des Rechtsextremismus, seine Ursachen, Mobilisierungsfähigkeit und Wirkung
auf das demokratische Gemeinwesen eingegangen werden;
- Ursachen für politische Entfremdung und politische Apathie und deren Wirkung auf das
demokratische Gemeinwesen Brandenburg;
- Rolle der Regierung und der politischen Organisationen im Hinblick auf die Herausbildung
einer demokratischen/undemokratischen politischen Kultur; sowie die
- Wirkung des Elitentransfers auf die politische Kultur eingegangen werden“.
Als Abgabetermin wurde der 15. November 2011 vertraglich vereinbart. Mit den Berichterstattern des Themenbereichs fanden Gespräche statt am 20. Mai 2011 und am 23. September
2011 im Landtag in Potsdam. Hier wurde das Konzept eingehend diskutiert. Zur Sitzung am
23. September wurde ein Zwischenbericht vorgelegt, diskutiert und verabschiedet.
Die Gliederung des Gutachtens (vgl. Kapitel 2-5) entspricht den Fragestellungen der Berichterstatter. Der methodische Ansatz der Studie leitet sich aus den Besonderheiten der Fragestellungen ab. Im wesentlichen ist auf folgende Instrumente zurückgegriffen worden:
- Entsprechend dem Titel Bezugnahme auf den theoretischen Ansatz der Politische-KulturForschung (vgl. 2.1)
- Aufarbeitung des empirischen sozialwissenschaftlichen Forschungsstandes und Einarbeitung
der Ergebnisse in das Gutachten
- Auswertung von Sekundärliteratur und amtlichen Dokumenten
- Anfrage an die Landesregierung zum Wechsel von leitenden Beamten aus NordrheinWestfalen nach Brandenburg
- Expertengespräche
Weitere methodische Schritte werden jeweils am Beginn der Kapitel erläutert.
4
2. Ursachen für politische Entfremdung und politische Apathie und deren
Wirkung auf das demokratische Gemeinwesen Brandenburg
Die Frage nach Ursachen und Wirkungen politischer Entfremdung und politischer Apathie
setzt Informationen und Deutungen des tatsächlichen Ausmaßes voraus. Es wird im Folgenden hierzu – entsprechend dem Titel der Studie - der Ansatz der Politische-Kultur-Forschung
gewählt. Zunächst wird dieser Ansatz in groben Zügen vorgestellt (2.1.). Es geht dabei im
Wesentlichen um die mittelfristige historische Entwicklung kollektiver, meßbarer politischer
Orientierungen, um das Ausmaß der Bindung von Bürgern an Demokratie und Rechtsstaat
herauszufinden. Die gängigen Indikatoren dafür sind zivilgesellschaftliches Engagement
(2.2), politische Beteiligung (2.3) und die Entwicklung politischer Einstellungen (2.4). Nach
einer Zusammenfassung der empirischen Befunde (2.5) werden Ursachen und Wirkungen
dargestellt (2.6).
2.1. Politische Kultur und Politische Kultur-Forschung
Mit dem Begriff der „politischen Kultur“ wird umgangssprachlich ein politischer Zustand
bezeichnet, die Befindlichkeit des Gemeinwesens oder auch die Gesamtheit der politischen
Sitten und Gebräuche. Der Begriff ist nicht sonderlich präzise. Aber darin liegt auch ein Vorzug: Im Alltagsdeutsch kann so die Gesamtheit der Politik ins Auge gefaßt werden. Wer von
„politischer Kultur“ redet, bezeichnet damit in aller Regel auch Wertungen: Es ist häufig von
beklagenswertem Zerfall oder Niedergang des politischen Gemeinwesens die Rede. Günter
Grass verstand dementsprechend in einem Vortrag vor dem Hintergrund der Asyldebatte Anfang der 1990er Jahre den Rechtsruck als einen „Niedergang der politischen Kultur in
Deutschland“ (Grass 1993).
In der politischen Umgangssprache ist „politische Kultur“ normativ aufgeladen. Sontheimer
hat darauf schon vor mehr als zwanzig Jahren hingewiesen (1987: 22): “Die Respektierung
der Regeln und Konventionen der politischen Auseinandersetzung sowie das Bekenntnis zu
positiven politischen Zielen und die Orientierung an den demokratischen Grundwerten sind
die beiden Seiten einer normativ verstandenen politischen Kultur“. Angebliche oder tatsächliche Verstöße gegen diesen Kodex geraten leicht zu Beschädigungen der politischen Kultur,
die in der alltäglichen politischen Auseinandersetzung dem politischen Gegner unterstellt
werden.
In der Politikwissenschaft wird seit den 1980er Jahren unter „politische Kulturforschung“
etwas anderes verstanden: In Anknüpfung an Konzepte und Ergebnisse der amerikanischen
Politikwissenschaft geht es mehr analytisch um die Entwicklung und den Vergleich kollektiver Einstellungen der Bürger zu zentralen Fragen des politischen Systems, vor allem
5
Demokratie, Republik und demokratische Grundwerte.1 Politische Kultur-Forschung ist
Demokratie-Forschung. Es geht um Erwartungshaltungen und Loyalitäten, um politische Traditionen und Verhaltensweisen, aber umgekehrt auch um Fragen der Desintegration und der
Politikdistanz. In der Politische-Kultur-Forschung geht es nicht um das Verhalten einzelner
Personen, sondern um Einstellungen und Verhaltensdispositionen von gesellschaftlichen
Gruppen über einen mittleren Zeitraum und im Vergleich zu anderen Gesellschaften. Sie richtet das Augenmerk auf die subjektive Seite des Politikprozesses, auf die Frage, inwieweit die
Bürger den demokratischen Prozeß unterstützen, sich daran beteiligen und ihn weiterentwickeln oder, umgekehrt, ihn nicht oder nur zum Teil mittragen. Empirische Forschungen über
die politische Kultur tragen dazu bei, die Stabilität von Demokratien zu messen und besser
einzuschätzen, denn: Die Existenz einer demokratischen Verfassung und entsprechender Institutionen lebt von der Mitwirkung der Bürger, demokratische Partizipation ist ein Schlüsselelement für die Demokratie.
Das Konzept der Politische-Kultur-Forschung empfiehlt sich besonders zur Analyse von jungen Demokratien nach dem Systemwechsel von der Diktatur zur Demokratie. Schon das
Standardwerk der amerikanischen Politische-Kultur-Forschung, „The Civic Culture“ von
Gabriel Almond und Sidney Verba, 1963 erschienen, untersuchte vergleichend fünf Nachkriegsdemokratien, um ihre politische Stabilität zu messen.2 Vor diesem Hintergrund steht die
Anwendung des Konzepts auf die Entwicklung der Demokratie im Land Brandenburg: Wie
hat sich die Demokratie nach 1990 hier entwickelt? Wie verlaufen die politischen Orientierungen der Bevölkerung? Welches sind die Hemmnisse der Demokratisierung, wo liegen die
Chancen? Dies sind die geradezu „klassischen“ Fragen des politische-Kultur-Ansatzes.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dieses Konzept operativ umzusetzen. Historischvergleichend könnte an Umbrüchen angesetzt werden und an Fragen, in welcher Weise die
kollektiven Einstellungen der Bürger sie begleiten, und ob sie den institutionellen und den
Verfassungswechsel unterstützen, ihm vorangehen oder zurückbleiben. In Deutschland hat es
im 20. Jahrhundert mehrere solche Umbrüche gegeben: 1918/19 vom Kaiserreich zur Weimarer Demokratie, 1945 bzw. 1949 vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik bzw. zur DDR
und 1989/90 vom geteilten Deutschland zum vereinten. Alle Systemwechsel waren gekennzeichnet vom raschen Wechsel des politischen Systems – 1989/90 praktisch spürbar vor allem
von den Ostdeutschen - , wobei damit auch ökonomische und kulturelle Veränderungen einhergingen. In der Weimarer Republik haben die Bürger den demokratischen Wechsel nur zum
Teil nachvollzogen, ein großer Teil blieb den monarchistischen, obrigkeitsstaatlichen, später
auch rechts- und linksextremistischen Vorstellungen verbunden. Es kann heute keinen Zweifel daran geben, dass die schwache politische Partizipation für demokratische Werte ein wichtiges, ja ausschlaggebendes Element für das Scheitern der Weimarer Republik war. Eine demokratische politische Kultur hat es in der Weimarer Republik nur in Ansätzen gegeben, sie
war am Ende zu schwach, um den Weg in die Diktatur aufzuhalten.
Nach 1945 wirkten nationalsozialistische Tendenzen in unterschiedlicher Weise fort. Die
DDR erklärte den Antifaschismus zur Staatsdoktrin und verleugnete fortwirkende antisemiti1
2
Zu neueren Überblicken über die Politische Kultur-Forschung vgl. Pickel 2009 und Westle/Gabriel 2009.
Vgl. dazu Pickel 2009: 3ff.
6
sche und rechtsextreme Orientierungsmuster. Noch Ende der achtziger Jahre wurden rechtsextreme Skinhead-Gruppen und rechte Fußball-Hooligans als unpolitisches Rowdytum verklärt. In Westdeutschland besetzten ehemalige NS-Täter hohe Positionen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Dies waren keine Einzelfälle: Die Leitungsebenen von Behörden und
großen Unternehmen wiesen beachtliche Anteile von ehemals in den Nationalsozialismus
Verstrickten auf. Allerdings betrieben sie in aller Regel keine politische Agitation, sie fügten
sich vielmehr den neuen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen (Loth/Rusinek
1998). Auch auf der parteipolitischen Ebene gab es Kontinuitäten. Der rechtsextremen NPD
gelang zwischen 1966 und 1969 der Einzug in sieben Länderparlamente. Damit wurde deutlich, daß ein Teil der westdeutschen Bevölkerung zwanzig Jahre nach Kriegsende noch nicht
in der Demokratie angekommen war und den Idealen von vorgestern nachtrauerte. In Westdeutschland hat erst der Modernisierungsschub Ende der sechziger Jahre einen starken demokratischen Wertewandel und eine Stabilisierung der demokratischen politischen Kultur hervorgebracht, immerhin zwanzig Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes.
In Ostdeutschland nach dem Systemwechsel von 1989/1990 scheinen sich ähnliche Vorgänge
zu wiederholen. Erfahrungen, Deutungen und Orientierungen, die in der DDR gemacht wurden, wirken – gebrochen und verändert durch neue Erfahrungen - weiter fort. Bis heute ist
davon auszugehen, dass dieser Teil Deutschlands aufgrund seiner historischen Sonderentwicklung nach 1945 und nach 1990 eine im Vergleich zu Westdeutschland andere politische
Kultur aufweist. Die vorliegenden empirischen Befunde sprechen hier eine eindeutige Sprache. Die wesentlichen Unterschiede lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Die allgemeine Lebenszufriedenheit ist in Ostdeutschland geringer als in Westdeutschland.
Antworten auf die Frage: „Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig, alles in allem, mit Ihrem Leben?“ sind in den neuen Ländern deutlich skeptischer, obwohl die Unterschiede zwischen Ost
und West in den letzten Jahren geringer geworden sind (Köcher/Raffelhüschen 2011: 32ff.;
Datenreport 2011: 377ff.). Anders formuliert ist das Ausmaß an Verunsicherung über die persönlichen Lebensumstände und ihre Perspektiven in Ostdeutschland auch zwanzig Jahre nach
der Wende höher als in Westdeutschland.
- Die Realität der Demokratie findet weniger Zustimmung als im Westen. Die parteienbezogene politische Partizipation ist schwächer ausgesprägt, ebenso das Engagement in Kirchen
(Martens o.J.) und anderen großen Organisationen (Rudzio 2006: 450ff.). Skepsis und Politikdistanz setzen Entwicklungen fort, die sich in der DDR herausgebildet hatten und auch im
frühen Westdeutschland bekannt waren: Die Dominanz privater, alltäglicher Orientierungen
gegenüber den politischen. Für Westdeutschland hatte der Soziologe Helmut Schelsky dafür
den Begriff der „skeptischen Generation“ geprägt: Nach den Erfahrungen in der Diktatur waren nun Skepsis und Vorsicht angebracht gegenüber der Politik (Schelsky 1986).
- Die „Verbundenheit mit Deutschland“ im Zeitraum 1991 bis 2006 ist in Ostdeutschland
deutlich geringer als in Westdeutschland. Hohe Erwartungen an den Staat korrespondieren
keineswegs mit der Verbundenheit mit der Nation. Der These: „Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde“ stimmen im Zeitraum 1992 bis 2006 in
Ostdeutschland etwa 75 Prozent der Befragten zu, in Westdeutschland sind es knapp 50 Prozent (Datenreport 2008: 398). Schon in den Jahren kurz nach der Wende hatten Befragungen
7
in Ostdeutschland hohe Anteile derer ergeben, die den demokratischen Sozialismus als Leitvorstellung favorisierten (Westle 1994).
- Werte wie soziale Partizipation und soziale Gleichheit und Gerechtigkeit sind in Ostdeutschland stärker verwurzelt. Dies hatten schon erste Studien zur politischen Kultur in Gesamtdeutschland kurz nach der Wende festgestellt: Präferenzen für die hohe Verantwortlichkeit
des Staates für soziale Fragen, für Sicherheits- und Ordnungsprobleme und politische Interventionen in Wirtschaftsfragen.3 Mit Sontheimer (1990: 87) könnte man den Sinn für Nachbarschaftshilfe, Solidarität und soziale Gleichheit eher zurückführen auf die ökonomischen
Zwänge der DDR-Gesellschaft und weniger auf Akte freier Selbstbestimmung.
- Die demokratische Normalität der Akzeptanz von Interessengegensätzen ist in Ostdeutschland schwächer ausgeprägt, es fehlt eine lebendige Streitkultur, vor allem die ehemaligen alten Eliten haben den Wert demokratischer Institutionen nicht verinnerlicht und pflegen teilweise „spätsozialistische Lebensstile“ (Neckel 1999). Der oft beschworene „Brandenburger
Weg“ (Lorenz 2010:188f.), das Bemühen um parteiübergreifenden Konsens, scheint eine
Antwort auf und zugleich eine Ursache für die wenig ausgeprägte demokratische Streitkultur.
- Die ostdeutsche Verwaltungskultur unterscheidet sich von der westdeutschen vor allem im
Grundverständnis von Politik. Die Führungskräfte setzen vielfach auf einen eher autoritären,
durchsetzungsstarken Staat mit weitreichenden Eingriffsbefugnissen. Sie sind oft skeptisch
gegenüber dem demokratischen Interessenpluralismus (Damskis/Möller 1997: 60ff.).
All diese Befunde sprechen dafür, dass Demokratisierungsprozesse und Veränderungen der
politischen Orientierungen langfristig gesehen werden müssen. Dies überrascht allerdings
wenig, denn: Auch nach den Umbrüchen und Systemwechseln 1918/19 und 1945/49 wirkte
das Alte fort im Neuen, denn der Systemwechsel ist nicht gleichbedeutend mit dem sofortigen Wandel von Mentalitäten und politischen Orientierungen. Eine demokratische politische Kultur braucht Zeit, sie muss demokratische Praxis lernen und entsprechende Traditionen aufbauen und stabilisieren. Sowohl 1918/19 also auch 1945/49 hat es lange gedauert, bis
demokratische Orientierungen sich stabilisiert haben. Während der Weimarer Republik haben
fünfzehn Jahre dafür nicht ausgereicht, in Westdeutschland hat dieser Prozeß über zwanzig
Jahre benötigt.
Vieles spricht dafür, den Prozeß von Kontinuität und Wandel der politischen Orientierungen
auf den regionalen Ebenen und der Ebene der (ost)deutschen Bundesländer systematisch und
nachhaltig zu untersuchen. Im vereinten Deutschland nach der Wende 1990 ist Thüringen das
bisher einzige Bundesland, das den Wandel der politischen Kultur kontinuierlich untersuchen
lässt. Seit 2000 wird jährlich der an der Universität Jena erstellte „Thüringen-Monitor“ vorgelegt, der die Entwicklung der politischen Kultur im Freistaat beobachtet und analysiert (Edinger/Gerstenhauer/Schmitt 2010).
3
Greiffenhagen/Greiffenhagen 1993: 371ff. Allerdings scheint dieser Trend leicht rückläufig: Zusammenhänge
von Arbeitslosigkeit und Demokratie, allgemeiner Wirtschaftslage und Demokratie sowie Kontrolle der Banken
und Demokratie wurden in Ostdeutschland 2000 niedriger bewertet als 1992, blieben aber immer noch deutlich
über dem westdeutschen Niveau, vgl. Datenreport 2008: 398.
8
2.2. Zivilgesellschaftliches Engagement
Zwischen der Privatheit persönlicher Lebensführung und dem politischen Engagement liegt
der weite Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements. Die Bereitschaft der Bürger, sich
für Belange des Gemeinwesens einzusetzen, hat einen hohen Stellenwert für den gesellschaftlichen Zusammenhalt (Jaschke 2010). Bürgertugenden wie Solidarität, Sich-um-andereKümmern, Aufmerksamkeit und Interesse für allgemeine Belange werden hier herausgebildet
und verstetigt. Vor allem das Vereinsleben, aber auch ehrenamtliche Tätigkeiten bilden den
Kern im intermediären Raum zwischen Öffentlichkeit und Privatheit.
Zivilgesellschaftliches Engagement ist oft eine wichtige Vorstufe für die politische Beteiligung, die ihrerseits erst Demokratie mit Leben erfüllt. Nach der Vereinigung 1989/90 ist der
„Engagementpolitik“ insgesamt größeres Gewicht beigemessen worden. Für die westdeutschen Länder galt es, „Politikverdrossenheit“ und Politikdistanz entgegenzuwirken, die sich
seit den 1970er Jahren abgezeichnet hatten. Für die neuen Bundesländer war es von Bedeutung, bürgerschaftliches Engagement im politischen Raum zu fördern. Hier ging es darum,
den Rückzug des (DDR-)Staates aus der Organisation alltäglicher Lebensbedürfnisse und –
verhältnisse zu kompensieren durch die Förderung von Eigeninitiativen der Bürger. Zivilgesellschaftliche Strukturen sollten die allumfassenden Zuständigkeiten des Staates in der DDR
ablösen. Für beide, Ost wie West, gilt: Vor dem Hintergrund der Finanzkrise der öffentlichen
Haushalte ist ehrenamtliche Tätigkeit auch volkswirtschaftlich eine willkommene Entlastung.
Empirisch belastbare Daten über den Gesamtzeitraum von 1990 bis heute liegen nicht vor.
Die vorliegenden empirischen Daten über das zivilgesellschaftliche Engagement nach 1999
sind ambivalent. Der Freiwilligen-Survey vergleicht die öffentlichen Gemeinschaftsaktivitäten zwischen 1999 und 2004. Er kommt zu dem Ergebnis, daß sie in Ostdeutschland leicht
angestiegen sind von 56 Prozent der Bürger auf 62 Prozent (Gensicke u.a. 2009: 18ff.). Insbesondere das Vereinsleben wurde aktiviert und damit auch die Infrastruktur der Zivilgesellschaft. Dieser an sich positive Befund muß allerdings relativiert werden durch die Studie der
Prognos AG über das bürgerschaftliche Engagement in den Regionen (Prognos AG 2009:
17ff.). Bei dieser erstmaligen vergleichenden Erhebung liegt Brandenburg nur auf Platz 14
der 16 Bundesländer. Während in Brandenburg 25 Prozent der Bürger als Engagierte gesehen
werden, sind es bei den hier führenden Bundesländern Baden-Württemberg und Hessen 40
Prozent, gefolgt von Rheinland-Pfalz und Bayern mit 39 Prozent. Schlechter als Brandenburg
schneiden nur noch die Stadtstaaten Bremen (23 Prozent) und Berlin ab (19 Prozent).
Ähnlich skeptische Befunde zeigt die Entwicklung des Engagements in Sportvereinen: Zwar
steigt die Mitgliederzahl und die Zahl der Vereine in Brandenburg leicht an im Zeitraum von
2002 bis 2010, aber in diesem Bundesland sind nur 12,4 Prozent der Bevölkerung in Sportvereinen aktiv. Dies ist der niedrigste Wert aller Bundesländer.4 Für die Jugendlichen gilt,
dass die Sportvereine relativ stark nachgefragt sind - 38.9 Prozent der 12-20-Jährigen sind in
2005 hier Mitglied - , während es bei politisch orientierten Vereinigungen nur 2,3 Prozent
sind (Sturzbecher 2005: 13). Für diese Entwicklung können mehrere strukturelle Gründe geltend gemacht werden: Die Abwanderung von gut ausgebildeten jungen Menschen und die
4
Die führenden Bundesländer haben Werte über 30 Prozent. Vgl. Deutscher Olympischer Sportbund 2011: 12ff.
9
damit verbundene Überalterung der Gesellschaft, Mobilitätsprobleme im ländlichen Raum
und schwach ausgeprägte lokale und regionale Infrastrukturen.
Die im Vergleich zu Westdeutschland geringere Kirchen- und Religionsbindung in Ostdeutschland wird durch die Situation in Brandenburg stark hervorgehoben. Innerhalb der neuen Bundesländer hatte einer Umfrage aus 2002 zufolge Brandenburg nach dem ehemaligen
Ost-Berlin die geringsten Werte bei religiösen Überzeugungen (Martens o.J.: 8). Dies kann als
ein nicht unerheblicher Faktor gesehen werden, der zivilgesellschaftliches Engagement eher
erschwert, denn freiwillige Mitarbeit im kirchlichen Rahmen ist Teil des zivilgesellschaftlichen Engagements. Insofern geht es nicht allein um kirchliche oder religiöse Fragen und
Überzeugungen. Kirchenbindung muß auch gesehen werden als Teil des zivilgesellschaftlichen Engagements und als Vorstufe der politischen Beteiligung: Die karitativen Teile der
Kirchen liefern nicht nur soziale Arbeit, sie binden Gemeindeglieder in die Praxis freiwilligen
Engagements und gelebter Solidarität.
Eine weitere, wichtige Voraussetzung für das bürgerschaftliche Engagement in der modernen
Gesellschaft ist die Nutzung des Internet. Internet-Nutzer verfolgen persönliche Interessen
und praktische Zwecke des Einkaufens, der Bankgeschäfte oder der Kundeninformation. Viele benötigen das Internet auch für berufliche Zwecke. Doch die neuen Entwicklungen elektronischer sozialer Netzwerke (z.B. facebook) unterstreichen die Bedeutung der InternetNutzung als zukunftsreiches Medium der gesellschaftlichen Beteiligung und Interaktion. Der
überraschende Wahlerfolg der Piraten-Partei bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus
am 18. September 2011 mit 8,9 Prozent hat verdeutlicht, daß Fragen der modernen elektronischen Kommunikation und politischen Partizipation bislang unterschätzt und verdrängt wurden durch die Sicht des Internet als praktisches Instrument des Konsums. Insbesondere die
jüngere Generation der technischen Intelligenz könnte sich zum Vorreiter entwickeln für alternative Formen der politischen Beteiligung. Fragen der Nutzung des Internet, der Freiheitsspielräume dieses Mediums und der politischen Artikulation werden künftig eine größere Rolle spielen. Auch für 2011 gilt, dass Brandenburg bei der Internet-Nutzung zu den Schlusslichtern in Deutschland gehört.5 Vermutlich sind es die oben bereits angesprochenen Gründe der Abwanderung gut ausgebildeter junger Menschen und auch schwach ausgebildete lokale Infrastrukturen, die dafür verantwortlich gemacht werden können. Der Befund über die
relativ schwache Internet-Nutzung fügt sich ein in das Gesamtbild einer vergleichsweise geringen Bereitschaft zur zivilgesellschaftlichen Beteiligung.
Auch unter Berücksichtigung der Lückenhaftigkeit der vorliegenden Längsschnitt-Daten über
den Gesamtzeitraum 1990 bis heute muß gefolgert werden, daß in Brandenburg im Bereich
des zivilgesellschaftlichen Engagements, vor allem im Vereinssport, Nachholbedarf besteht.
Für die Weiterentwicklung der demokratischen politischen Kultur bzw. der politischen Beteiligung ist dies ein zentraler Orientierungspunkt.
5
Von 16 Ländern steht Brandenburg 2011 auf Platz 13. 68 Prozent der Bevölkerung nutzen das Internet, bei den
führenden Ländern sind es etwa 80 Prozent (Bremen, Berlin, Baden-Württemberg), vgl. die Angaben in:
www.nonliner-atlas.de
10
2.3. Politische Beteiligung
Die Formen der politischen Beteiligung sind vielfältig: Teilnahme an Wahlen, Mitgliedschaft
in Parteien und Verbänden, Bereitschaft zu demonstrieren oder sich an Unterschriftenaktionen
zu beteiligen gehören ebenso dazu wie neuerdings der Gebrauch moderner Medien wie etwa
des Internet, „twittern“ oder Aktivitäten in sozialen Netzwerken. Der soziale Wandel umfaßt
auch die Struktur und Intensität der politischen Beteiligung, so dass die klassischen Formen,
wie etwa die Beteiligung an Wahlen, an Gewicht verlieren. Dennoch sind sie in der Parteiendemokratie erste Indikatoren für das Verhältnis von Bürger und Staat. Neue Partizipationsformen, zumal unter Jugendlichen weit verbreitet, ergänzen und beleben das politische Geschäft, aber sie können in der Parteiendemokratie die alten Formen nicht ersetzen. Vor allem
eine Längsschnittbetrachtung gibt Aufschlüsse über ihre Entwicklung und ihre Richtung.
Überblickt man die Entwicklung in Deutschland in den zurückliegenden Jahren, so muss von
zunehmender Politikdistanz gesprochen werden (Jaschke 2010: 47ff.) oder, mit anderen
Worten, von einer nachhaltigen „Krise politischer Repräsentation“ (Linden/Thaa 2011): Die
Wahlbeteiligung sinkt, ebenso die Stammwähleranteile der Parteien. Die Mitgliederzahlen
von Parteien und Gewerkschaften gehen zurück, die Zufriedenheit mit den etablierten Parteien ist rückläufig. Die größte Politikdistanz und Skepsis findet sich im unteren Drittel der Gesellschaft. Ursächlich dafür sind Prozesse der Individualisierung, der steigenden sozialen Mobilität, der sozialen Ungleichheit und Tendenzen der Auflösung und Neuformierung der klassischen sozialen Milieus. Weitere Stichworte der aktuellen politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte sind die Pluralisierung der Lebensstile und die Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses zugunsten einer Vielzahl prekärer Arbeitsformen. Es handelt sich dabei um
tiefgreifende soziale Prozesse, die die Gesellschaft langfristig verändern. Diese eher generellen Trends und Herausforderungen sind natürlich keine guten Vorzeichen für eine Gesellschaft im Umbruch und Aufbau wie Brandenburg.
Die im Jahr 1998 von Allbus erhobenen Daten zur politischen Beteiligung in Ost- und Westdeutschland präsentieren eine Momentaufnahme und im Ergebnis deutliche Unterschiede.
Gefragt wurde nach Möglichkeiten und Bereitschaften der politischen Beteiligung (Eith
2000). Die traditionellen Schlüsselindikatoren Teilnahme an Wahlen und die Mitarbeit in einer Partei fanden bei Westdeutschen (89 bzw. 12 Prozent) deutliche höheren Anklang als bei
Ostdeutschen (78 bzw. 6 Prozent). Auch bei der Frage nach der Mitarbeit in einer Bürgerinitiative sind die Ergebnisse ähnlich unterschiedlich (31 Prozent West, 21 Prozent Ost). Eine
Längsschnitt-Betrachtung des tatsächlichen Wahlverhaltens im Land Brandenburg und der
Bereitschaft, einer Partei beizutreten über den Gesamtzeitraum nach der Vereinigung zeigt
allerdings, dass die Befunde aus 1998 keineswegs als Momentaufnahme zu sehen sind, sondern als Differenzen, die sich inzwischen verstetigt haben.
Tabelle 1: Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen: Vergleich Brandenburg – Bundesgebiet in Prozent
Wahljahr
Bundesgebiet
Land Brandenburg
11
1990
77,8
1994
79,0
1998
82,2
2002
79,1
2005
77,7
2009
70,8
Quelle: Statistisches Bundesamt W/31411100-050201
73,8
71,5
78,1
73,7
74,9
67,0
Bei allen sechs Bundestagswahlen nach der Wende ist die Wahlbeteiligung in Brandenburg
niedriger als im Bundesgebiet. Die Spanne liegt kontinuierlich zwischen drei und sechs Prozent. Selbst bei der ersten freien Wahl 1990 liegt sie um vier Prozent unter dem Bundesgebiet.
Noch sehr viel deutlicher ist dieser Trend bei den Europawahlen: Sie beträgt zwischen 15 und
20 Prozent.
Tabelle 2: Wahlbeteiligung bei Europawahlen: Vergleich Brandenburg – Bundesgebiet
in Prozent
Wahljahr
Bundesgebiet
Land Brandenburg
1994
60,0
41,5
1999
45,2
30,0
2004
43,0
26,9
2009
43,3
29,9
Quellen:
http://www.europarl.de/view/de/Europawahl/Wahlergebnisse/WahlbeteiligungEU.html und: http://www.wahlen.brandenburg.de/sixcms/detail.php/250631
Bemerkenswert an diesen Daten ist nicht die bei den Europawahlen niedrigere Wahlbeteiligung als solche. Auffällig ist vielmehr die deutlich größere Differenz zum Bundesdurchschnitt. Sie spricht dafür, dass der Europagedanke, die Kenntnis der Bedeutung der EU auch
für Deutschland, das Leben der Bürger in Brandenburg und, praktisch, die Transferleistungen
der EU an ostdeutsche Länder nach der Wende wenig bekannt sind und kaum als Gegenstand
der eigenen Betroffenheit und des politischen Prozesses wahrgenommen werden. Verkürzt
und pointiert formuliert: Die Bürger Brandenburgs sind in der Europäischen Union noch nicht
wirklich angekommen.
Ein anderes Bild zeigt sich bei den Landtagswahlen. Hier liegt die Beteiligung in etwa im
Bundestrend und mit Ausnahme der relativ hohen Werte für 1990 und 2009 recht konstant bei
etwa 55 Prozent:
Tabelle 3: Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen Brandenburg
Wahljahr
Wahlbeteiligung in Prozent
1990
67,1
1994
56,3
12
1999
54,3
2004
56,4
2009
66,6
Quellen:
http://statista.com/statistik/printstatsek/studie/3170
www.wahlen.brandenburg.de
und
Auffällig ist jedoch, dass die Beteiligung der unter 35-Jährigen signifikant niedriger ist als bei
den Älteren. Sie liegt – vergröbert – bei etwa 10 Prozent unter dem Durchschnitt.6
Neben der Wahlbeteiligung sind die Partei-Mitgliedschaften ein weiterer klassischer Indikator für eine demokratische politische Kultur. Sinkende oder stagnierende Mitgliedschaften
gehören zum längerfristigen Trend der Parteienentwicklung.7 Sie verlieren Mitglieder, insbesondere Jüngere tendieren zu alternativen Formen wie zeitlich begrenzte, projektbezogene
Engagements, sozialen Netzwerken oder auch Bürgerinitiativen. In etablierten Parteiendemokratien wie etwa den „alten“ EU-Mitgliedsstaaten ohne die osteuropäischen Neumitglieder
führt diese Entwicklung keineswegs zu Krisenerscheinungen der Demokratie. Die Steuerprotestparteien der 1970er Jahre, später die rechtspopulistischen Bewegungen in Italien, Frankreich und Österreich, aber auch die links-alternativen Parteien haben die Demokratien herausgefordert, aber am Ende eher zu einer Belebung und Neuorientierung der etablierten Parteien
beigetragen.
In Übergangsgesellschaften wie etwa Ostdeutschland hat geringes Engagement in den Parteien jedoch fatale Konsequenzen: Kommunale politische Infrastrukturen basieren im Hinblick
auf die Auswahl und Rekrutierung von Mandats- und Funktionsträgern, Programmen und die
Durchführung von Wahlkämpfen auf lebendigem Parteienleben vor Ort. Die Professionalisierung der kommunalen Politikebene ist ohne die Parteien kaum denkbar. So gesehen ist die
politische Infrastruktur in Brandenburg, vor allem auch auf kommunaler Ebene, angewiesen
auf parteipolitisches Engagement. Die Entwicklung in Brandenburg zeigt eine relativ schwache Verankerung der Parteien im politischen Leben des Landes:
Tabelle 4: Anteil von Parteimitgliedern der etablierten Parteien pro 100 Einwohner im
Jahr 2008 in den Bundesländern8
Bundesland
Einwohner 2008
(in Mill.)
Partei-Mitglieder
(in Tausend)
Mitglieder pro
Einwohner
Saarland
Rheinland-Pfalz
1.035090
4.040746
48.301
101.240
4,67
2,50
6
100
Amt für Statistik Berlin-Brandenburg – SB B VII 2 – 5 – 5j/09 - Brandenburg
Vgl. Wiesendahl 2011 und Jun 2011. Sinkende Mitgliedschaften im langfristigen Trend verzeichnen auch andere Großorganisationen wie Kirchen, Gewerkschaften und Sportvereine, vgl. die Angaben in Datenreport 2008:
391ff.
8
Parteimitglieder zusammengestellt nach Angaben bei Niedermayer, 2009. Einwohnerzahlen nach Angaben des
Statistischen Bundesamtes.
7
13
Hessen
Bayern
Niedersachsen
NordrheinWestfalen
SchleswigHolstein
Bremen
Hamburg
Berlin
BadenWürttemberg
Thüringen
6.069333
12.516676
7.963206
18.016805
125.178
248.669
155.164
339.186
2,06
1,99
1,95
1,89
2.835461
51.494
1,81
662.244
1.766945
3.420786
10.747456
9.700
24.192
44.734
130.199
1,46
1,37
1,31
1,21
2.282751
25.544
1,12
Brandenburg
2.531697
24.696
0,98
MecklenburgVorpommern
Sachsen-Anhalt
Sachsen
1.675958
15.987
0,95
2.404462
4.211511
20.694
33.505
0,86
0,80
Brandenburg ist das einzige Bundesland, in dem Die Linke gemessen an Mitgliedern die
stärkste Partei im Land ist: 2008 gehörten von 24.696 Parteimitgliedern 9.127 der Partei Die
Linke an, CDU (6.771) und SPD (6.573) folgen mit deutlichem Abstand (Niedermayer 2009).
Auch wenn zu berücksichtigen ist, dass viele Mitglieder wenig oder gar nicht aktiv sind
(„Karteileichen“), bleibt der Befund, dass in den lokalen Infrastrukturen Die Linke über das
größte personelle Reservoir an Aktiven verfügt. Dies dürfte eine Erklärung dafür sein, dass
Die Linke und ihre Vorgängerin PDS bei Kommunalwahlen stets gut abgeschnitten haben und
kontinuierlich über 20 Prozent lagen (1993: 21.19 %, 1998: 21.64 %, 2003: 21.31 %, 2008:
24.7 %).
Für die Jugendlichen (12-20 Jahre) in Brandenburg ergibt eine Zeitreihenstudie (= Vergleich
1999 mit 2005) ein widersprüchliches Bild: Politisches Interesse und politische Kompetenz
sind nach eigener Einschätzung innerhalb dieser sechs Jahre gestiegen, gleichzeitig ist aber
die Bereitschaft, sich politisch zu beteiligen, im gleichen Zeitraum gesunken. Dies spricht
dafür, dass Jugendliche vor allem mit den konventionellen Formen des Politikengagements
wenig anfangen können. Ihre Bereitschaft, im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen sich
zu engagieren, ist bei weitem höher als in Parteien oder Gewerkschaften (Sturzbecher 2005:
10ff.).
Aus diesen Befunden lassen sich einige Schlußfolgerungen ableiten. Die relativ gute regionale
und kommunale Verankerung und Akzeptanz der Linken basiert darauf, daß DDRLebenserfahrungen und Stimmungen von ihr am ehesten noch gepflegt werden. Menschen vor
Ort fühlen sich von dieser Partei eher verstanden als von anderen. Die Linke profitiert aber
auch davon, daß es den anderen Parteien nur unzureichend gelingt, ein lebendiges Parteileben
vor Ort zu etablieren.
14
2.4. Zur Entwicklung politischer Einstellungen
Politische Einstellungen im Themenfeld „Demokratie“ geben Auskunft darüber, inwieweit
demokratische Überzeungen in einer Gesellschaft tatsächlich verankert sind. Ein Längsschnittvergleich zeigt darüberhinaus, in welche Richtung sich diese Werte entwickeln. Für die
Entwicklung der demokratischen politischen Kultur in Brandenburg sind die Ergebnisse in
zweifacher Hinsicht von Bedeutung: Zum einen kann aus dem Längsschnittvergleich ein
Trend abgelesen werden, zum anderen ermöglicht der Ländervergleich eine Positionierung
innerhalb des vereinigten Deutschland. Die Datenlage dazu ist bei weitem nicht erschöpfend,
ermöglicht aber immerhin systematische Vergleiche zwischen den Jahren 2002 und 2008.9
Ausgangspunkt sind Entwicklungen in den ersten Jahren nach der Wende. Für die ersten zehn
Jahre nach der Vereinigung gilt es als empirisch erwiesen, dass die Demokratiezufriedenheit
in Ostdeutschland geringer ist als die in Westdeutschland. Zwischen 1990 und 1998 ist diese
Differenz kontinuierlich zu beobachten (Gabriel 2000: 197). Danach setzt sich dieser Trend
fort. Deutlich mehr Westdeutsche (81 Prozent) als Ostdeutsche (61 Prozent) halten die Demokratie für die beste Staatsform in Deutschland (Rudzio 2006: 439). Bei näherer Betrachtung
könnte man sagen, die bundesweit eher negativen Trends im Hinblick auf die Demokratiezufriedenheit sind in Brandenburg in den folgenden Jahren noch schärfer
ausgesprägt als im Bundesdurchschnitt. Gefragt wurde nach der Haltung zur Demokratie
als Idee, nach der Demokratie im Grundgesetz und nach dem Funktionieren der Demokratie
in der Praxis. Bei allen drei Fragen waren die Antworten der Brandenburger in den Jahren
2002, 2004 und 2008 sehr viel skeptischer als im Bundesdurchschnitt. Auffallend war bereits
an dieser Stelle, dass Menschen, die in der Nähe von Berlin wohnen, eher demokratiefreundlicher eingestellt sind als jene, die in den Berlin-fernen Gebieten leben.10 Dies spricht für eine
Demokratie-Entwicklung mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Der Ballungsraum-nahe
Bereich um Berlin auf der einen Seite, ländlich-kleinstädtische Räume auf der anderen. Die
Beeinträchtigung der Demokratiezufriedenheit in Brandenburg ist aber auch von anderen Indikatoren abhängig: Geringes politisches Interesse, niedriger sozioökonomischer Status, eine
Selbsteinschätzung als Verlierer der Wiedervereinigung und eine eher positive Einschätzung
der DDR-Vergangenheit sind Faktoren, die zu Skepsis bis Ablehnung der Demokratie beitragen.
Hilfreich für das Verständnis der relativ geringen Demokratiezufriedenheit in Ostdeutschland
ist ein europäischer Vergleich. Hier zeigt sich, dass – bis auf wenige Ausnahmen - Länder mit
geringer demokratischer Tradition bzw. Transformationsgesellschaften vom Kommunismus
zur Demokratie geringere Werte ausprägen als Länder, die auf eine lange demokratische Geschichte zurückblicken können. Die Langfristdaten des Eurobarometer gruppieren demzufolge
Westdeutschland ein in die Gruppe der „hoch“ Zufriedenen, (mit u.a. Dänemark, Schweden,
Niederlande), Ostdeutschland jedoch in die Gruppe der „niedrig“ mit der Demokratie Zufriedenen (mit u.a. Bulgarien, Rumänien, Slowakei, vgl. Jesse/Thieme 2011: 434f.). Dies unter-
9
Es wird vor allem Bezug genommen auf verschiedene empirische Studien aus dem Otto-Stammer-Zentrum an
der FU Berlin: Stöss 2008 und Niedermayer/Stöss 2008, sowie auf Decker/Brähler 2008.
10
Niedermayer/Stöss 2008 (Tabellen 1-6 im Anhang).
15
streicht die Annahme, daß auch regionale Entwicklungen der demokratischen politischen Kultur Zeit brauchen und Traditionen langfristig herausgebildet werden müssen.
Ein besonders wichtiger Blockadefaktor bei der Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur ist das Fortwirken rechtsextremer und fremdenfeindlicher Einstellungen. Sie
sind mit der Demokratisierung absolut unvereinbar. Seit Kriegsende gibt es immer wieder
Messungen rechtsextremer Einstellungen in Westdeutschland, seit 1990 auch im vereinigten
Deutschland. Ihre Ergebnisse sind aufgrund unterschiedlicher Messmethoden schwer vergleichbar, doch alles in allem muß von einem Bodensatz von etwa zehn Prozent ausgegangen
werden, mal mehr, mal weniger. Für die Zeit nach 1990 hatte zunächst Westdeutschland höhere Werte, bevor gegen Ende des Jahrzehnts solche Einstellungen in Ostdeutschland stärker
verbreitet waren. Trotz Schwankungen gilt heute Ostdeutschland als mehr betroffen, wobei
die Unterschichten sich als besonders anfällig erweisen (Stöss 2010: 218ff.).
Die Unterschiede zwischen Bundesländern sind zum Teil auffällig. Forsa ermittelte für Mitte
1998 Brandenburg als unrühmlichen Spitzenreiter bei rechtsextremen Einstellungen: Hierzu
gehörten 19 Prozent der Bevölkerung, im Saarland waren es vier, in Bremen fünf, in Rheinland-Pfalz 7 Prozent (Jaschke 2000: 13). Für den Zeitraum zwischen 2002 und 2008 liegen
einige weitere aussagekräfte Untersuchungen der rechtsextremen Einstellungen in Brandenburg vor. Decker/Brähler kommen zu differenzierten Befunden im langjährigen Mittel
und im Vergleich der Bundesländer für diesen Zeitraum (Decker/Brähler 2008: 37ff.):
- Die Befürwortung einer Diktatur ist in Brandenburg eher schwach ausgeprägt (hoch z.B. in
Mecklenburg-Vorpommern)
- Die Zustimmung zu chauvinistischen Statements ist in Brandenburg durchschnittlich ausgeprägt (z.B. in Bayern hoch, im Saarland niedrig)
- Antisemitische Orientierungen sind in Brandenburg am seltensten von allen Bundesländern
ausgeprägt
- Sozialdarwinistische Haltungen sind ebenfalls schwach ausgeprägt
- Auch die Verharmlosung des Nationalsozialismus ist schwach ausgeprägt
- Ausländerfeindlichkeit als Teilmenge des Rechtsextremismus ist jedoch in Brandenburg
relativ stark: Der Studie bezeichnet ein Drittel der Bevölkerung (34,6 Prozent) als ausländerfeindlich (Decker/Brähler 2008: 46). Jugendstudien bestätigen diese Entwicklung: In 2010 hat
sich die zurückgehende Tendenz der Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen verstetigt. 60
Prozent der Jugendlichen lehnen solche Statements „völlig“ ab (1993: 37 Prozent, Sturzbecher/Burkert/Hoffmann 2011: 100). Während hier rechtsextreme Einstellungen zwischen
1999 und 2005 insgesamt zurückgehen, bleibt die Zustimmung zu ausländerfeindlichen
Statements hoch. Sturzbecher spricht von etwa 28 Prozent der Jugendlichen in Brandenburg
mit ausländerfeindlichen Orientierungen (Sturzbecher 2005: 30).
Für einen vergleichbaren Zeitraum (2002 bis 2008) untersucht Stöss rechtsextreme Einstellungen in Berlin und Brandenburg (Stöss 2008). Auffällig sind große Unterschiede zwischen
Berlin und Brandenburg und innerhalb Brandenburgs einmal mehr zwischen Berlin-nahen
16
und Berlin-fernen Regionen. Dieser Studie zufolge beträgt der Mittelwert für Brandenburg
etwa 15 Prozent der Bevölkerung (Berlin: 6,7 Prozent). Besonders stark ausgeprägt sind
rechtsextreme Einstellungen in Brandenburg bei Arbeitslosen, einfachen Arbeitern und Facharbeitern. In den Berlin-nahen Gebieten sind die Werte niedriger als in den Berlin-fernen
Randgebieten, womit die These der unterschiedlichen Geschwindigkeiten der DemokratieEntwicklung bekräftigt wird. Die alteingesessene DDR-Generation neigt eher zu rechtsextremen Orientierungen als die aus dem Westen zugezogenen Neu-Brandenburger. Ein weiteres
Ergebnis dieser Studie verweist auf starke antikapitalistische Einstellungen, die zum Teil
nicht mit sozialistischen, sondern mit rechtsextremen Deutungen verbunden sind. „Übereinstimmend lassen sich“, so Stöss (2008: 4), „kapitalismuskritische und rechtsextreme Einstellungen durch Anomie, durch mangelndes politisches Selbstbewußtsein und durch wirtschaftliche, soziale und politische Unzufriedenheit erklären“. Es scheint sogar, dass sie Anfang der
2000er Jahre noch gewachsen ist. Schlechtere wirtschaftliche Verhältnisse in Brandenburg
erwarteten in 2000 22 Prozent der Bevölkerung, vier Jahre später waren es 45 Prozent. Die
Zustimmung zu der Aussage „Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht
ausgeführt wurde“ wuchs von 59 Prozent (2000) auf 68 Prozent (2004; Stöss/Niedermayer
2007: 49).
2.5. Zwischenergebnis
Für die Kernkriterien der politischen Kultur – zivilgesellschaftliches Engagement, politische
Partizipation und politische Einstellungen im Längsschnittvergleich – lassen sich für den Gesamtzeitraum von 1990 bis 2010 trotz beklagenswerter Datenlücken im Längsschnitt einige
aussagekräftige Trends rekonstruieren und interpretieren. Die Befunde insgesamt entsprechen
in groben Zügen dem bundesweiten und dem ostdeutschen Trend. Einige Aspekte sollen hier
zusammenfassend diskutiert werden.
- Zivilgesellschaftliches Engagement ist eine Vorstufe politischer Partizipation und muß insofern für Fragen der demokratischen politischen Kultur hoch gewichtet werden. Das zivilgesellschaftliche Engagement ist in Brandenburg vergleichsweise gering ausgeprägt. Daten
über die schichtspezifische Struktur dieses Engagements liegen nicht vor. Es muß hypothetisch davon ausgegangen werden, dass – wie im Bundes-Trend – die Mittelschichten eher
dazu bereit sind, die Unterschichten eher weniger (Jaschke 2010: 95). Für den engen Zusammenhang von ehrenamtlichem Engagement und Betätigung in Sportvereinen einerseits und
politischem Engagement andererseits gibt es für Brandenburg auch empirische Belege. Das
politische Interesse und die politische Beteiligung derjenigen brandenburgischen Jugendlichen, die Mitglied im Sportverein, kulturellen Vereinigungen kirchlichen Gruppen oder freiwilligen Hilfsorganisationen sind, ist durchgängig höher als bei jenen Jugendlichen, die nicht
Mitglied sind (Sturzbecher 2005: 14).
- Politische Partizipation, gemessen an den konventionellen Parametern Wahlbeteiligung
und Parteien-Mitgliedschaften ist in Brandenburg unterdurchschnittlich. Überlegungen,
wonach der bundesweite Trend sinkender Wahlbeteiligungen im europäischen Vergleich eher
als „Normalisierung“ zu verstehen ist (Merkel/Petring 2011), sollten nicht unbesehen auf
17
Brandenburg und die ostdeutschen Länder übertragen werden: Hier müssen lokale politische
Infrastrukturen erst noch weiter auf- und ausgebaut werden. Niedrige Wahlbeteiligungen,
zumal unter den jungen Wählern, erschweren diesen Prozeß. In den neuen Bundesländern ist
der in den alten schon länger spürbare „gesellschaftliche Anerkennungsverlust des Engagements in Parteien“ (Wiesendahl 2011) fatal, denn er verstopft die unerläßlichen Kommunikationskanäle zwischen den Bürgern und dem Parteienstaat. Brandenburger Jugendliche sind
jedoch nicht unpolitisch: Bei ihnen stehen jedoch die neuen sozialen Bewegungen und alternative Politikangebote höher im Kurs als Parteien und Gewerkschaften.
- Demokratiezufriedenheit ist in Brandenburg weiterhin relativ schwach ausgeprägt. Im
Vergleich zu Westdeutschland niedrige Werte sind schon kurz nach der Wende in allen neuen
Bundesländern gemessen worden (Fuchs 1997), sie haben sich im Verlaufe von zwanzig Jahren kaum verändert. Der Prozeß der Demokratisierung hat sich vor diesem Hintergrund wenig
entwickelt, Demokratiezufriedenheit stagniert. Rechtsextreme Einstellungen sind stabil auf
einem hohen Niveau, wobei in beiden Fällen die Berlin-fernen Gebiete stärker betroffen sind.
Die geringere Demokratiezufriedenheit in Berlin-fernen Gebieten korrespondiert mit einer
geringeren sozialen Integration: Dort ist auch das Armutsrisiko deutlich höher: In den Räumen Cottbus, Frankfurt/Oder, Uckermark und Spree-Neiße ist das Armutsrisiko deutlich höher als in der Region Potsdam-Mittelmark oder auch Teltow-Fläming.11 Dies mag als Hinweis
dafür verstanden werden, daß soziale und politische Integration einen engen Zusammenhang
bilden, daß ohne soziale auch politische Integration kaum gelingen kann.
- Innerhalb des rechtsextremen Orientierungsmusters ist der Faktor „Ausländerfeindlichkeit“
in Brandenburg besonders bedeutsam. Die vorliegenden Befunde verweisen auf eine bemerkenswerte soziale Selektivität: Unzufriedenheit über die Demokratie und rechtsextreme
Einstellungen sind im unteren Drittel der Gesellschaft besonders stark ausgeprägt. Die
politische Kultur in Brandenburg insgesamt zeigt starke Ansätze einer demokratischen Entwicklung. Aber dieses Bild wird getrübt durch schwache politische Partizipation und unzureichendes gesellschaftliches Engagement, durch mangelnde Zufriedenheit mit der Demokratie
und stabil-hohe rechtsextreme Einstellungen. Es spricht vieles dafür, dass die dauerhafte soziale Desintegration im unteren Drittel der Gesellschaft in Brandenburg der zentrale Hemmschuh ist für die Weiterentwicklung der demokratischen politischen Kultur.
2.6. Ursachen und Wirkungen
Bei der Erklärung und Gewichtung dieser Zwischenergebnisse könnte auf verschiedene Faktoren hingewiesen werden. Handelt es sich um eine nachholende Entwicklung? Sind die Defizite eine Frage der Zeit und der kontinuierlichen Weiterentwicklung vorhandener politischer
Ansätze? Mit Blick auf andere Transformationsgesellschaften – etwa Westdeutschland in den
ersten Jahrzehnten nach 1945 – fehlt ein wichtiger Aspekt: Wirtschaftswachstum und Prosperität. Brandenburg hat wenig industriegesellschaftliche Potentiale, so dass die soziale Integration der prekär Beschäftigten über industrielle Arbeitsplätze kaum gelingen kann. Gut bezahl11
Nähere Angaben in: Armutsgefährdung auf regionaler Ebene in Berlin und Brandenburg. Pressemitteilung Nr.
190 vom 30.06.2010 des Amt für Statistik Berlin-Brandenburg.
18
te Beschäftigung in Dienstleistungsbranchen setzt gute und arbeitsmarktadäquate Ausbildung
voraus, so dass hier der zentrale Mechanismus der Integration zu sehen ist. Eine demokratische politische Kultur hängt ab von der sozialen Integration der Bürger.
Im Wandlungsprozeß von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft sind strukturelle Faktoren wie zu große soziale Ungleichheit, regionale Ungleichheit zwischen den Landesteilen
und die Abwanderung gut Qualifizierter in andere Bundesländer Bremsen für die soziale Integration und für die demokratische politische Kultur gleichermaßen. Neben den hier erforderlichen Instrumenten der Arbeitsmarkt-, Berufs- und Bildungspolitik sind die Förderung des
Ehrenamtes und die Sicherung und der Ausbau vorhandener Instrumente der
Engagementpolitik entscheidende Schritte zum Ausbau einer demokratischen politischen Kultur. Im Einzelnen können folgende Ursachen angenommen werden für das Ausmaß politischer Entfremdung und politischer Apathie:
- Der allgemeine Prozeß der Individualisierung beschreibt die Entwicklung von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Das Vordringen von Wissenschaft und Technik führt zu
Rationalalisierungen und Massenfertigung, einfache Arbeiten und körperliche Arbeit wird
tendenziell entwertet, Bildung spielt eine entscheidende Rolle für die Berufsbiografien. Die
traditionelle Familie verliert an Bedeutung, die Pluralisierung der Lebensstile unterhöhlt die
Bindung an vorgefundene traditionelle soziale Milieus und an herkömmliche politische Orientierungen.
- Wachsende Politikdistanz wird seit den achtziger Jahren in Westdeutschland beobachtet
und ist eng verbunden mit dem Prozeß der Individualisierung. Das Aufbrechen traditioneller
politischer und sozialer Milieus, hohe Mobilität der Bevölkerung und die geforderte Bereitschaft, Ausbildung, Beruf und Lebensmittelpunkt zu wechseln, erschweren feste Bindungen
an Orte und lokale Infrastrukturen, aber auch an große Organisationen. Auch deshalb verlieren Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und andere Organisationen Mitglieder, auch deshalb
leidet die Bereitschaft des längerfristigen politischen Engagements.
- Die Wende 1989/90 eröffnet viele Chancen und Möglichkeiten für die Bürger wie Reisefreiheit, freie Wahl des Ausbildungs- und Arbeitsplatzes, Teilhabe am Wohlstand, Wahrnehmung von Grundrechten und vieles mehr. Er eröffnet aber auch zahlreiche Risiken: Ungewißheit über die weitere persönliche Entwicklung, Auseinandersetzung mit den neuen Bürokratien, Abwanderungen von Familien oder Teilen davon nach Westdeutschland. Der hohe
Druck alltäglicher Neuorientierung in praktischen Angelegenheiten verhindert oder erschwert
politische Neuorientierung und politisches Engagement. Er erschwert vor allem die Herausbildung (partei)politischer Milieus als Basis einer aktiven Teilhabe am politischen Prozeß.
- Der demografische Wandel in Brandenburg war im Zeitraum nach 1989/90 nicht förderlich für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur. Dieser Wandel setzte in
Brandenburg erst spät ein. Nachdem die Bevölkerungszahl bis 1999 kontinuierlich zunahm,
sinkt sie seitdem Jahr für Jahr leicht, von etwa 2,6 Millionen (2000) auf 2,5 Millionen
(2011).12 Neben der Überalterung spielte die Abwanderung nach Westdeutschland eine wich12
Vgl. die Angaben in: Bevölkerungsverlust im Land Brandenburg. Pressemitteilung Nr. 243 vom 5. August
2011, hrsg. vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg.
19
tige Rolle, die aber, einer neueren Prognose der Bertelsmann-Stiftung zufolge, jetzt nahezu
gestoppt ist (Bertelsmann Stiftung 2008). Abgewandert sind vornehmlich gut ausgebildete,
auf dem Arbeitsmarkt chancenreiche jüngere Menschen, die aber das Rückgrat bilden für zivilgesellschaftliches Engagement und politische Beteiligung. Die Bertelsmann-Studie geht
von einem weiteren Rückgang der Bevölkerung in Brandenburg bis 2025 um 5,5 Prozent aus.
Das ist der geringste Wert in Ostdeutschland. Es steht aber zu befürchten, daß der Verlust
qualifizierter Mittelschichtenbevölkerung dem Prozeß der Demokratisierung nicht guttut. Regional werden dieser Studie zufolge vor allem Südbrandenburg zwischen Bad Liebenwerda
und Guben, der Nordwesten und der Nordosten von Abwanderung bedroht sein, während Berlin-nahe Räume um Potsdam und zwischen Oranienburg und Eberswald eher mehr Bewohner
erwarten können.
Zu den Wirkungen gehören folgende Faktoren:
- Der Prozeß des Wandels nach 1989/90 bringt „Gewinner“ und „Verlierer“ hervor. Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren und deren Teilhabe-Möglichkeiten am Wohlstand begrenzt sind und deren DDR-Berufsbiographien entwertet wurden und jene eher Jüngeren, deren Beschäftigungspositionen prekär sind aufgrund von erzwungener Teilzeitarbeit, Verharren
im Niedriglohnsektor oder mangelnder Qualifikation, gehören zu den „Verlierern“. In diesem
Bereich ist ein erheblicher Vertrauensverlust in Politik generell zu verzeichnen bis hin zu aggressiver politischer Apathie, verweigerter Teilnahme oder Orientierung hin zu rechtsextremen Protestformen.
- Die Spaltung der Gesellschaft in „Gewinner“ und „Verlierer“ einerseits und der Brandenburger Weg des pragmatischen Umgangs mit der DDR-Vergangenheit andererseits eröffnet
Wege des Rückgriffs und des Fortbestehens von DDR-Mentalitäten und der Verklärung der
guten Seiten der DDR. Die Gefahren dieses Prozesses liegen darin, dass zwischen System
und Lebenswelt im Alltagsbewußtsein nicht oder zu wenig unterschieden wird oder gar
beides miteinander vermischt wird. Das Fehlen von Grundrechten und zentralen Elementen
des Rechtsstaates und die Willkür der Staatsgewalt und der Staatssicherheit sind auf der Systemebene mit der Demokratie des Grundgesetzes13 unvereinbar und nicht hinnehmbar. Verklärungen in dieser Richtung untergraben demokratische Entwicklungen. Auf der anderen
Seite ist die Lebenswelt in der DDR, bestehend aus persönlichen Erfahrungen und persönlichen Beziehungen in der Familie, im Freundeskreis und in der Arbeitswelt, auch heute noch
ein wichtiges, tragendes und stabilisierendes Element in den Biografien der ehemaligen DDRBürger.
- Das empirisch im Rahmen des Politische-Kultur-Ansatzes feststellbare Ausmaß politischer
Entfremdung bietet – insbesondere in den Anfangsjahren des Landes Brandenburg in der ersten Hälfte der 1990er Jahre - zu wenig Abwehr- und Widerstandspotentiale gegen rechtsextremistische, insbesondere fremdenfeindliche Orientierungen und Verhaltensweisen.
Brandenburg war im Zuge der bundesweiten Herausforderungen durch rechtsextreme Bewegungen Anfang der neunziger Jahre besonders betroffen. Es muß davon ausgegangen werden,
daß „heimliche“ Sympathien, Duldungen, Wegschauen/Ignorieren insbesondere gegenüber
13
Zu denken ist hier vor allem an Art. 1 und 20 des Grundgesetzes und Art. 2 der Verfassung von Brandenburg
20
den Angriffen auf Ausländer nicht seltene Verhaltensmuster waren, die durch allgemein geringe demokratische Grundüberzeugungen begünstigt waren. Diese Zusammenhänge werden
im folgenden Abschnitt näher untersucht.
21
3. Entwicklung des Rechtsextremismus, seine Ursachen, Mobilisierungsfähigkeit und Wirkung auf das demokratische Gemeinwesen
Für den Gesamtzeitraum von zwanzig Jahren nach der Wende ist die Entwicklung von
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit insbesondere in den neuen Bundesländern zu
einem nachhaltigen Strukturproblem geworden, das die Entfaltung der demokratischen politischen Kultur behindert. Wichtige Indikatoren wie Wahlergebnisse, politisch motivierte Kriminalität und Meinungsumfragen sprechen dafür, dass Ostdeutschland hiervon stärker betroffen ist als Westdeutschland. Das Image der neuen Länder, auch Brandenburgs, hat enorm gelitten unter der bekanntgewordenen Gewalt von rechts, aber auch unter einigen wenig differenzierten öffentlichen Auseinandersetzungen. Vor dem Beginn der weltweit beachteten Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland hatte der ehemalige Regierungssprecher der rotgrünen Bundesregierung, Uwe-Karsten Heye, vor „No-Go-Areas“ für Ausländer in Brandenburg gewarnt und eine breite öffentliche Debatte ausgelöst. Inzwischen sind die „Angstzonen“
in Brandenburg und anderen ostdeutschen Ländern genauer untersucht worden und einem
sehr differenzierten Bild gewichen (Döring 2008).
Der Bund hat dem gewaltbereiten ostdeutschen Rechtsextremismus Rechnung getragen mit
einer Reihe von Programmen, die schon 1992 begannen mit dem „Aktionsprogramm gegen
Aggression und Gewalt“. Im Bundesförderprogramm „CIVITAS – initiativ gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern“, das 2001 bis 2006 umgesetzt und mittlerweile auch
evaluiert ist, sind die Ziele solcher Programme beispielhaft formuliert. „Ehrenamtliches Engagement“, heißt es in diesem Bericht, „sollte gefördert, Eigeninitiative ermutigt, Partizipation ermöglicht und eine demokratische politische Kultur zur Entfaltung gebracht werden“
(Lynen von Berg/Palloks/Steil 2007: 9).
Im Folgenden wird zunächst der organisierte Rechtsextremismus in Brandenburg seit 1990
zusammenfassend rekonstruiert (3.1.). Es wird gezeigt, dass seine historischen Wurzeln auch
in der Spätgeschichte der DDR liegen. Neben der Entwicklung rechtsextremer Parteien wie
der NPD und der DVU werden auch Ereignisse wie die „Heldengedenkfeiern“ in Halbe und
militante Anschläge angesprochen. Ein weiterer Abschnitt systematisiert die bekanntgewordenen Fallzahlen zur Gewalt von rechts und ihre Entwicklung (3.2.). Bei der Frage nach der
sozialen Basis des Rechtsextremismus in Brandenburg (3.3.) führt die Argumentation auf die
Faktoren männliche Jugend und junge Erwachsene und bekräftigt die These von Richard
Stöss, „dass sich der Rechtsextremismus … von einem Mittelschicht- zu einem Unterschichtphänomen entwickelt hat“ (Stöss 2010: 219). Bei der Frage der Mobilisierungsfähigkeit liegt
der Schwerpunkt auf der rechten Demonstrationspolitik und den kampagneorientierten Aktivitäten im Internet (3.4.). Die abschliessende Frage der Wirkung auf das demokratische Gemeinwesen (3.5.) wird geleitet von Perspektiven für den Investitionsstandort Brandenburg, für
repressive und präventive Ansätze und nicht zuletzt für die Hauptadressaten des Rechtsextremismus, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in prekären Lebenssituationen.
22
3.1. Die Entwicklung des organisierten Rechtsextremismus seit 1990
Rechtsextremismus in Ostdeutschland ist nicht ausschließlich ein West-Import und nicht allein mit den sozialen Verwerfungen der Wendezeit erklärbar. Es gibt eine Vielzahl amtlicher
Hinweise von DDR-Behörden, die auf die Existenz von Skinhead-Subkulturen lange vor 1989
verweisen und auf Gerichtsurteile gegen Neonazis. Eine Übersicht der Staatssicherheit von
Ende 1988 spricht von einer Konzentration dieser Gruppen im Raum Berlin/Potsdam (Stöss
2010: 108). Die Kriminalpolizei der DDR registrierte 1989 etwa 1000 Personen als rechtsextrem und gewaltbereit und bezifferte das Sympathisantenpotential auf 15.000 Personen (Wagner 2002: 19). Die Gruppe der Menschen mit rechtsextremen Einstellungen dürfte bei weitem
größer gewesen sein. Solche Orientierungen waren auch in der DDR bekannt, selbst gewalttägige Anschläge auf Ausländerwohnheime und die Schändung jüdischer Friedhofe waren aktenkundig (Neckel 1999).
1990, 1991 und in den Jahren 2003 bis 2006 versuchten Rechtsextremisten mit einigem Erfolg, den Waldfriedhof Halbe, einen der größten deutschen Soldatenfriedhöfe, zu einem Wallfahrtsort zu stilisieren durch „Heldengedenken“ und „Heldengedenkmärsche“. Der Friedhof
war allerdings schon vor der Wende ein Treffpunkt für die rechtsextreme Szene der DDR.14
An diesem Vorgang zeigt sich, dass auch der Versuch der Etablierung symbolisch bedeutsamer Orte zu Zwecken der Öffentlichkeitsarbeit, der Demonstration und Integration der rechten Szene auf Traditionen aus der DDR aufbauen konnten.
Die Führung der DDR hat den Rechtsextremismus im eigenen Land stets geleugnet. Er fügte
sich nicht in die antifaschistische Staatsräson. Fremdenfeindliche Haltungen gegenüber den in
Wohnheimen am Stadtrand lebenden Vertragsarbeitern aus Vietnam oder Angola wurden
ignoriert, wissenschaftliche Studien über rechtsextreme Gruppen in der DDR unter Verschluß
gehalten (Jaschke/Rätsch/Winterberg 2001: 59ff.). Damit bestand in Ostdeutschland nach der
Wende eine Tradition des Verharmlosens, Beschweigens und Wegsehens gegenüber fremdenfeindlichen und rechtsextremen Vorgängen, die auch über die Wende hinaus nachwirkte.
Zu Beginn der neunziger Jahre beunruhigte eine Serie von pogromartigen Anschlägen auf
Asylbewerberheime und Asylbewerber die deutsche und internationale Öffentlichkeit. Orte
wie Rostock, Hoyerswerda oder auch Hünxe und Solingen symbolisierten eine gewaltbereite
Stimmung gegen Zuwanderer in Ost- und Westdeutschland. Die Befindlichkeiten diesbezüglich entwickelten sich im Laufe der neunziger Jahre sehr unterschiedlich: In den alten Bundesländern gab es anfangs starke Ressentiments gegen Zuwanderer, die gegen Ende der Jahrzehnts abflachten. In den neuen Ländern war es umgekehrt: Die Ablehnung von Aussiedlern
und Asylsuchenden nahm deutlich zu:
14
Vgl. Chronik der versuchten Inbesitznahme des Waldfriedhofs Halbe durch rechtsextreme Gruppierungen,
www.politische-bildung-brandenburg.de
23
Tabelle 5: Ablehnung des Zuzugs von Immigranten von 1991-2000 nach West und Ost
Aussiedler
West
Ost
Asylsuchende
West
Ost
EU-Arbeitneh-
Nicht-EU-
mer
Arbeitnehmer
West
Ost
West
Ost
1991
10,1 % 11,9 %
21,6 % 15,2 %
9,8 % 25,5 %
28,4 % 39,3 %
1992
10,1 % 10,9 %
23,8 % 18,1 %
9,0 % 24,0 %
28,1 % 36,1 %
1996
11,5 % 17,7 %
21,7 % 21,1 %
12,1 % 37,7 %
31,3 % 49,3 %
2000
10,5 % 15.3 %
15,6 % 20,7 %
6,2 % 20,8 %
19,4 % 39,5 %
(Quelle: Gesellschaft Sozialwiss. Infrastruktureinrichtungen (Hrsg.), ALLBUS 1991, 1992,
1996, 2000).
Unterschiedlich ist darüber hinaus die gleichbleibend hohe Ablehnungsquote von EUArbeitnehmern und Nicht-EU-Arbeitnehmern in Ostdeutschland, die in Westdeutschland
deutlich niedriger ausgeprägt ist.
In Brandenburg entwickelten sich sehr früh regelrechte Hetzjagden auf Ausländer. Der rassistisch motivierte Mord an dem jungen Mosambikaner Amadeu Antonio im November 1990 in
Eberswalde hat die politische Kultur in Brandenburg in den ersten Jahren nach der Wende
erheblich beeinflußt. Antonio wurde von zehn jugendlichen Neonazis durch die Stadt gejagt.
Ihr Ziel war es, wie die Angeklagten später im Gerichtsverfahren zugaben, „Neger aufzuklatschen“.15 Eckpunkte des Kontextes der Tat waren: Das Versagen der Polizei vor Ort, die viel
zu spät einschritt, geringe Haftstrafen für die Täter (bis 4 Jahre) und nicht zuletzt eine auch in
Eberswalde spürbare Pogromstimmung gegen Asylbewerber. Der Mord von Eberswalde war
der Auftakt einer Gewaltkette, die mit Städtenamen wie Rostock, Hoyerswerda, Solingen,
Hünxe verbunden ist. Die Mixtur von Pogromstimmung, Versagen der und Vertrauensverlust
in die Polizei, Polarisierung der öffentlichen Meinung im Hinblick auf das Asyl-Thema und
zivilgesellschaftliche Gegenaktionen produzierte ein gesellschaftliches Klima, in dem die
östlichen Bundesländer auf Jahre hinaus als Brutstätten der Fremdenfeindlichkeit und des
Rechtsextremismus galten. Antonio war nicht das erste Opfer fremdenfeindlicher Gewalt in
Brandenburg. Noch kurze Zeit vorher wurde ein junger Pole in Lübbenau von drei jungen
Deutschen verprügelt und erstochen. Er war das erste Opfer rassistischer Gewalt in Brandenburg (Kleger 2006: 10).
Die Ausbreitung des organisierten Rechtsextremismus in Brandenburg nach 1989 konnte an
diese Entwicklungen anknüpfen. Die Republikaner und die NPD begannen kurz nach der Öffnung der Mauer mit organisatorischen Aktivitäten. Der Aufbau verlief zunächst jedoch
schleppend (Pfahl-Traughber 1992: 12f.). Westdeutsche neonazistische Kleingruppen versuchten, die vorhandenen Stimmungen in Brandenburg für sich zu gewinnen (Kopke 2007:
72ff.): Es waren zunächst die FAP (1995 vom BMI verboten) und die Nationalistische Front
15
Vgl. www.amadeu-antonio-stiftung.de/todestag-amadeu-antonio.de
24
(1992 vom BMI verboten). Die aus der Kühnen-Bewegung hervorgegangene Deutsche Alternative operierte von Brandenburg aus und hatte einen Schwerpunkt im Raum Cottbus.16 1992
wurde sie vom Bundesinnenminister verboten. Die seit 1952 in Westdeutschland aktive Wiking-Jugend war in Brandenburg unter anderem als Mitorganisatorin von Aufmärschen auf
dem Soldatenfriedhof Halbe in Erscheinung getreten. Sie wurde 1994 vom Bundesinnenminister verboten. Die Verbote insgesamt führten dann zu einer Dezentralisierung der Szene.
Wenig strukturierte Kameradschaften und „Freie Kräfte“ agitierten in lokalen Kontexten. Sie
versuchten, die örtlichen Jugendszenen zu unterwandern und zu dominieren und so ein für
sich günstiges lokales Klima zu schaffen.
Für den Gesamtzeitraum zwischen 1993 und 2009 ist die Zahl der organisierten Rechtsextremisten in Brandenburg praktisch gleichgeblieben. Die Verfassungsschutzbehörden zählen
durchschnittlich 1.300 Personen (Stöss 2010: 100f.). Etwa gleichbleibende Mitgliederzahlen
gelten auch für die anderen neuen Bundesländer, allerdings verzeichnet Sachsen-Anhalt einen
Anstieg. Auffällig an diesen Angaben ist das Potential der rechtsextremen Subkulturen. d.h.
der Bereich der gewaltbereiten Skinheads und unorganisierten Neonazis: Hier weisen Sachsen-Anhalt und Thüringen steigende Zahlen auf, während in Brandenburg die Zahl durchgängig bei etwa 500 Personen liegt und sich somit auf lange Sicht auf gleichbleibendem Niveau
bewegt (Stöss 2010: 100f.). Diese Entwicklungen deuten darauf hin, daß der organisierte
Rechtsextremismus in Brandenburg seit 1990 trotz Phasen des Erfolges wie etwa den
„Heldengedenkmärschen“ in Halbe und dem zweimaligen Einzug der DVU in den
Landtag stagniert.
Auf der Parteien-Ebene hat es die Deutsche Volksunion (DVU) in Brandenburg erstmals in
Deutschland geschafft, nach ihrem Einzug in den Landtag 1999 (5,3 Prozent) auch in der
nachfolgenden Wahl auf über fünf Prozent zu kommen. Sie erreichte 2004 6,1 Prozent. Voraussetzung dafür waren Wahlabsprachen mit den Republikanern (1999) und der NPD (2004),
so dass rechtsextreme Parteien nicht gegeneinander kandidierten. Die DVU führte kurze, aber
intensive Protest-Wahlkämpfe mit sozialen Themen wie Hartz 4, Arbeitslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit. Regionale Hochburg war Süd-Brandenburg, das Wählerprofil hat Schwerpunkte bei jüngeren Männern in prekären Ausbildungs- und Berufspositionen. 2004 wählten
14 Prozent aller Wähler zwischen 18 und 29 Jahren die DVU: „Will man den Wähler einer
rechtsextremen Partei in Brandenburg idealtypisch beschreiben, dann ist dieser männlich,
zwischen 18 und 29 Jahre alt, ist durchschnittlich gebildet, vom Beruf Arbeiter, Landwirt oder
arbeitslos und wohnt eher in dünn besiedelten Regionen“ (Demuth 2008: 207).
Das Ende der DVU als Partei und der Zusammenschluß mit der NPD 2010 hat die in Brandenburg seit 1990 auftretende NPD bisher kaum gestärkt. Im Vergleich etwa zu Sachsen und
Mecklenburg-Vorpommern hat sie in Brandenburg kaum Erfolge. Sie hat hier nur wenige
hundert Mitglieder und nur wenige kommunale Mandate. Der Verfassungsschutzbericht für
2010 vermerkt, es sei ihr in Brandenburg „nicht gelungen, tragfähige Strukturen aufzubauen“.
16
Vgl. Verfassungsschutzbericht Brandenburg 1993, hrsg. vom Minister des Innern, Potsdam 1994, S. 37f.
25
17
Der Bericht spricht von einer „fortschreitenden Nazifizierung der NPD“ durch ideologische
Radikalisierung und Kooperationen mit nazistischen Kräften in Brandenburg.18
3.2. Rechtsextremismus und Gewaltbereitschaft
Gewalt von rechts umfaßt viele Facetten: amtlich registrierte und verfolgte Gewaltkriminalität, Berichte von Opfern, aber auch ein schwer abschätzbares Dunkelfeld: Nicht jeder Angriff
wird von den Opfern angezeigt, oft aus Angst vor Repressalien. Rechte Gewaltkriminalität
betrifft nicht nur die Opfer, sondern auch die Gesellschaft: Sie erzeugt ein örtliches oder regionales Klima der Bedrohung und Einschüchterung und trägt dazu bei, das Sicherheitsgefühl
zu beeinträchtigen und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu untergraben.
Debatten über „Angsträume“ und „national befreite Zonen“ in ostdeutschen Städten prägten
eine Zeitlang die politischen Debatten über den Rechtsextremismus (Döring 2008). Nach
zahlreichen bekanntgewordenen Übergriffen mieden Berliner Schulen Klassenfahrten und
Freizeiten in Brandenburg aus Sorge um die Sicherheit der Schüler und Schülerinnen (Kleger
2006:16f.). Die Übergriffe und ihre Folgen können, wie an diesem Beispiel deutlich wird, das
Binnenklima, das Ansehen und den Investitionsstandort erheblich schädigen, vor allem dann,
wenn eine Systematik der Bedrohung und Vertreibung zutage tritt.
Als Beispiel dafür können die über dreißig in Brandenburg zwischen 2000 und 2004 verübten
rassistischen Brandanschläge auf türkische und asiatische Imbißbuden gelten.19 Die Kameradschaft „Freikorps“, von elf Jugendlichen im Sommer 2003 gegründet, begingen zwischen August 2003 und Mai 2004 neun Brandanschläge im Raum Nauen: „Die Taten richteten sich
gegen die Betreiber asiatischer oder türkischer Imbissstände. Die zwischen 14 und 18 Jahre
alten Täter verfolgten dabei das erklärte Ziel, ein Klima der Angst unter den in der Region
lebenden Ausländern zu erzeugen, Ausländer um ihre wirtschaftliche Existenz zu bringen und
sie auf diese Art dazu zu zwingen, aus dem Havelland wegzuziehen“. 20 Für die Mehrzahl der
Taten konnte jedoch keine politisch organisierte Gruppe verantwortlich gemacht werden.
Über die Taten hinaus fühlten sich viele Betreiber – Befragungen zufolge – rassistisch bedroht
und eingeschüchtert von Teilen der ortsansässigen Bevölkerung. Entscheidend für das örtliche
Binnenklima war die Tatsache, dass „die Betreiber selten als Geschäftsleute gesehen (werden), als willkommene InvestorInnen, deren hohe Risikobereitschaft auch andere Geschäfte
nach sich ziehen kann, und auch nicht als TrägerInnen eines Gesellschaftsmodells der Toleranz und der kulturellen Vielfalt“ (Bürk-Matsunami/Selders 2004: 93).
Der öffentlich verbreitete Eindruck, die Täter könnten mit dem Wohlwollen von Teilen
der Bevölkerung rechnen, ist für die Entwicklung der demokratischen politischen Kultur verheerend. Noch im Jahr 2008 schrieb „Welt Online“, das brandenburgische
Dolgenbrodt habe Anfang der neunziger Jahre „den Ruf als ausländerfeindlichstes Dorf
17
Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2010, hrsg. vom Minister des Innern, Potsdam 2011, S. 26; mit ähnlichem Tenor: Kopke 2007, S. 79ff. Für das südliche Brandenburg vgl. den Lagebericht von Wagner u.a. 2011:
12ff.
18
Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2010, hrsg. vom Minister des Innern, Potsdam 2011, S. 32.
19
Vgl. dazu Bürk-Matsunami/Selders 2004.
20
Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2004, hrsg. vom Minister des Innern, Potsdam 2005, S. 52.
26
Deutschlands“erlangt.21 1992 hatte ein ortsansässiger Blumenhändler einen im Dorf bekannten Rechtsextremisten beauftragt, ein im Bau befindliches Asylbewerberheim niederzubrennen. Es hieß, Teile der Dorfbewohner hätten davon gewußt und die Tat gebilligt.
Ein exaktes, empirisch begründetes Bild über den Verlauf der rechten Gewalt von 1990 bis
heute kann hier nicht rekonstruiert werden. Die vorliegenden Daten sind lückenhaft und ungenau, durch den Wechsel der Definitionen und Kategorien – etwa 2001/2002 zur polizeilichen Methodik der politisch motivierten Kriminalität – ist ein Längsschnittvergleich für den
Gesamtzeitraum nach 1990 nicht möglich. Die Einbeziehung von angezeigten und bekanntgewordenen Gewalttaten ist auch deshalb methodisch fragwürdig, weil die Gruppe der rechtskräftigen Freisprüche nicht berücksichtigt ist.
Nach amtlichen Zahlen des Bundesinnenministeriums liegt Brandenburg seit Jahren in der
Spitzengruppe derjenigen Bundesländer, die von Gewalttaten des Rechtsextremismus am häufigsten betroffen ist. 2009 lag das Land an der Spitze vor Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern. Am niedrigsten sind die Zahlen in Hessen, Bayern und Baden-Württemberg
(BMI 2010: 36). Für das Jahr 2010 hat sich an dieser Reihenfolge nichts geändert, das Land
Brandenburg liegt weiter an der Spitze (BMI 2011: 41). Nach amtlichen Angaben ist bei den
bekanntgewordenen Straftaten zwischen 2001 und 2008 ein steigender Trend zu beobachten:
Tabelle 6: Rechtsextremistisch motivierte Straftaten im Land Brandenburg
Jahr
2001
2002
2003
0
0
0
0
0
0
0
1
0
0
0
2
3
2
0
0
0
0
0
0
58
60
76
90
87
83
84
59
59
62
5
10
4
9
4
1
8
2
3
2
Landfriedensbruch,
Hausfriedensbruch
4
1
3
1
5
3
1
7
5
8
Sachbeschädigung
12
15
24
38
35
50
64
113
118
102
Volksverhetzung,
150
Gewaltdarstellung,
Aufstachelung zum
Rassenhass
154
133
141
173
194
215
157
124
88
Vollendete Tö-
2004 2005 2006 2007 2008
2009 2010
tungsdelikte
Versuchte Tötungsdelikte
Körperverletzung
BrandstiftungsDelikte
21
Vgl. www.welt.de/welt_print/article2494779/Ort-ohne-Eigentuemer.html
27
Verwendung
von
Kennzeichen
und
Propagandamitteln
verfassungswidriger
Organisationen
97
460
669
658
917
991
909
1211
1012
780
Sonstige
30
42
70
43
69
63
73
90
101
99
Insgesamt
356
744
982
982
1290 1385 1354 1640
1422 1141
(Quelle: Brandenburger Sozialindikatoren 2007, hrsg. v. Landesgesundheitsamt in Zusammenarbeit mit dem Berlin-Brandenburger Amt für Statistik, S. 182, durch Polizeipräsidium
Brandenburg, Bereich LKA, bestätigt; Quelle für die Jahre 2008-2010: Polizeipräsidium
Brandenburg, Bereich LKA).
Die ansteigenden Fallzahlen, die ausschließlich die polizeilich bekannt gewordenen Straftaten
erfassen, lassen nicht ohne weiteres auf eine höhere Gewaltbereitschaft schließen. Zwar sind
Körperverletzung und Sachbeschädigung eindeutig ansteigend, aber besonders auffällig ist
der Anstieg der Propagandadelikte wie Volksverhetzung und Verwendung von Kennzeichen
verbotener Organisationen. Dabei handelt es sich um Kontrolldelikte: Sie werden in der Regel
nicht von Bürgern angezeigt, sondern von der Polizei bei Kontrollen, Razzien usw. Das läßt
darauf schließen, dass die Polizei zwischen 2001 und 2007 stärker kontrolliert und den Verfolgungsdruck auf die rechte Gewaltszene erhöht hat. Es muß auch bedacht werden, dass ein
beachtliches Dunkelfeld nicht bekanntgewordener und nicht angezeigter Straftaten sich hinter
den Zahlen verbirgt. Gleichwohl kann bei allen Einschränkungen aus den Daten geschlossen
werden, dass rechtsextremistisch motivierte Straftaten in Brandenburg eine zumindest stabil
hohe Entwicklung aufweisen.22
Eine auf Gewalttaten konzentrierte Statistik liefert der Verein Opferperspektive seit 2003.
Auch hier ist die Methodik der Zählweise intransparent, auch hier sind Dunkelfelder offen. Es
ist unklar, was „recherchierte Angriffe“ im einzelnen bedeutet. Diese Übersicht kommt zum
Ergebnis eines stabil hohen Levels von rechten Gewalttaten in Brandenburg.
Tabelle 7: Recherchierte rechte Angriffe in den östlichen Bundesländern und Berlin in
den Jahren 2003 – 201023
Land
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
Berlin
73
73
115
176
138
164
102
109
116
136
140
140
159
110
101
108
64
58
62
103
78
103
79
96
Brandenburg
Mecklenbg.-Vorp.
22
Nach Angaben des Vereins Opferperspektive, der vor allem rechtsextreme Übergriffe auf Migranten/Migrantinnen untersucht, ist deren Zahl bis 2009 konstant hoch, insbesondere im Süden des Landes. Demnach gab es allein in Cottbus 19 militante Angriffe in 2009, vgl. www.netz-gegen-nazis.de
23
Vgl. Opferperspektive.de
28
Sachsen
141
146
168
248
342
354
263
239
Sachsen-Anhalt
78
109
171
202
184
180
111
106
Thüringen
91
48
38
48
67
86
83
46
563
570
694
917
968
997
739
704
Gesamt
Bei aller methodischen Problematik könnte aus den Zahlen gefolgert werden, dass die Gewalt
von rechts in Brandenburg in den Jahren nach 2000 nicht zurückgegangen ist. Sie scheint auf
einem stabilen, hohen Niveau zu bleiben. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft Brandenburg handelt es sich überwiegend um Taten, die aus einer Gruppe heraus begangen werden, wobei die Täter fast ausschießlich junge Männer sind.24
3.3. Soziale Basis
Die parlamentarischen Erfolge rechtsextremer Parteien in Brandenburg nach der Wende sind
insgesamt gesehen eher bescheiden. Nach dem bundesweiten Zusammenschluß von NPD und
DVU und der damit bedingten Auflösung der DVU verfügt die NPD im Jahr 2010 in Brandenburg über gerade einmal 27 kommunale Mandate (17 in Kreistagen und kreisfreien Städten und 10 in Gemeindevertretungen).25 Bei zwei zurückliegenden Landtagswahlen gelang der
Deutschen Volksunion (DVU) jedoch der Einzug in den Landtag. 1999 erreichte sie 5,3 Prozent, 2004 6,1 Prozent. Wahlanalysen heben die Jugendlichkeit der Wählerschaft ebenso hervor wie das Unterschichtenphänomen: „Bei den jungen Männern unter 24 Jahren erreicht sie
19 Prozent; in der Altersgruppe 25-34 Jahre sind es 15 Prozent … (sie) wird von insgesamt 15
Prozent der Arbeitslosen unterstützt. Ihre Wähler haben mittlere bis niedrige Bildungsabschlüsse und sind überdurchschnittlich häufig Arbeiter“ (Neu 2004: 9f.). Motive der Wähler
sind soziale Unzufriedenheit, persönliche Perspektivlosigkeit, Kritik an den politischen Eliten.
Die Wahl der DVU in Brandenburg ist gekoppelt an das Gefühl der Benachteiligung, der Ungerechtigkeit und der großen Distanz zu den etablierten Parteien. Berücksichtigt man, dass
gerade bei den jungen Wählern die Wahlbeteiligung gering ist, so läßt sich angesichts solcher
Befunde auch unter Berücksichtigung ähnlicher Trends bei den rechtsextremen Einstellungen
feststellen, daß der Rückhalt für die etablierte Politik bei jungen Menschen in Brandenburg relativ gering und das Gefühl sozialer Desintegration und Perspektivlosigkeit relativ hoch ist. Diese Entwicklung stellt unter vergleichenden Gesichtspunkten keine brandenburgische Besonderheit dar, denn sie folgt bundesweiten Trends.
24
Vgl. Rautenberg 2007. Auf die Analyse einzelner Fälle kann hier nicht näher eingegangen werden. Aufschlußreich für die Verbindung von Gruppendynamik, Männlichkeitsphantasien und Alkohol ist der Mord an
dem 16-jährigen Marinus Schöberl in Potzlow/Uckermark am 13. Juli 2002. Vgl. dazu die eindrucksvolle Analyse von Kohlstruck/Münch 2006.
25
Verfassungsschutzbericht Land Brandenburg 2010, hrsg. vom Ministerium des Innern, Vorwort der Leiterin,
Potsdam.
29
Neben den schichtspezifischen sind sozialräumliche Aspekte zu bedenken, die zur sozialen
Basis des Rechtsextremismus in Brandenburg gehören. Der Befund, wonach in den Berlinfernen Randgebieten rechtsextreme Einstellungen höher sind als in Berlin-nahen (Stöss 2008),
spiegelt sich nicht in den Wahlergebnissen: Der Stimmenanteil der DVU bei ihrem Einzug in
den Landtag war in den Berlin-fernen Gebieten nur geringfügig höher als in den Berlin-nahen
(1 Prozent, vgl. Rolfes 2011: 139). Deutlicher sind Hinweise auf die Sozialstruktur der rechtsextremen Sympathisanten: Jüngere Männer in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen, die
sich bedroht fühlen und in Plattenbausiedlungen leben in einem Umfeld des Wegbrechens
ehemaliger industrieller Strukturen bilden einen wichtigen Kern des rechtsextremen Milieus
(Wilking 2007).
Die soziale Basis von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Brandenburg erschöpft
sich nicht in der Wählerbasis und dem Votum für rechtsextreme Parteien. Zu berücksichtigen
sind rechtsextreme und fremdenfeindliche Einstellungen, Sympathien für entsprechende Angebote und lokale Kontexte der Ignoranz und der Duldung gegenüber rassistischen Aktionen.
Im Rahmen der Entwicklung neuer Medien ist auch mit dem spielerischen oder experimentellen Interesse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen an den Internet-Angeboten der
rechtsextremen Szene zu rechnen.
3.4. Mobilisierungsfähigkeit
Erfolg und Mißerfolg des organisierten Rechtsextremismus hängen ab von verschiedenen
Faktoren. Personelle und materielle Ressourcen spielen eine Rolle, aber auch die Arten der
öffentlichen politischen Kommunikation, die Aufnahmebereitschaft der Adressaten und die
Effektivität der Gegenmaßnahmen. Externe Faktoren sind mitentscheidend für die Mobilisierungsfähigkeit. So können zum Beispiel zu Themenkonjunkturen verfestigte soziale Themen
wie etwa die Asyldebatte zu Beginn der 1990er Jahre oder der Protest gegen Hartz IV zehn
Jahre danach von Bedeutung sein.
Das öffentliche Auftreten ist ein erster, wichtiger Indikator. Die Demonstrationspolitik der
extremen Rechten hat bundesweit seit Ende der 1990er Jahre zugenommen und sich auf einem recht hohen Niveau stabilisiert. 1997 wurden bundesweit 25 Aufmärsche gezählt, seit
2004 sind es jährlich etwa einhundert. In Brandenburg sind es jährlich zwischen fünf und
zehn. Nachdem durch die Änderung des Versammlungsrechts der Soldatenfriedhof Halbe
nicht mehr zu einem bundesweit beachteten Versammlungsort der rechten Szene gehört, bemüht sie sich nun um örtliche öffentliche Präsenz. Themen in Brandenburg waren vor allem
die soziale Frage und Globalisierung, gefolgt von der Verherrlichung der Wehrmacht (Virchow 2011: 121f.). In diesem Zusammenhang muß auch die Ausstrahlung der hohen Demonstrationsdichte von Rechtsextremisten im nahen Berlin berücksichtigt werden, wobei anzunehmen ist, dass dort zahlreiche Aktivisten aus Brandenburg teilnehmen. Die intensive
rechtsextreme Demonstrationspolitik in Berlin dürfte zur Motivation und Vernetzung des
Rechtsextremismus in Brandenburg erheblich beitragen.
Als Folge zahlreicher Vereinsverbote in den neunziger Jahren entwickelten sich in Brandenburg zunächst unorganisierte, lose strukturierte Formen von „Kameradschaften“ jugendlicher
30
Neonazis, später dann die sogenannten „freien Kräfte“. Ziel ist es, Beobachtungen und Repressionen der Sicherheitsbehörden zu entgehen, unter Jugendlichen zu mobilisieren und ihre
Ideen eines nationalsozialistischen Deutschland auszuleben. Der Verfassungsschutzbericht für
2010 nennt neun verschiedene Zusammenschlüsse der Freien Kräfte, darunter an erster Stelle
die „Nationalen Sozialisten Südbrandenburg“, die vor allem im Raum Cottbus, Lübben, Lübbenau, Spremberg, Senftenberg und Guben aktiv sind.26 Der Bericht notiert weiter:
„Das Internetprojekt ‚Spreelichter‘ nimmt mittlerweile eine herausragende Stellung in den Strategien und Kampagnen des Netzwerks ein. Kommunikationsstrategie und optische Präsentation gelten in der Szene als bundesweit richtungweisend. Denn derzeit ist eine Ausrichtung anderer neonationalsozialistischer Domains an dem ‚Spreelichter’Vorbild feststellbar. ‚Spreelichter‘ ist mit populären
Sozial-Netzwerken wie ‚Twitter‘ verbunden und nutzt Portale wie ‚Youtube‘,
um ein breites Publikum zu erreichen. Über diese weitverzweigte Internetpräsenz können selbstproduzierte Filme abgerufen, Berichte nachgelesen und
naonationalsozialistische Konzepte diskutiert werden. Außerdem wurde ein
‚Spreelichter‘-Blog eingerichtet. Im Wochenrhythmus werden wechselnde Veröffentlichungen wie kurze Audiosequenzen oder Videos hochgeladen. Komplettiert wird das Medienangebot durch eine ‚Spreelichter‘-Radiosendung. Als
Printmedium wird das Flatblatt ‚Spreelichter‘ verteilt. Lokale oder gesellschaftspolitische Themenfelder werden darin im rechtsextremistischen Sinne kommentiert“.27
Diese moderne Art der Medienkommunikation ermöglicht eine erstaunliche Kampagnenfähigkeit. Die „Volkstod“-Kampagne 2010 griff die Thematik des demografischen Wandels auf
und behauptete das schleichende Aussterben des deutschen Volkes. Zwischen März und September 2010 verzeichnet der Verfassungsschutz zahlreiche Aktionen im südbrandenburger
Raum: Sprühaktionen und Graffitis, Aufhängen von Transparenten und das Auftreten von
verkleideten „Sensenmännern“ bei öffentlichen Veranstaltungen (Verfassungsschutzbericht
2010: 63-66; Wagner u.a. 2011: 33). Ein Blick auf die homepage des Netzwerks28 zeigt die
hohe handwerkliche Professionalität dieser Gruppe. Das sogenannte „Infosystem der Widerstandsbewegung in Südbrandenburg“ betreibt zwar Agitation, meidet aber nationalsozialistische Rhetorik und bevorzugt ein durchaus jugendgemäßes, durchdachtes Alltagsdeutsch. Die
Seite bietet Meldungen, Aktionen, Audio, Video, Dokumente und einen Blog und entspricht
den Standards jugendgemäßer moderner Internetkommunikation. Wagner u.a. bewerten die
„Spreelichter“ als „Prototyp einer neuen Existenzweise politisch-kultureller Strukturen und
Zeichensysteme, die sich künftig weiterentwickeln wird, da nach außen keine sichtbar organisatorische Struktur erkennbar ist und Mitglieder sich damit einer eventuellen Strafverfolgung
entziehen können“ (Wagner u.a. 2011: 31). Perspektivisch bedeutet dies, dass die elektronische Kommunikation und ihre Mobilisierungsfunktionen die Struktur des Rechtsextremismus
26
Verfassungsschutzbericht 2010: 60. Vgl. auch die Regionalstudie zum Landkreis Dahme-Spreewald von
Wagner u.a. 2011.
27
Verfassungsschutzbericht 2010: 62. Youtube verzeichnet 140 Ergebnisse beim Eintrag „Spreelichter“ (Zugriff
4.11.2011).
28
Vgl. www.spreelichter.info/
31
verändern werden und die demokratische Gesellschaft aufgefordert ist, hier angemessen zu
reagieren.
Die Mobilisierungsfähigkeit des Rechtsextremismus hängt auch künftig ab von externen Faktoren wie der Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitslosigkeit und den Lebensperspektiven
des unteren Teils der Gesellschaft. Aber auch von Themenzyklen, die rassistisch aufladbar
sind, etwa Fragen der Migration. Sie hängt aber auch ab von der Anbieterseite. Hier sind in
Brandenburg die eher traditionellen rechtsextremen Organisationen wie etwa die NPD in einer
Phase der Stagnation.29 Sehr zu beachten sind neuartige Projekte wie die „Spreelichter“. Sie
können mobilisieren für Demonstrationen und Aktionen, aber auch ein Teil des Kommunikationsverhaltens Jugendlicher werden und damit demokratische Entwicklungen konterkarieren.
3.5. Ursachen des Rechtsextremismus in Brandenburg
Die Entwicklung des Rechtsextremismus in Brandenburg seit 1989/90 hat externe, bundesweite und allgemeingesellschaftliche Ursachen, aber auch landesbezogene.
- Zu den bundesweiten und allgemeinen Ursachen des Rechtsextremismus nach 1989/90
gehört eine Reihe von Faktoren, die in der Forschung immer wieder betont worden sind (Stöss
2010: 47ff.). Die Entwicklung der sozialen Ungleichheit, der Schere zwischen Arm und
Reich, und die Wahrnehmung von Migranten als Konkurrenten um Arbeitsplätze, Wohnungen und Sozialleistungen sind zentrale strukturelle Bezugspunkte. Hier können rechte Demagogen ansetzen und die vorhandenen Vorurteile mobilisieren. Es ist deutlich geworden, dass
die „Verlierer“ der modernen Entwicklung, vor allem männliche Jugendliche und junge Erwachsene mit schlechter Bildung und Ausbildung und in prekären Lebensverhältnissen, besonders anfällig sind. Hintergrund dafür ist der Verlust an einfachen Arbeitsstellen vor allem
in der Industrie und die Nachfrage nach gut qualifizierter Arbeit in Dienstleistungssektoren,
für die diese Gruppe nicht qualifiziert ist. Sowohl bei den polizeilichen Kriminalstatistiken als
auch in der Wählergruppe der rechtsextremen Parteien ist diese Gruppe überrepräsentiert.
Rechtsextreme Organisationen – aber auch teilweise die Boulevard-Medien – liefern einfache
Erklärungen für ihre Statusprobleme, indem etwa Ausländer, Asylbewerber oder andere
Randgruppen dafür verantwortlich gemacht werden. Darüberhinaus bedient Rechtsextremismus aufgrund der betont männlichen politischen Ästhetik Werte wie Härte, Durchsetzungsvermögen, Soldatentum und Körperlichkeit und spricht insofern auch die Wertehierarchie von
männlichen „Modernisierungsverlierern“ an.
Alles in allem ist der Rechtsextremismus nach der Wende in Ostdeutschland stärker als in
Westdeutschland. Dafür lassen sich mehrere Gründe anführen. Zum einen hatten kurz nach
der Wende die westdeutschen, zum Teil für lange Zeit erfolglosen rechtsextremen Organisationen das erklärte Ziel, nun in die neuen Länder zu expandieren. Zum zweiten konnten sie sich
auf eine DDR-Mentalität beziehen, die stark staats- und gemeinschaftsorientiert war. In Zeiten
29
Die NPD mußte bei den Landtagswahlen 2011 in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin Einbußen hinnehmen. Damit kommen krisenhafte Momente in der NPD zum Ausdruck, die sich lange vorher angekündigt hatten
wie etwa die Finanzprobleme der Partei, Führungs- und Richtungsprobleme, vgl. dazu Botsch/Kopke 2009, vor
allem S. 101ff.
32
des Umbruchs und des gesellschaftlichen Wandels erwarteten viele DDR-Bürger vom Staat
die Regulierung und Lösung grundlegender persönlicher Probleme wie Arbeitslosigkeit oder
Wohnungsnot. Dies konnten staatliche Stellen nicht leisten, so dass rechtsextreme Gruppen
hier einen Ansatzpunkt hatten. Der Wandel selbst von der DDR zum Grundgesetz war tiefgreifend und schnell, so dass rechtsextreme Gruppen an Orientierungsproblemen insbesondere der Wende-Verlierer ansetzen konnten. Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass Westdeutschland viele Jahrzehnte Erfahrung aufwies im Umgang mit Rechtsextremismus, sowohl
auf der repressiven wie auch der präventiven Ebene. Diese Erfahrungen fehlten in den neuen
Bundesländern. Rechtsextremismus hatte es offiziell in der DDR nicht gegeben, denn die antifaschistische Staatsdoktrin hatte behauptet, den Faschismus und all seine Facetten beseitigt zu
haben.
- Zu den wichtigen landesspezifischen Ursachen für die Entwicklung des Rechtsextremismus gehören Schlüsselereignisse, die eine starke Attraktivität auf die Szene ausgestrahlt haben. Sie fallen überwiegend in die erste Hälfte der 1990er Jahre: Gewalttaten wie der Mord an
Amadeo Antonio 1990 und die offenbar mit Duldung von Teilen der Bevölkerung erfolgte
Auftragsbrandstiftung an einem Asylbewerberheim in Dolgenbrodt 1992 erwecken den Eindruck einer politisch motivierten Gewalt, die in Teilen der Bevölkerung als Notwehr gegen
die Überfremdung durch Ausländer und Asylbewerber wahrgenommen wurde. Die empirisch
erwiesene anwachsende Stimmung insbesondere gegenüber Asylbewerbern bis 1996 unterstreicht die Bedeutung dieser situativen Zusammenhänge. Die aus der Perspektive der Rechtsaußen-Szene gelungenen „Heldengedenkfeiern“ am Soldatenfriedhof in Halbe in den Jahren
1990 und 1992 gibt den Stimmungen und Protesten in Teilen der Bevölkerung eine politische
Note, die später fortgesetzt wurde in den Wahlerfolgen der DVU 1999 und 2004. Auch die
fremdenfeindlichen Anschläge auf Imbißbuden zu Beginn des neuen Jahrzehnts zehrten noch
von der Annahme, sich gegen die „Überfremdung“ durch Ausländer wehren zu müssen.
Zu den landesbezogenen Ursachen gehört auch, dass die Landesregierung sehr spät auf die
Entwicklung mit den gebotenen Gegenstrategien reagiert (vgl. Kapitel 4). Dadurch hat der
organisierte Rechtsextremismus in der ersten Hälfte der 1990er Jahre Grundlagen für die weiteren Entwicklungen schaffen können.
3.6. Wirkung auf das demokratische Gemeinwesen
Rechtsextremisten wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen. Es geht gegen Demokratisierung, Pluralisierung und Liberalisierung. Die Ideologie der ethnisch homogenen Volksgemeinschaft oder auch die Reichsidee versuchen, Ideen der Demokratisierung zu blockieren.
Rechtsextremismus als solcher ist ein Hemmschuh auf dem Weg in eine demokratische politische Kultur. In der Demokratie muß es primär darum gehen, ihn politisch zu bekämpfen im
Rahmen geistig-politischer Auseinandersetzung. Verbote können da nur ein letztes Mittel
sein. In der Geschichte Brandenburgs seit der Wende haben die rechtsextremen und fremdenfeindlichen Entwicklung in mehrfacher Hinsicht mittel- und längerfristige Auswirkungen auf
das demokratische Gemeinwesen.
33
- Fremdenfeindlichkeit ist ein wichtiger negativer Standortfaktor. Der Rechtsextremismus in
den 1990er Jahren hat den Wirtschafts- und Investitionsstandort Brandenburg nachhaltig beschädigt. Sowohl bei Stellenbewerbern als auch bei Investitionen und Standortentscheidungen haben die Ereignisse das politische Gemeinwesen Brandenburg benachteiligt. Eine
Umfrage unter 300 Unternehmen hat dies belegt (Bussmann/Werle 2004). Unternehmen sind
hochsensibel bei fremdenfeindlichen Vorkommnissen am Produktionsstandort. Dies gilt besonders für forschungs- und entwicklungsorientierte, international arbeitende Branchen: „Die
Sensibilität von F&E Unternehmen tritt besonders hervor, wenn man nach der Bedeutung
fragt, die einzelne abweichende Verhaltensweisen für sie haben. Rechtsextremer Gewalt und
Fremdenfeindlichkeit weisen sie mit Abstand den höchsten Rang zu“ (Bussmann/Werle 2004:
98).
- Eine weitere langfristige Folge ist die Notwendigkeit verstärkter Anstrengungen im
Bereich polizeilicher Sicherheit und Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Polizeiliche Sondermaßnahmen sind erst Ende der 1990er Jahre eingeleitet worden (vgl. Kapitel 4).
Sie müssen langfristig angelegt sein, denn es geht hier nicht nur um Strafverfolgung, sondern
um polizeiliche Prävention, um Tatgelegenheiten möglichst nachhaltig zu minimieren und das
Risiko für die Täter zu erhöhen.
- Der Rechtsextremismus in Brandenburg seit den 1990er Jahren hat Vorurteile der
Stammtische und fremdenfeindliche Orientierungen in Teilen der Bevölkerung in aggressiver Weise aufgegriffen. Es muß daher langfristig darum gehen, solche nichtdemokratischen Überzeugungen möglichst nachhaltig zu bearbeiten, im Elternhaus, in den
Schulen, den Ausbildungsstätten und bei öffentlichen Veranstaltungen. Dabei kommen nicht
nur diejenigen als Zielgruppe infrage, die anfällig sind für rechtsextremes Gedankengut. Es
liegt auf der Hand, dass demokratische Strukturen in der Mitte der Gesellschaft gestärkt werden sollten. Dies ist mit den aktuellen Debatten um die Stärkung der „Zivilgesellschaft“ verbunden.
- Es ist für das politische Gemeinwesen Brandenburg von großer Bedeutung, die wichtigste
und größte Gruppe der sozialen Basis des Rechtsextremismus, jüngere Männer in prekären
Arbeits- und Lebenssituationen, im Auge zu behalten. Ausbildung und Arbeit, auch und
gerade für geringer qualifizierte Stellen, müssen von daher größte Priorität haben.
- Die Entwicklung des Rechtsextremismus in Brandenburg nach 1990 hat zu vielfältigen Reaktionen geführt. Bemerkenswert sind zahlreiche kurz- und langfristig angelegte zivilgesellschaftliche Initiativen und Aktionsbündnisse. Sie arbeiten zum Teil lokal, andere sind landesweit vernetzt. Einige sind strikt als NGOs konzipiert, andere kooperieren mit staatlichen Stellen. Insgesamt gesehen hat der Rechtsextremismus in Brandenburg also auch zur Stärkung
demokratischer Initiativen beigetragen.30
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Brandenburg große Beeinträchtigungen für das politische Gemeinwesen hatten
und noch immer haben: Das Image des Landes als Investitionsstandort ist beschädigt, Präven30
Eine kommentierte Zusammenstellung solcher Initiativen findet sich bei Schoeps/Botsch/Kopke/Rensmann
2007, S. 385-453.
34
tion und Repression sind Daueraufgaben und nicht zuletzt bedarf es großer Anstrengungen
zur sozialen (Re)Integration der „Modernisiserungsverlierer“.
35
4. Rolle der Regierung und der politischen Organisationen im Hinblick auf
die Herausbildung einer demokratischen/undemokratischen politischen
Kultur
Die Regierung und die politischen Organisationen werben um die Gunst der Bürger. Unter
dem Aspekt der Entwicklung der politischen Kultur haben sie eine bedeutsame Rolle im Prozeß der Bindung der Bürger an das Gemeinwesen. In stabilen, traditionsgeleiteten, etablierten
Demokratien besteht die Rolle der Regierung und der politischen Organisationen unter anderem darin, den Prozeß der politischen Sozialisation der jungen Bürger zu beeinflussen. Das
politische Weltbild und die Orientierung junger Menschen und ihre Bereitschaft zu demokratischer Partizipation hängen ab von den Leitbildern der Familie, aber auch der sie umgebenden politischen Instanzen. Es besteht Grund zu der Annahme, daß der familiäre Einfluss heute
geringer ist als noch vor einigen Jahrzehnten, denn die politisch-sozialen Milieus werden im
Zuge des Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft schwächer: Partei-Bindungen lassen nach,
Wechselwähler nehmen zu, „das“ sozialdemokratische oder christdemokratische Elternhaus
scheint der Vergangenheit anzugehören. All dies stärkt die Rolle der Schulen, Medien, Verbände und politischen Institutionen.
Bei Gesellschaften im Übergang und noch jungen demokratischen Systemen wie dem Land
Brandenburg nach 1990 ist dieser Mechanismus noch bedeutender, denn hier geht es darum,
demokratische Überzeugungen zu generieren, zu festigen und zu verstetigen. Dabei gilt es
aber auch, die Grenzen zu beachten: Regierungen und politische Institutionen bieten Deutungsangebote, Orientierungshilfen, Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten, mehr
nicht, denn sonst wären die Grenzen der Manipulation überschritten.
Die Herausbildung einer demokratischen politischen Kultur bedeutet letztlich die Verankerung und Verfestigung demokratischer Überzeugungen in der Bevölkerung. Dies ist zweifellos ein mittel- bis langfristiger historischer Prozeß, denn: Meinungen können sich schnell ändern, Einstellungen und Grundorientierungen sind jedoch längerfristiger Natur. Politische
Integration der Bürger in das demokratische Gemeinwesen erfolgt über drei verschiedene Instanzen: Politikfelder, Institutionen und Personen.
Es gibt kaum Politikfelder, die nicht Einflüsse hätten auf die Überzeugungen der Bürger.
Politikbereiche, von denen die Bürger am meisten und am häufigsten persönlich betroffen
sind, haben, so ist zu vermuten, den größten Einfluss auf ihre Orientierungen. Dazu gehören
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, aber auch Innenpolitik. Andere Bereiche, wie etwa Schulund Hochschulpolitik oder auch politische Bildung zielen direkt auf die soziale und berufliche
Integration und konturieren insofern auch Bindungen der Bürger an demokratische Werte.
Schulen, kommunale Einrichtungen, Sozialämter und die Polizei sind Institutionen, deren
Funktionstüchtigkeit nicht nur praktischen Zwecken dient. Ihr Funktionieren ist auch Motor
der politischen Integration oder Desintegration. Die Verläßlichkeit des Staates und seiner Einrichtungen erfolgt in starkem Maße über die Institutionen. Negative Erfahrungen von Bürgern
mit ihnen höhlen das Vertrauen in die Demokratie aus.
36
Regierung und politische Organisationen werden repräsentiert durch Personen. Die für die
Entwicklung der Demokratie wichtigen „weichen“ Bindemittel wie Vertrauen und Verläßlichkeit werden auch über Personen transportiert. Von daher ist die Vorbildfunktion von Regierungsmitgliedern und anderen verantwortlichen Politikern als besonders wichtig einzuschätzen. Im Umkehrschluß heißt das, Mißtrauen, Politikdistanz, Geringschätzung erfolgen
weniger über Institutionen oder Politikfelder als über handelnde Personen. Kurt Sontheimer,
Doyen der Politische-Kultur-Forschung, hat dies folgendermaßen beschrieben: „Für die konkreten Ausprägungen der politischen Kultur in einer Demokratie kommt es also wesentlich
darauf an, wie diejenigen, welche die Politik maßgeblich gestalten, also die Politiker, sich
verhalten: wie sie sich in der Öffentlichkeit zeigen, wie sie mit dieser Öffentlichkeit umgehen,
welche Formen der Auseinandersetzung sie untereinander pflegen etc.“ (Sontheimer 1990:
17).
Bei der Frage der Rolle der Regierung und der politischen Organisationen im Hinblick auf die
Herausbildung einer demokratischen/undemokratischen politischen Kultur wäre es denkbar,
an diesen drei Aspekten anzusetzen. Dies würde dann aber dazu führen, den Argumentationsgang eher theoretisch weiterzuführen, denn zusammengenommen bilden sie ein für empirisch
orientiertes Argumentieren zu breites Themenfeld. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Kapitel erscheint es sinnvoller, ein Politikfeld exemplarisch auszuwählen, das in Brandenburg eine große Rolle spielt im Hinblick auf die Eindämmung von Rechtsextremismus
und Fremdenfeindlichkeit: das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“.
4.1. Der verspätete Weg zum Konzept „Tolerantes Brandenburg“
Das 1998 von der Landesregierung verabschiedete „Handlungskonzept Tolerantes Brandenburg“, dessen Anspruch es war und ist, so Ministerpräsident Platzeck in der Festansprache
zum zehnjährigen Bestehen, „zu einer Änderung des politischen und gesellschaftlichen Klimas im Land Brandenburg beizutragen“,31 verbindet drei Ebenen der politischen Intervention:
Klare politische Signale, sozial-integrative und repressive Maßnahmen (Pieper 2007). Dieses
Projekt betreibt eine Vielzahl von Aktivitäten: Öffentlichkeitsarbeit, Projektförderung, Veranstaltungen, Wettbewerbe, Verzahnung mit Initiativen und Organisationen, Förderung lokaler
Projekte und Kooperationen. 2005 wurde das Programm aktualisiert, der Schwerpunkt ist die
Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen (Pieper 2007). In der ersten Phase, bis 2005, ging
es eher darum, die Ausbreitung des Rechtsextremismus zu verhindern oder zu erschweren.
Seitdem haben sich die Gewichte verlagert auf den Schwerpunkt der Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen.
Zur Vorgeschichte des Konzeptes „Tolerantes Brandenburg“ gehören Konflikte und
Auseinanderetzungen um den aufkommenden Rechtsextremismus in den 1990er Jahren. Seit
etwa Mitte der neunziger Jahre ist in Brandenburg ein Netzwerk öffentlicher und freier Träger
entstanden, das die Bekämpfung des Rechtsextremismus, der Fremdenfeindlichkeit und die
Förderung der demokatischen politischen Kultur zum Ziel hat. Diese Entwicklung erfolgt,
gemessen an der Ausbreitung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit schon kurz
31
Vgl. www.tolerantes.brandenburg.de
37
nach der Wende, sehr spät. Fragt man nach den Gründen für diese Zeitverzögerungen, so liegen einige auf der Hand. Zum einen sollte Anschluß gefunden werden an Entwicklungen in
anderen Ländern und im Bund, so etwa an die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus,
die seit 1992 aufgelegt wurden (Roth 2010: 23ff.). Zum anderen scheint die relative Ignoranz
gegenüber Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit bis Mitte der neunziger Jahre auch
begründet im Hinblick auf befürchtete Standort-Nachteile: Gewalt von rechts beeinträchtigt
lokal und regional den Wirtschaftsstandort und das Investitionsklima. In den Augen der
Kommunalpolitik schadet das Thematisieren von Alltagsrassismus und Gewalt dem Ansehen
der Kommunen, Entdramatisieren und Verharmlosen sind die Folgen.
Die Berichte des brandenburgischen Verfassungsschutzes in den neunziger Jahren belegen
diese Tendenz nachdrücklich. Die ersten Berichte aus den Jahren 1993 bis 1995 verfolgen
eine Informationspolitik der Beschwichtigung und Verharmlosung. Im Bericht für 1994 heißt
es zum Beispiel, die rechtsextreme Szene habe an Militanz und Selbstbewußtsein verloren,
rechtsextremistische Organisationen hätten „keinen nennenswerten Zuspruch erzielt“, es habe
„keine größeren Aktionen“ der neonazistischen Szene gegeben, „jegliche“ rechtsextremistische Großveranstaltungen anläßlich des Volkstrauertages seien „verhindert“ worden und „das
soziale Klima in Brandenburg verbessert sich zusehends“ (Verfassungsschutzbericht Brandenburg 1994: 30ff.).
1997 erfolgt ein von außen angestoßener radikaler Politikwechsel: Der Verfassungsschutz
schlägt Alarm, nachdem in der deutschen und internationalen Presse die rechte Jugendgewalt
auch in Brandenburg thematisiert wurde. Im Bericht für 1996 ist erstmals von einer Zunahme
rechtsextremistischer Gewalt die Rede und: „Mehr noch als der zahlenmäßige Anstieg muß
aber die ungeheure Brutalität beunruhigen, mit der verschiedene dieser Delikte begangen
wurden. Einige dieser Verbrechen haben deshalb über die Grenzen der Bundesrepublik
Deutschland hinaus traurige Beachtung gefunden“.32 Im Bericht für 1997 heißt es, der
Rechtsextremismus in Brandenburg habe „unübersehbar eine Problemspitze: die brutale Gewalt, die von rechtsextremistisch orientierten Jugendcliquen, insbesondere Skinheads, ausgeht“.33 Seitdem ist ein Paradigmenwechsel unabdingbar, um dem Klima des Rassismus und
der Gewalt von rechts und dem Negativ-Image des Landes angemessen zu begegnen.
Dies betrifft auch die polizeiliche Bekämpfung der Gewalt von rechts: Erst 1998 entstehen die
Mobilen Einsatzeinheiten gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit (MEGA), die den Verfolgungsdruck auf die gewaltbereite Szene erhöhen, erst 2001 folgt das Konzept „Täterorientierte Maßnahmen gegen extremistische Gewalt“ (TOMEG).34 Die polizeilichen Sondermaßnahmen – Gründung von MEGA 1998 und TOMEG 2001 - werden begleitet von weiteren repressiven Schritten. Insgesamt sechs rechtsextreme „Kameradschaften“ wurden vom Innenminister des Landes Brandenburg verboten:35
32
Verfassungsschutzbericht Brandenburg 1996, hrsg. vom Minister des Innern, Potsdam 1997, S. 30ff.
Verfassungsschutzbericht Brandenburg 1997, hrsg. Vom Minister des Innern, Potsdam 1998, S. 33.
34
Näheres bei Kandt 2007. Zum Vergleich: In Sachsen wird die Sonderkommission Rechtsextremismus beim
Landeskriminalamt bereits 1991 gegründet.
35
Vgl. die Angaben bei Kopke 2007: 76 und die Presseinformation Nr. 048/11 vom 11.4.2011 des Ministeriums
des Innern des Landes Brandenburg sowie Verfassungsschutzbericht Land Brandenburg 2010, S. 58.
33
38
Tabelle 8: Verbote rechtsextremistischer Gruppierungen in Brandenburg
1995
Direkte Aktion/Mitteldeutschland
1997
Kameradschaft Oberhavel
2005
Hauptvolk und Sturm (beide Rathenow)
2005
Alternative Nationale Strausberger
2006
Schutzbund Deutschland
2011
Freie Kräfte Teltow
Diese Maßnahmen sollten dazu dienen, die Entfaltungsmöglichkeiten der organisierten
rechtsextremen Szene einzuschränken und zu begrenzen und die Szene zu verunsichern, sie
hatten aber auch symbolische Funktionen. Sie waren ein öffentliches Signal, das den starken,
entschlossenen und wehrhaften Staat zeigt. Die Brandenburger Verbote 1995 und 1997 folgten auf bundesweite Verbotsverfügungen in den Jahren zuvor: 1992 waren die Nationalistische Front (NF), die Deutsche Alternative (DA) und die Nationale Offensive (NO) verboten
worden, gefolgt von der Wiking-Jugend (WJ) im Jahr 1994 und der Freiheitlichen Arbeiterpartei (FAP) in 1995. Bis etwa Mitte der 1990er Jahre lag ein Schwerpunkt des staatlichen
Umgangs auf dem Instrument des Vereinsverbots, aber er wurde ergänzt durch weitere Ansätze.
Die repressive politische Ebene wurde in Brandenburg begleitet durch den Aufbau einer Infrastruktur, die Querschnittsaufgaben wahrnehmen sollte und deren Ziel es war und ist, eine
Vernetzung von präventiven, kommunalen und repressiven Ebenen zu fördern. Die ersten
Initiativen entstanden bereits in den Jahren nach der Wende:
- Das 1992 als „Feuerwehr“ gegründete Mobile Beratungsteam, das zunächst im Auftrag des
Sozialministeriums Kommunen berät, die mit rassistischen Vorfällen und Strukturen konfrontiert sind (Wagner 2000). Dieses zunächst aus kleinen Anfängen hervorgegangene Team wurde 2006 im Rahmen des Gesamtkonzepts „Tolerantes Brandenburg“ überführt in das neue
Institut „Demos – Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung“, um auf die lokalen
Anforderungen differenzierter eingehen zu können.
- Die 1992 eingerichteten Regionalen Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und
Schule (RAA). Sie folgen einem nordrhein-westfälischen Modell und sollten auf regionaler
Basis in Zusammenarbeit von Schule und Sozialarbeit auf die rechtsextreme Gewalt reagieren
und einen Beitrag zur Demokratisierung vor Ort leisten. Im Laufe der neunziger Jahre wurden
zehn Niederlassungen im Land gegründet, sie alle folgen dem Leitbild der Förderung interkultureller und demokratischer Kompetenz. Die RAA gelten als“wichtige Vorläufer des Handlungskonzepts ‚Tolerantes Brandenburg‘ und zählen heute zu den wichtigsten Partnern der
Landesregierung bei dessen Umsetzung“ (Kleger 2006: 60f.).
39
- Das 1997 gegründete Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. „Hintergrund war“, so die Geschäftsstellenleiterin (Spangenberg 2007: 172), „die
Zunahme rechtsextremer und fremdenfeindlicher Vorfälle und Gewalttaten in Brandenburg,
die nicht nur immer mehr Opfer verursachten und das gesellschaftliche Klima im Land störten, sondern auch dem Ansehen nach außen schadeten“. Das Bündnis wurde auf Betreiben
von staatlicher Seite initiiert, allerdings hat sie sich zwischenzeitlich weitgehend zurückgezogen, um den zivilgesellschaftlichen Charakter nicht zu gefährden. Unter anderem gehören
zahlreiche Verbände der Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen und NGOs zu dieser Organisation. Gegründet wurde sie von 29 Organisationen, mittlerweile gehören ihr 65 landesweit tätige Partner an.36
- Das 1997 gegründete „Zentrum Demokratische Kultur – Rechtsextremismus, Jugendgewalt,
Neue Medien“ (ZDK), das Analysen, Beratung und Handlungsansätze anbietet. Die Amadeu
Antonio-Stiftung ist der „operative Arm“ des ZDK (Wagner 2000: 11), sie unterstützt und
fördert unter anderem den Opferschutz, kommunale Netzwerke und Projekte. EXIT Deutschland ist ein Projekt des ZDK, das den Ausstieg von Rechtsextremisten aus ihren Organisationen fördert.
- Die 1999 bei der Ausländerbeauftragten des Landes eingerichtete Antidiskriminierungsstelle
widmet sich den Diskriminierungsvorfällen, die der Ausländerbeauftragten bekannt werden.
Präventions-, Beratungs- und Öffentlichkeitsarbeit gehören neben dem Einsatz für die Betroffenen zu den Tätigkeitsfeldern. Interkulturelle Projekte gehören zum Schwerpunkt der Antidiskriminierungsstelle (Klier/Nickel/Miller 2006).
- Der 2000 gegründete Landespräventionsrat „Sicherheitsoffensive Brandenburg“ erweitert
mit Kabinettsbeschluss vom März 2011 seine bisherigen Schwerpunkte um die Thematik „Politischer Extremismus“37
Inzwischen ist eine sehr differenzierte und dynamische Struktur von Institutionen und Initiativen entstanden, die gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit vorgehen und die
Zivilgesellschaft fördern.38 Das integrierte Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ verpflichtet alle Landesministerien zur Mitwirkung. Im Jahre 2006 wurde begonnen, Kooperationsverträge mit Institutionen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft abzuschließen. Anfang
2011 gab es Verträge mit 27 Kooperationspartnern, darunter AOK, DGB, DFB und VBB
Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg.39 Auf diese Weise sollte die gesellschaftliche Basis
und Breitenwirkung des Konzeptes verbessert werden.
4.2. Wirkungen des Konzepts „Tolerantes Brandenburg“
Die Wirkungen des Konzepts „Tolerantes Brandenburg“ sind wissenschaftlich nicht exakt
meßbar, weil die Zunahme wie auch der Rückgang von Rechtsextremismus und Fremden36
Vgl. www.aktionsbuendnis-brandenburg.de, Zugriff am 7.11.2011.
Vgl. www.sicherheitsoffensive.brandenburg.de
38
Ein Überblick findet sich bei Schoeps u.a. 2007.
39
Bericht der Landesregierung 2011: 5ff.
37
40
feindlichkeit nicht monokausal auf eine Ursache zurückführbar sind. Insofern können einzelne
Trends wie etwa Wahlergebnisse, Gewalt-Statistiken und Ähnliches nicht auf ein politisches
Konzept zurückgeführt werden. Dennoch sind Wirkungen wenn nicht meßbar, so doch ablesbar an verschiedenen Indikatoren: Neben Selbsteinschätzungen durch die Landesregierung
und Beschlüssen des Landtages wäre etwa auf die Evaluationen ähnlicher Programme zu
verweisen (Rieger 2009; Roth 2010).
Es ist auch zu berücksichtigen, daß die Akzeptanz und die Umsetzung der vielfachen Beratungsangebote nicht immer im Detail überprüfbar sind. Wie bei der Präventionsarbeit im allgemeinen bleibt die Wirkung mancher Empfehlungen unbekannt, weil Straftaten oder sonstige unerwünschte Verhaltensweisen erst gar nicht passieren. Ein Beispiel für gute Präventionsarbeit im Rahmen des Konzepts „Tolerantes Brandenburg“, deren Wirkung allerdings kaum
meßbar ist, ist der vom Verfassungsschutz Brandenburg 2008 herausgegebene „Handlungsleitfaden für wehrhaften Umgang mit Extremisten“. Er gibt den Kommunen Hinweise und
Verhaltenstips etwa
- bei Erwerbsversuchen und Nutzung von Immobilien durch Rechtsextremisten
- rechtsextremen Demonstrationen
- Beeinflussung von Vereinen und Jugendclubs durch Rechtsextremisten
- beim Auftauchen von Schulhof-CDs rechtsextremer Organisationen.
Auf diese Weise werden rechtsextremistische Aktivitäten vor Ort erschwert, gleichzeitig sind
die Hinweise aber auch Bausteine zu einer zivilgesellschaftlichen, nachhaltigen Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit im lokalen Rahmen.
Zwei neuere sozialwissenschaftliche Fallstudien zeigen beispielhaft Erfolge des Konzepts
Tolerantes Brandenburg. In Wittstock/Dosse gelang es etwa zwischen 2001 und 2004, die
lokale rechtsextreme Szene zurückzudrängen. Das Zusammenwirken von Polizei und lokalen
Eliten setzte diese Szene unter Druck, Bürgerbündnisse, die Stärkung nicht-rechter Jugendlicher und die Re-integration gefährdeter Jugendlicher führten zu einer starken Abschwächung
des lokalen Rechtsextremismus (Langer 2010: 363ff.). In Rheinsberg war 1998 bis 2000 eine
„Abwehrphase“ vorgeschaltet: Die Stadt fürchtete um ihren guten Ruf durch das Bekanntwerden rechtsextremer Aktionen. Seit 2001 wurde die Problematik der Gewalt von rechts schrittweise und offensiv angegangen, heute gilt die Kommune als „Modellstadt“ für die erfolgreiche Auseinandersetzung mit lokalem Rechtsextremismus (Langer 2010: 393ff.).
Das Landeskonzept „Tolerantes Brandenburg“ insgesamt hat einer neueren Studie zur Evaluation von Programmen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zufolge erhebliche
positive Folgewirkungen nach sich gezogen: „Brandenburg (hat) eine Beratungs- und Netzwerkstruktur aufgebaut, die zum Vorbild für die rot-grünen Bundesprogramme und weitere
Programme auf Landesebene wurde“.40 Ähnlich positiv äußert sich der zweite Bericht der
40
Roth 2010: 48. Eine neuere vergleichende Analyse von Bundes- und Landesprogrammen gegen Rechtsextremismus spricht ganz ähnlich von der „Vorreiterrolle“ des Programms „Tolerantes Brandenburg“, vgl. Kleffner
2009: 279. Im Jahr 2005 wurde in Sachsen das Landesprogramm „Weltoffenes Sachsen für Demokratie und
41
Landesregierung über die Umsetzung des Handlungskonzepts „Tolerantes Brandenburg“ aus
dem Jahr 2011 (Bericht der Landesregierung 2011). Hier wird auf die Mitverantwortung aller
Ministerien des Landes hingewiesen und auf die Planung für 2011, die stärkere Vernetzungen
und intensivere Nutzungen moderner Medien vorsieht. Auch die 2006 begonnenen Kooperationspartnerschaften sollen weiter ausgebaut werden. Der Landtag Brandenburg hat im März
2010 beschlossen, das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ fortzuführen. Die Landesregierung wird aufgefordert, einmal jährlich einen Bericht über das Konzept vorzulegen
(Drucksache 5/632-B).
Der Konsens von Regierung und Parlament als solcher bei einem mittlerweile doch sehr langfristigen und umfassenden Konzept ist ein Erfolg. Er steht gleichermaßen für den parteiübergreifenden Konsens in Verfahrensangelegenheiten wie auch in Wertefragen, denn „Tolerantes
Brandenburg“ ist beides, politisches Programm wie auch Wertekanon. Die Nachhaltigkeit des
Konzepts hat dazu beigetragen, den Standortnachteil „Fremdenfeindlichkeit“ aktiv zu bearbeiten und Toleranz zu einer akzeptierten politischen Leitidee in Brandenburg zu entwickeln. Die
Existenz von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit wird heute nicht mehr tabuisiert
und verschwiegen, sondern aufgegriffen und bearbeitet. Das gilt für den Bereich der Politik,
aber auch für die Wirtschaft. Unternehmen wie Vattenfall Europe sind offizielle Kooperationspartner, andere haben eigenständig die Initiative ergriffen. So hat zum Beispiel EKO
Stahl/ArcelorMittal Eisenhüttenstadt, größter Arbeitgeber im Raum Ostbrandenburg, seit Ende der neunziger Jahre in beispielhafter Weise und kontinuierlich betriebsintern Fremdenfeindlichkeit abgebaut und zahlreiche Aktionen und regionale Bündnisse ins Leben gerufen (Roth
2010: 74ff.). Die Industrie- und Handelskammer Potsdam hat 2007 eine Resolution gegen
Rechtsextremismus beschlossen, in der es heißt: „Wir rufen die Unternehmerinnen und Unternehmer in Westbrandenburg auf, in ihren Unternehmen bereits ersten Ansätzen rechtsextremen Denkens und Handelns mutig und entschlossen entgegen zu treten“.41
Das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ hat manche Aktivitäten im Bereich der
Wirtschaft nicht zu verantworten und auch nicht initiiert. Aber es hat für Rahmenbedingungen
und ein politisches Klima im Lande gesorgt, in dem eigenständige Beiträge von Unternehmen
wie EKO Stahl willkommen sind und unterstützt werden. Dies kann als Erfolgsfaktor für das
Handlungskonzept gewertet werden: Eigenständige Initiativen aus dem Bereich von Politik,
Wirtschaft, Kommunen ohne förmliche Anbindung an das Konzept tragen die Ideen der Toleranz und der Vielfalt hinein in die Gesellschaft, verstärken sie dort und versehen sie mit eigenen Akzentuierungen.
Toleranz“ gegründet, 2009 entstand das „Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit“. Beide Konzeptionen ähneln dem Konzept „Tolerantes Brandenburg“.
41
Vgl. www.potsdam.ihk24.de
42
5. Wirkung des Elitentransfers auf die politische Kultur
Eliten im Sinne von Funktions- oder Positionseliten sind für die Stabilität der Demokratie von
herausragender Bedeutung. Als Entscheidungsfinder und –träger besetzen sie Schlüsselstellen
der Umsetzung von rechtsstaatlichen Vorgaben in die Praxis in den Bereichen Justiz, Politik,
Verwaltung und Wirtschaft. In Phasen des Wandels und der Transformation von autoritären
Systemen und/oder Diktaturen in ein demokratisches System sind die Orientierungsmuster
und die Verhaltensweisen der Eliten von entscheidender Bedeutung. Es ist ihre Aufgabe, die
neue demokratische Verfassung, neue gesetzliche Regelungen, den Institutionenwandel und
den Wandel des wirtschaftlichen Systems in die Praxis umzusetzen. Für die Konsolidierung
der Demokratie ist es von Bedeutung, ob und wie sehr sich die Eliten mit dem neuen System
anfreunden oder, umgekehrt, den demokratischen Wandel be- und verhindern.
Der Systemwechsel in Ostdeutschland ist im Rahmen der osteuropäischen Transformation
von kommunistischen zu demokratischen Systemen nach 1990 ein Sonderfall. Nur in Ostdeutschland vollzog sich der Anschluß an und die Vereinigung mit einem bestehenden Staat.
Nur hier wurden die Verfassung und das Institutionensystem praktisch übertragen. Nur hier
erfolgte massive finanzielle und personelle Aufbauhilfe aus dem anderen Landesteil. Nur hier
erfolgte die Besetzung von Führungskräfte-Stellen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung in
erheblichem Ausmaß extern, aus dem anderen Landesteil. Diese Mechanismen griffen nur im
vereinigten Deutschland, nicht aber in anderen osteuropäischen Ländern. Dort mußte der Prozeß der Transformation und der Demokratisierung großteils von den alten Eliten selbst betrieben werden. Selbst die heute als am weitreichendsten mit einer demokratischen politischen
Kultur als konsolidiert geltenden Staaten Slowenien, Tschechien und Estland (Merkel 2010:
430) haben auf die alten Eliten und ihre Reformbereitschaft zurückgreifen können und müssen. Dies zeigt aber auch, daß demokratische Transformationen und Konsolidierungen nicht
von der Ausschaltung der alten Eliten abhängt, sondern von ihrer Reformbereitschaft.
Eine andere Facette des Elitentransfers ist die Akzeptanz in der Bevölkerung. Wie wird der
Austausch, die Zirkulation oder gar der Verbleib der alten Eliten in ihren Positionen von der
Bevölkerung bewertet? Folgt die Rekrutierung von Eliten transparenten Kriterien wie etwa
dem Qualifikations- und Leistungsgedanken oder spielen andere Mechenismen eine zentrale
Rolle? Nicht nur die Leistungen der Eliten selbst, sondern auch die Akzeptanzmuster in der
Bevölkerung bestimmen die Qualität und die Entwicklung einer demokratischen politischen
Kultur. Dabei ist ein Kriterium für demokratischen Wechsel der Eliten in Zeiten des Umbruchs auch der Verbleib von Teilen der alten Eliten in ihren Positionen, um so auch diejenigen „mitzunehmen“, die der alten Ordnung besonders verbunden sind. Hoffmann-Lange hat
diesen aus der Transformationsforschung bekannten Mechanismus wie folgt beschrieben
(2009: 58): „In die Verhandlungen über die Einführung einer demokratischen Verfassung
müssen dabei alle bedeutsamen politischen Kräfte einbezogen werden, also sowohl Repräsentanten des alten Regimes als auch solche der bisherigen Opposition. Daher führt eine erfolgreiche Demokratisierung in der Regel nicht zu einer vollständigen Ersetzung der alten
Eliten, sondern lediglich zu einer Verbreiterung der Rekrutierungsbasis und einem Mit43
einander alter und neuer Eliten“ (Hervorh. von mir). Auf diese Weise, so die These, wird
ein neues, demokratisches System konsolidiert, nur so gewinnt es an Legitimität.
Im folgenden Abschnitt wird beiden Fragestellungen Rechnung getragen. Der tatsächliche
Elitenwechsel wie auch die Frage seiner gesellschaftlichen Akzeptanz werden auf der Basis
des aktuellen Forschungsstandes untersucht. Ausgesprochen hilfreich und weiterführend sind
die für die Enquete-Kommission 5/1 bereits vorliegenden Gutachten über den Elitenwandel in
Landtag und Landesverwaltung (Rüdiger/Catenhusen 2011), in den Parteien (Neubert, Niemann, Wunnicke 2011) und in den brandenburgischen Medien (Mohl 2011). Ihre Befunde
sollen hier berücksichtigt werden. Zunächst geht es um Grundzüge des Elitentransfers nach
der Wende (5.1.), bevor näher auf das Land Brandenburg eingegangen wird (5.2.). Im abschließenden Teil werden einige Thesen entwickelt über die Wirkung des Elitentransfers auf
die politische Kultur in Brandenburg (5.3.).
5.1. Elitentransfer nach der Wende
Die Implosion der DDR, die politisch-gesellschaftliche Umgestaltung und der Anschluß an
das System der Bundesrepublik vollzogen sich in einer – rückblickend gesehen – sehr raschen
Abfolge, die eng mit der Ausschaltung der alten DDR-Eliten verknüpft war. Von Oktober
1989 bis Januar 1990 löste sich die SED quasi von selbst auf, in freie Positionen kamen zunächst Repräsentanten der „systemkonformen Gegenelite, als deren Exponenten H. Modrow,
L. de Maizière und G. Gysi gelten können“ (Derlien 1997: 393). Es folgten die Akteure des
runden Tisches und die Volkskammer-Wahl im März 1990, die dann auch Repräsentanten der
systemkritischen Gegen-Elite in Positionen brachte (z.B. R. Eppelmann, J. Gauck, M. Stolpe,
W. Thierse). Im Ergebnis, so Derlien (1997: 394), war die politische „Alt-Elite“ innerhalb von
sieben Monaten praktisch aus dem öffentlichen Leben verschwunden, mit Verzögerung setzte
dieser Prozeß auch ein in den Bereichen Militär, Wirtschaft, Justiz und Verwaltung. Die sehr
rasche Abdankung der Nomenklatura wurde begünstigt durch die, wie es Hoffmann-Lange
bezeichnet: „gerontokratische Natur der DDR-Elite, die es ermöglichte, die Mitglieder der
ehemaligen DDR-Elite schnell in den Ruhestand zu verabschieden“ (Hoffmann-Lange 2000:
206).
Entsprechend dem Einigungsvertrag sollte das westdeutsche Institutionensystem auf die neuen Länder übertragen werden, so dass erfahrene Juristen, Verwaltungsfachleute und andere
westdeutsche Fachleute diesen Um- und Aufbau an führenden Stellen planen und umsetzen
sollten: „Was mit westdeutschen Regierungsberatern der Regierung de Maizière und der Leitung der Treuhandanstalt durch Westdeutsche schon vor der Wiedervereinigung seinen Anfang genommen hatte, setzte sich mit der Rekrutierung von Exekutivpolitikern, der Verwaltungsspitze der Länder, der Gerichtspräsidenten, der Stabsoffiziere der Bundeswehr, der Leitung in Rundfunk- und Fernsehanstalten, der öffentlich-rechtlichen Banken, der Verbandsgeschäftsführer und vieler Universitätsprofessoren fort (Derlien 1997: 395). Eine Alternative zu
diesem „Elite-Import historisch beispiellosen Ausmaßes“ (Derlien 1997: 395) schien gar nicht
möglich, denn die DDR-Opposition war zahlenmäßig klein und es fehlte ihr an Kompetenzen
und Erfahrungen, um den geplanten Verwaltungs-Umbau effizient durchführen zu können.
44
Diese Konstellation unterscheidet die Entwicklung Ostdeutschlands gravierend von den Demokratisierungsprozessen in Ostmitteleuropa, wo die alten Eliten großteils selbst und im Benehmen mit Oppositionsgruppen den Reformprozeß tragen müssen.
Damit setzte ein mehrjähriger Prozeß ein, den Geißler die Pluralisierung der Eliten und TeilEliten nach westdeutschem Muster genannt hat (2009). In der DDR war die Elite zentralistisch positioniert um die SED-Spitze und das Politbüro, das alle wesentlichen und auch weniger wesentliche Entscheidungen an sich zog. Damit war es ungemein einflußreich, zugleich
aber auch überfordert. Die Implosion der SED in den Monaten nach dem Oktober 1989 bedeutete von daher auch den raschen Zerfall der zentralistisch strukturierten DDR-Elite. Der
Wieder- und Neuaufbau der Eliten folgte dann dem eher dezentralen Muster von leistungsorientierten Teil-Eliten in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medien und so fort. Sie waren und
sind weniger ideologisch geprägt denn leistungs- und karriereorientiert.
Nach der Potsdamer Elitenstudie von 1995, die als Standardwerk immer wieder herangezogen
wird, war der Anteil der Ostdeutschen an den Führungskräften in Gesamtdeutschland Mitte
der 1990er Jahre denkbar gering. Insgesamt betrug er etwa 12 Prozent (Machatzke 1997: 67).
Bezogen auf gesellschaftliche Teilbereiche zeigen sich deutliche Unterschiede. In den Bereichen Wirtschaft, Justiz, Militär und Kirchen gab es praktisch keine ostdeutschen Führungskräfte. In der Verwaltung (2,5 Prozent) und in der Wissenschaft (7,3 Prozent) war ihr Anteil
denkbar gering. Etwas höher bei Gewerkschaften, Massenmedien und im Kulturbetrieb, am
höchsten im Bereich Politik (32,1 Prozent), denn die ostdeutschen Abgeordneten in den Landesparlamenten kamen in aller Regel aus den jeweiligen Bundesländern. Die Teilhabe ostdeutscher Politiker an einflußreichen politischen Positionen blieb jedoch insgesamt gering. In
den Parteiführungen, Fraktionsführungen des Bundestages, Leitungen der Bundestagsausschüsse, bei Bundesministern und Staatssekretären waren Ostdeutsche in den 1990er Jahren
auffällig unterrepräsentiert (Herzog/Bürklin 2003). Im Jahr 1990 kamen alle 62 Staatssekretäre in den neuen Ländern aus der alten Bundesrepublik und etwa 40 Prozent der Abteilungsund Referatsleiter (Heyen 2008: 5).
Bezogen auf die ostdeutschen neuen Länder waren etwa 60 Prozent der Führungskräfte ostdeutscher Herkunft, von dieser Gruppe entstammten acht Prozent der alten DDR-Elite, zumeist der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz. Die Daten der Potsdamer Elitestudie lassen darauf schließen, dass die alten DDR-Eliten in den ersten Jahren nach der Wende fast
vollständig ausgetauscht wurden. An ihre Stelle traten überwiegend Importe aus den westlichen Bundesländern, wobei ein „Rangeffekt“ (Derlien) sichtbar wurde: „Je höher die Position
in Verwaltung und Justiz, Rundfunkanstalten und Banken, desto höher der Anteil Westdeutscher; je niedriger die Ebene im Staatsaufbau, desto stärker ist ostdeutsches Leitungspersonal
vertreten“ (Derlien 1997: 396). Damit war die West-Ost-Migration eindeutig ein Phänomen
der herausgehobenen Mittel- und Oberschichten, sie hatte „elitären Charakter“ (Kunze 2008:
17). Statusgewinne und materielle Anreize machten Stellen in den neuen Bundesländern attraktiv. Der „Rangeffekt“ sorgte dafür, dass zum Beispiel bei Polizeibeamten des mittleren
und gehobenen Dienstes – also bei weit über neunzig Prozent der Polizeibeamten – keine Interessenten aus Westdeutschland kamen, wohl aber in die Leitungsfunktionen des besser bezahlten höheren Dienstes.
45
Die verbliebenen wenigen genuin ostdeutschen Angehörigen der Funktionseliten weisen einige charakteristische soziale Merkmale auf: Sie sind relativ jung, der Frauenanteil ist hoch, sie
haben hohe Anteile von Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Theologen, „zudem stehen
sie politisch deutlich weiter links als die westdeutschen. Sie sind basisdemokratischer und
etatistischer orientiert, das heißt sie fordern eine stärkere direkte Beteiligung aller Staatsbürger an den politischen Entscheidungen und erwarten vom Staat mehr regulierende Eingriffe,
insbesondere zugunsten der sozial Schwachen“ (Geißler 2009: 8).
Zwölf Jahre nach der Potsdamer Elitenstudie wurden wesentliche Teile an der Universität
Halle-Wittenberg repliziert. Der zentrale Befund lautet: „Die Positionselite Deutschlands setzt
sich im Jahr 2007 zum selben Teil aus Ost- und Westdeutschen zusammen wie 1995… Die
Phase der hohen personellen Zirkulation der frühen neunziger Jahre war also schon vor 1995
abgeschlossen. Lediglich in einigen Sektoren hat sich die Transformation der Elite fortgesetzt
(Wissenschaft, Massenmedien, Gewerkschaften). In den übrigen Sektoren hat sich die Konstellation gegenüber 1995 kaum verändert“ (Kunze 2008: 74). Mit Hinck (2007 und 2008) läßt
sich die Struktur der Eliten in Ostdeutschland heute als dreigeteilt betrachten:
- Die Gruppe der ostdeutschen Seiteneinsteiger ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Bevölkerung und politischem System. Ingenieure, Techniker, Mediziner und Naturwissenschaftler waren häufig als spezialisierte Fachleute in un-ideologischen Berufsfeldern tätig. Sie besetzten in der DDR mittlere Führungspositionen, viele von ihnen kamen nach der Wende in
Spitzenpositionen, auch im politischen Betrieb.42 Dieser Weg war auch deshalb möglich, weil
viele von ihnen in den unpolitischen Nischen der DDR überlebten, ohne sich zu verbiegen
und ohne sich dem SED-Apparat andienen zu müssen.
- Die Gruppe der westdeutschen Aufbauhelfer sollte den Umbau des Staates und seiner
Verwaltungen operativ leiten und durchführen. Bei allen Leistungen, die diese Gruppe für den
Aufbau der neuen Länder erbracht hat, sollte nicht vergessen werden, dass „die Wiedervereinigung auch eine willkommene Gelegenheit für die alte Bundesrepublik (war), unliebsam
gewordenes oder schlicht überflüssiges Personal loszuwerden, und es war für westdeutsche
Karriere-Netzwerke eine gute Gelegenheit, ihren Einfluss zu erweitern“ (Hinck 2008: 30).
- Die Gruppe der ehemaligen SED-Kader der jüngeren Generation fand neue Betätigungsfelder vor allem in der PDS/Die Linke und bei den ostdeutschen Regionalzeitungen, den früheren Parteizeitungen der SED (Mohl 2011). Hier fanden sich Gelegenheiten, die Tätigkeiten
als politische Funktionäre unter veränderten Bedingungen fortzuführen.
Wenig bekannt ist über die ostdeutschen Wirtschaftseliten, die Manager und Vorstände mittelständischer und größerer Unternehmen. Insoweit es sich in der Regel um Niederlassungen
westdeutscher oder ausländischer Unternehmen handelt, liegt die Personalrekrutierung in deren Hand, so dass die Spitzenpositionen vermutlich nicht ostdeutsch geprägt sind. Falls diese
42
Eine Reihe ostdeutscher Ministerpräsidenten wie Harald Ringstorff (Chemiker), Wolfgang Böhmer (Chefarzt),
Dieter Althaus (Mathematik- und Physiklehrer) und Matthias Platzeck (Ingenieur und techn. Direktor eines
Krankenhauses) kommt aus dieser Gruppe, vgl. Hinck 2008: 30. Bundeskanzlerin Merkel ist als gelernte Physikerin ebenfalls dieser Gruppe zuzurechnen. Der 2008 ins Amt gekommene sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich setzt als ehemaliger ostdeutscher Ingenieur diese Tradition ebenso fort wie der 2011 zum Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt ernannte Reiner Haseloff. Er war in der DDR Physiker.
46
Annahme zutrifft, dann könnte dies fatale Konsequenzen für die Elitenrekrutierung in der
ostdeutschen Wirtschaft haben und Ostdeutsche könnten langfristig ausgeschlossen sein
aus dem Kreis der Spitzenpositionen: Der Elitenforscher Michael Hartmann hat immer
wieder mit guten empirischen Daten darauf hingewiesen, daß die Elitenrekrutierung in der
Wirtschaft nicht Leistungskriterien alleine folgt, sondern kulturellen Mustern: „Wer in die
Vorstände und Geschäftsführungen großer Unternehmen gelangen will, der muss nämlich vor
allem eines besitzen: habituelle Ähnlichkeit mit den Personen, die dort schon sitzen. Da die
Besetzung von Spitzenpositionen in großen Unternehmen von einem sehr kleinen Kreis von
Personen entschieden wird und das Verfahren nur wenig formalisiert ist, spielt die Übereinstimmung mit den so genannten ‚Entscheidern‘, der ‚gleiche Stallgeruch‘, die ausschlaggebende Rolle“ (Hartmann 2004:21).
Die von Hinck (2007 und 2008) angestoßene Debatte über das Selbstverständnis und die
Funktion der ostdeutschen Eliten heute ist nicht wirklich aufgegriffen und fortgeführt worden.
Hinck vertritt die Auffassung, diese dreigeteilten Eliten hätten keine Visionen, kein gemeinsames Selbstverständnis, sie seien eher eine „Stillhaltegemeinschaft“, ein funktionierender
Wettbewerb unter diesen Eliten finde nicht statt. Im Gegensatz zu den westdeutschen Wirtschaftsmanagern sei auch dieser kleine Teil der Funktionseliten in Ostdeutschland praktisch
nicht zu vernehmen, weil er vornehmlich nach innen, in die Betriebe hinein agiere und in der
ostdeutschen Öffentlichkeit mehr oder weniger ein Fremdkörper geblieben sei. Zu ergänzen
bliebe allerdings auch der Hinweis, dass die dreigeteilten Eliten in Ostdeutschland heute aus
gänzlich unterschiedlichen, ja konträren sozialen Milieus kommen, so daß Unverständnis,
Berührungsängste und latente Konflikte hier viel stärker ausgeprägt sind als bei den westdeutschen Funktionseliten.
5.2. Elitentransfer in Brandenburg
Auch bei den Funktionseliten im heutigen Brandenburg hat sich die Teilung in ostdeutsche
„Seiteneinsteiger“, (ehemalige) westdeutsche Aufbauhelfer und vormalige SED-Funktionäre
herausgebildet. Nach den bisher bekannten Untersuchungen verläuft der Elitenaustausch in
Brandenburg nach der Wende in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Er folgt den oben
skizzierten Mustern der Entmachtung der DDR-Nomenklatura, des Austausches von Führungspersonal und der Besetzung von Führungspositionen durch Westdeutsche in wichtigen
Teilen der politischen Entscheidungsfindung. In anderen Teilen der Gesellschaft jedoch verläuft der Austausch der Eliten weitaus zögerlicher.
Das Land Brandenburg hatte durch Regierungsabkommen 1990 mit dem Land NordrheinWestfalen eine bis 1998 andauernde Partnerschaft beschlossen. Sie führte zum Transfer
überwiegend nordrhein-westfälischen Verwaltungspersonals vor allem in die Spitzenämter und den höheren Verwaltungsdienst des Landes Brandenburg und zum Aufbau
brandenburgischer Verwaltungsstrukturen, die zum Teil jenen in Nordrhein-Westfalen ähnelten. Die westdeutschen Aufbauhelfer brachten das nötige Verwaltungs-Fachwissen zum Aufbau der neuen Verwaltungen mit, aber sie unterschieden sich, wie empirische Erhebungen
zeigen, verwaltungskulturell von den ostdeutschen Kollegen und Kolleginnen. Das Staats47
und Politikverständnis der Westdeutschen war eher liberal und pluralistisch, während das ostdeutsche „Altpersonal“ in den Verwaltungen eher zu einem „autoritären und elitären Politikmodell neigt“ (Damskis/Möller 1997: 65, 95ff.). „Bis Januar 1998 wurden insgesamt 1.979
Personen, überwiegend Beamtinnen/Beamte, Richterinnen/Richter und Professorinnen/Professoren aus dem öffentlichen Dienst des alten Bundesgebietes in den Brandenburgischen Landesdienst übernommen“, etwa drei Viertel davon fielen 1998 in die Geschäftsbereiche des Justizministeriums (821) und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur (776), die Staatskanzlei zählte 56 West-Importe (Kleine Anfrage 2011). Die prozentuale
Verteilung auf die Ministerien ergibt folgendes Bild.
Tabelle 9: Übersicht zum Anteil von Beschäftigten aus den alten Bundesländern im höheren Dienst des Landes Brandenburg, geordnet nach Geschäftsbereichen. Angaben in
Prozent
1992
1994
1996
1998
2000
2004
Ministerium d. Innern
(MI)
61,00
55,07
52,11
50,15
48,59
47,31
Ministerium der Justiz
(MdJ)43
Keine
Angaben
62,36
68,40
68,24
66,69
65,40
73,07
77,42
77,97
Ministerium der Finanzen Keine
(MdF)
Angaben
Keine
Angaben
Keine
Angaben
Ministerium f. Wirtschaft
u. Europaangelegenheiten (MWE)
42,00
47,00
38,00
40,00
38,00
37,00
Ministerium f. Infrastruktur u.Landwirtschaft
38,03
46,26
50,23
51,17
50,00
48,89
Ministerium f.Bildung,
Jugendund Sport (MBJS)
20,37
27,36
29,11
28,34
30,06
31,11
Ministerium
f.Wissenschaft,Forschung
36,52
40,47
44,77
44,77
46,32
43,35
(MIL)
43
Kein Anspruch auf Vollständigkeit. Die Daten aus den alten Bundesländern konnten für die Sozial- und teilweise die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht erhoben werden.
48
und Kultur (MWFK)
Ministerium f. Arbeit,
Soziales, Frauen u. Familie (MASF)
13,02
14,96
15,42
13,78
13,73
10,31
Ministerium f. Umwelt,
Gesundheit und
Verbrauchersch.
(MUGV)44
25,45
31,35
30,42
32,79
27,57
25,97
70,96
73,91
63,63
Staatskanzlei (Stk)
Keine
Angaben
Keine
Angaben
Keine
Angaben
(Quelle: Zusammengestellt nach Angaben der Staatskanzlei des Landes Brandenburg. Schreiben vom 31.10.2011 an den Verf.)
Die Staatskanzlei weist den höchsten Anteil Westdeutscher auf, gefolgt von den klassischen
Ressorts Finanzen, Justiz und Inneres. Seit 1998 ist der Anteil der Westdeutschen in allen
Ministerien bis auf Finanzen und Bildung leicht rückläufig. Dieser Prozeß setzt sich danach in
beschleunigter Weise fort. Nach Angaben der Landesregierung sind gegenwärtig noch etwa
300 der ursprünglich 1.979 Personen im Dienst, so dass die Landesverwaltung schrittweise
immer weniger geprägt ist von personellen westdeutschen Einflüssen (Kleine Anfrage 2011).
Durch Pensionierungen und Verrentungen wird sich dieser Prozeß in den kommenden Jahren
verstetigen und die Funktionen der aus Westdeutschland kommenden „Aufbauhelfer“ minimieren. Betrachten wir den Elitenwechsel nun auf verschiedenen Ebenen.
Aufschlußreich ist die Struktur der brandenburgischen Landeskabinette am Beginn der Amtszeiten (1990, 1994, 1999, 2004).45 Minister aus Westdeutschland waren anfangs stark vertreten, vor allem in den Ressorts Justiz, Finanzen, Wirtschaft und Wissenschaft. Im ersten Kabinett 1990 hatte fast die Hälfte der Minister einen westdeutschen Hintergrund. Justiz und Wirtschaft als diejenigen Ministerien, die nach einer deutlichen Abgrenzung vom DDR-System
verlangten, waren von Westdeutschen mit langjährigen Erfahrungen besetzt (Bräutigam und
Hirche). Der Anteil der Westdeutschen geht im Zeitverlauf leicht zurück. 2004 beträgt ihr
Anteil nur noch ein Viertel. Dieser Trend setzt sich fort: Das aktuelle Kabinett – Stand: August 2011 – besteht aus 11 Personen, einschließlich Ministerpräsident und Chef der Staatskanzlei. Von den elf Ressortchefs haben zwar drei einen westdeutschen Hintergrund (Gerber,
Staatskanzlei, Frau Kunst, Wissenschaft, Frau Münch, Bildung, Jugend, Sport). Alle drei lebten und arbeiteten jedoch vor ihrem Kabinettseintritt teilweise langjährig in Brandenburg und
sind insofern keine „Westimporte“. Die Schlüsselressorts Innen, Justiz, Finanzen und Wirtschaft liegen in ostdeutscher Hand. Die westdeutschen Minister haben durchweg einen akademischen Hintergrund, sie sind überwiegend promoviert, sie sind langjährig Parteimitglieder
und Berufspolitiker. Die ostdeutschen Minister in den Kabinetten haben eher naturwissen44
Die MUGV-Angaben schließen wegen der Zusammenlegung der Ressorts MUNR-MELF in 1999 das frühere
MUNR mit ein. Daneben berücksichtigen die Angaben in Absprache mit dem MIL und dem MASF den Ressortzuschnitt vor der Neuressortierung 2009.
45
Vgl. zum Folgenden Heyen 2008, S. 12ff.
49
schaftlich-technische berufliche Hintergründe, die meisten von ihnen waren vor dem Ministeramt Mitglied im Landtag oder in Kommunalvertretungen.46
Unterhalb der Minister-Ebene war der Zuzug von Personal aus Westdeutschland, vor allem
aus Nordrhein-Westfalen, erheblich, es galt: Je höher die Position, desto eher wurde sie von
einem Westdeutschen besetzt. Im Jahr 1991 kam etwa jeder vierte Mitarbeiter der Landesverwaltung aus Westdeutschland (Lorenz 2010: 186). Der einfache und mittlere Dienst wurde
in den Anfangsjahren nach der Wende fast ausschließlich von Ostdeutschen besetzt, im gehobenen Dienst kamen etwa zehn Prozent aus Westdeutschland, bei Referats- und Abteilungsleitern waren es über die Hälfte (Rüdiger/Catenhusen 2011: 30). Rüdiger und Catenhusen berichten über einen bemerkenswerten Effekt: Zwar nahm der Anteil ostdeutscher Minister in
Brandenburg im Laufe der Zeit stark zu, dies gilt aber nicht für die Staatssekretäre und Abteilungsleiter: Hier stagnierte der Anteil der Ostdeutschen bei etwa einem Viertel, so daß die
Spitze der Ministerien unterhalb des Ministers/der Ministerin weiter in der Hand von Westdeutschen liegt (Rüdiger/Catenhusen 2011: 30ff.).
Die West-Importe in den Ministerialverwaltungen halfen insbesondere in den ersten Jahren
nach 1990, die Funktionsfähigkeit der Ministerien her- und sicherzustellen. Doch es gab auch
sehr früh schon kritische Stimmen, auch in der Bevölkerung. Schon im Jahr 1993 war fast
die Hälfte der Ostdeutschen der Meinung, in den neuen Bundesländern würden zu viele
westdeutsche Beamte eingesetzt (Hornbostel 2000: 129). Sie fühlten sich von den Westdeutschen überrannt, zumal auch die Treuhand die Privatisierung der DDR-Staatsbetriebe übernommen hatte und der westdeutsche Einfluß in der Wirtschaft insgesamt unübersehbar war.
Die verwaltungswissenschaftliche Fachliteratur spricht Mitte der 1990er Jahre von „kulturellen Akzeptanzproblemen“ und von „westlicher Elitendominanz“, die „die Entwicklung eigenständiger ostdeutscher Repräsentationseliten strukturell verhindere“ (Damskis/Möller 1997:
37). Hinrich Enderlein (FDP), der erste Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur nach
der Wende (1990-1994), hat die Rolle der „West-Importe“ viele Jahre später mit drastischen
Worten beschrieben: „Einerseits war die Beratung aus dem Partnerland Nordrhein-Westfalen
bei allen Entscheidungen hilfreich. Andererseits aber hatte NRW ganze Bataillone von Beamten in Richtung Brandenburg geschickt, von denen manche gleich bestimmte Schlüsselstellungen im Regierungs- und Verwaltungsapparat besetzten, bevor wir überhaupt die Regierung
gebildet hatten“ (Enderlein 2010: 89).
Gänzlich anders als in der Landesverwaltung erfolgt der Elitenwandel in den Landtagen
nach 1990. Ein Viertel der Abgeordneten im ersten Landtag waren ehemalige „DDRFunktionäre“. Ihr Anteil in den Fraktionen von CDU, PDS und FDP lag bei etwa 50 Prozent,
genauso hoch war der Anteil der ehemaligen Mitglieder von SED oder einer Blockpartei. Bei
einem Fünftel der Abgeordneten der ersten Legislaturperiode gibt es Hinweise auf StasiVerbindungen (Rüdiger/Catenhusen 2011: 125). Dieser sehr zögerliche Elitentransfer bei den
Abgeordneten zieht sich hin bis zur gegenwärtigen fünften Legislaturperiode, gilt aber nun als
weitgehend abgeschlossen. Rüdiger und Catenhusen bilanzieren (2011: 125): „Nur für die
Fraktion der Linken wurde festgestellt, dass bis heute kein wirklicher Elitenwechsel vollzogen
46
Eine detaillierte Übersicht zur Herkunft der bisherigen Regierungsmitglieder in den brandenburgischen Kabinetten findet sich bei Rüdiger/Catenhusen 2011: 44ff.
50
wurde. So sind noch in der 5. Legislaturperiode die meisten Abgeordneten SED-Mitglieder
und in Bereichen beruflich tätig gewesen, die direkt am politischen Machterhalt der SED mitgewirkt haben. Weiterhin sind eine Reihe von Abgeordneten ehemalige IM gewesen“.
Bei der Entwicklung der Parteien in Brandenburg nach 1990 lassen sich ähnliche Muster des Wandels beobachten. Praktisch alle hatten Probleme mit Stasi-Belastungen eines
Teils ihres Spitzenpersonals, mit ehemaligen Funktionären von SED und Blockparteien. Allerdings wurde diese Problematik rein zahlenmäßig im Laufe der Jahre reduziert. Neubert,
Niemann und Wunnicke (2011) bemängeln in ihrem Gutachten zum Elitenwandel in den Parteien für die Enquete-Kommission 5/1, daß die Parteien in Brandenburg durchweg wenig Interesse an der Aufarbeitung ihrer jüngeren Geschichte gezeigt haben. Einzig die Linke gehe
offensiv mit ihrer DDR-Vergangenheit um.
Ein weiteres Gutachten über „Personelle und institutionelle Übergänge im Bereich der brandenburgischen Medienlandschaft“ (Mohl 2011) bestätigt das Miteinander von Kontinuität
und Wandel. Demnach gab es einen Wechsel vor allem an der Spitze von Regionalzeitungen,
nicht aber beim Gros der journalistischen Mitarbeiter. Die Zusammenarbeit mit der Stasi wurde durchaus sanktioniert, nicht aber aktive Rollen in der SED. Der RBB und sein Vorläufer
ORB als öffentlich-rechtliche Anstalten haben demgegenüber von Anfang an recht konsequent Kriterien des Umgangs mit Stasi-belasteten Mitarbeitern entwickelt (Wuschig 2005:
168ff.).
5.3. Elitentransfer und politische Kultur
Es gibt unterschiedliche Formen der Wahrnehmung des Elitentransfers in der ostdeutschen
Bevölkerung. Eine erste Variante ist die „Kolonisierungsthese“ oder auch „Majorisierungsthese“, deren Wirksamkeit von der Umfrageforschung schon Anfang der 1990er Jahre
nachgewiesen ist. Demnach wurde der Elitenaustausch vor allem in der Landesverwaltung,
aber auch in anderen Bereichen von vielen Brandenburgern erlebt als Besetzung durch die
westdeutsche Mehrheitsgesellschaft, als eine Form der Eroberung und Dominanz.
Greiffenhagen und Greiffenhagen (1993) haben dies in ihrer Studie zur politischen Kultur in
Deutschland schon sehr frühzeitig erkannt. Demnach fehlten die lokalen und regionalen Gegen-Eliten, die den Zusammenbruch der DDR-Eliten hätten kompensieren können, vor allem
auch im Verwaltungs-, Rechts- und Bildungssystem. „Die Gegenelite der ‚runden Tische‘ und
der Kirchen reichte fachlich und personell nicht aus, um die immensen Umbauaufgaben zu
erfüllen. Und der gebremste Wechsel über DDR-Regierungen progessiven Typs konnte nicht
darüber hinwegtäuschen, daß der Beitritt zur Bundesrepublik auf fast allen Feldern einen
kompletten Neubeginn erforderlich machte. Dieser führte nicht nur zu einer fast völligen Eliminierung der ehemaligen politischen Elite, sondern zu einer empfindlichen Ausdünnung aller
höheren Positionen in Wirtschaft, Rechtspflege, Verwaltung und Bildung“
(Greiffenhagen/Greiffenhagen 1993: 67).
Diese objektiven strukturellen Probleme der Rekrutierung neuer Funktionseliten und die
schnelle „asymmetrische“ Einstellung von Westdeutschen in zentrale Positionen – in Brandenburg vor allem aus Nordrhein-Westfalen – mußte aber in der Bevölkerung den Eindruck
51
der eigenen Unterlegenheit und Unfähigkeit hervorrufen. Die alte Bundesrepublik und das
Land Nordrhein-Westfalen waren den neuen Bundesländern wirtschaftlich weit überlegen und
hatten auch die weitaus größere Bevölkerung, so daß auch von daher die Ost-WestVerhandlungen nicht als die ebenbürtiger Partner wahrgenommen wurden. Noch einmal
Greiffenhagen/Greiffenhagen (1993: 67): „Wie immer man es auch anfaßt, der Schatten westdeutscher Besserwisserei und moralischer Überheblichkeit ist kaum zu vermeiden“. Nicht
zufällig wurde 1991 der „Besserwessi“ von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort
des Jahres gekürt. Noch im Jahre 2010 lassen sich Belege für die Vermutung der
Greiffenhagens finden: Das WDR-Fernsehen kündigt einen Beitrag über „20 Jahre Einheit“
an, in dem es unter anderem heißt: „Etwa tausend NRW’ler machten sich auf, in der ehemaligen DDR Demokratie zu lehren“.47
Eine neue, im Juli 2011 veröffentlichte vergleichende empirische Untersuchung über das Leben in Ostdeutschland und in Nordrhein-Westfalen 2011 bekräftigt die These, dass ein Großteil der ostdeutschen Bevölkerung „zu wenig Ostdeutsche in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen wie Politik, Wirtschaft, Militär, Diplomatie, Hochschule u.a. vertreten sieht“ (SFZ
2011: 52). Von Ostdeutschen werden die Ursachen dafür vor allem in wenig einflussreichen
Kontakten gesehen, aber auch darin, dass ihnen Führungspositionen von Westdeutschen nicht
zugetraut werden.
Die Kolonisierungs- oder auch Majorisierungsthese ist keine gute Voraussetzung zur Herausbildung einer demokratischen politischen Kultur. Nicht nur die neuen Eliten waren zum guten
Teil westdeutsch, sondern auch das politische System insgesamt und weitere Subsysteme der
Gesellschaft, wie etwa Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Rechts- und Bildungssystem. Vor allem
bei den Bürgern, deren Integration in die neue Ordnung aus welchen Gründen auch immer
schwieriger war, zeitverzögert oder auch in ihrem eigenen Selbstverständnis mißlang, bot
sich die Kolonisierungsthese als Erklärungsmuster an für die eigene soziale Situation.
Der Elitenaustausch „ist Teil einer allgemeinen beruflichen Abwärtsmobilität im Ostdeutschland der Jahre nach der Wiedervereinigung“ (Kunze 2008: 25). Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Abkopplung vom westdeutschen Tariflohn und westdeutschen Besoldungen
und die Abwicklung einer Vielzahl von Arbeitsplätzen in der Industrie und im Dienstleistungsgewerbe führten zu einer „Entwertung der Lebensläufe“ (Kunze 2008: 25ff.). Arbeitssoziologische Studien zeigen, daß ostdeutsche Arbeitnehmer nach der Wende häufiger als
Quereinsteiger in andere, fachfremde Berufsfelder wechselten, dort aber eine Abwertung ihrer
bisherigen Qualifikation erlebten (Kunze 2008: 25ff.). Die lange andauernde Ost-WestArbeitsmigration war und ist ein struktureller Faktor, der zur Entwertung der DDRLebensläufe beiträgt. Sie hat die Bindung an die neuen politischen Strukturen nicht gefördert,
sondern eher Distanz geschaffen zu den neuen demokratischen Institutionen und damit zu
einer demokratischen politischen Kultur.
Das Gegenstück zur Kolonisierungs- oder auch Majorisierungsthese ist die Kontinuitätsthese. Sie betont das Fortleben alter SED- und Stasi-Mentalitäten durch den Verweis auf Abspra47
Vgl. 20 Jahre Einheit – WESTPOL – WDR Fernsehen Sonntag, 26. September 2010, 19.30-20.00 Uhr, in:
www.wdr.de/tv/westpol/sendungsbeitraege/2010/0926/deutscheeinheit.jsp
52
chen und Tricks alter Seilschaften insbesondere im Umfeld der ehemaligen DDR-Parteieliten
und der Stasi. Aus dieser Perspektive dient die Aufdeckung von Stasi-belasteten Biografien
von Abgeordneten, Journalisten, Unternehmern und anderen der Bestätigung der Kontinuitätsthese. Ehemalige SED- und Stasi-Funktionäre haben im vereinigten Deutschland hohe Positionen in Staat und Wirtschaft erreicht oder auch als Unternehmer Erfolg gehabt. Die Aufdeckung illegaler Machenschaften bestätigt die Kontinuitätsthese und führt in der subjektiven
Wahrnehmung der Bevölkerung zu großem Mißtrauen in die rechtsstaatlich einwandfreie
Qualität der Demokratie.
Ein neueres Beispiel für die Kontinuitätsthese aus Brandenburg ist die Festnahme und Inhaftierung des Unternehmers Axel Hilpert im Juni 2011. Dem Betreiber und Mitinhaber des noblen Resorts Schwielowsee (Potsdam-Mittelmark) wird Subventionsbetrug in Höhe von 9 Millionen Euro vorgeworfen. Hilpert war Oberst der Stasi und rechte Hand des DDRDevisenbeschaffers Schalck-Golodkowski. 2009 hatten ein Ex-Landrat (SPD) und Werders
Bürgermeister Große (CDU) im Zusammenhang der Errichtung des Resorts Schwielowsee
vierstellige Geldbußen wegen Vorteilsnahme im Amt zahlen müssen.48 Für das Vertrauen in
die Demokratie, ihre Institutionen und Repräsentanten, also die Voraussetzungen einer demokratischen politischen Kultur, sind solche Verwicklungen - unbeschadet des Prozeß-Ausgangs
- verheerend. Sie führen den Bürgern exemplarisch vor Augen, dass es einigen wenigen –
oder auch vielen – gelungen ist, mit zweifelhaften oder gar illegalen Mitteln große materielle
Vorteile aus der Wende zu ziehen. Sie verweisen im übrigen auf ein mögliches Dunkelfeld,
was einmal mehr das Vertrauen in die Demokratie unterhöhlt.
Beide, die Kolonisierungs- wie auch Kontinuitätsthese sind heute fest im politischen Gedächtnis der ostdeutschen Bevölkerung verankert. Sie behindern das Vertrauen in den
Staat und seine Institutionen, bewirken politisches Desinteresse und Fatalismus und sind insgesamt ein Hindernis auf dem Wege zu einer lebendigen demokratischen politischen Kultur.
Bedenklich ist die Zählebigkeit und Dauerhaftigkeit einer zum Mythos verklärten Kontinuitäts- oder Kolonisierungsthese, die auch dann noch wirksam sein könnte, wenn keine Westdeutschen der ersten Stunde mehr in der Landesverwaltung arbeiten und wenn keine ehemaligen Stasi-Mitarbeiter wichtige Ämter und Positionen bekleiden.
48
Über den Fall Hilpert wurde breit in der Presse berichtet. Vgl. hier Der inhaftierte Luxushotelier Axel Hilpert
soll versucht haben, Zeugen zu beeinflussen, in: Märkische Allgemeine 11.6.2011.
53
6. Zusammenfassung
1. Auftrag des Gutachtens ist die „Analyse der politischen Kultur Brandenburgs im Hinblick
auf ihre demokratiestützende oder demokratieproblematische Wirkung“. Politische Kulturforschung ist die vergleichende Analyse kollektiver Orientierungen über einen längeren Zeitraum (hier: 1990 bis heute). Dieser Ansatz ist besonders sinnvoll bei der Analyse politischer
Systeme nach der Transformation von der Diktatur zur Demokratie, um die Verankerung
demokratischer Überzeugungen bei der Bevölkerung und die Stabilität der Demokratie
zu messen und hierüber begründete Einschätzungen zu gewinnen. Dazu wurden unter anderem vorhandene empirische Befunde aus Umfragen zusammengetragen und den gängigen
Kategorien der politische Kulturforschung zugeordnet: Politische Beteiligung und politische
Einstellungen im Längsschnitt- und im bundesweiten Vergleich stehen hier im Zentrum. Die
Entwicklung des organisierten Rechtsextremismus, die Rolle der Regierung und der Elitentransfer sind besondere Faktoren für die politische Kultur, die der Entwicklung des Landes
nach der Wende geschuldet sind. Sie sind hier berücksichtigt, weil sie dem Untersuchungsauftrag folgen und für die Entwicklung und die Akzeptanz demokratischer Orientierungen von
großer Bedeutung sind.
2. Die Stabilität der Demokratie lebt von der politischen Beteiligung der Bürger. Sie ist bei
den klassischen Formen der Wahlbeteiligung und der Parteienmitgliedschaft über zwei Jahrzehnte hin in Brandenburg im Vergleich zum Bund und den anderen Ländern relativ
schwach ausgeprägt. Die verschiedenen Ebenen zeigen jedoch unterschiedliche Befunde.
Bei Bundestagswahlen ist die Wahlbeteiligung etwa drei Prozent geringer als im Bundesgebiet. Bei den Europawahlen mit bis über 15 Prozent geringer. Einzig bei den Landtagswahlen
liegt die Beteiligung zwischen 50 und 60 Prozent im Schnitt, in 2009 sogar mit 66.6 Prozent
darüber. Dies gilt jedoch nicht für die unter 35-jährigen, deren Wahlbeteiligung geringer ist
als die der Älteren. Die Mitgliedschaft in Parteien ist in Brandenburg schwach ausgeprägt, nur
drei Bundesländer liegen noch darunter.
3. Die den klassischen Formen der politischen Beteiligung vorgelagerten Verhaltensformen unterstreichen das relative politische Desinteresse. Das bürgerschaftliche Engagement
und das Engagement in Sportvereinen ist relativ gering. Die Kirchen- und Religionsbindung
ist ausgesprochen schwach. Bei der Internet-Nutzung gehört Brandenburg zu den Schlusslichtern in der Bundesrepublik. Der Anteil derjenigen, die sich wöchentlich mit Freunden und
Bekannten treffen, ist deutlich niedriger als im Bundesdurchschnitt, ebenso der Anteil derer,
die wenigstens einmal monatlich eine kulturelle oder religiöse Veranstaltung besuchen. Zusammengenommen deuten solche Befunde darauf hin, dass zivilgesellschaftliche Verhaltensmuster im Vorfeld politischer Beteiligung eher schwach ausgeprägt sind.
4. Die Entwicklung und das Ausmaß politischer Einstellungen müssen davon ausgehen,
dass die allgemeine Lebenszufriedenheit in Brandenburg geringer ist als im Bundesdurchschnitt, allerdings steigen die Werte seit 2009. Die Unzufriedenheit mit der Demokratie der
Bundesrepublik ist im Berlin-fernen ländlich-kleinstädtischen Raum deutlich höher als im
Berlin-nahen Raum. Dies spricht für Demokratie-Entwicklung mit unterschiedlichen Ge54
schwindigkeiten. Dies gilt auch für rechtsextreme Einstellungen, bei denen vor allem die
Teilmenge Ausländerfeindlichkeit zu beachten ist. Andere Komponenten des rechtsextremen
Weltbildes wie etwa Antisemitismus, Verharmlosung des Nationalsozialismus und die Befürwortung einer Diktatur sind in Brandenburg eher schwach ausgeprägt. Rechtsextreme Einstellungen in Brandenburg sind besonders stark ausgeprägt bei Arbeitslosen, einfachen Arbeitern und Facharbeitern. Beides, Unzufriedenheit mit der Demokratie und rechtsextreme Einstellungen, sind im unteren Drittel der Gesellschaft besonders verwurzelt.
5. Die langfristige Entwicklung des organisierten Rechtsextremismus in Brandenburg
seit 1990 weist stagnierende bis rückläufige Tendenzen auf. Die Zahl der von Rechtsextremisten verübten Gewalttaten ist in Brandenburg zwar weiterhin hoch. Doch der Versuch der
rechtsextremen Szene, das Land nach den von der Bevölkerung teilweise geduldeten militanten Anschlägen gegen Asylbewerber Anfang der neunziger Jahre zu einer Hochburg des
Rechtsextremismus zu entwickeln, ist gescheitert. Die Wahlerfolge der DVU 1999 und 2004
konnten von der NPD nicht wiederholt werden, die NPD hat in Brandenburg nur schwach
ausgeprägte Parteistrukturen entwickelt. Im bundesweiten Trend liegen die Befunde über die
soziale Struktur der rechtsextremen Sympathisanten: Es sind überwiegend jüngere, männliche, eher schlecht ausgebildete Personen mit großen Problemen, in „normalen“ Arbeitsbiographien dauerhaft Fuß zu fassen. Ein beachtenswerter neuartiger Agitationsschwerpunkt
zeichnet sich im südlichen Brandenburg ab: Hier versucht die Internetplattform „Spreelichter“, hinter der verschiedene rechtsextreme Gruppen stehen, eine neuartige, zeitgemäßjugendliche und durchaus erfolgversprechende Form zu erproben.
6. Die im Gutachter-Auftrag erbetene Analyse der „Rolle der Regierung und der politischen
Organisationen im Hinblick auf die Herausbildung einer demokratischen/undemokratischen
politischen Kultur“ kann beispielhaft am ressortübergreifenden Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ aufgezeigt werden. Seit den 1990er Jahren wurde eine Beratungs- und
Netzwerkstruktur zunächst von öffentlichen Akteuren, später eher von freien, aber zum Teil
öffentlich geförderten eingerichtet. Sie konzentrierte sich zunächst auf die Bekämpfung des
Rechtsextremismus, später stärker auf die Stärkung der demokratischen zivilgesellschaftlichen Potentiale in den Kommunen. Das Handlungskonzept Tolerantes Brandenburg hat
deutlich positive Effekte auf die demokratische politische Kultur erzielen können. Dafür
sprechen der systematische Ausbau der Vernetzung, die Einbeziehung von Wirtschaftsunternehmen, die zum Teil eigenverantwortliche Initiativen entwickelt haben (z.B. EKO Stahl), die
positiven Evaluationen vergleichbarer Projekte im Bundesgebiet und die später in Sachsen
und Thüringen gegründeten Landesprogramme, die ähnlich strukturiert sind..
7. In der Transformationsforschung und den Forschungen zur politischen Kultur besteht Konsens darüber, dass im Transformationsprozeß zur Demokratie die alten politischen Eliten
nicht bruchlos übernommen werden dürfen, damit die neue Demokratie Legitimität erzielt.
Ein „Neuanfang“ kann eben nicht mit dem alten, belasteten Personal gemacht werden. Ebenso
deutlich ist es aber auch, dass schon aufgrund von Personalmangel die Funktionseliten nicht
bruchlos ausgetauscht werden können. Der Elitentransfer nach der Wende verläuft in
Brandenburg in den politisch-gesellschaftlichen Teilbereichen sehr unterschiedlich. In
den Führungsfunktionen von Verwaltung, Justiz und Wissenschaft sind nach 1990 die alten
55
Eliten der DDR relativ schnell ausgetauscht worden. Aufgrund eines Abkommens mit
Nordrhein-Westfalen wurden in den 1990er Jahren viele Führungsfunktionen besonders in
den Ministerialverwaltungen von Experten aus NRW besetzt. Bis 1998 belief sich die Zahl
der aus Westdeutschland in Führungspositionen von Verwaltung, Justiz und Wissenschaft
gelangten Personen auf etwa 2000. In den Landeskabinetten war anfangs der Anteil der Minister aus Westdeutschland stark, er geht aber bis heute kontinuierlich zurück. Im Landtag
hingegen verläuft der Elitentransfer eher zögerlich. Bis auf die Fraktion der Linken gilt er erst
in der gegenwärtigen 5. Legislaturperiode als abgeschlossen. In der DDR in technischakademischen Berufen sozialisierte „Seiteneinsteiger“ in die Politik, aus Westdeutschland kommende „Aufbauhelfer“ in Führungsfunktionen und ehemalige SEDFunktionäre bilden heute die Funktionseliten in Brandenburg.
8. Die Wahrnehmungen des Elitentransfers in der Bevölkerung sind problematisch. Sie werden von zwei Alltagstheorien geprägt: Die Kontinuitätsthese besagt, dass die alten Eliten es
verstanden haben, auch in der neuen Zeit Schlüsselpositionen zu besetzen und in die eigene
Tasche zu wirtschaften. Diese Auffassung ist für den demokratischen Prozeß bedenklich,
denn sie verneint die wirkliche Demokratisierung von Staat und Gesellschaft und produziert
eher Resignation und politische Entfremdung. Die zweite Alltagstheorie könnte man „Kolonisierungsthese“ nennen: Sie besteht in der Annahme, „die“ Westdeutschen hätten die Schlüsselpositionen besetzt, dominierten das Geschehen im Land und die Bürger Brandenburgs seien Bürger zweiter Klasse. Auch diese Auffassung untergräbt den Demokratisierungsprozeß
und verstärkt Prozesse der politischen Entfremdung.
56
7. Empfehlungen
1. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung einschließlich der demografischen verläuft in
Brandenburg regional unterschiedlich. Die Berlin-nahen Regionen prosperieren, die Berlinfernen stagnieren. Diesem Trend entspricht die Entwicklung der Demokratisierung über den
Gesamtzeitraum von 1990 bis heute. Der Befund der unterschiedlichen Geschwindigkeiten
der demokratischen Entwicklung zwischen Berlin-nahen und Berlin-fernen Regionen lenkt
den Blick auf die „Randlagen“. Alle verfügbaren Indikatoren bestätigen und bekräftigen diesen Befund. Daraus folgt, daß die Regierung und die demokratischen politischen Organisationen mehr noch als bisher Anstrengungen unternehmen müssen, um die Demokratisierung
in den Randlagen zu beschleunigen. Zu denken ist beispielsweise an die Bereiche schulische und außerschulische politische Bildung und Fortbildungsangebote.
2. Demokratisierung beziehungsweise die politische Integration in das Gemeinwesen setzt die
soziale Integration voraus. Sozialpolitische Intervention ist daher zugleich eine Investition in
die demokratische Entwicklung. Dieser Zusammenhang sollte bei Entscheidungen der Landesregierung transparenter als bisher gemacht werden: Sozialpolitische Maßnahmen, Entscheidungen und Instrumente sollten daraufhin geprüft werden, inwieweit sie auch die
demokratische Entwicklung voranbringen. Möglichkeiten der politischen Beteiligung sollten soweit möglich ausgeschöpft werden.
3. Der Befund der besonderen Betroffenheit der „Wende-Verlierer“ bzw. der sozialen Unterschichten sollte bei künftigen Maßnahmen berücksichtigt werden. Bildung, Aus- und Weiterbildung müssen Priorität haben und sind zugleich Instrumente der sozialen und politischen
Integration. Empfehlenswert ist eine Bestandsaufnahme und Neubewertung der Zielgruppen einschließlich der Frage der sozialen Erreichbarkeit. Bildungsmaßnahmen in diesen Bereichen sollten vorrangig auf die Herausbildung von Sozialkapital abzielen.
4. Im Hinblick auf rechtsextreme Einstellungen ist es insbesondere die Teilmenge „ausländerfeindliche Einstellungen“, die in den Umfragen besonders hoch ist. Dem entspricht die Gewaltbereitschaft von rechts, die einen stark rassistischen Kern aufweist. Es wäre wünschenswert, wenn interkulturelle Kompetenzen in möglichst vielen Bereichen der Landesverwaltung thematisiert werden bzw. die vorhandenen Ansätze in diesem Bereich ausgebaut werden.
Zu denken ist hier zum Beispiel an schulische und außerschulische Bildungseinrichtungen
und die Ausbildung der Polizei, aber auch die Beratung kommunaler Einrichtungen.
5. Das Handlungskonzept Tolerantes Brandenburg scheint auf einem guten Wege und ein
wichtiger Meilenstein auf dem Wege zum Auf- und Ausbau einer demokratischen Zivilgesellschaft. Es findet Anerkennung in der sozialwissenschaftlichen Fachwelt weit über Brandenburg hinaus. Die jährliche Berichterstattung durch die Landesregierung erscheint jedoch nicht
ausreichend, um den Fortgang des Konzepts angemessen einzuschätzen. Zum einen ist die
Landesregierung in dieser Frage nicht unabhängig und zum anderen ist die Evaluation von
außen nach dreizehn Jahren überfällig. Hier wäre unter anderem zu untersuchen, wie die
zahlreichen Kooperationsvereinbarungen, die seit 2006 eingegangen werden, mit Leben er57
füllt werden, welche Defizite bestehen und wie sie behoben werden sollen und wie die Öffentlichkeitsarbeit verbessert werden kann. Viel jüngere, ähnliche Landesprogramme wie die in
Sachsen (seit 2005) und Thüringen (seit 2009) sehen wie selbstverständlich Evaluationen vor
und haben sie auch schon veranlaßt.49
6. Das Handlungskonzept Tolerantes Brandenburg ist auch nach dreizehn Jahren noch immer
zu wenig bekannt in Brandenburg. Empfehlenswert ist eine Öffentlichkeitsarbeit, die Aspekte
von „best practice“ stärker betont, Beispiele gelungener Aktionen. In diesem Zusammenhang
wäre auch zu überlegen, durch Preisverleihungen oder Auszeichnungen dem Aspekt der „best
practice“ mehr Geltung zu verschaffen.
7. Der Elitentransfer in Ostdeutschland nach der Wende führte zu einer Dreiteilung: Ostdeutsche „Seiteneinsteiger“, westdeutsche „Aufbauhelfer“ und ehemalige SED-Funktionäre bildeten jahrelang die Funktionseliten. Diese und die Westdeutschen werden künftig eine geringere
Rolle spielen, denn die DDR-Traditionen werden verblassen und das unmittelbare westdeutsche know-how ist weniger oder gar nicht mehr gefragt. Mittel- und längerfristig wird vor
allem die Gruppe der „Seiteneinsteiger“ eine dominierende Rolle spielen.. Diese vor allem technisch-naturwissenschaftlich gebildete Gruppe sollte mehr Verantwortung und Engagement übernehmen bei der Etablierung von Pfaden einer spezifisch ostdeutschen Elitenrekrutierung. Dazu gehören vor allem Förderung von Bildung und Weiterbildung und die Förderung der Übernahme von Verantwortung in Vereinen, Verbänden, im Ehrenamt und ähnlichen
Institutionen der Zivilgesellschaft.
8. Seit 2000 läßt Thüringen als einziges ostdeutsches Bundesland den Prozeß des Wandels der
politischen Kultur nach der Wende systematisch empirisch untersuchen. Der jährlich an der
Universität Jena durchgeführte „Thüringen-Monitor“ informiert über die politischen Orientierungen der Thüringer und untersucht jährlich ein Schwerpunktthema wie Rechtsextremismus,
demografischer Wandel und andere.50 Es wird empfohlen, ein ähnliches Instrument für das
Land Brandenburg zu überdenken, um Momentaufnahmen wie das vorliegende Gutachten zu
überführen in einen Prozeß der nachhaltigen Beobachtung und Berücksichtigung der politischen Kultur des Landes.
49
Vgl. zu Sachsen Abschlussbericht 2008.
Die beiden neuesten Berichte des Thüringen-Monitors sind Edinger/Gerstenhauer/Schmitt 2010 und
Schmitt/Wolff 2011.
50
58
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Verzeichnis der Tabellen
Tabelle 1: Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen: Vergleich Brandenburg – Bundesgebiet in
Prozent
Tabelle 2: Wahlbeteiligung bei Europawahlen: Vergleich Brandenburg – Bundesgebiet in
Prozent
Tabelle 3: Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen Brandenburg
Tabelle 4: Anteil von Parteimitgliedern der etablierten Parteien pro 100 Einwohner im Jahr
2008 in den Bundesländern
Tabelle 5: Ablehnung des Zuzugs von Immigranten von 1991-2000 nach West und Ost
Tabelle 6: Rechtsextremistisch motivierte Straftaten im Land Brandenburg
Tabelle 7: Recherchierte rechte Angriffe in den östlichen Bundesländern und Berlin in den
Jahren 2003-2010
Tabelle 8: Verbote rechtsextremistischer Gruppierungen in Brandenburg
Tabelle 9: Übersicht zum Anteil von Beschäftigten aus den alten Bundesländern im höheren
Dienst des Landes Brandenburg, geordnet nach Geschäftsbereichen. Angaben in Prozent.
66
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