1 Essen bei Krebs – die Mär von den guten Kohlenhydraten ten sowie Obst und Gemüse mit seinen vielen zusätzlichen gesunden Inhaltsstofen. Fleisch und vor allem Fett wird jedoch nur in geringen Mengen empfohlen oder erlaubt. Zu viel davon sei jedenfalls schädlich. In diesem Buch hier steht allerdings etwas ganz anderes, etwas, das vielen dieser Empfehlungen ganz oder teilweise widerspricht. In diesem Buch steht: Was kann, was sollte man essen, wenn nicht nur die DGE [111] aus. Die Fachgesellman an einer Krebserkrankung leidet? Der schaften für Ernährung so ziemlich aller Länblaue Ratgeber Essen bei Krebs aus der sehr der scheinen sich einig zu sein: Den Hauptumfangreichen Serie der Deutschen Krebs- teil unserer Energielieferanten sollen die hilfe empiehlt: »Wenn Sie normal essen kön- Kohlenhydrate ausmachen. Das angestrebte nen, weil Sie keine großen Beschwerden wie Ziel liegt meist bei mehr als 50 Prozent der zum Beispiel Übelkeit haben, dann empfeh- Gesamtkalorien. len wir Ihnen eine abwechslungsreiche, vollGerade zur Vorbeugung von Krankheiten – wertige Ernährung, wie sie alle gesunden auch von Krebs – empiehlt die DGE, tägMenschen zu sich nehmen sollten«. Und lich rund 650 Gramm Obst und Gemüse zu weiter heißt es: »Was Sie am besten in welverzehren. Konkret sollen es zwei Portiocher Menge essen, dazu hat die Deutsche nen Obst und drei Portionen Gemüse pro Gesellschaft für Ernährung Empfehlungen Tag sein, ganz im Einklang mit der Weltzusammengestellt«. gesundheitsorganisation WHO. Auf der Daneben ist als Graik der sogenannte Homepage der DGE kann man unter der Ernährungskreis der Deutschen Gesellschaft Rubrik »Vollwertige Ernährung« in einer für Ernährung (DGE) abgebildet. In ihm Schrift namens »Obst und Gemüse. Die nehmen Brot, Nudeln, Kartofeln, Reis und Menge macht‘s« vom 19. Februar 2010 lesen: Getreideprodukte mit etwa einem Drittel »Der erste Bericht des World Cancer Research den meisten Platz ein, gefolgt von Gemüse, Fund (WCRF) und des American Institute for dann Obst. Zusammen füllen all diese koh- Cancer Research (AICR) kam 1997 zu dem lenhydratreichen Lebensmittel fast drei Vier- Schluss, dass es eine überzeugende Evidenz tel des Kreises aus. Im letzten Viertel sind als dafür gibt, dass eine Ernährung mit einem Eiweißquellen Milch und Milchprodukte, die hohen Anteil an Gemüse und/oder Obst bevorzugt fettarm sein sollen, angesiedelt. vor bestimmten Krebsarten schützt.« Und Ein schmaler Teil wird magerem Fleisch und »je mehr Obst und Gemüse gegessen wird, Fisch als weiterer Eiweißquelle zugestanden. desto geringer ist das Risiko nicht nur für Und in einem ziemlich kleinen Spalt kann bestimmte Krebskrankheiten, sondern auch man dann noch Fett erkennen, vor allem für Adipositas, Bluthochdruck und koronare Herzkrankheiten«. [118] Planzenöl. Die Empfehlung, Vollkornprodukte sowie Obst und Gemüse als Grundlage einer gesunden Ernährung zu verspeisen, spricht 16 Seit Jahrzehnten wird propagiert, für die Gesundheit viele Kohlenhydrate zu essen, möglichst in Form von Vollkornproduk- dass es für einen krebskranken Menschen besser ist, Kohlenhydrate in der Nahrung stark zu reduzieren dass Gemüse und Obst durchaus auf den Tisch gehören, aber vor allem ihre kohlenhydratarmen Varianten dass der Körper mit eiweiß- und fettreicher Kost am besten gestärkt werden kann dass gesättigte und tierische Fette, aber auch Fleisch, nicht schädlich sind, sondern sogar nützen können dass diese Art von Ernährung die gesunden Teile des Körpers besonders unterstützt, während sie dem Tumor vielleicht sogar zusetzt. Tatsächlich gibt es dafür und gegen die oiziellen Empfehlungen überzeugende wissenschaftliche Argumente. Obt und Gemüse – Shutz vor Krebs? Skepsis gegenüber dem Konzept einer Ernährung mit sehr wenigen Kohlenhydraten ist angesichts der jahrzehntelangen, immer wieder neu variierten Empfehlungen mehr als verständlich. Denn es heißt doch, dass viel Obst und Gemüse das Risiko gerade in Bezug auf Krebserkrankungen senken. Doch wie sieht eigentlich die wissenschaftliche Evidenz hierzu aus? Hier eine Passage aus einem Artikel der Ärztezeitung vom Mai 2007: [182] »Auf die Frage, was denn für ihn bisher die am meisten überraschende Erkenntnis der EPIC-Studie sei, reagiert Professor Heiner Boeing vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam sehr zögerlich. Schließlich kommt doch eine Antwort: Dass sich mit einem hohen Obst- und Gemüsekonsum das Krebsrisiko nicht reduzieren lässt, habe ihn schon sehr überrascht. »Um das richtig interpretieren zu können, werden wir noch einige Zeit brauchen.« Die EPIC-Studie wekt Zweifel Die European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition, kurz EPIC, ist eine große, vorausschauende (in der Fachsprache: prospektive) Langzeitstudie (Informationen zu Studien im Anhang des Buches). Mit ihrer Hilfe soll herausgefunden werden, ob eine bestimmte Ernährungsweise vor Krankheiten, besonders Krebserkrankungen, schützen kann. Sie wurde ins Leben gerufen von der Internationalen Agentur für Krebsforschung. Diese gehört zur Weltgesundheitsorganisation; inanziell wird sie vom Europagegen-Krebs-Programm der Europäischen Kommission unterstützt. Seit Beginn der Studie im Jahr 1992 wurden in mittlerweile insgesamt zehn teilnehmenden Ländern der Lebensstil und die Ernährungsgewohnheiten von über einer halben Million Menschen per Fragebogen oder Interview erfasst. Blutproben wurden entnommen, Gewicht, Körpergröße der Teilnehmer gemessen. Nach 17 mehreren Jahren wurde dann überprüft, wie Wohlgemerkt – diese Aussagen stammen viele und welche Krankheitsfälle aufgetre- nicht von notorischen Gemüsegegnern ten waren, um Rückschlüsse auf eine mög- und Wissenschaftsnörglern. Sie stammen liche Beziehung zwischen Ernährungsmus- von den Wissenschaftlern selbst, von denen tern und bestimmten Krankheiten ziehen zu nicht wenige zuvor vom Segen der Planzenkost mehr als überzeugt gewesen waren. können. Die EPIC-Studie gilt als eine qualitativ hoch- Zu dieser Gruppe gehört auch der renomwertige, gerade für europäische Länder aus- mierte Harvard-Epidemiologe und Ernähsagekräftige Untersuchung. Sie ist noch rungsspezialist Walter Willett. Er schreibt in nicht abgeschlossen. Noch etwa ein Jahr- einem Kommentar zu dem überraschenzehnt lang sollen weiter Daten zu Krebs- den Ergebnis dieser bisher umfassendsten erkrankungen, aber auch zu anderen chroni- und aussagekräftigsten Studie zur Beziehung zwischen dem Konsum von Obst und schen Krankheiten gesammelt werden. Gemüse und dem Krebsrisiko sinngemäß: Das für Heiner Boeing so überraschende Wenn es zumindest bei einer oder einigen Ergebnis wurde bereits in einer Reihe wenigen Krebsarten deutliche Hinweise von einzelnen Publikationen für ganz auf einen Nutzen von Obst und Gemüse bestimmte Krebsarten ausführlich dargegäbe, dann könnte man eher davon ausgestellt. Eine zusammenfassende Analyse von hen, dass diese kleine Senkung des allgezwischen 1992 und 2000 erhobenen EPICmeinen Krebsrisikos bei hohem Obst- und Daten kam im Jahr 2010 heraus. [46] Es fand Gemüsekonsum tatsächlich »real« ist. Das ist sich tatsächlich insgesamt ein Zusammenaber weder bei den hier untersuchten EPIChang, eine negative Korrelation: Das Risiko Teilnehmern noch allgemein in der wissenfür eine Krebserkrankung – egal welcher schaftlichen Literatur der Fall. [503] Art – war etwas geringer, je mehr Obst und Gemüse gegessen wurde. Der Unterschied Willett weist außerdem darauf hin, dass ganz war allerdings sehr klein. Wenn die Daten bestimmte Obst- oder Gemüsesorten und der Teilnehmer nach den einzelnen Ländern deren Inhaltsstofe vielleicht doch einen getrennt ausgewertet wurden, dann war positiven Efekt auf einzelne Krebsarten dieses Resultat nicht einmal statistisch sig- haben könnten. Tomaten mit ihrem Inhaltsniikant. Das bedeutet, es könnte auch rein stof Lycopin beispielsweise könnten gegen zufällig zustande gekommen sein. Und auch, Prostatakrebs wirken. Und darauf gibt es tatwenn die Daten der Teilnehmer von allen sächlich zumindest Hinweise. Wenn das aber Ländern zusammengerechnet wurden, war so wäre, wenn es insgesamt also kaum einen der Unterschied so klein, dass die Autoren Vorteil gibt, bei einigen Sorten aber schon, ihr Ergebnis selbst infrage stellten. Eine Stei- dann müssen andere Sorten dafür verantgerung des Obst- und Gemüsekonsums um wortlich sein, dass dieser Vorteil insgesamt 200 Gramm pro Tag ergab statistisch eine wieder zunichte gemacht wird. Das würde Senkung des Krebsrisikos um gerade einmal logischerweise dann aber auch bedeuten, vier Prozent. Die Autoren schlossen nicht dass manche Früchte oder Gemüse sogar aus, dass andere Einlüsse zu diesem Ergeb- krebsfördernd sein könnten. Und das steht nis geführt haben könnten, dass Obst und in absolutem Widerspruch zu dem, was Gemüse also gar nicht entscheidend waren. lange als »Common sense«, als »gesunder Auf jeden Fall solle das Ergebnis mit Vorsicht Menschenverstand« galt: dass Obst und interpretiert werden. Gemüse ausnahmslos gesund sind. 18 »Gesunder Menshenvertand« …. Woher kommt die Diskrepanz zwischen »gesundem Menschenverstand« und den aktuellen Forschungsergebnissen? Gefördert wird die Kampagne aus Steuergeldern: von der EU und dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wie kann es sein, dass Obst und Gemüse ….kontra Forshungsergebnisse nicht vor Krebs schützen? In den Achtziger- Die wissenschaftliche Grundlage, auf die jahren des letzten Jahrhunderts gab es sich oizielle Stellen bei solchen Kampagimmerhin Schätzungen, dass zwischen zehn nen berufen, war allerdings schon immer und siebzig Prozent aller Krebsfälle mit der eher bescheiden. Positive Ergebnisse, dass Ernährung zusammenhängen. In den Neun- also das Krebsrisiko sinkt, wenn viel Obst zigern wurde mit der Möglichkeit gerech- und Gemüse gegessen wird, lieferten vornet, durch vermehrten Konsum von Obst wiegend sogenannte Fallkontrollstudien. und Gemüse bis zur Hälfte der Erkrankun- Bei denen wurden Krebspatienten (Fall) gen zu verhindern. Es wurden epidemiologi- und gesunde Personen (Kontrolle) rücksche Studien und Programme zur Identiizie- blickend gefragt, wie sie sich denn vor einirung der segensreichen Phytochemikalien, gen Jahren ernährt hatten. Gerade solche der sogenannten sekundären Planzenstofe, Fallkontrollstudien sind als unzuverlässig aufgelegt. Und um die Öfentlichkeit zu bekannt, die Gefahr für methodische Feheinem erhöhten Konsum von Obst und ler ist bei ihnen sehr hoch. Denn der Kranke Gemüse zu bewegen, startete das ameri- meint, sich möglicherweise zu erinnern, vor kanische Krebsinstitut 1991 die Kampagne Jahren zu wenig Obst und Gemüse gegessen »5-a-day«, die dafür warb, fünf Portionen zu haben (sonst wäre er ja nicht krank). Und Obst und Gemüse am Tag zu essen. [503] bei den gesunden Kontrollpersonen handelt es sich in vielen Fällen um sehr gesundFinanziell unterstützt wurde das Programm heitsbewusste Menschen, die nicht nur viel von etwa 60 Unternehmen und InteressenObst und Gemüse essen, sondern auch zum gruppen von Warenherstellern. »5-a-day« Beispiel sportlich sehr aktiv sind und weniwar konzipiert als partnerschaftliche Iniger rauchen. [503] Bessere, weil objektivere tiative der öfentlichen Hand und der ObstErgebnisse liefern die vorausschauenden und Gemüseindustrie. [319] Ein Schwerpunkt Langzeituntersuchungen. Neben der EPICwar die Erziehung der Öfentlichkeit – unter Studie gibt es noch einige andere ähnliche Einbeziehung der Medien, Kirchen, SchuUntersuchungen: [503] In ihnen wurde zuerst len, der Arbeitgeber und der Supermärkte. das Ernährungsmuster der Teilnehmer abgeDabei wurde nichts dem Zufall überlasfragt und später ihr Gesundheitszustand sen. Die Erziehungsmaßnahmen und die ermittelt. Und bei solchen Studien sahen dafür notwendigen Strategien zur Vermittdie Daten dann meist anders aus. Die Autolung und Vermarktung wurden professionell ren der EPIC-Studie etwa verweisen gleich in geplant und durchgeführt – unter Zuhilfeder Einleitung ihrer Publikation darauf, dass nahme verschiedenster Modelle und Theoes trotz beträchtlicher Forschungsaktivitärien aus der Soziologie. Diese massive Kamten keine schlüssigen Belege für die Behauppagne, die in Deutschland seit dem Jahr tung gibt, dass Obst- und Gemüseverzehr 2000 unter dem Namen »5 am Tag« läuft, hat das Risiko einer Krebserkrankung senkt. das Gesundheitsdenken stark beeinlusst und tut dies noch immer. 19 Die EPIC-Studie ist also nicht die einzige pro- und Gemüse« betrachtet. Tatsächlich gab spektive Studie, die keine oder nur schwa- es in der EPIC-Studie Hinweise darauf, dass che oder statistisch nicht signiikante Bezie- Gemüse im Vergleich zu Obst stärker krebshungen zwischen Obst- und Gemüsekon- schützend wirkt. Man könnte etwa vermusum und Krebsrisiko inden konnte. Diese ten, dass der hohe Zuckeranteil mancher neuen Befunde zeigten auch Wirkung: Obstsorten den durchaus möglichen, posiDer Weltkrebsforschungsfonds WCRF hat tiven Efekten spezieller Phytochemikalien mittlerweile seine Einschätzung einer entgegenwirkt. »überzeugenden Evidenz« für die SchutzDas würde durchaus zu vielen der Arguwirkung eines hohen Konsums von Obst mente, die in diesem Buch besprochen werund Gemüse vor bestimmten Krebsarten den, passen. Und wer diesen Argumenten aus dem Jahr 1997 zurückgestuft. Im zweifolgt und zudem die Ergebnisse der Stuten Bericht des WCRF von 2007 gilt die Evidien zu Obst und Gemüse ernst nimmt, denz nur noch als »wahrscheinlich«. Bereits steht auch vor keinem unaulösbaren Wider2003 hatte die Internationale Agentur für spruch, wenn er auf Möhren und Beeren Krebsforschung die Datenlage sogar als nicht verzichten will. Denn es ist möglich, »limitiert« klassiiziert. Aktuelle Publikatiodie täglichen Kohlenhydrate deutlich zu nen zum Thema sollten deshalb heute nicht beschränken und trotzdem einiges an Obst mehr mit den Zahlen und Hofnungen von und Gemüse zu essen. Beides sollte einfach 1997 argumentieren – was aber immer noch nur stärke- oder zuckerarm sein – was für passiert, wie das Beispiel der DGE zeigt. Gemüse eine Riesenauswahl und auch bei Man kann also ziemlich sicher davon aus- Obst noch eine ganze Menge Möglichkeiten gehen, dass der Nutzen von Obst und bedeutet. Zudem zeigen Untersuchungen Gemüse im Hinblick auf Krebserkrankungen wie die EPIC-Studie zumindest einen Vorteil meist deutlich überschätzt wird. Trotz- von Obst und Gemüse, wenn es um die Vordem ist die Vermutung von Walter Willett beugung von Herz-Kreislauf-Krankheiten interessant und bedenkenswert: Er spe- geht. Und im Gegensatz zu den früheren kuliert, dass einzelne Obst- oder Gemüse- amerikanischen Verzehrstudien [319] sollte sorten unter bestimmten Umständen viel- man sicher auch Pommes frites nicht mit zu leicht einen deutlicheren Efekt zeigen, als »Obst und Gemüse« rechnen. wenn man ganz allgemein die Gruppe »Obst Viele Kohlenhydrate – gut für die Gesundheit? Pommes frites gelten bei uns als Sattmacher – sie sind eine der beliebtesten Sättigungsbeilagen und haben einen recht ambivalenten Status. Der Kartofelanteil wird oiziell positiv gesehen, denn der Verzehr der kohlenhydratreichen Kartofeln wird empfohlen – wenn da nicht das Fett 20 wäre, in dem die Kartofeln frittiert werden. Nach Meinung der DGE essen die Deutschen ganz klar zu viel Fett, zu viel Eiweiß und zu wenige Kohlenhydrate. Bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung wird argumentiert, dass wir viele Kohlenhydrate in der Nahrung brauchen. Denn die seien kalorien- arm, in Form von Vollkorngetreideprodukten hätten sie einen hohen, der Gesundheit zuträglichen Ballaststofgehalt und sie sättigten gut. Deshalb solle der Kohlenhydratanteil an der Ernährung mindestens 55 Prozent und besser noch mehr der täglichen Energiemenge betragen. [111] Als Grundlage sollten es pro Tag im Schnitt zusammengenommen etwa ein Pfund Brot und gekochte Kartofeln (oder Nudeln) sein, dazu 400 Gramm Gemüse, am besten aber noch mehr davon. [116] Kohlenhydrate – lieber niht Symptomen des Metabolischen Syndroms, sogar mit Herzschwäche oder Multipler Sklerose, behandelt. Der inzwischen hochbetagt verstorbene Lutz lebte selbst über 45 Jahre lang nach seiner Maxime und hatte seine Erfahrungen mit dieser Ernährung in immer weiter aktualisierten Aulagen seines Buchs »Leben ohne Brot« zusammengefasst (2004 erschien die 16. Aulage). Lutz war auch überzeugt, dass eine kohlenhydratarme Ernährung vor Krebs schützt. Er berichtete etwa 1998 von seinen 36 Patientinnen mit Brustkrebs, dass sich bei ihnen niemals Fernmetastasen entwickelt hätten. [286] Nicht alle, die sich hauptberulich mit der Die Befürworter dieser Ernährung wurden Beziehung zwischen Essen und Trinken und anfangs bestenfalls belächelt, zum Teil aber der Gesundheit beschäftigen, sehen das auch massiv in die Mangel genommen: Der so. Der Ernährungswissenschaftler Nicolai amerikanische Mediziner Robert Atkins Worm etwa stuft den empfohlenen Prozentetwa, Erinder der nach ihm benannten satz als deutlich zu hoch ein und empiehlt, Atkins-Diät, wurde vor den amerikanischen weniger Kohlenhydrate auf den Speisezettel Kongress zitiert und musste dort die von zu schreiben. Er plädiert dafür, erstens nicht ihm propagierte streng kohlenhydratarme mehr als 120 bis 130 Gramm Kohlenhydrate Ernährungsform verteidigen. Die schweditäglich zu essen und zweitens bei der Aussche Ärztin Annika Dahlqvist verlor sogar wahl darauf zu achten, dass keine starken ihre Stelle, weil sie ihre diabeteskranken PatiBlutzucker- und Insulinschwankungen durch enten kohlenhydratarm behandelt hatte. die verzehrten Kohlenhydrate im Körper Später wurde sie von der höchsten schweausgelöst werden. Sein Konzept ist bekannt dischen Gesundheitsbehörde voll rehabilials LOGI-Ernährung. Worm verweist auf eine tiert. [290] Weltweit mehren sich seit Jahren Vielzahl von Studien, die belegen, dass ein die Argumente für eine allgemein günstige geringerer Kohlenhydratanteil in der NahWirkung einer kohlenhydratarmen Ernährung günstig ist: Damit verbessern sich eine rung auf die Gesundheit. ganze Reihe von Blutwerten, die das mögliche Risiko für die Entwicklung verschiedener Inzwischen rückt auch die schon zu Beginn Zivilisationskrankheiten wie etwa Überge- des 20. Jahrhunderts verbreitete Ansicht, wicht, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkran- dass eine kohlenhydratarme Ernährung kungen anzeigen. [509] gerade bei der Behandlung von Krebserkrankungen hilfreich sei, wieder ins wisSchon seit den Sechzigerjahren des letzsenschaftliche und medizinisch-klinische ten Jahrhunderts [285] hatte der österreichiInteresse. Das liegt vor allem an einer Renaissche Mediziner Wolfgang Lutz über Jahrsance der Forschung zum Stofwechsel von zehnte erfolgreich mit kohlenhydratarmer Tumoren und der wiederentdeckten BedeuErnährung Menschen mit Erkrankungen des tung der Kohlenhydrate für Krebszellen. Hier Magen-Darm-Traktes, aber auch der Galle gibt es mittlerweile eine Fülle von Daten, die und Leber, mit Bluthochdruck und anderen nahelegen, dass eine streng kohlenhydrat- 21 arme Ernährung sowohl zur Vorbeugung lichen Entwicklungsgeschichte nicht oder als auch zur Therapie von Krebs sinnvoll sein kaum. Das gilt sogar noch heute mancherkönnte. Und entgegen der landläuigen Mei- orts generell, anderswo zumindest zeitweise, nung werden damit dem Körper keine not- und eigentlich jeder Mensch gerät ab und zu oder gar regelmäßig in einen Zustand, in wendigen Nährstofe vorenthalten. dem seine Nahrungskohlenhydrate vollständig aufgebraucht sind. Deshalb sichert der Kohlenhydrate – Nahrung für das Körper die Versorgung seiner wirklich glukoGehirn? Oft liest man, dass unser Gehirn eine koh- seabhängigen Zellen bei Bedarf über Eigenlenhydratreiche Ernährung braucht, sonst produktion – ganz genau so, wie in einem würde es nicht mit ausreichend Energie ver- Betrieb wichtige Stromkreisläufe durch ein sorgt. Die Energieversorgung des mensch- Notstromaggregat abgesichert sind und lichen Gehirns funktioniert aber auch dann weiterlaufen, wenn mal der Strom ausfällt. bestens, wenn man sich kohlenhydratarm Für den Körper heißt das: Er ist auf Kohlenernährt. Bei einer kohlenhydratreichen Kost hydrate in der Nahrung tatsächlich gar deckt es seinen Energiebedarf tatsächlich nicht angewiesen. Ein Nahrungsbestandbevorzugt mit Traubenzucker, der aus den teil sollte in erster Linie als gesund bezeichverspeisten Kohlenhydraten hergestellt wird. net werden, wenn er für den Organismus unverzichtbar ist oder zumindest mehr VorDoch es kann durchaus auch anders. teile als Nachteile bringt. Genau das trift auf Damit unsere Zellen die Kohlenhydrate Kohlenhydrate nicht zu. Im Gegensatz zu unserer Nahrung verwerten können, werProtein und Fett brauchen wir sie nicht, sie den sie im Körper bei der Verdauung sind nicht lebensnotwendig, nicht essenzizuerst in ihre Bestandteile zerlegt. Ein ell. Und was die angeblichen Vorteile angeht, Hauptbaustein der Kohlenhydrate, die wir dazu steht in diesem Buch einiges zu lesen. essen, ist Traubenzucker, der auch als Glukose bezeichnet wird (Näheres zu KohlenKohlenhydrate weglassen – kein hydraten, Zucker und Glukose im Anhang). Problem Die bei der Verdauung freigesetzte Glukose Sobald wir keine Kohlenhydrate, dafür aber landet im Blut. Sie ist der Blutzucker, der Fett und Eiweiß essen, verbraucht unser Körunsere Zellen mit Energie beliefert. Einige per zuerst die gespeicherte Glukose. Danach Zelltypen, beispielsweise die roten Blutkörstellt er alle benötigte Glukose selbst her. perchen, sind für ihre Energieversorgung Das geschieht im Prozess der sogenanntatsächlich strikt auf Glukose angewiesen. ten Glukoneogenese. Unsere Leber und Sie können mit nichts anderem arbeiten. die Nieren übernehmen diese Aufgabe. Sie Der weitaus größte Teil unserer Körperzellen, wandeln unter anderem einzelne Eiweißdarunter auch die meisten unserer Gehirnbausteine (Aminosäuren) in Glukose um zellen, gehört aber nicht dazu. und versorgen damit diejenigen Zellen, Sich darauf zu verlassen, dass ständig Koh- die Glukose unbedingt benötigen – wie lenhydrate verfügbar sind und gegessen etwa die roten Blutkörperchen. Die andewerden können, um die Versorgung der glu- ren Zellen nutzen Fettsäuren oder andere koseabhängigen Zellen zu sichern, wäre für Energieträger, die sogenannten Ketonkörden menschlichen Körper auch schlicht viel per. Diese, weil sie chemisch gesehen meist zu riskant. Denn kohlenhydratreiche Kost Säureeigenschaften haben, manchmal auch gab es während langer Zeiten der mensch- Ketonsäuren genannten Moleküle werden 22 von der Leber bei einer fettreichen, kohlenhydratarmen Ernährung aus dem Nahrungsfett produziert. Die Ketonkörper gaben dem speziellen Stofwechselzustand, der sich bei einer solchen Ernährung einstellt, auch seinen Namen: Der Körper ist dann in der Ketose. Eine Nahrungszusammenstellung, die diese Ketose hervorruft, wird als ketogene Ernährung bezeichnet (Abbildung 1). ERNÄHRUNGSZUSAMMENSTELLUNG Energieprozente Eiweiß Kohlenhydrate Fett 20 % 10 % 20 % 60 % 40 % 5 % 30 % 40 % 75 % Dass eine solche Nahrungsauswahl nicht völlig wider die menschliche Natur und unser Körper im Gegenteil sehr gut daran »Normalkost« (DGE) »Normalkost« Ketogene Ernährung angepasst ist, zeigt auch die Tatsache, dass wir schon als Kleinkinder bestens mit KetonAbbildung 1: Fett und Eiweiß decken den Energiebedarf bei der ketogenen körpern zurechtkommen. Was gibt es Natür- Ernährung, Kohlenhydrate spielen kaum eine Rolle. Die Deutsche Gesellschaft licheres und Besseres, als sein neugeborenes für Ernährung (DGE) empiehlt dagegen viele Kohlenhydrate, wenig Eiweiß wenig Fett. Dazwischen die übliche Ernährung des bundesdeutschen Kind zu stillen? Gerade gestillte Neugebo- und Durchschnittsbürgers. rene sind allerdings in der Ketose: Die erste Muttermilch, das Kolostrum, ist fettreich und vergleichsweise kohlenhydratarm, ein damit Wenn man sich also dazu entschließt, die gestilltes Baby wird ketogen ernährt. So sor- heutige, extrem kohlenhydratlastige Zivilisagen Mutter und Mutter Natur dafür, dass der tionskost aufzugeben und dafür seinen HunMensch »seinen Eintritt in die Gesellschaft ger mit Eiweiß und Fett zu stillen, kehrt man mit einer Atkins-Diät startet«. [67] Die aus dem letztlich zu einer Ernährungsform zurück, Milchzucker der späteren Muttermilch stam- mit der Menschen Hunderttausende von mende Glukose dient dem Körper des Babys Jahren gut gelebt haben. Trotzdem gelten zusammen mit den Proteinen aus der Milch die dann vermehrt im Körper gebildeten vorwiegend als Baustein für Wachstumspro- Ketonkörper heute noch vielerorts als die zesse. Die aus dem Milchfett hergestellten »hässlichen Entlein des Stofwechsels«. [464] Ketonkörper übernehmen größtenteils die Das ist ein trefendes Bild – auch für die vielAufgabe des Brennstolieferanten. [206] fach anzutrefende mangelnde Akzeptanz ihrer Rolle im menschlichen Organismus. Samstag, 14. April 12 Ketonkörper – die hässlihen Entlein des Stofwehsels Man kann hier den Eindruck bekommen, dass sich seit 150 Jahren nicht viel geändert Die Ketose war über eine sehr lange Zeit der hat. Damals sind erstmals Ketonkörper im Menschheitsgeschichte nicht nur bei NeuUrin von Diabetikern entdeckt worden und geborenen der Normalzustand des menschgalten als »abnormale und unerwünschte« lichen Stofwechsels. Jäger und Sammler Nebenprodukte einer unvollständigen Fetternährten sich hauptsächlich von Tieren und verbrennung. Und tatsächlich können sie nicht sonderlich kohlenhydratreichen Planfür insulinplichtige Diabetiker eine Gefahr zenteilen. Und lange Hungerperioden, die darstellen, allerdings auch nur dann, wenn ebenfalls in die Ketose führen, kamen auch sie zu wenig Insulin spritzen: Unter Insulinimmer wieder vor. mangel werden Ketonkörper unkontrolliert gebildet und führen dann, in sehr hoher 23 Konzentration, zur sogenannten Ketoazi- gerzeit viel länger überstehen. Normalgedose (es gibt sehr seltene weitere Kontrain- wichtige Menschen überleben dann gut dikationen, siehe Anhang). Bei Gesunden, zwei Monate lang und fettleibige Mendie sich ketogen ernähren, oder auch bei schen sogar bis zu einem Jahr. [65] Für das FasFastenden sind die Ketonkörpermengen im ten, das freiwillige Hungern, gilt das GleiBlut im Vergleich zur pathologischen diabe- che: Ohne Ketonkörper wäre es unmöglich. tischen Ketoazidose etwa zehnmal niedriger. Niemand könnte regelmäßig fasten, wenn Dann sind sie, soweit bekannt, völlig unge- Ketonkörper tatsächlich gefährlich wären. fährlich und sogar überaus nützlich. Ketonkörper – gute Medizin Die Menschheit hätte sich ohne Ketonkörper Die Metamorphose des hässlichen Entleins gar nicht entwickeln können. Auf jeden Fall läuteten die zwei renommierten Mediziner könnte kein Mensch dieses Buch lesen, denn und Biochemiker George Cahill und Richard dafür ist das große menschliche Gehirn mit Veech im Jahr 2003 ein. Sie legten in einer seinem enormen Energieverbrauch unabFachzeitschrift dar, warum Ketonkörper gut dingbar. [65] Der hohe Energiebedarf des für unsere Gesundheit sind. Der damals und Gehirns muss auch in Hungerzeiten gedeckt für manche noch heute provokante Titel lauwerden und es sind vor allem die Ketonkörtete: »Ketonsäuren? Gute Medizin?«. [66] Ihre per, die diese Aufgabe übernehmen. Fett Argumentation: Ketonkörper sind nicht nur selbst kommt dafür nicht infrage, denn ein Ersatztreibstof unter widrigen Bedindas Gehirn kann Fett wegen der Blut-Hirngungen, sondern sie sind ein »SupertreibSchranke nur begrenzt aufnehmen. Glukose stof« mit besonderen Vorteilen. Die Enerwiederum kann der Körper zwar selbst hergieeizienz ist besonders hoch, die Energiestellen, aber nicht in ausreichender Menge. ausbeute passt optimal zum Energiebedarf Damit ermöglichen die Ketonkörper, dass der Zellen. Außerdem verbrennen Ketonder Mensch auch längere Hungerzeiten körper in den Zellkraftwerken, den sogeüberlebt. Wäre unser energiehungriges nannten Mitochondrien, einfacher und sauGehirn nicht in der Lage, Ketonkörper und berer als andere Energielieferanten und es damit indirekt die Fettreserven des Kör- fallen weniger Abfallprodukte an. [66] Diese pers zu nutzen, müsste während einer Hun- Abfallprodukte, die »freien Radikale«, köngerzeit enorm viel Glukose hergestellt wer- nen in Zellen schwere Schäden anrichten. den. Die Leber und die Nieren können aber Wenn man Ketonkörper verbrennt, ist also dafür fast nur das Eiweiß der Muskeln nut- von vornherein das Risiko niedriger, dass zen. Die Folgen wären dramatisch. Men- Zellen durch freie Radikale geschädigt werschen würden binnen kürzester Zeit an Mus- den. Bei konventioneller Kost wird dagekelschwund sterben – ein junger Mann wäre gen normalerweise eine Ernährung mit viein etwa zehn Tagen tot. [468] len Antioxidantien angeraten, um die freien Radikale abzufangen. Experimente haben Bei einem hungernden Erwachsenen stellt gezeigt, dass Ketonkörper-Brennstof gut für sich die Ketose aber innerhalb weniger Zellen, Organe und Organismen ist: So konTage ein, bei Kindern schon innerhalb eines trahieren Herzen stärker und verbrauchen Tages [67] (siehe auch Kapitel 6). Die damit eindabei weniger Sauerstof, Nervenzellen sind hergehende Umschaltung des Gehirns auf besser vor Giften geschützt, Lungenzellen die Nutzung von Ketonkörpern als Hauptüberleben länger einen starken Blutverlust energiequelle verlangsamt den Muskelabdes Körpers. Mäuse in Ketose überleben bau dramatisch und man kann eine Hunsogar länger ohne Sauerstof. [66] 24 Inzwischen gibt es neue präklinische und klinische Studien, die immer deutlicher für Ketonkörper als »gute Medizin« bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen sprechen. So verändert sich bei Patienten mit Alzheimer-Erkrankung schon in sehr frühen Stadien der Zuckerstofwechsel in den Hirnbereichen, die später zerstört werden. [97] Hier könnten Ketonkörper hilfreich sein: Im Tiermodell zumindest reduzierte eine ketogene Ernährung die Eiweißablagerungen im Gehirn, die bei Alzheimer-Patienten auftreten. [460] Für Menschen, die an Alzheimer leiden, hat die Firma Accera das Medikament Axona (TM) entwickelt, das den Ketonkörperspiegel auch ohne eine strikt ketogene Diät erhöht. In einer klinischen Studie nach anspruchsvollsten Kriterien (»randomisiert, doppelblind, placebokontrolliert, multizentrisch«, siehe Glossar) gab es positive Efekte bei Patienten mit milden bis moderaten Krankheitsbildern. Weniger deutlich war der Vorteil bei Patienten mit einem genetisch bedingten, höheren Erkrankungsrisiko, bei Trägern der APOE4-Genvariante. [204] Bei der Behandlung von Epilepsie – vor allem bei Kindern – gehört die ketogene Diät zum Standardrepertoire gerade dann, wenn Patienten auf Medikamente nicht ansprechen. Im Vergleich zu einzelnen Wirkstofen ist die ketogene Ernährung sogar das erfolgreichste Therapeutikum. Zu diesem Thema sind Dutzende klinische Versuche durchgeführt und publiziert worden. [152] Fachsprache als »Metabolisches Syndrom« bezeichnet. Hier wirkt sich eine kohlenhydratarme, ketogene Ernährung ebenfalls positiv aus. [209] Für eine ketogene Ernährung gibt es die verschiedensten Varianten. Eine in der wissenschaftlichen Literatur neuere davon ist die »spanische ketogene mediterrane Diät« mit viel Olivenöl, Fisch, Rotwein, grünem Gemüse und Salat. [353] Bei übergewichtigen Probanden führte sie nach zwölf Wochen zu einem deutlichen Gewichtsverlust, gesenkten Blutzuckerwerten, niedrigerem Blutdruck und einer Verbesserung aller Blutfettwerte. Es kam also zu einer Linderung der klassischen Symptome des Metabolischen Syndroms – ganz ohne Kalorienbeschränkung übrigens. In einer anderen Versuchsgruppe waren alle Teilnehmer mit einem nach oiziellen Kriterien deinierten Metabolischen Syndrom nach zwölf Wochen »geheilt«. [354] Ein weiteres potenzielles Problem beim Metabolischen Syndrom ist die Bildung einer Fettleber – auch hier brachte die ketogene Diät eine Verbesserung. [355] Ein dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel führt auch zu Erkrankungen der Gefäße, die bis zum Absterben von Gliedmaßen, zur Erblindung und zu Nierenschäden führen können. Eine zweimonatige ketogene Diät führte in einer Studie mit diabetischen Mäusen dazu, dass sich ein gefäßbedingter funktioneller Nierenschaden wieder zurückentwickelte. [362] Ob ein derartiger Efekt auch bei Menschen erzielt werden kann, ist noch nicht untersucht worden. In anderen Situationen geht es aber gar nicht so sehr um die Versorgung mit Ketonkörpern, sondern vielmehr um die VermeiKetonkörper sind also mit ziemlicher Sicherdung von erhöhten Blutzucker- und Insulinheit nicht gefährlich, sondern viel eher eine werten. Das ist besonders wichtig bei Diabessere Alternative zum normalen Energiebetes und dem Vorläufer des Altersdiabetes, lieferanten Glukose. Aus dem hässlichen Entder sogenannten Insulinresistenz. Letztere lein des Stofwechsels ist ein wunderschöner tritt oft zusammen mit Fettleibigkeit, BlutSchwan geworden. hochdruck und problematischen Blutfettwerten auf. Diese Konstellation wird in der 25 In die Ketose mit viel Fet und genug Eiweiß Damit Ketonkörper ihre positiven Wirkun- Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Im Lauf der gen entfalten können, müssen die Kohlen- Zeit entwickelte sich aber ein Dogma darhydrate in der Nahrung weitgehend durch aus, das auch auf andere Krankheiten ausFett ersetzt werden. Nur aus Fett kann die geweitet wurde und die Wissenschaft über Leber die Ketonkörper herstellen, die unser Jahrzehnte dominierte. [444] Untersuchungen, Gehirn bei ketogener Ernährung mit Energie die zu ganz anderen Resultaten kamen, gab beliefern. es zwar immer wieder, sie wurden jedoch schlicht nicht beachtet. Allerdings sind in Nun argumentieren aber die Fachgesellden letzten Jahren etliche weitere Studien schaften für Ernährung weltweit, dass man durchgeführt und veröfentlicht worden. Sie zwar viele Kohlenhydrate, aber nur sehr einhaben die Befürchtungen bei Nahrungsfetgeschränkt Fett, vor allem wenig tierisches ten widerlegt. Das Dogma gerät nun doch Fett, und auch eher maßvoll Eiweiß konsuins Wanken. [179] mieren sollte. [111] Zu viel Fett in der Nahrung soll zu Übergewicht führen und das Risiko Viel Fet … für eine ganze Reihe von Krankheiten erhöBei den meisten dieser Studien ging es vorhen. So warnt die DGE auf ihrer Website, rangig darum, die Wirksamkeit einer ketoFett sei der »Dickmacher Nummer eins« [114] genen oder kohlenhydratreduzierten Ernähund weist auf weitere Gefahren fettreichen rung für eine Gewichtsreduktion zu prüfen. Essens hin: »Übergewicht, Herz-KreislaufOizielle Stellen warnen heute noch davor, Erkrankungen, Arteriosklerose, Herzinfarkt, dass man damit zwar vielleicht kurzfristig Schlaganfall und Stofwechselerkrankunabnehmen könne, sich bestimmte Blutwerte gen« sind angeblich »die möglichen Foljedoch verschlechterten und man letztlich gen. Eine große Menge Nahrungsfett förseine Gesundheit gefährde. Das kann allerdert« demnach außerdem »das Risiko für die dings, wenn man den wissenschaftlichen Entstehung von Krebs, insbesondere DickDaten glaubt, nicht stimmen. darmkrebs, Brustkrebs, Gebärmutterkrebs und Prostatakrebs. Die verschiedenen Fett- Ganz im Gegenteil ergaben inzwischen viele arten (mit gesättigten, einfach und mehr- Studien, dass eine kohlenhydratarme, fettfach ungesättigten Fettsäuren) haben«, so haltige Diät positiv wirkt: Gesunde, überdie DGE weiter, »wahrscheinlich einen unter- gewichtige bis fettleibige amerikanische schiedlichen Einluss darauf.«. [115] Frauen nahmen damit ab. Ihre Blutwerte, beispielsweise der Triglyzeridspiegel und Man sollte erwarten dürfen, dass solche der HDL-Cholesterinwert, verbesserten Aussagen auf einer aktuellen, seriösen und sich. [167] Fettleibige, zum Teil prädiabetische sorgsam durchgeführten Wissenschaft als kuwaitische Bürger mit hohem BlutzuckerGrundlage beruhen. Doch nicht nur die Jahspiegel speckten mit ketogener Ernährung reszahl 1999, mit der die DGE-Hinweise auf ab. Alle erfassten Blutwerte veränderten sich der aktuellen Website gekennzeichnet sind, bei ihnen zum Positiven. [101] lässt daran zweifeln. Die bis heute weitverbreitete Ansicht, dass Fett und vor allem tie- Auch übergewichtige amerikanische Diaberisches Fett gesundheitsschädlich sei, wurde tiker nahmen ab und hatten bessere Blutin den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhun- werte für die Triglyzeridmenge im Nüchternderts populär. Ursprünglich galt sie nur für zustand. Der für Diabetiker wichtige Blut- 26 wert HbA1c verbesserte sich so stark, dass sei zu dem Schluss gekommen, »dass es viele Teilnehmer ihre Medikation verringern nur eingeschränkt Indizien dafür gibt, dass oder gar absetzen konnten. [510] Nur bei einer eine relativ fett- und ölreiche Ernährung extrem strengen Form der ketogenen Diät, (sowohl bezüglich des Gesamtfettgehalts als wie sie zur Behandlung von Epilepsiekran- auch der Fettart) per se irgendeine Art von ken angewendet wird (der Fettanteil beträgt Krebs verursacht. Diese Bewertung steht im bis zu 90 Prozent der Gesamtkalorien), kann Gegensatz zu der einiger früherer Berichte, es zu Beginn der Therapie zu Verstopfung in denen aufgrund der damals verfügbaren und erhöhten Blutfettwerten kommen. [151] Hinweise geschlossen wurde, dass fett- und Selbst die normalisieren sich aber nach einer ölreiche Ernährung in erheblichem Maß die Entstehung bestimmter Krebserkrankungen gewissen Zeit wieder. [251] mitverursachen könnte.«. [508] Interessant ist auch eine Untersuchung eines internationalen Teams von Forschern aus Es ist hier also das Gleiche passiert wie bei Israel, Deutschland und den USA mit Hun- der Einschätzung von Obst und Gemüderten von Freiwilligen. Eine Gruppe über- severzehr und möglicher Schutzwirkung gewichtiger Probanden ernährte sich dabei vor Krebs: Die Datenlage hat sich geänganze zwei Jahre lang kohlenhydratarm, dert, der WCRF hat seine Einschätzung entzwei andere Gruppen bekamen zwei ver- sprechend angepasst. Die DGE, Deutschschiedene kalorienreduzierte Diäten. [411] Die lands wichtigste Institution in ErnährungsTeilnehmer nahmen mit der kohlenhydrat- fragen, hat das bislang noch nicht getan. Sie armen Kost am besten ab. Auch ihre Blut- verschweigt damit wichtige, wissenschaftwerte verbesserten sich deutlich: Obwohl sie lich anerkannte Gesundheitsinformationen prozentual mehr Cholesterin und Fett, und und propagiert stattdessen etwas, wofür es sogar mehr gesättigtes Fett, als die Mitglie- keine Basis mehr gibt. der der beiden anderen Gruppen verzehrten, erhöhte sich die Menge des »guten« HDL… und genug Eiweiß Cholesterins im Blut. Umgekehrt sank der Der zweite essenzielle Bestandteil der ketoTriglyzeridspiegel genauso wie die Menge genen Ernährung ist das Eiweiß. Hier gehen eines Proteins, das Entzündungen anzeigt. die Ansichten, wie viel denn nun »genug« ist, Auch der HbA1c-Wert war deutlich erniedrigt. durchaus auseinander. Die DGE hält einen Eiweißanteil von acht bis zehn Prozent der täglichen Gesamtenergie bei gesunden erwachsenen Personen für ausreichend. Das entspricht etwa einer Menge von 0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag. [111] Tatsächlich essen etwa deutsche Bundesbürger im Schnitt mehr Eiweiß. Der Anteil liegt bei etwa Und wie steht es um das erhöhte Risiko für 16 Prozent der gesamten Energie. [112] Damit Krebserkrankungen, vor dem die DGE mit so stehen die Deutschen beileibe nicht allein klaren Worten warnt? Auch hier hat sich die da. Auch in anderen westlichen IndustrieErkenntnislage inzwischen deutlich geännationen liegen die Verhältnisse ähnlich. [203] dert: Im zweiten Bericht des WCRF aus dem Jahr 2007 steht nun zu lesen, das Gremium Aus den Ergebnissen dieser Studie zogen die Forscher, die übrigens allesamt zum medizinischen Establishment gehören, folgendes Resümee: Eine kohlenhydratarme Ernährung ist nicht nur zur Gewichtsabnahme geeignet, sondern bringt darüber hinaus gesundheitliche Vorteile. 27 Es ist allerdings nicht klar, ob ein höherer Obwohl vermutlich niemand den GänsebraEiweißkonsum als von der DGE empfohlen ten, das Kalbsschnitzel oder die Leberwurst tatsächlich schadet. Und die DGE beharrt als Vitaminbomben bezeichnen würde, ist auch gar nicht strikt auf ihrer Empfehlung, es tatsächlich so, dass eigentlich alle Vitarät aber an, einen Wert von 20 Prozent nicht mine ausreichend in Fleisch und Fleischprozu überschreiten, also nicht mehr als zwei dukten enthalten sind. [130] In planzlichen Gramm Eiweiß pro Kilogramm Körperge- Nahrungsmitteln sind dagegen manche Vitwicht und Tag zu essen. [111] Andere oizi- amine gar nicht zu inden. Auf Kreta hat deselle Stellen, zum Beispiel die amerikanische halb ein griechisches Gericht entschieden, Fachgesellschaft Food and Nutrition Board, dass reine Vegetarier ein Kind nicht adoptieschätzen selbst diesen Wert nicht als kritisch ren dürfen – mit der Begründung, sie könnein. Sie hält beispielsweise in ihren aktuel- ten keine gesunde, kindgerechte Ernährung len Richtlinien einen Eiweißanteil von bis zu garantieren. [428] 34 Prozent der täglichen Gesamtenergie für akzeptabel. [457] Gutes Fleish, shlehtes Fleish? Es gibt jedoch auch Bedenken gegen einen Auch traditionell lebende Jäger- und Sammhohen Konsum von Fleisch, besonders von lergesellschaften verzehren bis zu 35 Prorotem Fleisch, also etwa von Rind, Schwein, zent ihres Energiebedarfs als Eiweiß. [89] Und Lamm und Ziege. Diese Fleischsorten stewas einen an Krebs erkrankten Menschen hen genau wie industriell verarbeitetes betrift: Er braucht sogar auf jeden Fall mehr Fleisch im Verdacht, das Risiko für die EntProtein als die von der DGE für einen Gesunstehung von Dickdarmkrebs zu erhöhen. den mit 0,8 Gramm pro Kilogramm KörperDeshalb warnt die DGE vor einem hohen gewicht und Tag als ausreichend empfohFleischkonsum und empiehlt, pro Woche lene Menge. Aufgrund klinischer Studien nicht mehr als 300 bis 600 Gramm Fleisch liegen die Schätzungen hier bei einem Minund Wurst zu essen. [117] Auch der WCRF destbedarf von etwa 1,4 Gramm pro Kilobetrachtet die Evidenz, dass rotes und vergramm Körpergewicht pro Tag. [215] Diese arbeitetes Fleisch mit der Entstehung von Menge gilt es bei der Ernährung also minDickdarmkrebs zusammenhängen könnte, destens zu erreichen. als »überzeugend«. [508] Wie man seinen Eiweißbedarf deckt, ob Verschiedene Wissenschaftler kritisieren eher aus tierischen (beispielsweise Milch, diese Einschätzung des WCRF. Sie bemänMilchprodukte, Fleisch) oder planzlichen geln, dass in die Analyse eines möglichen (etwa Soja, Weizenprotein) Quellen, ist Zusammenhangs Studien nicht eingelossen eine persönliche Entscheidung. Es sollte seien, die einen solchen Zusammenhang aber aus gesundheitlicher Sicht gewähreher unwahrscheinlich machen. [455] leistet sein, dass tatsächlich alle lebensnotwendigen Aminosäuren in ausreichender Insgesamt ist die Studienlage ziemlich Menge konsumiert werden. Einige Argu- uneinheitlich: Es gibt Untersuchungen, die mente gibt es allerdings, die dafür sprechen, ein erhöhtes relatives Risiko bei hohem auch Fleisch zu essen. Über die Versorgung Fleischkonsum zeigen. [83] Diese sind teils stamit den essenziellen Aminosäuren hinaus tistisch signiikant (um etwa 10 bis 20 Prosichert der Verzehr von Fleisch beispiels- zent erhöhtes Risiko), teils nicht. Umgekehrt weise auch die Zufuhr von Vitaminen und gibt es Studien, die jene erhöhte KrebsgeSpurenelementen. fahr gar nicht inden. [5] Interessanterweise 28 scheint hier das Studienland eine Rolle zu spielen: Daten aus Nordamerika sprechen eher für einen Zusammenhang von Fleischkonsum und Dickdarmkrebs. Europäische Studien inden diesen Zusammenhang weniger häuig. In Australien ist sogar ein verringertes Risiko festgestellt worden: Australier mit dem höchsten Fleischkonsum hatten ein um 20 Prozent niedrigeres Risiko – was gegen die Fleischmenge als vermutetem Risikofaktor sprechen würde. Schließlich essen Australier im Schnitt enorm viel Fleisch – mehr als Nordamerikaner und diese wiederum mehr als die Europäer. [440] Vielleicht muss man die Ursache für diesen Datenwirrwarr in den Ställen suchen. In Nordamerika werden die meisten Rinder mit Kraftfutter, vor allem Mais und Soja, gemästet. In den USA wurde die Mast innerhalb der letzten gut 150 Jahre dramatisch beschleunigt – von Weidehaltung und Schlachtung der Tiere im Alter von vier bis fünf Jahren bis zur heutigen Turbo-Getreidemästung (inklusive Hormongaben) und Schlachtung der dann über eine halbe Tonne schweren Tiere schon mit 14 Monaten. [91] In Australien dagegen werden Rinder immer noch überwiegend traditionell und artgerecht in Weidehaltung mit Grasfütterung großgezogen. Und die Fütterung hat einen klaren Efekt auf die Fettzusammensetzung im Fleisch der Tiere: Die Weidehaltung ergibt ein deutlich günstigeres Fettproil, das eher dem von Wildtieren ähnelt, mit einem sehr guten, niedrigen Verhältnis von ungünstigen Omega-6-Fettsäuren zu den gesundheitsfördernden Omega-3-Fettsäuren. Auch der Gesamtfettgehalt ist niedriger als bei Mastrindern. [388] Der amerikanische Wissenschaftler und Verfechter einer »SteinzeitErnährung«, Loren Cordain, hält diese bei Masttieren veränderte, ungünstige Fettzusammensetzung mit deutlich mehr Omega6-Fettsäuren als Omega-3-Fettsäuren für mitverantwortlich für die Zunahme der heutigen Zivilisationskrankheiten. [91] Eine andere oder zusätzliche mögliche Erklärung wäre das Zusammenspiel mit weiteren Nahrungsmitteln, die potenziell krebserregende Efekte von Fleisch verhindern könnten. So wird etwa eine als ungünstig vermutete Wirkung des hohen Eisengehalts im roten Fleisch durch Kalzium, Vitamin E oder manche Kräuter verhindert. [94] Gerade Eisen ist aber auch lebensnotwendig, und besonders Krebspatienten leiden oft unter Eisenmangel und bekommen deshalb Eisenpräparate. Möglicherweise kommt es also auch darauf an, wie das Fleisch zubereitet wird und mit welchen Lebensmitteln man es kombiniert. Diese Aufassung vertritt auch der Mediziner und Leiter des Instituts für Biologische Chemie und Ernährungswissenschaft der Universität Hohenheim, Hans Biesalski. Er sieht Fleisch als Bestandteil einer gesunden Ernährung. [39] Damit werde die Versorgung mit Nährstofen gesichert, die hauptsächlich oder sogar nur in Fleisch enthalten oder die besonders im Fleisch gut bioverfügbar sind. Neben Eisen zählen dazu unter anderem die Vitamine A und B12 und auch Zink, Selen und Folsäure. Obwohl etwa Folsäure auch in Planzen vorkommt, ist seine Bioverfügbarkeit aus Fleisch besser. Wenn man sich also dafür entscheidet, seine Eiweißversorgung auch mit rotem Fleisch zu decken, versorgt man sich mit einer ganzen Reihe von guten, notwendigen Nährstofen. Und die erwähnten Hinweise darauf, dass Fleisch nicht gleich Fleisch ist, legen nahe, gut auszuwählen: Ganz unabhängig vom ethischen Aspekt erscheint es auch aus gesundheitlichen Gründen sinnvoll, Fleisch von artgerecht gehaltenen Tieren zu verspeisen, also etwa von Rindern, die mit Gras und Heu gefüttert wurden. 29 DER TEUFELSKREIS DER KACHEXIE und die Auswege daraus KRAFTTRAINING, ANGEPASSTE ERNÄHRUNG, SONNE B EG Ü N STI GT REDUZIERUNG (OPERATION), SCHWÄCHUNG DES TUMOR GEWEBES (KLASSISCHE THERAPIE) MUSKELABBAU UND GESCHWÄCHTE IMMUN ABWEHR KREBSKRANKHEIT IGT BE GT B I Ü EG ST NST GÜ N MANGELERNÄHRUNG ANGEPASSTE ERNÄHRUNG Abbildung 2: Der Teufelskreis der Kachexie und die Auswege daraus. Klassische Therapien wie Operation, Chemotherapie und Bestrahlung verringern die Tumorlast. Eine frühzeitige Ernährungstherapie, an den Stofwechsel des Patienten angepasst, verhindert Mangelernährung. Sport und Krafttraining erhalten die Muskulatur und Sonne hilft, ausreichend Vitamin D zu bilden. Für Krebpatienten: Energie, aber niht für den Tumor Der Internist Eggert Holm, vor seiner Emeri- Tumorausbreitung möglichst früh und mit tierung am Klinikum der Universität Heidel- mehreren Methoden entgegenzuwirken.« berg tätig, empiehlt in seinem Lehrbuch Dieser lebensbedrohliche körperliche Ver»Stofwechsel und Ernährung bei Tumor- fall, die Kachexie, ist gekennzeichnet durch krankheiten: Analysen und Empfehlun- Blutarmut, Appetitverlust und Mangelernähgen«, [215] schon früh nach der Diagnose eine rung, Schwäche, ein angegrifenes ImmunErnährung mit viel Fett und Eiweiß und ent- system und eine starke Gewichtsabnahme. sprechend wenigen Kohlenhydraten. Holm Bei kachektischen Patienten werden nicht schreibt: »Vorrang hat dabei die Zielsetzung, nur die Fettreserven aufgebraucht, auch die dem drohenden körperlichen Verfall und der Muskelmasse ist dramatisch verringert, [141] 30 weil Muskeleiweiß abgebaut wird. Schnelle Erschöpfung selbst bei geringer körperlicher Betätigung ist die Folge. Die einzelnen Vorgänge können sich gegenseitig begünstigen. Die Mangelernährung verstärkt etwa den Muskelabbau, die geschwächte Immunabwehr kann das Krebswachstum nicht eindämmen (Abbildung 2). Hier droht tatsächlich ein Teufelskreis, den es zu verhindern oder zu durchbrechen gilt. tern der konventionellen Ernährungszusammenstellung, der sogenannten »gesteuerten Wunsch- und Mischkost« mit vielen Kohlenhydraten, wenig Fett und ausreichend Eiweiß, Verweise auf den höheren Fettbedarf von Tumorpatienten. Sie empfehlen nun, dass Fett mehr als 35 Prozent der Gesamtenergie ausmachen sollte. Selbst das reicht allerdings laut Holm keineswegs aus, um eine auf die Bedürfnisse des Tumorpatienten angepasste Ernährung sicherzustellen. [215] Auch die Fettart hält Holm für mit entscheidend: Gerade gesättigte Fette wie Butter, Schmalz und Kokosfett sowie Fette mit vielen mehrfach ungesättigten, antientzündlich wirkenden Omega-3-Fettsäuren wie etwa Leinöl sollen den Hauptteil ausmachen. Umgekehrt sollten Fette mit einem vergleichsweise hohen Gehalt an Omega6-Fettsäuren (vor allem Linolsäure), wie etwa in Sonnenblumen-, Maiskeim- oder Sojaöl enthalten, nur »sparsam« eingesetzt werden[215] (siehe Kapitel 7). Um die Kachexie zu verhindern, eignet sich eine fett- und eiweißreiche, dafür kohlenhydratarme Kost besser als die kohlenhydratreiche Standardernährung. Das ergaben mehrere klinische Studien mit mangelernährten Patienten. Die Erkrankten nehmen meist nicht ab oder sogar wieder zu. Ihre fettfreie Körpermasse – also ihre Muskulatur – bleibt erhalten. Und ihre Lebensqualität verbessert sich, sie fühlen sich wohler, ihre psychische Verfassung ist besser und sie sind körperlich aktiver. [57, 140, 401] Gerade bei einer Krebserkrankung wirkt sich regelmäßige Bewegung und körperliche Aktivität Der eingangs erwähnte blaue Ratgeber in mehrfacher Hinsicht so positiv aus, dass »Ernährung bei Krebs« empiehlt mittlerPatienten damit ihre Prognose verbessern weile ebenfalls unter dem Stichwort »metakönnen. Körperliche Aktivität hilft zusätzlich, bolisch adaptierte Ernährung« eine eiweißdie Muskulatur zu erhalten, wobei die aus- reiche Kost mit einem Fettanteil von über reichende Versorgung mit Eiweiß über die 50 Prozent. Dabei wird auf die Studien verErnährung den Muskelerhalt erst ermöglicht. wiesen, bei denen die Muskelmasse und das Gewicht von Krebspatienten mit fettreicher, eiweißhaltiger Kost besser erhalten Oiziell empfohlen: eine fet- und blieben als mit Normalkost. Allerdings wird eiweißreihe Ernährung diese Ernährung Patienten erst dann angeBereits vor fast 20 Jahren wurde in einer raten, wenn sie unter einem GewichtsverExpertenrunde der damalige Stand des lust leiden, dem mit herkömmlicher ErnähWissens so zusammengefasst, dass aufgrund des besonderen Stofwechsels von rung nicht beizukommen ist. Dabei könnte Krebspatienten ihre Ernährung sowohl mit man mit einer gezielten Ernährung dem Eiweiß als auch mit Fett angereichert wer- Gewichtsverlust von vornherein vorbeuden sollte. [215] Dieses lange bekannte Wissen gen. Er wird verhindert oder stark verzögert, nimmt aber laut Eggert Holm selbst heute weil die fett- und eiweißreiche Ernährung noch keinen besonderen Platz im Bewusst- den besonderen Stofwechsel des Patienten sein der behandelnden Ärzte ein. Immerhin berücksichtigt, der vom wachsenden Tumor gibt es inzwischen auch bei den Befürwor- beeinlusst wird. 31 Der Stofwehsel als Shlüssel sogenannten »fettleibigen Sarkopeniker«, versterben etwa an einer Lungenkrebserkrankung oder einem Tumor im Verdauungssystem im Schnitt zehn Monate früher als übergewichtige, ansonsten in allen Werten vergleichbare Patienten ohne Muskelverlust. [364] Und selbst bei einer bereits fortgeschrittenen Krebserkrankung der Bauchspeicheldrüse, bei der die durchschnittliche Überlebenszeit generell sehr kurz ist, leben Patienten mit ausreichend Muskelmasse unabhängig vom Körpergewicht durchDer Ernährungskreis einer ketogenen Ernähschnittlich 100 Tage länger als übergewichrung sieht also deutlich anders aus als der tige Sarkopeniker. [441] Für ein längeres oder am Anfang des Kapitels beschriebene: gar langfristiges Überleben von KrebsGetreideprodukte sind nun zusammen mit patienten wäre also zumindest der Erhalt, im Zucker im schmalsten Segment angesiedelt, idealen Fall ein Aufbau der Muskulatur sehr dann folgen Obstsorten mit wenig Kohlenwünschenswert. Die ketogene Ernährung hydraten, während Fett und Eiweiß zusamgibt dem oder der Kranken die Nährstofe, men mit stärkearmem Gemüse den größten die er oder sie braucht, um die Muskeln zu Teil des Kreises einnehmen. erhalten und sie mit Energie zu versorgen. Vielleicht ist es gut zu wissen, dass ketogene Eines ist wichtig, aber leider vielen nicht Ernährung keinesfalls eine reine Spezialdiät bewusst: Wenn ein Krebskranker Gewicht für Kranke ist. Sie ist populär bei Bodybuilverliert, ist das absolut nicht vergleichbar dern, die damit Muskeln aufbauen, oder bei mit dem Abbau von Fettpolstern bei einem Ausdauersportlern. Und nicht zuletzt gibt es Gesunden auf Diät oder in einem Trainingsdie ketogene Diät in vielen Varianten zum programm. Der Körper des Krebspatienten Abnehmen, von »Atkins« bis »South Beach«, beindet sich in einem Alarmzustand. Genau wobei etwa bei der auch schon erwähnten der kann aber zu dem kritischen Verlust von spanischen ketogenen mediterranen Diät Muskelmasse führen. Und genau das sollte schon allein der Gaumen den Ausschlag unbedingt vermieden werden. geben könnte. Ausgelöst wird der Muskelverlust durch In aller Regel geht es bei ketogenen Diäden speziellen Stofwechsel des Erkrankten. ten für Sportler oder Abnehmwillige darum, Seine Leber produziert in diesem besondeFett, aber keine Muskelmasse zu reduzieren Alarmzustand sehr viele Entzündungsren. Auch für einen Tumorpatienten ist es vor botenstofe und benutzt dafür als Rohstof allem wichtig, es nicht zu einem Gewichtsdas Eiweiß der Muskeln. Die Ernährung muss verlust durch Muskelschwund kommen zu also den gesteigerten Eiweißbedarf abdelassen. Wenn Krebskranke wenig Muskelcken. Und wenn möglich, sollte sie auch masse haben und gleichzeitig auch noch dazu beitragen, dass weniger Entzündungsstark übergewichtig sind, ist ihre Prognose botenstofe produziert werden. Weil beiam ungünstigsten. Solche Patienten, die spielsweise die Leber all diese zusätzlichen Bei der an den Stofwechsel angepassten ketogenen Ernährung für Krebspatienten wird die Kohlenhydratmenge der Nahrung so niedrig wie möglich gehalten. Die Energiemenge, die normalerweise von den Kohlenhydraten geliefert wird, wird ausgeglichen durch einen höheren Fettgehalt der Nahrung. Bei der Fettmenge gibt es keine Einschränkungen. Der andere Grundpfeiler der Nahrung, das Eiweiß, wird in einem für Krebskranke ausreichenden Maß gegessen. 32 Tatsächlich gehen, so Jann Arends, Oberarzt an der Freiburger Klinik für Tumorbiologie, immer mehr Spezialkliniken dazu über, ihren Patienten gerade aus diesen GrünEs würde diesen Patienten aber gar nichts den besonders fett- und eiweißreiche Mahlnützen, mehr Kohlenhydrate zu essen, um zeiten anzubieten. Es erscheint auch mehr ihren höheren Energiebedarf abzudecken. als logisch zu versuchen, dem Tumor mögDie gesunden Körperzellen können Kohlenlichst wenig Glukose anzubieten, das Insulin hydrate nicht mehr in dem Ausmaß verwerzu senken, die Entzündungsreaktion zu entten, wie es eigentlich normal wäre. Stattdesschärfen und die gesunden Zellen über Fett sen verbrauchen die Tumorzellen zu einem mit Energie zu versorgen. erheblichen Teil die Kohlenhydrate. Sie nutDie Parallelen zwischen Diabetikern und zen sie für ihr eigenes Wachstum. Krebskranken ielen Medizinern schon vor Zusätzlich geben Tumoren selbst viele über 100 Jahren auf. Und manche versuchBotenstofe in den Blutkreislauf ab. Sie überten schon damals, Therapien für Krebsnehmen mehr und mehr egoistisch die Konkranke daraus abzuleiten. trolle und schafen für sich selbst die optimalen Bedingungen. Sie sorgen unter anderem Im nächsten Kapitel wird es unter andedafür, dass im Körper Entzündungsreakti- rem um diese frühen Arbeiten gehen. Und onen ablaufen, wegen derer die meisten darum, wie sie – leider – bald wieder in Vergesunden Zellen Blutzucker dann nicht gessenheit gerieten. mehr ins Zellinnere aufnehmen können. Der Körper des Krebskranken wird, genau wie der eines Diabetikers, insulinresistent: Insulin, das die Bauchspeicheldrüse nach einer Kohlenhydratmahlzeit freisetzt, kann die Zellen nicht mehr zur Aufnahme des Blutzuckers anregen. So steht all der Zucker den Krebszellen zur Verfügung. Und weil den normalen Körpergeweben die Kohlenhydrate nicht mehr als Energielieferanten zur Verfügung stehen, benutzen die meisten von ihnen nun Fett als Energiequelle. Botenstofe herstellt, verbrauchen viele Patienten in Ruhe deutlich mehr Energie als Gesunde. 33 2 Fetreih und kohlenhydratarm – shon vor gut 100 Jahren Dem Wiener Medizinstudenten Ernst Freund heit Diabetes und Tumorleiden nahelegte, iel vor mehr als 125 Jahren bei ein paar Pati- aber zunächst ohne Bedeutung. Es dauerte enten etwas auf. Diejenigen, die an Krebs Jahrzehnte, bis andere Mediziner sich wieder erkrankt waren, hatten einen »abnormen gezielt der möglichen Beziehung zwischen Zuckergehalt« im Blut. Nach einer operativen Zucker und Tumoren widmeten. Entfernung des Tumors sanken die Werte Einer davon war Alexander Braunstein vom aber wieder in den Normbereich ab. Ein Institut für Krebsforschung der UniversiKrebspatient war also ähnlich wie ein Diatät Berlin. Er versetzte vor knapp 90 Jahren betiker nicht in der Lage, den Zucker im Blut frisch entferntes Tumorgewebe von Patieneizient zu verwerten, schlussfolgerte der ten mit einer Zuckerlösung. Nach einem Tag zukünftige Arzt. Das Phänomen schien ihm bei Körpertemperatur in einem Brutschrank so bemerkenswert, dass er es der Fachwelt bestimmte er den verbliebenen Zuckerin einem Aufsatz mitteilte. [153] gehalt. Ergebnis: Bei bösartigen Tumoren Freund wurde bald Professor mit eigenem nahm die Zuckerkonzentration in dieser Zeit Institut, forschte weiter an Tumoren und um etwa 30 bis 40 Prozent ab, bei gutartimachte einige wichtige Entdeckungen auf gen Tumoren oder normalem Gewebe aus anderen Gebieten, etwa der Blutgerinnung. Muskeln, Herz oder Leber blieb sie ungeFür die Krebsforschung oder gar für die The- fähr gleich. Braunstein schloss daraus, dass rapie blieb sein früher Befund, der gewisse Krebszellen Zucker in weit stärkerem Maß Parallelen zwischen der Stofwechselkrank- verbrauchen als normale Zellen. [54, 55] Behandlung von Krebpatienten und Experimente mit Mäusen Braunstein war mit seinen Beobachtungen nicht aus zweckfreiem Forschergeist, sonnicht allein. Zur selben Zeit begann eine dern in der Erwartung, hier der Ursache für ganze Reihe von Wissenschaftlern weltweit die Krebsentstehung und daraus ableitdamit, den Zusammenhang zwischen der baren Therapien auf der Spur zu sein. Wie aufälligen Zuckervorliebe und dem Krebs- Gene oder Erbmaterial aussehen, wusste wachstum zu untersuchen. Das geschah damals noch niemand. So spielte die Auf- 34 klärung des ofensichtlich besonderen Stof- Ness van Alstyne in Experimenten an Ratwechsels von Krebszellen die Hauptrolle in ten beobachtet, dass eine eiweiß- und fettder Forschung. Mit dem gerade im Entste- reiche Kost die Entwicklung von Tumoren hen begrifenen Repertoire der Biochemie deutlich hemmte. [459] Sie hatten die Tiere, waren jetzt auch Experimente möglich, mit bevor sie ihnen Tumorzellen einplanzten, denen man Fragen auf diesem Gebiet gut über einen Zeitraum von sechs Wochen bearbeiten konnte. Dabei nutzten die Wis- unterschiedlich gefüttert: Eine Gruppe senschaftler, die oftmals auch Mediziner erhielt die damalige Standard-Laborkost, waren, klinische Beobachtungen genauso also Brot, die andere bekam Milcheiweiß wie Erkenntnisse aus Tierversuchen und und Schweineschmalz zu fressen. In mehraus Experimenten mit isolierten Tumoren, fachen Versuchsserien stellte sich herTumorschnitten oder vereinzelten Tumor- aus, dass nicht nur weniger Tiere mit dem zellen. Ihr Ziel war letztlich immer, daraus Eiweiß- und Fettfutter Tumoren entwickelBehandlungsmöglichkeiten für Patienten ten. Auch das Wachstum der Tumoren, die abzuleiten. trotzdem entstanden, verlief deutlich langsamer als bei den Tieren, die Brot als Futter Auch Ernst Freund in Wien widmete sich bekamen [459] (siehe Abbildung 3). nun wieder verstärkt der Verbindung zwischen Zucker und Krebs. Zusammen mit Auch Wilhelm Caspari, damals Leiter der seiner Assistentin Gisa Kaminer wies er Abteilung für Krebsforschung des staatlinach, dass gerade Krebszellen »hungrig« chen Instituts für experimentelle Krebsforauf Zucker sind. Wie wichtig und bemer- schung (heute Paul-Ehrlich-Institut) in Frankkenswert solche Befunde damals angese- furt, beschrieb 1933 positive Efekte einer hen wurden, zeigt sich unter anderem darin, kohlenhydratarmen »Palmitin-Diät«. Bei wie Forscherkollegen davon sprachen. Mar- Mäusen, denen Tumorzellen eingeplanzt cel Händel und Kenji Tadenuma vom dama- worden waren, wuchsen damit Krebsgeligen Institut für Krebsforschung der Uni- schwülste langsamer. Die Tiere verloren versität Berlin etwa schrieben 1924 [194] über auch kein Gewicht, wenn sie das weiße feste die Ergebnisse ihrer österreichischen For- Fett als Hauptfutter bekamen. Auch bei Fütscherkollegen, diese hätten bewiesen, dass terung mit viel Butter wuchsen die TumoTumorzellen aus einer Nährlösung Kohlen- ren langsamer. [79] Vergleichbare Ergebnisse hydrate förmlich »an sich reißen«. ergaben die Studien der bereits erwähnten Berliner Forscher Händel und Tadenuma, In späteren Tierexperimenten mit Mäusen die Ratten mit Fett, Eiweiß oder Kohlenhyfanden Freund und Kaminer heraus, dass dratkost fütterten: Das stark kohlenhydratTumoren nicht nur Zucker besonders gut haltige Futter beschleunigte das Wachsaufnehmen können, sondern dass durch tum von Tumoren, während bei mit Eiweiß Kohlenhydrate ihr Wachstum auch tatsächoder Fett angereichertem Futter die Tumolich gefördert wird. [155] Langsam formte sich ren der Tiere vergleichsweise langsamer aus den zahlreichen Ergebnissen aus Labowuchsen. [194] ren in Europa, Amerika und Japan ein konsistentes Bild der Nahrungspräferenzen von Ernst Freund und Gisa Kaminer kamen Krebsgeschwüren. Schon Jahre zuvor hat- jedenfalls zu der Schlussfolgerung, dass ten etwa Silas P. Beebe, Professor für experi- Krebspatienten statt vieler Kohlenhydrate mentelle Therapie an der Cornell University besser eine eiweiß- und ölreiche Kost verin New York, und seine Kollegin Eleanor van zehren sollten. Dies wurde auch an einigen 35 TUMORWACHSTUM BEI RATTEN Eiweiß/Fett Kohlenhydrate 804 675 Tumorvolumen (mm³) 636 900 pari zur Therapie von Krebspatienten vor. Es inden sich allerdings keine wissenschaftlichen Berichte darüber, wie sich die Ernährung auf den Krankheitsverlauf der damals behandelten Patienten ausgewirkt hat. Ernst Freund beklagt sich in einem Aufsatz nur darüber, dass aufgrund der räumlichen 450 Enge und der fehlenden Aufsicht durch 181 eine Nachtschwester »in den Krankensälen« 225 166 die Patienten sich ofensichtlich einige der 0 176 0 47 jeweils »verbotenen« Speisen bei den ande0 0 1 ren Patienten besorgten – und so die Diät2 3 Zeit (Wochen) vorschriften umgingen. Neben diesen Versuchen, mit denen Mediziner direkt AntAbbildung 3: Kohlenhydrate fördern das Tumorwachstum bei Ratten. worten für die klinische Praxis und Therapie Das Experiment aus dem Jahr 1913 zeigte klar: Bekamen Tiere Brot statt Fett und Eiweiß zu fressen, wuchsen Tumoren viel schneller. Nach drei suchten, entwickelte sich in jener Zeit auch Wochen waren die Tumoren in der Brotgruppe fast fünfmal größer als in der eine wissenschaftliche Krebs-GrundlagenFett-Eiweiß-Gruppe. [459] forschung. Sie hatte das Ziel, die Vorgänge in einer Krebszelle im Detail zu analysieren. Ein Patienten in Wien erprobt, wobei je nach Schwerpunkt war die Aufklärung der bioKrebsart die Patienten auch mit Butter ver- chemischen Prozesse, mit deren Hilfe Zellen sorgt wurden oder nicht. [154] Eine fett- und Energie gewinnen. Unterschieden sich hier eiweißreiche Kost schlug auch Wilhelm Cas- normale Körperzellen von den Krebszellen? Oto Warburg, Pionier der Krebstofwehselforshung Der besondere Stofwechsel von Tumorzel- nachgewiesen, dass Tumorzellen sich von len ist vor allem nach dem Ende des Ersten fast allen Typen gesunder Zellen grundleWeltkrieges detailliert in verschiedensten gend unterscheiden: Normale Gewebe nutInstituten untersucht worden. Der promi- zen meist Atmungsvorgänge, um aus Nährnenteste und heute bekannteste der dama- stofen und Sauerstof eizient Energie zu ligen Wissenschaftler dieser Forschungs- gewinnen. Krebszellen dagegen neigen richtung war der Biochemiker und spätere dazu, ihre Energie in Gärungsprozessen, für Nobelpreisträger Otto Warburg. Er legte die kein Sauerstof gebraucht wird, zu erzeu1926 einen Band mit dem Titel »Über den gen. Sie tun das selbst dann, wenn genüStofwechsel der Tumoren« vor. Darin waren gend Sauerstof vorhanden ist. [484] Statt wie über 20 wissenschaftliche Arbeiten von ihm eine normale Zelle den Zucker mit Sauerund seinen Mitarbeitern am Kaiser-Wilhelm- stof zu Kohlendioxid zu verbrennen, spalInstitut für Biologie in Berlin-Dahlem zum tet die Tumorzelle einen großen Teil des Thema versammelt. [484] In tatsächlich bahn- Zuckers in einem Vorgang, der als Glykolyse brechenden Experimenten hatte Warburg bezeichnet wird, erst einmal auf und vergärt 36 das Endprodukt dann zu Milchsäure (Genaueres siehe Kapitel 4). Warburg klärte mit seinen Experimenten das extreme Ungleichgewicht der Art der Energiegewinnung von Krebszellen zugunsten der Glykolyse detailliert auf. Er selbst schreibt, dass in Versuchen mit Tumorgewebe von Ratten »von 13 angegrifenen Zuckermolekülen eines oxydiert, der Rest gespalten wird«. [484] Die Oxidation, also Verbrennung, wie sie in normalen Zellen Standard ist, fand in diesen Krebszellen also fast gar nicht statt. Warburg war mit seinen Experimenten damals nur einer von vielen, er lag voll im aktuellen Forschungstrend seiner Zeit. Und die Arbeiten der Biochemiker überschnitten sich durchaus auch mit denen der Mediziner. So beschreibt etwa ein Mitarbeiter von Otto Warburg, Seigo Minami, [484] die schon erwähnten Ergebnisse von Braunstein, der beobachtet hatte, dass frisch entfernte Tumoren viel Zucker »zerstören«. [54] Braunstein hatte allerdings noch etwas anderes festgestellt. Er hatte beobachtet, dass die zum Immunsystem gehörenden weißen Blutkörperchen (Leukozyten), wenn sie durch eine Infektion aktiviert wurden, ebenfalls sehr viel Zucker verbrauchten. Sie ähnelten also in dieser Eigenschaft den Krebszellen. Es waren also verschiedene Wissenschaftler an der Entdeckung der Besonderheiten des Stofwechsels der Krebszellen beteiligt. Über die Urheberschaft wurde denn auch heftig gestritten. Braunstein etwa weist in einem Leserbrief zur Arbeit von Seigo Minami und Otto Warburg [482] mit den »außerordentlich interessanten und geistvollen Versuchen« der beiden Autoren nochmals auf seine eigenen, früheren Ergebnisse hin. Er notiert am Schluss in sehr hölichem, aber bestimmten Ton: »Ich glaube deshalb für den Nachweis der zuckerzerstörenden Eigenschaften der Krebszellen die Priorität für mich beanspruchen zu dürfen«. [55] Braunstein hatte damals allerdings den Zuckerverbrauch der Krebsoder der Immunzellen nicht genauer untersucht. Er analysierte zum Beispiel nicht den Anteil der Zellatmung und der Gärung am Zuckerverbrauch. Auch das Endprodukt der Zuckervergärung, die Milchsäure, bestimmte er damals nicht. Genau das taten aber Otto Warburg und seine Mitarbeiter penibel und umfassend in ihren Studien. Sie bestimmten auch die Umsatzraten der beteiligten Stofe. Doch noch ein weiterer Wissenschaftler, der Direktor des damaligen Krebsforschungsinstituts des Universitätskrankenhauses in Hamburg-Eppendorf, Robert Bierich, hatte schon 1922 eine mögliche Wirkung von Milchsäure auf das Wachstum von TumorgeWarburg wiederum beobachtete genau weben und die Metastasierung von Krebsdas Gleiche bei Hühner-Embryonen. Was zellen untersucht. [36] Bierich lieferte sich mit aktivierte Immunzellen, Embryozellen und Warburg eine öfentliche AuseinandersetKrebszellen gemeinsam haben, ist, dass sie zung [37, 485] darüber, wer die Milchsäurebilsich allesamt schnell teilen und vermehren. dung und ihre Bedeutung für das KrebszellWarburg schloss daraus, dass sich Krebszelwachstum zuerst entdeckt hatte. len schlicht eines ganz normalen und auch von gesunden Zellen bei Bedarf genutzten Diese Auseinandersetzungen sind nicht nur Mechanismus bedienen, um sich schnell tei- als historische Anekdoten interessant. Sie len zu können (siehe auch Kapitel 4). illustrieren auch, welche Rolle das ForscherEgo in der Wissenschaft häuig spielt. Warburg ging jedenfalls aus dem historischen »Wer-hat‘s-gefunden?«-Streit letztlich als Sieger hervor. Denn als charakteristisch für 37 Tumorzellen sehen Wissenschaftler heute die tatsächlich von ihm gemachte Beobachtung, dass Krebszellen sauerstofunabhängig Zucker zu Milchsäure vergären, und zwar selbst unter Bedingungen, in denen eigentlich genug Sauerstof für die Zellatmung zur Verfügung steht. Seine Beobachtung wird auch »Warburg Efekt« genannt. Sauerstof, aber mit Traubenzucker hielten. Wurden die Zellen anschließend in Versuchstiere eingeplanzt, bildeten sie selbst dann noch neue Krebsgeschwüre aus, wenn sie vorher drei Tage lang ohne Sauerstof in der zuckerhaltigen Nährlösung verbracht hatten. Sie hatten diese Prozedur also überlebt. Dieser Befund bedeutete, dass Krebszellen bei Sauerstofentzug einen enormen Überlebensvorteil gegenüber normalen Gewebezellen haben, die unter solchen Umständen sehr schnell absterben. Und tatsächlich haben viele Tumorzellen ständig Sauerstofmangel, wenn sie etwa mitten in einem eher schlecht durchbluteten Geschwür sitzen. Es ist nicht die einzige Eigenschaft von Krebszellen, die den Tumor selbst schützt und dem Patienten schadet (siehe Kapitel 4). Warburg sah in dieser Besonderheit eine ganz grundlegende Eigenschaft von Krebszellen, ohne die sie gar keine Krebszellen wären. Er ging davon aus, dass die Tumorzelle gar nicht mehr in der Lage ist, die Verbrennung von Zucker in dem Maß zu betreiben, wie es für eine Aufrechterhaltung ihres Energiehaushalts notwendig wäre. Warburg und seine Mitarbeiter stellten in vielen Versuchen auch fest, dass Tumoren ihren Stofwechsel umso mehr auf Gärung umstellten, Warburg machte auch erste Versuche, diese je bösartiger sie waren. Gutartige Tumo- Eigenschaft der verstärkten Vergärung des ren dagegen konnten zwar auch schon Zuckers zur Bekämpfung von Krebs zu nutZucker vergären, allerdings in geringerem zen. Allerdings unterzog er dafür seine VerUmfang. Die Gärung zur Energiegewinnung suchstiere Behandlungen wie etwa extrewar nach seiner Erkenntnis also kein grund- men »Insulinkrämpfen«, die einem krebslegendes Merkmal, anhand dessen »böse« kranken Patienten keinesfalls zuzumuten von »guten« Tumoren unterschieden wer- wären. den können. Er schlussfolgerte stattdessen Für seine Erkenntnisse zum Tumorstofwech»… dass zwischen gutartigen und bösartisel ist Warburg innerhalb von knapp 20 Jahgen Tumoren keine prinzipiellen, sondern ren (1926-1944) insgesamt 26 Mal für den nur graduelle Unterschiede bestehen«. [484] Nobelpreis vorgeschlagen worden. Erhalten Krebszellen können eine ganze Weile allein hat er ihn 1931 aber nicht dafür, sondern für von der Zuckervergärung leben. Das fanden seine ebenfalls bahnbrechenden Arbeiten Warburg und seine Kollegen heraus, indem zu Details der Zellatmung. sie Tumorschnitte in einer Nährlösung ohne Stofwehselforshung auf dem Abtellgleis – warum? Warum hat Warburg keinen Nobelpreis für seine Arbeiten über Krebs bekommen? Warum wurden seine Beobachtun- 38 gen und die Ergebnisse seiner Forscherkollegen Freund, Händel, Caspari und anderer nicht weiterverfolgt und genutzt? Tatsäch- lich konnte man auf den Internetseiten ursacht wird. Er hatte 1913 beobachtet, dass des Krebsinformationsdienstes des Deut- man künstlich Tumoren bei Ratten hervorschen Krebsforschungszentrums (KID) rufen kann. [498] Das war bisher noch niemannoch 2007 lesen, dass die »Hypothese des dem mit Chemikalien, Strahlung oder ähnliNobelpreisträgers Otto Warburg aus dem chem gelungen. Die vermeintlich krebsverJahr 1924 … heute mit modernen bioche- ursachenden Würmer von Johannes Fibiger mischen und physiologischen Erkenntnis- lebten in exotischen Schaben. Wenn Ratten sen widerlegt« sei. Einer der Autoren dieses diese verzehrten, bekamen sie MagentumoBuches bat das KID damals, diese Aussage ren. Kurz nachdem er für seine Entdeckung zu begründen. Daraufhin verschwand die den Nobelpreis empfangen hatte, starb Fibientsprechende Seite. Sie ist bis heute nicht ger selbst an Darmkrebs. Nach seinem Tod mehr auindbar, allerdings indet sich auch fanden Wissenschaftler bald aber auch herkein Trefer (Zugrif Februar 2012) zum Such- aus, dass der Parasit zwar eine Wucherung begrif »Warburg« auf der KID- Homepage. von Gewebe, aber beileibe keinen Krebs verursacht. Fibiger hatte diese Wucherung Tatsächlich fanden die einst viel diskutierten schlicht mit Krebs verwechselt. Arbeiten Warburgs und seiner Zeitgenossen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Wahrscheinlich unter anderem aus diezunehmend weniger Beachtung. Warburgs sem Grund hielt sich die Nobelstiftung also Ergebnisse galten spätestens, nachdem die erst einmal mit Preisen zur Krebsforschung ersten Krebsgene gefunden wurden, als zurück. Daran änderten auch die mehrfawiderlegt oder zumindest als für die Praxis chen Vorschläge anerkannter Forscher, die unbedeutend (siehe Kapitel 3). Warburgs Arbeiten über den Tumorstofwechsel für nobelpreiswürdig hielten, nichts. Haben seine Befunde für die Forschung und Erst vierzig Jahre später, 1966, sollten Peyton Krebstherapie keine Bedeutung? Ist er gar Rous für seine Entdeckung von tumorverureinem Irrtum aufgesessen? sachenden Viren und Charles Brenton HugWenn das so wäre, gäbe es dieses Buch nicht. gins für die hormonelle Behandlung von Die Gründe für Warburgs Verschwinden lie- Prostatakrebs geehrt werden. Auch Rous gen eher in der Entwicklung und dem Ver- hatte lange warten müssen. Er hatte bereits 1911 ein Virus entdeckt, das Muskelkrebs (ein lauf der Forschung selbst. sogenanntes Sarkom) in Gelügel auslöst Krebsforshung – eine Geshihte mit und später nach ihm Rous-Sarcoma-Virus (RSV) genannt wurde. [383] vielen Kapiteln Die Geschichte der Krebsforschung wird Auch das Dritte Reich und der Zweite Weltvon manchen als Buch der Irrungen und krieg haben dazu beigetragen, dass die Wirrungen betrachtet. Nobelpreise gab es frühen Beobachtungen deutschsprachiinsgesamt eher selten. Denn einmal hatte ger Forscher für lange Zeit verloren gingen sich das Nobelkomitee bei der Vergabe und vergessen worden sind. Jüdische Wisdes Preises so kräftig die Finger verbrannt, senschaftler wurden aus ihren Positionen dass man in Stockholm lieber ein paar Jahrgedrängt. So emigrierten etwa Ernst Freund zehnte Zurückhaltung übte: Der dänische und Gisa Kaminer nach England, [462] wähForscher Johannes Fibiger erhielt 1926 den rend Wilhelm Caspari in das Getto von Lodz Nobelpreis für seine Theorie, dass Krebs deportiert wurde und dort 1944 ums Leben durch einen Parasiten – einen Wurm – verkam. [143] Otto Warburg konnte nur des- 39 halb weiterforschen, weil »Reichsmarschall Göring … eine »Neuberechnung« von Warburgs Abstammung arrangierte und Warburg zu einem Vierteljuden machte«. [259] Nach dem Krieg wurde zudem auch die deutsche Sprache als Wissenschaftssprache verdrängt und Englisch setzte sich als Lingua franca der Forscher durch. Die alten Veröfentlichungen, die in deutscher Sprache abgefasst worden waren, wurden nicht mehr häuig gelesen. Die Gesundheitsbehörden in den USA waren sich damals bei den Viren als allgemeinem Krebsauslöser so sicher, dass im Rahmen eines »Special Virus Cancer Program« bereits Gebäude für die Massenproduktion von Impfstof gegen die Krebsviren errichtet wurden. [475] Die ganze Unternehmung war nach Vorbildern wie dem Manhattan-Projekt zur Entwicklung der Atombombe und dem Apollo-Programm generalstabsmäßig angelegt, mit minutiöser Planung von Identiikation der Viren, Herstellung von Impfstof und folgenden Massenimpfungen. Bald gab es aber Probleme. Man fand zwar massenweise Viren, die beispielsweise bei Hamstern Krebs auslösten, aber kaum solche, die diesen Efekt beim Menschen zeigten. Neben den politischen Einlüssen auf die Krebsforschung spielte auch eine Verlagerung ihrer Schwerpunkte eine große Bedeutung. Was in der Krebsforschung gerade aktuell ist, ist immer auch Spiegel der jeweiligen Trends in der Biologie und der Werkzeuge, die ihr zur Verfügung stehen. Der britische Molekularbiologe John Cairns Bis heute sind nur wenige identiiziert worbeschrieb das 1978, also in einer Zeit, in der den. Hepatitis-Viren etwa können Leberdie Genetik als bestimmendes Thema der tumoren mitverursachen. Und das promiBiologie aufkam, mit den Worten: »Die Bio- nenteste Beispiel sind die Papillomaviren: logie und die Krebsforschung haben sich Für die Entdeckung, dass bestimmte Typen zusammen entwickelt. Dabei wurde in dieser Viren Gebärmutterhalskrebs auslöjeder Epoche der Krebsforschung das Ver- sen, wurde der Virologe Harald zur Hausen halten der Krebszellen zurückgeführt auf im Jahr 2008 mit dem Nobelpreis für Medieine Störung von Prozessen aus dem Zweig zin geehrt. Und tatsächlich gibt es inzwider Biologie, der gerade eben modern und schen eine Impfung, die, nach allem was »en vogue« war; heute ist das die moleku- man derzeit weiß, sicher ist und Mädchen lare Genetik«. [69] Anders ausgedrückt: Zur und Frauen weitgehend vor der Krankheit Blütezeit der Biochemie sahen die meisten bewahren kann. Die Erwartung, dass prakKrebs als ein biochemisches Problem, als die tisch alle Krebsarten mit einer Virusimpfung Genetik in den Vordergrund rückte, wurde verhütet werden können, hat sich jedoch aus dem Krebs eben ein Problem der Gene. alles andere als bestätigt. Auch die schon erwähnte Verleihung des Nicht nur die Tatsache, dass die Erfolge bei Nobelpreises an Peyton Rous 1966 bestäder Suche nach Krebsviren eher übersichttigt diese Ansicht. Denn zwischen den beilich waren, war schuld daran, dass auch die den genannten Phasen der Biochemie und Forscher dieses Fachgebiets bald wieder der Genetik, also vor allem in den Sechziihren Führungsanspruch abgeben mussten. gerjahren, war die Virenforschung gerade Denn im Zuge der allmählichen Verwandmodern. Viren galten denn auch allgemein lung der Biologie zur heute dominierenden als Urheber von Krebs, und Rous bekam die Molekularbiologie waren es bald die GenAuszeichnung aus Stockholm für die Entdedefekte, die als alleinige Ursachen für die ckung des ersten Krebsvirus (siehe Kapitel 3). Krebsentstehung galten. Die Forschung kon- 40 zentrierte sich ab dieser Zeit verstärkt darauf, veränderte Gene zu inden und zu verstehen, welche Zellprozesse diese Gene normalerweise steuern und warum ihre Mutation die Bildung von Krebszellen bewirkt. Die Beobachtung von Warburg, dass Krebszellen Zucker vergären, wurde bald als eher belanglose Nebensächlichkeit abgetan. Warburg selbst wurde gar lächerlich gemacht. Der amerikanische Molekularbiologe und noch heute führende Krebsforscher Robert Weinberg vom MIT (Massachusetts Institute of Technology) nahe Boston schrieb in seinem 1998 erschienenen Buch »Krieg der Zellen« zu Warburg, es gebe »keinen einsichtigen Grund, weshalb die von ihm beschriebene unvollständige Verbrennung direkt zu unkontrolliertem Wachstum führen sollte«. Warburg habe den Schlüssel zur Lösung des Krebsproblems nur im Licht seiner eigenen Laterne, also der Biochemie, gesucht. Zudem hätten seine Kritiker »seinen Stil, seine autoritäre Art zu reden, seine herrische deutsche Selbstsicherheit … verabscheut«. [495] Diese harsche und nur teilweise fachliche Kritik mag durchaus darauf zurückzuführen sein, dass Warburg zwar zu seinen Mitarbeitern im Labor »hölich, freundlich und hilfsbereit« und ofensichtlich enorm großzügig war. So berichtete es jedenfalls dessen Schüler und späterer Nobelpreisträger Sir Hans Krebs. Mit Forscherkollegen außerhalb seines Labors ging er aber nicht gerade zimperlich um, er konnte polemisch, scharf und verletzend sein. Zudem, so Hans Krebs, legte Warburg auch noch eine »Neigung zu Streitsucht und Rechthaberei« an den Tag. [259] Insofern verwundert die Feststellung von Weinberg nicht, der meinte: »Man hätte es gerne gesehen, wenn er – aus welchem Grund auch immer – unrecht gehabt hätte«. Krebtherapie –(auh) eine Geshihte mit vielen Kapiteln Nicht nur die weltweit gesammelten Forschungsergebnisse zum Stofwechsel von Krebszellen gerieten im Lauf der Jahrzehnte ins wissenschaftliche Abseits. Auch die Behandlung von Krebspatienten nahm einen Verlauf, bei dem sich immer weniger Mediziner für die Möglichkeiten einer speziellen Ernährungstherapie interessierten. Dagegen wurde die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführte Bestrahlung von Krebspatienten weiterentwickelt. Und auch die erst während des 19. Jahrhunderts als Behandlungsmöglichkeit akzeptierte [1] operative Entfernung von Tumorgewebe wurde weiterentwickelt. Chirurgen versuchten lange Zeit, so viel wie möglich zu entfernen, wobei auch sehr viel gesundes Gewebe zur Sicherheit mit herausgeschnitten wurde. Der sehr einlussreiche amerikanische Mediziner William Stewart Halsted, der auch in Österreich und Deutschland ausgebildet worden war und viele Standards für chirurgische Eingrife setzte, führte schon 1882 bei Brustkrebspatientinnen die radikale Mastektomie ein. Diese vollständige Entfernung der Brust wurde bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts routinemäßig praktiziert. Dabei entfernten die Chirurgen nicht nur die Brust, sondern auch den darunterliegenden Brustmuskel. Das führte zu einer deutlichen körperlichen Einschränkung für die Frauen – zu besseren Ergebnissen führte es allerdings nicht. Das ergab eine Studie, die ein ganzes Jahrhundert nach Einführung der Methode und nachdem geschätzte 500.000 Frauen sie über sich hatten ergehen lassen, veröffentlicht wurde. [42] Neben Bestrahlung und Operation ist heute die Chemotherapie der dritte Grundpfeiler der Krebsbehandlung. Während des Zweiten Weltkrieges wurde in den USA erstmals 41 Diese ist seit Jahren vor allem darauf ausgerichtet, molekulargenetisch die Vorgänge und Mechanismen der Krebsentstehung zu untersuchen. Wird ein möglicher Schwachpunkt von Tumorzellen gefunden, ruft das Pharmaunternehmen auf den Plan. Sie entwickeln und prüfen dann Substanzen, die als Medikament in eben diese Prozesse einDie zur Chemotherapie verwendbaren Subgreifen könnten. Der Markt für chemothestanzen wurden und werden immer weiterrapeutisch einsetzbare, auf das molekulare entwickelt. Inzwischen sind verschiedene Ziel ausgerichtete und passgenau wirkende Klassen von Therapeutika auf dem Markt, Medikamente wächst beständig. die Krebszellen an ganz unterschiedlichen Punkten angreifen. Doch mit vielen von Solche sogenannten »gezielten« Theraihnen gibt es zwei wichtige Probleme: Sie pien sind in den Augen vieler Krebsforhaben oft kaum zumutbare Nebenwirkun- scher heute die Hofnungsträger schlechtgen, und es können Tumorzellen übrig blei- hin. Anders als die klassische Chemo sollen ben, die gegen die Mittel unempindlich sie kein allgemeines und nur auf Tumorzellen ein wenig mehr als auf andere Zellen wirsind und zu neuem Krebswachstum führen. kendes Gift sein, sondern die Tumorzellen Doch trotz dieser Nachteile gehören neben an ihren Schwachstellen angreifen. Den Rest Operation und Bestrahlung chemotherades Körpers sollen sie weitgehend in Ruhe peutische Maßnahmen heute zu den Stanlassen. Im folgenden Kapitel wird es unter dardbehandlungsformen für krebskranke anderem um die Erfolge mit solchen Mitteln Patienten. Die Suche nach neuen, besonders und ihr Potenzial gehen – aber auch darum, wirkungsvollen oder besonders zielgerichwarum sie bislang die in sie gesetzten Erwarteten Mitteln steht gegenwärtig im Mitteltungen nur sehr selten erfüllt haben. punkt der Krebsforschung. einem Krebspatienten ein solches Mittel verabreicht. [81] Er bekam eine Substanz, die eng verwandt ist mit dem im Ersten Weltkrieg eingesetzten chemischen Kampfmittel Senfgas. Auch heute noch werden solche Substanzen als Chemotherapeutika eingesetzt, so etwa Cyclophosphamid. »Die Biologie und die Krebsforshung haben sih zusammen entwikelt. Dabei wurde in jeder Epohe der Krebsforshung das Verhalten der Krebszellen zurükgeführt auf eine Störung von Prozessen aus dem Zweig der Biologie, der gerade eben modern und ‘en vogue’ war. Heute it das die molekulare Genetik.« — John Cairns 42 43