32 Tages-Anzeiger – Donnerstag, 4. Juli 2013 Wissen Temperaturziel allein genügt nicht Berner Forscher zeigen, dass die Klimapolitik zu stark auf die Erderwärmung fokussiert ist. Um grosse Schäden in Siedlungen und Ökosystemen zu verhindern, braucht es zusätzliche Klimaziele. Die Emissionen müssen noch stärker gesenkt werden. Von Martin Läubli Die internationale Klimapolitik hat sich in den letzten Jahren auf eine Zahl eingeschworen: zwei Grad Celsius. Dieser Wert steht quasi für das Wohl der Erde. Stärker darf sich unser Planet laut dem Gros der Klimaforscher gegenüber der vorindustriellen Zeit nicht erwärmen. Sonst rechnen die Wissenschaftler mit ökologischen Schäden, die sich nicht mehr reparieren lassen. Auf dieses Ziel ausgerichtet, so der bisherige Konsens in der Wissenschaft, darf der Mensch noch etwa 500 Milliarden Tonnen Kohlenstoff in Form des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) in die Atmosphäre entlassen. Konkret heisst das: Von den aktuellen weltweiten Vorkommen an Kohle, Erdöl und Gas, die wirtschaftlich förderbar sind, darf schätzungsweise nur noch ein Viertel verbrannt werden. Nun warnen Klimaforscher der Universität Bern davor, den globalen Klimaschutz allein auf die Erwärmung zu fokussieren. «Wenn wir uns nur auf die 2 Grad verlassen, heisst das noch nicht, dass wir bei anderen Klimafolgen auf der sicheren Seite sind», sagt Marco Steinacher, Hauptautor einer gestern in «Nature» online veröffentlichten Studie. Der Wissenschaftler am Oeschger-Zentrum für Klimaforschung der Uni Bern schlägt zusammen mit den Forscherkollegen Fortunat Joos und Thomas Stocker vor, der Grenzwert für die Erwärmung müsse jeweils in Kombination mit fünf anderen Klimazielen betrachtet werden: Dazu gehören namentlich der Anstieg des Meeresspiegels, die Versauerung der Meere und die landwirtschaftlichen Ertragsausfälle. Kleiner Handlungsspielraum «Welche Klimaziele wir letztlich festlegen und welche Risiken wir eingehen wollen, ist allerdings eine gesellschaftliche und politische Frage», sagt Marco Steinacher. Der ständig steigende CO2Ausstoss verringere aber den Handlungsspielraum zunehmend. Für ihre umfassenden Modellrechnungen verwendeten die Berner Forscher vier Kombinationen mit unterschiedlichen Zielen. Dabei berechneten sie, wie viele Tonnen CO2 künftig zusätzlich ausgestossen werden dürfen. Die Wissenschaftler berufen sich bei ihrer Auswahl der zusätzlichen Klimaziele auf frühere Studien, die aufzeigen, wie sich diese auf den Menschen und die Leistungen der Ökosysteme auswirken. Der Anstieg des Meeresspiegels etwa ist direkt an die Erderwärmung gekoppelt. Bereits bei einem realistischen mittleren globalen Hub von 20 bis 30 Zentimetern bis Ende des Jahrhunderts kann es bei Sturmfluten für viele Küstenstädte zu Klimaziel 2: Korallen vor Versauerung schützen. Fotos: iStockphoto (Getty Images) Wie viel CO2 wir ausstossen dürfen Strategie 1: Erderwärmung nicht über 2˚Celsius Strategie 2: Zusätzlich: u. a. starken Anstieg des Meeresspiegels verhindern, bedrohte Korallen schützen Kohlenstoff* in Form von CO2 in Mrd. Tonnen Strategie 1 1000 2100 750 noch zulässige Emissionen bis 2100 500 Strategie 2 2020 2010 250 früher ausgestossene Emissionen 2000 1980 1950 0 1750 Unsicherheitsbalken: ensteht durch verschiedene Szenarien für den Ausstoss anderer Substanzen als CO2, darunter solche mit kühlendem Effekt. * aus fossilen Energien, kumuliert Klimaziel Nummer 1: Die Erde darf sich nicht stärker als 2 Grad erwärmen. Foto: Comstock Images (Getty Images) TA-Grafik kmh / Quelle: Universität Bern grossen Zerstörungen kommen. Auch die Versauerung der Meere kann für die Meeresbiologie dramatische Folgen haben. Der Säuregrad steigt, je mehr Kohlendioxid das Meerwasser aufnimmt. Die Folge: Kalkschalen und Skelette etwa von Muscheln und Korallen werden angegriffen oder gar aufgelöst. Was das für die Nahrungskette heissen könnte, wissen die Forscher aber noch nicht genau. Risikoüberlegungen müssen auch bei der Nahrungsproduktion gemacht werden. Wie viel Ernteverlust ist erträglich? Agronomen gehen davon aus, dass die Nahrungsproduktion um 70 Prozent gesteigert werden muss, um die Menschen künftig ernähren zu können. Klimagas in der Atmosphäre. «Langfristig ist vor allem dieses Gas ausschlaggebend», so der Berner Forscher. Vor diesem Hintergrund liessen die Berner Forscher ein sogenanntes Erdsystemmodell rechnen, das an der Uni Bern entwickelt wurde. Das Modell simuliert räumlich verschiedene physikalische und biochemische Prozesse wie etwa Fotosynthese, die Dynamik der Vegetation, die Sonneneinstrahlung und den Wärmeeffekt von Treibhausgasen und Aerosole wie Sulfate und Russ. Sie verwendeten dabei über 50 verschiedene Treibhausgas-Szenarien. Dabei zeigte sich, dass es eine deutliche Einsparung beim bisherigen CO2-Budget braucht, um alle Klimaziele zu erfüllen. Ein Beispiel: Eines der günstigeren Szenarien geht davon aus, dass die Weltbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr als 500 Milliarden Tonnen Kohlenstoff ausstösst. Damit liesse sich laut den Modellergebnissen zwar eine Erwärmung um mehr als 2 Grad verhindern, doch mindestens eines der anderen KIimaziele bliebe unerfüllt. Um alle Ziele zu erreichen, dürfte die Ausstossmenge nicht mehr als 250 Milliarden Tonnen sein, also rund die Hälfte des bisherigen Budgets. Für Steinacher ist klar: «Mit der 2-Grad-Grenze entsteht nur der Eindruck, die Welt sei in Ordnung.» Die Forscher gehen noch einen Schritt weiter. Sie empfehlen, sich künftig bei Massnahmen im Klimaschutz vor allem auf die Reduktion von CO2 zu konzentrieren, weniger auf die anderen Treibhausgase wie etwa Methan. Die UNOKlimarahmenkonvention sieht sechs Treibhausgase vor. «Das funktioniert beispielsweise bei der Ozeanversauerung nicht», sagt Steinacher. Der Grund: Die geochemischen Prozesse sind ausschliesslich von der CO2-Konzentration abhängig. Zudem ist CO2 das langlebigste «Das stringenteste Klimaziel sollte den Emissionspfad festlegen», sagt Malte Meinshausen. Der Forscher am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) war einer der Ersten, der sich mit CO2-Budgets beschäftigte. Dafür könne man die Zielkombinationen der Berner Forscher in Betracht ziehen oder die kritische Erwärmungsgrenze hinunterschrauben. ETH-Forscher Andreas Fischlin haben die Resultate der Uni Bern nicht überrascht. «Sie sind plausibel und willkommen.» Spätestens seit dem vierten und bislang letzten IPCC-Bericht 2007 sei «eindrücklich» belegt, dass die 2-GradSchwelle teilweise zu hoch angesetzt sei. «Die Sicherheitsmarge scheint damit in der Klimapolitik zu klein zu sein», sagt Fischlin. Im Klimabericht zeigten die IPCC-Autoren etwa, dass Korallenriffe schon bei einer Erwärmung um 1,7 Grad Celsius chronisch ausbleichen. Carlo und Julia Jaeger, Forscher am PIK, untersuchten vor Jahren, wie diese 2-Grad-Grenzwert historisch zustande gekommen ist. Die Limite sei «fast zufällig aufgetaucht», schreiben sie. Politiker hätten sie wie ein wissenschaftliches Ergebnis behandelt, Wissenschaftler als politische Angelegenheit. Auch wenn die internationale Staatengemeinschaft der UNO-Klimarahmenkonvention diese Erwärmungsgrenze vor drei Jahren offiziell festlegte, gibt es immer noch grosse Zweifel. Die Gruppe der kleinen Inselstaaten Aosis zum Beispiel verlangt seit Jahren, die Erwärmungsgrenze auf 1,5 Grad zu senken. Aus solchen Gründen einigten sich die Staaten auf eine Prüfung des 2-GradZiels. Bis zum Jahr 2015 sollen Wissenschaftler erörtern, ob dieser Grenzwert mit dem Ziel der Klimarahmenkonvention übereinstimmt. In Artikel 2 der Konvention heisst es, dass eine «gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems» verhindert werden soll. «Dabei soll auch diskutiert werden, was gefährlich heisst», sagt Andreas Fischlin. Die Meinungen unter den Staaten gehen je nach Betroffenheit auseinander. Fischlin wird im Auftrag der UNO diesen wissenschaftlichen Dialog leiten. Die Arbeit der Berner Forscher, sagt er, sei zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Klimaziel 3: Zersetzung der Kalkschalen von Meerestieren vermeiden. Klimaziel 4: Verlust von Kohlenstoff auf Ackerflächen einschränken. Klimaziel 5: Ertragsausfall bei Nahrungsmitteln reduzieren. Klimaziel 6: Den Anstieg des Meeresspiegels begrenzen. 50 verschiedene Szenarien Politik überprüft 2-Grad-Ziel Transplantation hilft HIV-Patient Mehr Wetterkatastrophen Zwei HIV-Patienten haben nach einer Knochenmarktransplantation keine nachweisbaren Aidserreger mehr in ihren Blutzellen. Dies berichteten US-Mediziner aus Boston am Mittwoch auf der Internationalen Aidskonferenz (IAS 2013) in Kuala Lumpur. Der eine Patient habe seit 7, der andere seit 15 Wochen keine Aidsmedikamente mehr genommen. «Obwohl diese Ergebnisse aufregend sind, bedeuten sie nicht, dass die Männer geheilt sind», betonte Timothy Henrich vom Brigham and Women’s Hospital in einer Mitteilung des Spitals. Es sei noch mindestens ein Jahr abzuwarten, um zu sehen, was die Therapie wirklich bewirkt habe. Die Viren könnten unter anderem noch im Gehirn oder im Verdauungstrakt schlum- Jahr: mern. Die Transplantationen liegen den Angaben zufolge jeweils schon mehrere Monate zurück, die Aidsmedikamente wurden aber erst vor Wochen abgesetzt. Weltweit Aufsehen erregt hatte im Jahr 2008 ein Patient in Berlin, bei dem die Zahl der Aidsviren nach einer Knochenmarktransplantation ebenfalls unter die Nachweisgrenze gesunken war. Er hatte die Knochenmarkspende im Rahmen einer Blutkrebstherapie erhalten. Von einer Aidsheilung wollten die Ärzte damals aber auch nicht sprechen. Eine Knochenmarktransplantation sei auch keine generelle Therapieoption gegen Aids, sagte der damals behandelnde Arzt Gero Hütter. Die Transplantation sei mit einem zu hohen Risiko belastet. (SDA/DPA) Das vergangene Jahrzehnt hält einen erschreckenden Rekord: Nie gab es mehr Klimaextreme, seit Meteorologen regelmässig Wetterdaten festhalten. Ein Ende des bedrohlichen Trends sieht die am Mittwoch in Genf vorgestellte Studie «Das globale Klima 2001–2010: Eine Dekade der Extreme» nicht. Von Wirbelstürmen bis Hitzewellen mit insgesamt Hunderttausenden Toten: Nie hat die Welt mehr Klimaextreme erlebt als zwischen 2001 und 2010. Zugleich war die erste Dekade des 21. Jahrhunderts nach Erkenntnissen von UNO-Experten die wärmste seit etwa 1850, als die regelmässige Aufzeichnung von Wetterdaten begann. Dabei seien mehr nationale Temperaturrekorde gebrochen worden als in jeder anderen erfassten Dekade, erklärten Experten der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) in Genf. «Steigende Konzentrationen von Treibhausgasen verändern unser Klima mit weitreichenden Folgen», warnte WMOGeneralsekretär Michel Jarraud. Für die Studie hatten meteorologische Dienste in 139 Ländern Daten gesammelt. Demnach stieg die weltweite jährliche Durchschnittstemperatur auf 14,47 Grad Celsius — das sind 0,47 Grad mehr als im Zeitraum von 1961 bis 1990. Zudem beschleunige sich der Trend: Zwischen dem letzten Jahrzehnt und dem Zeitraum von 1991 bis 2000 wurde es weltweit um 0,21 Grad wärmer — auch das ist Rekord für zwei aufeinanderfolgende Dekaden seit Beginn der Aufzeichnungen. (SDA) Mini-Menschenleber gezüchtet Japanische Forscher haben in Mäusen eine Art menschliche Leber heranwachsen lassen. Sie züchteten im Labor zunächst Leber-Vorläufergewebe und transplantierten dieses in den Körper der Versuchstiere. Bis zu Ersatzorganen für Menschen ist es aber noch ein weiter Weg. Wie sie im Fachblatt «Nature» berichten, entstand eine Art kleine Leber, die der von Menschen ähnelte — zumindest vom Aussehen und teils auch von der Funktion her. Die Forscher hatten einen Cocktail aus drei verschiedenen Zelltypen verwendet. Nach den präsentierten Daten ist aber noch unklar, ob sich in dem Gewebe auch Gallengänge bilden, über die giftige Stoffe aus der Leber herausgeleitet werden können. (dpa)