Entscheidungsfindung in der Sozialen Arbeit

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Methoden der Sozialen Arbeit | P L A T T F O R M
Vertrauensbildung mithilfe
einer Checkliste
Entscheidungsfindung in der Sozialarbeit mithilfe ethischer Methoden
Text: Béatrice Guggenbühl-Jeanneret und Jörg Wehr
Im Schweizerischen Epilepsie-Zentrum
­Zürich (EPI WohnWerk und Klinik Lengg AG)
wurden im Rahmen des Ethikforums Methoden entwickelt zur Entscheidungsfindung
und zur persönlichen Reflexion bei anstehenden Entscheidungen in der Betreuung,
welche auch in der sozialarbeiterischen Beratung angewendet werden und hilfreich
sein können.
Die fünfköpfige Familie L. aus Sri Lanka hat
ein Kind mit einer neu diagnostizierten Epi­
lepsie und einer globalen Entwicklungsstö­
rung. Die Eltern klagen über finanzielle Eng­
pässe. Sie hörten, dass die Invalidenversiche­
rung einen Teil der Kosten für die Reise zu
den Durchführungsstellen übernimmt. Aus
sozialversicherungsrechtlichen Gründen hat
ihr Kind jedoch keinen Anspruch auf medizi­
nische Eingliederungsmassnahmen der IV.
Die Krankenkasse bezahlt keine Reisekosten
für die Besuche in unserer Klinik, die sehr
weit entfernt liegt vom Wohnort der Fami­
lie. Die Eltern fordern der Sozialarbeiterin
der Klinik, dieses Recht für sie einzulösen und
sie auch weiter finanziell zu unterstützen.
Einerseits helfen uns sozialarbeiterische
Gesprächsführungs- und Handlungsmethoden, um herauszufinden, was das Problem ist und welche Hilfe wir anbieten kön-
Béatrice Guggenbühl-­
Jeanneret,
Dipl. Sozialarbeiterin HFS,
tätig in der Klinik Lengg, der
Schweizerischen EpilepsieKlinik und dem Zürcher
Reha-Zentrum Lengg, ist
Mitglied des Ethikforums des
Schweizerischen EpilepsieZentrums in Zürich.
Jörg Wehr,
Dipl. Pflegefachmann HF und
Theologe M.A., arbeitet
beim EPI WohnWerk und ist
Mitglied des Ethikforums des
Schweizerischen EpilepsieZentrums in Zürich.
nen. Wir arbeiten systemisch, ressourcenund lösungsorientiert. Oft setzen uns die
Rahmenbedingungen jedoch Grenzen –
beispielsweise das Sozialversicherungsrecht, Reglemente von Stiftungen und
Fonds oder persönliche Gegebenheiten der
KlientInnen selber. Unser Auftrag und das
Beratungsziel sind dann nicht ganz klar
auszumachen.
Andererseits sind wir manchmal ratlos,
oder es gibt einen Spielraum für unser
Handeln. Nicht selten haben wir ein Di­
lemma. Schreiben wir zum Beispiel Anträge an Stiftungen für alle Familien, die
behinderungsbedingte Mehrkosten (die
keine Sozialversicherung übernimmt) für
ihr Kind zu tragen haben? Oder nur für die
Familien, die unter einer gewissen Einkommensgrenze leben, oder nur für die, die
danach fragen? Was ist gerecht? Wie steht
es um unsere Ressourcen? Haben wir Zeit,
bei allen Eltern nachzufragen, ob die Finanzierung ein Problem darstellt? Haben
wir Zeit, die Anträge zu schreiben?
Ethische Überlegungen können auch So­
zialarbeitenden eine Hilfe sein, um ein Dilemma näher zu beleuchten. So können
etwa die vier bioethischen Prinzipien, welche im medizinischen und pflegerischen
Kontext bekannt sind, herangezogen werden, um abzuwägen, was mehr Gewicht
hat – zum Beispiel «Autonomie versus Gutes tun». Die vier Prinzipien sind:
–– Das Autonomieprinzip: Selbstbestimmung und Würde der Klientin bzw. des
Klienten respektieren
–– Das Prinzip «nicht schaden»: nicht mit
unserem Handeln Schädigungen oder
Leiden zufügen
–– Das Prinzip «Gutes tun»: tun, was in
­u nseren Augen für die Klientin bzw.
den Klienten gut ist
–– Das Gerechtigkeitsprinzip: Ressourcen
fair verwenden (auch: nicht bestimmte
Klientengruppen diskriminieren)
In der Klinik für Kinder und Jugendliche
der Klinik Lengg AG ist die Sozialarbeit
zum Beispiel bei folgender Fragestellung
involviert: Sowohl interne als auch externe Fachleute (heilpädagogische Früh­
erziehung, Schule, Neuropsychologie, Me-
dizin) sind überzeugt, ein Kind mit einer
mittelgradigen kognitiven Einschränkung
könne besser in einer heilpädagogischen
Schule gefördert werden. Die Eltern insistieren aber auf eine Einschulung in den
Kindergarten der Regelschule (mit inte­
grativer Sonderschulung). Was schadet
dem Kind mehr? Wenn es in die heilpädagogische Schule versetzt wird – gegen den
Widerstand der Eltern – und man ihm
schulisch gerechter wird? Oder, wenn es in
den Regelkindergarten kommt, – mit kooperierenden Eltern – aber sich das Kind
even­tuell überfordert fühlt oder gar ausgegrenzt durch die gesunden Kinder? Vielleicht ist das letztere für das Kind gewichtiger? Vielleicht brauchen die Eltern einfach noch Zeit, um die kognitiven Defizite
ihres Kindes zu akzeptieren? Zu einem
späteren Zeitpunkt, wenn die Unterstufe
zu Ende geht und der schulische Druck zunimmt, würden sie dann vielleicht in eine
Versetzung einwilligen. Oder umgekehrt:
Ist das Kind gar gefährdet, wenn es jetzt in
die Regelschule eingeschult werden soll?
Ethische Entscheidungsfindungsverfahren
Sind mehrere Personen oder gar ein interdisziplinäres Team an einer schwierigen
Fragestellung beteiligt, kommt insbesondere im Hinblick auf urteilsunfähige KlientInnen in den Betrieben der Schweizerischen Epilepsie-Stiftung seit 2007 ein Verfahren zur Anwendung, wonach grundsätzlich alle Personen, welche in Beziehung
zu einer Patientin oder einem Patienten
stehen, beantragen können, dass auftretende Probleme mithilfe eines Entscheidungsfindungsverfahrens bearbeitet werden. Zu einem solchen Gespräch sind alle
internen und externen Personen eingeladen, die wichtige Informationen beitragen
können oder von der Entscheidung mitbetroffen sind bzw. von Gesetzes wegen letztlich entscheiden müssen. Die ein- bis dreistündige Sitzung wird von einer am Problem nicht beteiligten Person aus den Reihen des EPI Ethikforums moderiert. Dabei
werden folgende Traktanden behandelt:
–– Problemstellung
–– Informationsbeschaffung – emotionale
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und sachliche Ebene
–– Analyse des Problems auf Wert- und
Normebene
–– Lösungsvorschläge
–– Besprechung/Bewertung der Lösungsvorschläge
–– Lösung auswählen – Termin zur Überprüfung
Sollte im Rahmen der Entscheidungsfindungssitzung trotz allen Bemühungen
kein Konsens im Sinne eines mutmass­
lichen Willens oder im besten Interesse der
betroffenen Person zustande kommen, gilt
bei Stellvertreterentscheiden der Entscheid
der vertretungsberechtigten Person gemäss Erwachsenenschutzrecht (allgemeines Vertretungsrecht Art. 374 bis 376 ZGB,
bei medizinischen Massnahmen Art. 377
bis 381 ZGB).
Persönliche Reflexion
Wie verhält es sich jedoch bei anspruchsvollen Situationen, welche relativ rasch
eine Entscheidung zwischen Handlungsalternativen erfordern? Im Hinblick auf
die allermeisten Entscheidungen ist es weder möglich noch sinnvoll, einen komplexen interdisziplinären Entscheidungsfindungsprozess in Gang zu setzen.
Zur Unterstützung der persönlichen Reflexion einer Entscheidungsfindung im Alltag hat der Theologe Walter Lüssi eine
Checkliste entwickelt. Das EPI Ethik-Forum griff den Impuls auf, überprüfte die
Checkliste auf ihre Anwendbarkeit in der
Praxis, nahm in Zusammenarbeit mit
Walter Lüssi einige Anpassungen und Ergänzungen vor und stellt nun die so entstandene Checkkarte (in Form einer «Kreditkarte») als Arbeitshilfe zur Verfügung.
Die sieben Fragen zur Überprüfung einer
Entscheidung lauten:
Vorderseite der Checkkarte
Die Checkliste kann im betreuerischen
Alltag sehr hilfreich sein, um einen Moment innezuhalten und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu reflektieren. Auch
in der sozialarbeiterischen Beratungstätigkeit sind solche Reflexionen nützlich.
Konkrete Anwendung der Checkliste
Zurück zum eingangs geschilderten Beispiel der Familie aus Sri Lanka. Es scheint
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SozialAktuell | Nr. 12_Dezember 2015
hier nicht erforderlich zu sein, ein grosses
interdisziplinäres Entscheidungsverfahren einzuleiten. Dennoch wirft die Beratung der Familie für die Sozialarbeiterin
einige Fragen auf und löst Gefühle aus:
Wie soll ich mit den Anliegen der Eltern
dieses kranken Kindes umgehen? Die fordernde Haltung irritiert. Trotzdem will ich
gerecht handeln und Gutes tun für das
Kind und die Familie. Die oben beschriebene Checkliste kann mir dabei behilflich
sein, Gedanken und Gefühle zu strukturieren und zu einer stimmigen Entscheidung zu kommen:
Worum geht es eigentlich?
Die Familie bekommt aus sozialversicherungsrechtlichen Gründen keine medizinischen Massnahmen der IV für das Kind
(da das Kind bereits mit der Epilepsie in die
Schweiz einreiste und mit dem Herkunftsland kein Sozialversicherungsabkommen
besteht). Die sozialarbeiterische Abklärung zeigt, dass die Familie knapp über
dem Existenzminimum lebt.
Wie wichtig ist die Angelegenheit?
Die Eltern möchten möglichst bald einen
positiven Bescheid, dass auch sie – wie die
meisten anderen Eltern von Kindern mit
Epilepsie – die Reisekosten finanziert bekommen. Wichtig für sie ist es, die knappen Finanzen im Griff zu behalten. Eine
grössere unvorhergesehene Ausgabe wie
die Reisekosten würde das Budget ins Ungleichgewicht bringen.
Wer hat eigentlich das Problem?
Die Eltern ecken mit ihrem fordernden
Verhalten immer wieder an. Ihr soziales
Umfeld reagiert oft widerwillig, und die
Familie erhält zum Teil nicht einmal, was
ihr zustehen würde. Die Sozialarbeiterin
muss die unwirsche Kommunikation der
Eltern professionell betrachten. Es gibt sicher Erklärungen für die Haltung dieser
tamilischen Emigranten. Als Sozialarbeitende sind wir nicht nur für die angenehmen Klienten da, sondern «erst recht für
die schwierigen». Die Sozialarbeiterin
muss evaluieren, ob ein Antrag an eine
Stiftung gerechtfertigt ist, und die zeit­
lichen Ressourcen schaffen, diesen zu begründen und zu verfassen.
Kann ich die Haltung des anderen ver­
stehen? Wie lässt sie sich erklären?
Die Sozialarbeiterin kommt für sich zum
Schluss, dass es nicht gerecht ist, dass für
andere Kinder mit derselben Diagnose die
Fahrkosten durch die Sozialversicherungen übernommen werden, jedoch für dieses Kind nicht. Diese Leistung ist jedoch
nicht einfach einforderbar, da es sich nicht
um eine Pflichtleistung handelt. Die fordernde Haltung der Eltern lässt sich vielleicht damit erklären, dass sie viel Leid erfahren haben in der Vergangenheit. Auch
haben sie Mühe, unser System zu verstehen. Zudem lebt die Familie gemäss SKOSRichtlinien an der Armutsgrenze.
Wie lässt sich die Situation unter Berück­
sichtigung meiner Erkenntnis/Vermutung
lösen?
Die Sozialarbeiterin kann gut begründete
Anträge – wie in diesem Fall möglich – an
Stiftungen stellen, um solche behinderungsbedingten Mehrkosten (die von keiner Sozialversicherung übernommen werden) zu finanzieren.
Kann ich hier und jetzt die Entscheidung
treffen?
Der Antrag an eine Stiftung wird geschrieben. Die zeitliche Ressource dafür kann
geschaffen werden.
Bedarf es vorab oder anschliessend einer
weiterführenden Reflexion im Team oder
im Rahmen einer ethischen Fallbespre­
chung?
Nein, es geht hier nicht um eine hohe Geldsumme. Die Entscheidung liegt in der
Kompetenz der Sozialarbeiterin.
Die Sozialarbeiterin hat die Erfahrung gemacht, dass ein solches Handeln ver­
trauensbildend wirkte und die weitere Zusammenarbeit mit diesen Eltern viel angenehmer wurde, auch wenn es nicht mehr
um Finanzierungen ging.
Literatur
Markus Christen: Entscheidungsfindung bei Nichteinwilligungsfähigen. Praxisordner Ethik im Gesundheitswesen (Ergänzungslieferung 2). Schwabe und
EMH Schweizerischer Ärzteverlag, 2011.
Ruth Baumann-Hölzle: 7 Schritte ethischer Entscheidungsfindung. Ein Modell strukturierter Fallbesprechung. In Baumann-Hölzle: Autonomie und Freiheit
in der Medizinethik. Alber, 1999.
Walter Lüssi: Abwägen und entscheiden in moralischen Konfliktsituationen – Vom «guten» Umgang
mit Verweigerungshaltungen. Vortrag an der
9. Ethik-Tagung an der Schweizerischen EpilepsieStiftung, 2013.
Peter A. Schmid: EPOS – Ethische Prozesse in Organisationen im Sozialbereich. Ein Leitfaden für die
Praxis. CURAVIVA Schweiz, 2011.
Andreas Mielck: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Interventionsmöglichkeiten. Verlag Hans Huber, 2000.
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