Kapitel B.4 Zivilgesellschaftliche und politische Teilhabe Dass Teilhabe an Bildung (s. Kap. B.1) und am Arbeitsmarkt (s. Kap. B.3) zentrale Mechanismen sind, um weitere Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe zu schaffen, ist unbestritten und in Politik und Öffentlichkeit mittlerweile auch allgemein anerkannt. Weniger beachtet ist ein anderes Feld von Teilhabe, nämlich das politische und zivilgesellschaftliche Engagement. Dies ist aber eine wichtige Möglichkeit, Sozialkapital oder allgemeiner gesprochen Ressourcen für soziale Teilhabe zu schaffen. Sozialkapital wird hier generell verstanden als „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ (Bourdieu 1983: 190f.). Umgekehrt fördert Sozialkapital wiederum auch die politische und zivilgesellschaftliche Teilhabe. Auf dieses dialektische Verhältnis hat bereits Granovetter (1973) hingewiesen.206 Darüber hinaus bestehen Wechselwirkungen zwischen zivilgesellschaftlicher Teilhabe und Teilhabe in anderen gesellschaftlichen Bereichen. So kann z. B. das Engagement in Vereinen, Verbänden oder auch politischen Parteien die Teilhabechancen in den Bereichen Arbeitsmarkt und Bildung erhöhen. Umgekehrt vergrößert eine gelungene Arbeitsmarktintegration das soziale Netz und erhöht das Wissen über gesellschaftliche Prozesse. Insgesamt kann festgehalten werden: Wer sich zivilgesellschaftlich und/oder politisch engagiert, vergrößert sein Wissen über die Gesellschaft und ihre verschiedenen Systeme, kann sich darin sicherer bewegen und erhöht seine Teilhabechancen auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Im Folgenden wird Deutschland in Bezug auf zivilgesellschaftliche und politische Teilhabe mit Kanada und Schweden verglichen (s. Kap. B.4.1 und B.4.2). Diese beiden Länder sind nicht nur bei der Vergabe politischer Rechte an Einwanderer besonders großzügig, sondern gelten allgemein auch als migrations- und integrationspolitisch besonders erfolgreich (vgl. auch Pendakur/ Bevelander 2014). Die Einbürgerungsanforderungen sind dort deutlich geringer als in Deutschland. Zugleich haben sie jedoch mit Deutschland gemein, dass sie gegenüber eigenen Staatsangehörigen, die im Ausland leben, einen Generationenschnitt praktizieren und damit die bedingungslose und zeitlich unbegrenzte Vererbung der Staatsangehörigkeit über das ius sanguinis unterbinden. Darauf geht Kap. B.4.3 detailliert ein. In Kap. B.4.4 werden schließlich empirische Erkenntnisse aus den Vergleichsländern und in Kap. B.4.5 Lehren für Deutschland dargestellt. B.4.1 Zivile und politische Rechte jenseits von Wahlen: kaum Unterschiede Wahlen sind ein wichtiger Mechanismus zivilgesellschaftlicher und politischer Teilhabe, aber bei Weitem nicht der einzige. Die Möglichkeiten, auf politische Entscheidungsträger Einfluss zu nehmen, die Hirschman (1973) als „voice“ zusammenfasst, beinhalten neben dem aktiven und passiven Wahlrecht auch außerparlamentarische Formen politischen und zivilgesellschaftlichen Engagements. Dazu gehören etwa die Gründung von Interessenorganisationen oder politisch ausgerichteten Vereinen, die Mitgliedschaft in einer Partei oder publizistische Tätigkeit. Für politische Freiheitsrechte wie das Recht, politische Organisationen zu gründen, einer Partei beizutreten oder sich journalistisch zu betätigen, gibt es sowohl in Kanada und Schweden als auch in Deutschland für Ausländer kaum Beschränkungen. In allen drei Ländern können sich Ausländer und Inländer gleichermaßen zivilgesellschaftlich beteiligen und genießen Meinungs-, 206 Vgl. die klassische Studie von Granovetter (1973) und – bezogen auf Deutschland – Franzen/Freitag (2007) sowie Runia (2002). Zum Zusammenhang zwischen Sozialkapital und Migration vgl. für die USA z. B. Min (1996) und Palloni/Massey/Ceballos (2001). Für Deutschland stellt Haug (2010) einen positiven Zusammenhang zwischen der Mitgliedschaft in Vereinen und der Integration in den Arbeitsmarkt fest, und Diehl (2004) beobachtet einen Zusammenhang zwischen der Mitgliedschaft in ethnischen Vereinen und politischer Partizipation in Deutschland. Die genauen Wirkungszusammenhänge und -richtungen zwischen Sozialkapital und kulturellem oder ökonomischem Kapital sind allerdings noch nicht hinreichend erforscht, sowohl allgemein als auch in Bezug auf Migrationsprozesse (Hope Cheong et al. 2007). 1 20 Jahresgutachten 2015