Medienvergessenheit. Über Gedächtnis und Erinnerung in

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Wolfgang Hagen
Medienvergessenheit.
Über Gedächtnis und Erinnerung in massenmedial
orientierten Netzwerken.
Vor einigen Jahren haben Jan und Aleida Assmanns einen ihrer Texte zum
„kulturellen Gedächtnis“ in dem hoffnungsfrohen, fast schon trotzig klingenden Schlusssatz münden lassen: „Solange wir den Tod nicht abschaffen können, wird es deshalb das kulturelle Gedächtnis geben, auch unter den Bedingungen der digitalisierten Mediengesellschaft“ (Assmann 2005, 28). Die
folgenden Überlegungen wollen dem nachgehen. Die Assmanns unterscheiden, kurz gesagt, das „kommunikative Gedächtnis“ (das unsere Lebenszeit
und höchstens noch zwei weitere Generationen umfasst) von einem „kulturellen Gedächtnis“, in welchem schriftlose wie auch schriftmächtige Kulturen
ihre Ursprungs- und Erhaltungsmythen tradieren. Genauer genommen zerfällt
das „kommunikative“(28) in ein „verkörpertes“, nur unsere Lebenszeit
betreffendes, und ein „vernetztes“(29), also auch unsere Nachkommen und
Freunde betreffendes Gedächtnis. Schriftlose Kulturen zelebrieren Feste und
Kulte, in denen sich ihr Kulturelles Gedächtnis stets wieder neu artikuliert;
die Schrift- und Buchkulturen haben überdies, um der überbordenden Flut
ihrer Erinnerungsdokumente Struktur zu geben, die Differenz von „Kanon“
und „Archiv“ eingeführt, zwischen denen das „Kulturelle Gedächtnis“ in
stets sich erneuernden Akten von Erinnern und Vergessen oszilliert. Allerdings bleibt in der Moderne diese Differenz weitgehend ungelöst und prekär,
weil mit jeder neuen Kanonisierung („Die 100 Bücher der Weltliteratur!“,
"Die 50 besten Sinfonien") des kulturellen Stoffes eine neue Phase der Vergessenheit (des Verfalls oder der Vernichtung) droht.
Die folgenden Überlegungen operieren mit einem Gedächtnisbegriff, der
nicht so sehr von Gedächtnisinhalten ausgeht. Ein soziales Gedächtnissystem,
dessen historische Diskussion hier im Focus steht, beschreibt nicht die Erinnerungen selbst, sondern die Prozeduren und Strukturen, die zu Erinnerungen
1
oder eben zum Vergessen führen. Pointiert zugespitzt lauten meine Fragen:
Haben die Massenmedien die Ausbildung des Kulturelles Gedächtnis gefördert? Eröffnen sich durch das Internet und seine digitalen Technologien neue,
vielleicht sogar „bessere“ Perspektiven? - Im ersten Teil diskutiere ich zwei
konträre Argumentationen zur Gedächtnisfunktion des Internets, die beide
von dem rasanten Aufschwung dieses Mediums geprägt sind und zwei diametral entgegengesetzte Imperative thematisieren: „Delete“ versus „Recall!“.
Im zweiten Teil erinnere ich an die klassische Differenz zwischen „Gedächtnis“ und „Erinnerung“, die in der Platonischen Schriftkritik entfaltet wurde
und bereits den Hintergrund des „kanonischen“ Dilemmas im Assmannschen
Kulturgedächtnis ausleuchtet. Der Dritte Teil untersucht die Folgen der von
der (Bevölkerungs- und) Medien-Evolution/Expansion des 19ten und 20ten
Jahrhunderts getriebenen seriellen Aktualitätsstruktur des massenmedialen
Sozialgedächtnisses. Der vierte Teil geht auf den ersten zurück und diskutiert
skizzenhaft die bislang erkennbaren Strukturchancen eines sozialen und kulturellen Gedächtnisses in digital-medialen Netzwerktopologien.
I. „Delete“ oder „Total Recall“?
Selten wurde über das Nicht-Vergessen-Können eines Mediums so intensiv
diskutiert wie im Fall des Internet um die Jahrzehntwende 2010. Es geht
dabei unter anderem um die 400 Millionen MitgliederInnen des „sozialen
Netzwerks“ „Facebook“. Die wenigsten kümmern sich um Datenschutz und
übersehen, dass „Facebook“ in der Regel über ihre Bilder und Dokumente
urheberrechtlich verfügt und nicht sie selbst. Viktor Meyer-Schönberger
beschreibt in seinem jüngsten Buch „Delete: The Virtue of Forgetting in the
Digital Age“ die zum Teil verheerenden Konsequenzen. „Do we want a
future that is forever unforgiving because it is unforgetting?” (2009, 6) fragt
Mayer-Schönberger. Allen voran steht die Firma Google im Visier, die bekanntlich alle Daten hortet, derer sie habhaft werden kann, auch die etwa 200
Millionen Suchabfragen ihrer User pro Tag. „By cleverly combining login
data, cookies, and IP addresses, Google is able to connect search queries to a
particular individual across time - and with impressive precision” (2). Auch
wenn Google inzwischen erklärt, die entsprechenden Daten nach einiger Zeit
zu löschen, bleibt Schönberger einer solchen Kultur des Unvergessens gegenüber skeptisch. „Since the beginning of time (…) forgetting has been the
norm and remembering the exception. (…) Today, with the help of
widespread technology, forgetting has become the exception, and
remembering the default” (2). Alles, was wir übers Internet erledigen, bleibt
potentiell gespeichert; alle Kontodispositionen werden erfasst; unsere Handys
2
orten unsere Standorte und Bewegungen; unsere TV- und Online-Provider
speichern Verbindungsinformationen; Marketingfirmen kaufen die Daten und
verdichten sie. In England sind 4,2 Millionen Überwachungskameras aktiv;
wann werden sie mit automatischen Gesichtserkennungs-Algorithmen ausgestattet sein? Schönbergers Fazit: „My suggestion is an expiration date for
information to confront us with the finiteness of memory, and to prompt us to
understand (and appreciate) that information also has a lifespan” (15). Was
ist der Vorschlag? Beim Speichern einer Datei soll künftig technisch die
Eingabe eines Löschdatum erzwungen werden. Angesichts der wuchtigen
Dimension einer globalisierten Vergessensontologie, die Schoenberger in
seinem Buch aufspannt, - eine eher dürftige Pointe. Das ontologische Momentum an der Löschzwang-Idee offenbart sich überdies sofort: Gilt das
Löschdatum auch für die Kopie der Datei oder wie erneuert es sich in einem
solchen Fall? Erwirken Änderungen an der Datei ein neues Löschdatum?
Alles läuft auf die Frage heraus: Was 'ist' eine Datei unter gedächtnistheoretischen Aspekten? Ist sie eine Entität bedeutender Inhalte oder nur ein Algorithmus möglicher Bedeutungen (also ein Computer in nuce; vgl. Wirth
1983).
Alt-Blogger Joseph Daniel Lasica hatte es schon 1998, in der Frühphase
des World Wide Web, prophezeit: „The Net never forgets“. Allerdings ging
es dem ehemaligen Tageszeitungs-Redakteur weniger um den Ewigkeitsbestand nicht gelöschter Daten als vielmehr um den Zusammenbruch der „Gatekeeper“-Funktion seines Berufsstandes. „Our political opinions, prejudices,
religious beliefs, sexual tastes and personal quirks -- are all becoming part of
an immense, organic media soup that is congealing into a permanent public
record“ (Lasica 1998). Es war nämlich schon vor der Jahrtausendwende deutlich, dass das Internet über seine schnellen Upload-Funktionen von Bild, Ton
oder Text Millionen „Gatewatcher“ auf den Plan ruft, die über „Blogs“,
„News-Feeds“ oder andere „Tubes“ nicht nur gelegentlich schneller informieren als amtliche Nachrichtenagenturen, sondern vor allem die Zahl 'nachrichtenfähiger' Informationen um ein Vielfaches erhöhen (Bruns 2008, 4).
Den Tageszeitungen, die ohnehin von den jüngeren Generationen immer
schwächer genutzt werden, aber auch den sonstigen journalistischen Medien
(Radio, TV) hat das eine existentielle Herausforderung beschert. Vor dem
Horizont dieses Funktionswandels mutiert der ehemals radikal-liberale Slogan der New York Times – „All the news that’s fit to print“ - zur altväterlichen Zensurgebärde. „Menschen, früher einmal bekannt als ‚das Publikum’“(Rosen 2006), vollführen im Netz „zufällige Akte des Journalismus“
(Lasica 2003, 4), während der klassische Journalismus auf die Rolle des
begleitenden Kommentators reduziert wird, der annotiert und orientiert, und
so vom „Watchdog“ zum „Guidedog“ mutiert (Bardoel 2001, 94).
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Alles dies erscheint als eine Folge der wachsenden Quantität der von
Computern gespeicherten Informationen, die das Internet für jeden User so
bereithält, dass er sie jederzeit ergänzen oder korrigieren kann. Prinzipiell
sind diese Daten in der Tat unverfallbar („because it lacks the noise problem“(57), wie Mayer Schönberger sagt). Wenn man nur darauf achtet, dass
die physikalischen Träger stetig erneuert werden, sind digitale Informationen
in „ewigen Datensätzen“ (Bienert 1998, 149ff) gerahmt. Statt einem verordneten Vergessen solchen Daten eine „digitale Unsterblichkeit“ (Bell 2001, 1)
zuzuschreiben und mit ihnen sogar die Vision einer "Zwei-WegeUnsterblichkeit" (Bell 2009, 154) von real existierenden Menschen zu konstruieren, wie es Gordon Bell, einer der führenden Köpfe der „MicrosoftResearch“ Abteilung in Redmond, vorschlägt, markiert den Kontrapunkt in
der Debatte um Vergessen versus Erinnerung im Internet: „We see hints that
at least some aspects of a person could be expressed as a program that interacts with future generations. It is (…) possible to make a compelling avatar
of that person. This avatar can 'live forever' in a virtual world“ (Bell 2001, 2).
Zum einem solchen Avatar des unendlichem Lebens hat sich Gordon Bell
gleich selbst erklärt. Mit Geldern von Microsoft Research gründete er 2001
„MyLiveBits“ (Bell 2002) und „lebt“ seither in lückenloser Selbstaufzeichnung seiner selbst mittels digitaler Maschinen. „We have entered an era of
virtually unlimited storage, enabling lifetime storage of most of what one
sees and hears, along with many new data source such as user logs and sensor
data“ (Bell 2003). Wo immer er sich bewegt, was immer er sieht oder hört,
wird in Bild und Ton aufgezeichnet. Jede E-Mail, die er schreibt oder erhält,
jede Web-Site, die er anschaut, jeder Spaziergang, jede Besorgung, jede Autofahrt, alles wird gescant, mitgeschnitten und abgespeichert. „Retaining
every conversation a person has ever heard requires less than a terabyte (for
adequate quality)“ (Bell 2003). Ein Lebensalter von 83 Jahren unterstellt
würde der vollständige ‘Scan’ aller gelesenen und geschriebenen Bücher,
Reports, Papers, Emails, Web-Seiten, aller gehörten Musiken (in MP3Format), aller selbst gemachten und von seiner „SenseCam“ automatisch
geschossenen Photos etwa 200 Terabyte Daten erzeugen (Gemmel 2006). In
„Total Recall: How the E-Memory Revolution will Change Everything”
(2009) stellt Bell mit seinem Assistenten Jim Gemmel einige Fragen zusammen, die mit diesem auf absolute Unvergesslichkeit angelegten Vorhaben
verbunden sind: Kann man die Daten auch noch in fünfzig Jahren lesen (Datenformatkompatibilität)? Wie können wir später noch private von beruflichen Daten trennen? Was sind ‚die Wahrheiten’ über uns selbst und wer
interpretiert sie? Was ist mit dem Datenschutz der umgebenden Personen?
Können die „life-log“-Daten auch vor Gericht verwendet werden? Gewichtige Fragen, die Bell zwar stellt, aber nicht beantwortet. Wer über die Daten
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verfügen kann und wie solche Verfügungen wiederum kontrolliert werden
könnten, ergibt sich für ihn aus der Sache: „The recording equipment is not
controlled by a single central authority, but by millions of individuals and
private entities“ (Bell 2009, 14).
Gordon Bells “MyLifeBits”-Projekt stellt sich ausdrücklich in die Nachfolge der ‘Extended Memory’-Vision („Memex“) von Vannavar Bush aus
dem Jahre 1945. „A memex is a device in which an individual stores all his
books, records, and communications, and which is mechanized so that it may
be consulted with exceeding speed and flexibility" (Bush 1945, 10). Es handelt sich bei Bushs Vison bekanntermaßen um eine gedankliche Vorform des
Desktop-PC oder Laptop von heute. „On the top of the memex is a
transparent platen. On this are placed longhand notes, photographs,
memoranda, all sort of things” (10). Aber anders als Bells megalomane Datenbank aller je wahrgenommenen oder artikulierten Äußerungen ist Bushs
Maschine ein Hilfsmittel für das Denken. Sie soll das wissenschaftliche
Arbeiten erleichtern und beschleunigen. „One cannot hope thus to equal the
speed and flexibility with which the mind follows an associative trail, but it
should be possible to beat the mind decisively in regard to the permanence
and clarity of the items resurrected from storage” (10). Bushs gedanklichem
„Memex“ ging es allein und nur um die Ressourcen wissenschaftlicher Arbeit
(„What are the scientists to do next?“), um das Verknüpfen von Bibliotheken,
Fotoarchiven, Nachschlagewerken; ich komme darauf zurück. Eine multidimensionale Live-Log-Datei war sein Thema nicht. Indem sich Bell aber darauf beruft (Gemmel 2002), will er auf die Erfüllung einer Prophetie verweisen. Ein „Memex“-Gerät, also einen Gedächtnis-Extender, verwende heute
schließlich jeder, der mit einem PC arbeitet. Daraus zieht Bell seinen technodeterministischen Argumentationsschwung: „I am a technologist, not a
Luddite, so I’ll leave abstract discussions about whether we should turn back
the clock to others. Total Recall is inevitable regardless of such discussions”
(Bell 2009, 159) – “Total Recall, like the automobile, is rejected only at the
price of giving up great advantages” (174).
Weder ein Datensatz, der uns in lebenslanger Paranoia verfolgt, noch einer, der uns ewiges Leben beschert, können Gegenstand gedächtnistheoretischer Reflexion sein. Ein Gedächtnis ist nicht durch seine Inhalte und deren
Umfang definierbar, also nicht dadurch, dass Alles unvergessen bleibt oder
Alles vergessen gemacht wird. Mayer-Schönberger wie auch Gordon Bells
Forschergruppe bei Microsoft unterscheiden nicht einmal zwischen einem
kommunikativen Einzelgedächtnis und dem kulturellen oder sozialen Gedächtnis einer Zivilisation oder Gesellschaft. Sie setzen zudem Vergessen mit
Löschung und Erinnerung mit Totalpräsenz gleich, statt Gedächtnis als Konstruktion und damit das Vergessen als notwendige Bedingung des Erinnerns
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zu verstehen. Auf die fragwürdige Linearität ihrer Argumentation komme ich
im letzten Abschnitt dieser Arbeit zurück. Im folgenden möchte ich zunächst
einen Blick auf die Mediengeschichte des Vergessens werfen, die Mayer
Schönberger so pointiert: „Since the beginning of time, for us humans, forgetting has been the norm and remembering the exception. (…) Today, with
the help of widespread technology, forgetting has become the exception, and
remembering the defaul.“ (Mayer-Schönberger 2009, 2). Ist „Vergessen“
tatsächlich die Norm oder gar das Normativ in den Anfängen unserer Zivilisation?
II. Platos Schriftvergessenheit
Die Schriftkultur der modernen westlichen Kulturen (und auch des Internet)
geht auf gut fünfeinhalb tausend Jahre alte Inskriptionen zurück, deren Semasiographie noch heute weitgehend gut verständlich ist. Zwischen dem 12ten
und 8ten vorchristlichen Jahrhundert entwickelte sich darüber hinaus das zu
seiner Zeit konkurrenzlose lexigrafische Medium des griechischen Vokalalphabets, das – aus welchen Gründen auch immer – „von Anfang an zur Niederschrift von mündlicher Dichtung diente“ (Powell 2006, 29). Die unter
dieser Perspektive wichtigsten abendländischen Gründungstexte sind die
homerischen Epen, auf deren Schrift-System, von den 'Vorsokratikern' an,
alle ‚westliche’ Wissenschaft beruht. Nicht nur sind Ilias und Odyssee ihrerseits Gesänge, die auch jenseits ihrer Aufschreibung deutlich machen, dass
Erinnerung und nicht Vergessen die „Anfänge“ markieren. Ihre Fixierung in
sprachaufzeichnenden Buchstaben repräsentiert darüber hinaus die erste
große zusammenhängende Anwendung eines phonetischen Schriftsystems
überhaupt (Powell 2003). In der Kulturwissenschaft gelten sie weitgehend
unwidersprochen als ein erster „vollständiger, unverkürzter Bericht einer
undokumentierten Kultur" (Havelock 1978, 8). Nur das griechische Schriftsystem war in der Lage, den erzähltechnischen Erinnerungsformaten der
oralen Poetiken gerecht zu werden, indem es sie zugleich befestigte. „Die
Notwendigkeit, den ausgeprägten Rhythmus zu bewahren, hat den Erfinder
offenbar dazu inspiriert, Zeichen für Vokale vorzusehen und die revolutionäre Regel zu formulieren, dass die eine Gruppe der Zeichen, die wir heute
Konsonanten nennen, jeweils von Vertretern der anderen Gruppe, der Vokale, begleitet sein muss. Diese einfache Regel zog die Grenze zwischen Ost
und West, mit der wir noch heute leben, und hat im gleichen Zug den Irrglauben begründet, dem die Bewohner des Westens verfielen, dass gesprochene Sprache aus Phonemen bestehe und dass der Zweck einer Schrift die
Aufzeichnung der gesprochenen Sprache sei“ (Powell 2006, 29). Vergessen
6
und Erinnerung erhalten durch dieses (und damit auch in diesem) Medium
eine neue Dimension und differentielle Erweiterung.
Ob Irrglauben oder Kontingenz: Mit der Verbreitung der alphabetischen
Schrift kommt außerhalb des Gehirns oder des Zwerchfells („Phrene“), wo
Homer den Sitz des Gedächtnisses und des Bewusstseins angesiedelt hatte,
ein weiterer Ort des Gedächtnisses ins Spiel, nämlich im Geschriebenen, in
welchem sich Sprache auf eine besondere Weise aufbewahren lässt. Es hat
keinerlei Bezug zur Anwesenheit eines Sprechenden mehr, löst ihren Zeitbezug auf und richtet sich an Niemanden. Paradoxerweise entsteht zeitgleich
mit der vokalalphabetischen Schrift (und im Widerstreit mit ihr) das System
der Rhetorik, als ein ortsungebundenes Ordnungssystem oraler Weltdarstellungen, das mit seinen Regeln der Trennung von Sein und Schein, fiktionalen
und realen Dingen sowie den kategorialen Strategien der Simulation und
Überredung mit Recht ein soziales Gedächtnissystem genannt werden kann
(Esposito 2005). Für die kommenden fast zweieinhalb Jahrtausende wird es
die Rhetorik sein, die die Schriftsysteme der Buchkultur für sekundär erklärt
(obwohl sie von ihnen abhängt) und den Kodexformaten, Bibliotheken und
Katalogen ihre kategorialen Schemata aufprägt. Aber Sokrates schreibt nicht.
Für ihm sind Inhalt, Gedanken und Haltung des Philosophierenden stets an
einen gegebenen Ort gebunden und müssen mit in einem „Kairos“, dem
‚richtigen’ Augenblick, übereinstimmen. Dagegen erklärt er die Schrift, die
Sprache von Anwesenheit und Zeit abtrennt, für ein Skandalon. Indirekt
erfahren wir so, dass es unter den Rhetorikern seiner Zeit offenbar schon
üblich war, Reden vorab aufzuschreiben, um sie dann auswendig zu lernen.
„Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie
sich nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem
nicht“ (Plato 1990, 181). Es kommt zu der weiteren Paradoxie, dass die Platonische Verschriftung der Sokratischen Lehre die erste Fundamentalkritik an
der Schrift artikuliert, welche ihrerseits als Platonische Philosophie allein in
Schriftform existiert. Mit ihr wird somit ein sehr spezielles kulturelles Gedächtnis etabliert, das fortan in der Differenz von Gedächtnis und Erinnerung
oszillieren wird. Es ist eine Philosophie, die nicht zugleich daran erinnern
kann, dass sie von den Orten und des Zeiten des Denkens spricht und doch
nur in der Unzeitlichkeit der Schrift sich artikuliert. Diese Oszillation findet
sich wieder in Platos eigener Version von der Entstehung der Schrift. Um zu
erklären, woher die Schrift stammt, erfindet er einen nicht existenten ägyptischen Gott „Theuth“, der die Schrift erfunden haben soll, um das Vergessen
zu befördern. „Diese Erfindung wird der Seele der Lernenden vor allem Vergessenheit (Lethe) einflößen, weil sie ihr Gedächtnis (Mneme) vernachlässigen. Denn sie werden sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen
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vermittels fremder Zeichen erinnern, nicht aber innerlich durch sich selbst
und unmittelbar. Nicht also für das Gedächtnis (Mneme), sondern nur für die
Erinnerung (Hypomnesis) hast du ein Mittel erfunden“ (180).
Die vorsokratische Antike ging davon aus, dass das Gedächtnis im Bauch,
unterhalb des Brustkorbs angesiedelt ist. So kann man verstehen, wozu ein
lautes Aufsagen von Homer-Versen gut ist, mit dem die Pythagoreer allabendlich ihr Zwerchfell trainierten (Marciano 2007a, 135). Diogenes erläutert, dass deshalb auch, bevor man etwas erinnere, ein leichter Druck im
Brustkorb entstehe (Marciano 2007b, 281). Wie soll ein Schriftsystem eine
solche Organfunktion stützen, wenn nicht über den Umweg der Rhetorik? So
ergibt sich aus Platons Bemerkungen zur Schrift ein weiterer lehrreicher Fall
für die Mediengeschichte. Medien, wie am Beispiel der Schrift in Griechenland zu sehen, werden nicht „erfunden“, außer von erfundenen Göttern. Sie
werden nicht konstruiert oder gebaut wie Brücken oder Tempel. Powell weist
darauf hin, dass sich die Experimente zur skripturalen Repräsentation von
vokaler Sprache über 700 Jahre hingezogen haben müssen (Powell 2003,
106ff). Als Plato seinen Phaidros schrieb (um 380 v.C.), war das vokalalphabetische Schriftsystem erst einige hundert Jahre in Verbreitung. Es sollte
aber, wie wir heute wissen, mehr als zwei Jahrtausende – und das Hinzutreten
einiger weiterer Übertragungsmedien (Buchdruck, Computer) – dauern, bis
die Rolle und Funktion der Schrift für das Verständnis von Sprache und Wissenschaft besser verstanden werden konnte.
Korreliert man die Medienevolution mit Bevölkerungswachstum, -zahl
und –dichte (die Medienevolution korreliert mit dem Gradienten des Weltbevölkerungs-Wachstums sehr gut), dann befand sich, angesichts der dünnen
Besiedelung Griechenlands, auch nach vier Jahrhunderten das Schriftsystem
immer noch in den Anfängen. In dieser Frühphase entsteht zugleich die „Redekunst“ – also eine durch die vokalalphabetische Schrift gleichermaßen
unterstützte wie bedrohte Disziplin. Alle Neuen Medien, solange sie noch
nicht als „natürlich“ etabliert und ihre Konzepte noch im Fluss sind, „stellen
den mythischen Charakter und die ritualisierten Konventionen existierender
Medien in Frage und definieren ihren eigenen Ort innerhalb einer neuen
perzeptiven und semiotischen Ökonomie, die sie transformieren helfen“
(*Gitelman 2003, XII). Das gilt, wie Lisa Gitelmann betont, nicht nur für das
Internet, sondern ebenso für andere Medien-Innovationen zuvor. Bei dem
Entstehen neuer Medien werden also beide Seiten, das Neue wie das Alte,
einer Redefinition unterzogen. Schon wenige hundert Jahre nach der Verbreitung der Schrift, kann Plato festhalten: Mit dem phonetischen Schriftsystem
entsteht eine Art von „Hypo-Mneme“, ein Hyper-Gedächtnis, das ebenso viel
zum Vergessen beitragen wird (zum Beispiel der Redefähigkeit aus dem
„Bauch“ heraus), wie zur Verwissenschaftlichung der Welterkenntnis. Letz8
tere wird von Platon erstmals kanonisiert in Form der Gründung einer „Akademie“ (387 v. Chr. kauft Plato den Oliven-Hain des „Akademos“ im Nordwesten Athens) als deren Lehrgrundlage Platon Dialoge schreibt. Seine sorgfältig in Schrift gesetzte Kritik an der Schrift mag als ein erstes Beispiel der
paradoxalen Schriftvergessenheit der mit Plato begründeten abendländischen
Philosophie gelten.
Das phonetische Schriftsystem ist zwar die Voraussetzung der abendländischen Wissenschaft und Literatur, aber seine Wirkung auf ihre Formationen
blieb über fast zwei Jahrtausende implizit und unausgemacht. Erst in der
zweiten Hälfte des 20ten Jahrhunderts hat beispielsweise Jacques Derrida in
der Philosophiegeschichte von Platon bis Heidegger explizit die logozentristische Verkennung der Schriftlichkeit markiert und damit zugleich die
Schrift- und die Stimmvergessenheit des abendländischen Denkens angemahnt (Derrida 1974). Wenn nämlich Medien einmal in die semiotische
Ökonomie sozialer Kommunikationen und Transaktionen störungsfrei eingebaut sind, geht ihre historische Ambivalenz verloren und sie selbst werden zu
einer unmittelbaren und unteilbaren Gegenwartsfunktion der Welt, die sich
durch sie mitteilen lässt. Am Beispiel des Gutenbergschen Buchdrucks hat
Michael Giesecke deutlich beschrieben, dass im Sinne einer Ursachenlogik
der Buchdruck für die Bildung der Nationalstaaten Europas nicht verantwortlich ist. Gleichwohl aber wäre ohne die Standardisierungskraft und Zirkulationsmächtigkeit dieses neuen Mediums (also seine Gegenwartsfunktionen)
der „rasche Aufstieg des Nationalbewusstseins“ in Europa nicht zu erklären
(Giesecke 1991, 388). Die „Utopie des deutschen Vaterlandes“ ist schon
deswegen von der medialen Gegenwartsfunktion des Buchdrucks geleitet,
weil eben diese Utopie „gerade für die Autoren und Drucker handlungsleitend und orientierungsrelevant gewesen ist“ (389). Dass sich im Mediengebrauch implizit Motive geltend machen, die sich selbstreferentiell auf das
Medium beziehen und es damit invisibilisieren (wer will schon zugeben, dass
er nur des Bücherschreibens wegen Bücher schreibt), geht in der Gegenwartsfunktion des Mediums unter. Übrig bleibt die Verbreitung einer (qua
Buchdruck neu standardisierten Hoch-) Sprache, hinter der sich eine Nation
versammelt. „Media (so often referred to portentously as the media) tend to
erase their own historical contexts” (Gitelman, 2003, XIV). Sind sie im umfassenden sozialen Gebrauch, treten Medien in den Zustand ihrer eigenen
Vergessenheit. Ihr Status wandelt sich von der Option einer Anwendung
(man könnte Bücher schreiben, es aber auch lassen) in ein Gegenwartsapriori
(nur wer Bücher schreibt, nimmt am Leben der Nation, Wissenschaft, Literatur, Politik, Elite etc. teil). Die Funktion des Mediums Buchdruck als Wandlungs-, Aufzeichnungs- oder Übertragungssystem wird zugunsten einer durch
sie vermittelten Gegenwart ausgeblendet.
9
Elena Esposito hat jüngst in einem systemtheoretischen Entwurf eine historische orientierte Evolution der Strukturen sozialer Gedächtnisse vorgelegt
(2005). Dabei ordnet sie der voralphabetischen Schrift ein "divinatorisches"
Gedächtnis zu, der alphabetischen Schrift ein "rhetorisches", dem Buchdruck
und den elektronischen Medien ein "kulturelles" und schließlich den InternetMedien ein "prozedurales" Gedächtnis (42ff). Ohne dass ich hier auf die
komplexen Argumentationen Espositos näher eingehen kann, sei angemerkt,
dass Jan Assmann wohl zu Recht auf die "Einlinigkeit" einer systemisch
evolutionären Gedächtnistheorie hinweist, die die "Anachronismen", die
"Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, das Gestern im Heute" und damit "die
vielschichtige Komplexität" (Assmann 2005a, 414) kultureller Gedächtsnisformationen zu sehr glattbügelt und verwischt. Doch auch wenn Esposito
nicht immer mit letzter begrifflicher Präzision operiert, ihrer Koppelung von
Medien und sozialen Gedächtnisstrukturen stimme ich zu. Auch die von ihr
gefundenen Verbindungslinien zwischen Vokalalphabet und Rhetorik sowie
zwischen Computernetzen und Prozeduralität der modernen Gedächtnisformationen fördern wichtige Einsichten zu Tage, an die meine Überlegungen
Anschluss nehmen. Allerdings bleibt der Begriff der Kultur zu eng gefasst,
dessen selbstreflexive Seite in der Avantgarde der Moderne Esposito völlig
übersieht (Esposito 2005, 304; vg. Hagen 2010). Auch Espositos Begriff der
Massenmedien bleibt zu unbestimmt, weil sie hier die evolutionistisch verkürzte Variante ihres Lehrers Niklas Luhmann allzu eklektisch übernimmt.
III. Gegenwartsvergessenheit
Ihre Geschichte zeigt: Medien haben die Eigenschaft, in ihrer Entstehungsphase Auffälligkeiten und 'Unruhe' zu erzeugen, in ihrem Regelbetrieb aber
völlig unauffällig und nahezu unsichtbar zu werden. Letzteres nenne ich
vereinfacht ihre Gegenwartsfunktion. Noch deutlicher als beim Buchdruck
tritt sie bei den „Massenmedien“ der Neuzeit und Moderne zutage. Was allerdings unter den Begriff „Massenmedium“ fällt, ist gerade in Zeiten des
Internet klärungsbedürftig. Schon am Ende der letzten, Vor-Internet-Epoche,
zu Anfang der 1990er Jahre, hatte Klaus Merten auf die Unsicherheit verwiesen, die im Begriff des Massenmediums liegt, insofern in Sonderheit „das
Buch bis heute nicht als eigentliches Massenmedium gilt“ (Merten 1994,
151). Allerdings, von seiner Kommunikationsstruktur her besehen, also "eigentlich", gehört es das gedruckte Buch sehr wohl dazu. Woher also die Einschränkung? Zur Erinnerung: Niklas Luhmanns Definition der Massenmedien lautet, dass „Interaktion (…) durch Zwischenschaltung von Technik
ausgeschlossen“ ist und in ihnen „keine Interaktion unter Anwesenden zwi10
schen Sender und Empfängern stattfinden kann“ (1996, 11). Massenmedial
sind also keine Theatervorführungen, Volksreden oder Telefonate. In den
letztgenannten Formaten ist nämlich die so genannte „doppelte Kontingenz“
der Kommunikation ungestört wirksam, die die gegenseitige Erwartung der
Beteiligten beschreibt (jeder hat eine Erwartung, was der andere wohl sagen
wird, und weiss, dass auch der andere die gleiche hat, sozusagen eine erwartende „Erwartungserwartung“ (Baecker 2005, 85ff)). Massenmedien unterliegen definitionsgemäss nicht der doppelten Kontingenz einer Kommunikation unter Anwesenden, was auch für Bücher und ihre AutorInnen gilt, die
beim Schreiben die Erwartungen ihrer späteren Leser nicht korrigieren können. Bücher haben deshalb auch nicht eo ipso eine 'eingebaute' Gedächtnisstruktur. Verschwinden sie beispielsweise von dem Ort, an dem ein Katalog
sie lokalisiert (oder weiss niemand mehr die rhetorische Regel, diesen Katalog zu 'lesen'), sind sie verloren. Gleichwohl ist der Begriff des Massenmedien, wie Luhmann ihn fasst, zu eng definiert. Das luhmannsche Kriterium
der unverbundenen Abwesenheit der Kommunikanden ist ein notwendiges,
aber nicht hinreichendes Kriterium für Massenmedien. Es bedarf der Erweiterung um eine Art 'Zugriffsordnung', so wie sie beispielsweise von Rudolf
Stoeber als definiens der Tageszeitung beschreibt: „Aktualität, Periodizität,
Publizität und Universalität“ (Stoeber 2005, 61).
So präzisiert beginnt die Ära der Massenmedien nicht mit der GutenbergBibel von 1454, sondern etwa Anfang des 17ten Jahrhunderts mit den „Avisen“, „Relationen“ („Relation aller Fürnemmen und gedenckwürdigen Historien“, 1604) oder eben „Zeitungen“, von denen die ersten nach Ende des
Dreißigjähriges Krieges auf tägliches Erscheinen umstellen (Leipziger „Einkommende Zeitungen“, 1660) (73). In den vier Jahrhunderten seither ist das
Gedächtnis für das verblasst, was 'Zeitung' einmal hieß. Johann Christoph
Adelungs „Grammatisch-kritischem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart“ – 1793 – kann noch daran erinnern: „1. Die Witterung; eine längst veraltete Bedeutung, in welcher das Wort noch Apost. 14, 17. in einigen Ausgaben
der Deutschen Bibel vorkommt. 2. Eine Nachricht von einer geschehenen
Begebenheit; (…) 'Bald ich viel neuer Zeitung erfar', Hans Sachs. 'Eine gute
Zeitung bekommen', besser, Nachricht. 3. Eine periodische, gedruckte oder
geschriebene Nachricht von den von Zeit zu Zeit vorgefallenen Begebenheiten“ (Adelung 1801, 1680). Die periodische oder serielle Gegenwartsfunktion
der Zeitung ist von Beginn an Programm. Bei Kasper Stieler heisst es schon
1695: „Das Wort: Zeitungen: kommet von der Zeit / darinnen man lebet / her
/ und kan beschrieben werden / daß sie Benachrichtigungen seyn / von den
Händeln / welche zu unserer gegenwärtigen Zeit in der Welt vorgehen / dahero sie auch Avisen / als gleichsam Anweisungen genennet werden“ (Stieler
1695, 25).
11
So 'alt' wie es scheint sind diese Zeilen nicht. ChefredakteurInnen heutiger
Massenmedien, ob Fernsehen, Hörfunk oder Print, führen sie nur zu gern im
Munde: „Zu förderst muß dasjenige / was in die Zeitungen kommt / Neue
seyn“ (29). Seit der Renaissance, in Sonderheit nach dem Dreißigjährigen
Krieg, stellen die Handelsleute in den Städten, die Kaufleute und unternehmerischen „Gentlemen“ immer mehr fest, „dass die traditionelle Abwertung
von Neuheit als Störfaktor und Ausnahme keine Gültigkeit mehr hat und
tendier[en] dazu, das Neue gegenüber dem Alten vorzuziehen. Diese Haltung
kann als Reaktion auf die Feststellung der wachsenden Schwierigkeit gewertet werden, das Neue, das auf unkontrollierbare Weise in allen Bereichen
diffundiert, im Rahmen der verfügbaren Bezüge (…) einzuordnen“ (Esposito
2004, 97). Zweieinhalb Jahrhunderte später, als allein in Deutschland fast
4000 Tageszeitungen erscheinen (Stoeber 2005, 160), viele davon mit mehrfachen Ausgaben am Tag, also in der absoluten Hochphase der gedruckten
Massenmedien, bekommt diese Neuigkeitssucht des Zeitungswesens philosophische Dignität und ihren Namen.
Ende des 19ten Jahrhunderts führt Wilhelm Wundt den Begriff der Aktualität in die Philosophie ein und bringt ihn auf die Formel: „So viel Aktualität,
so viel Realität“ (Wundt 1886, 395). Ähnlich wie Ferdinand Tönnies ist auch
Wundt im zeitgenössischen Kontext der Willensbegriffe Schopenhauers so
tief gefangen, dass uns viele seiner Termini heute fremd erscheinen. Sein
Aktualitätsbegriff bildet die Voraussetzung für den strikt empirischen Ansatz
von Wundts psychologischer Grundannahme, „daß Psychisches nur aus Psychischem wahrhaft begriffen werden kann“ (Wundt 1906, 523). Psychologie
im Sinne Wundts kann nur autopoietisch, d.h. also durch sich selbst begründet werden, wenn z. B. empirische Messungen hypothetischer Annahmen
unter Laborbedingungen stabile Ergebnisse erbringen. Man könnte ergänzen:
Und so kann auch Publizistisches nur autopoietisch aus Publizistischem begriffen werden; Journalisten schreiben eben wie Journalisten schreiben (Weber
2000). Weniger als Philosoph denn mehr als einer der Begründer der experimentellen Psychologie ist Wilhelm Wundt heute noch in Erinnerung, beispielsweise als Lehrer Ferdinand Saussures oder Hugo Münsterbergs. Weniger geläufig ist seine große zeitgenössische Autorität als einer der letzten
großen Systemphilosophen des 19ten Jahrhunderts (ein meist ungenannt
bleibender Antipode Husserls und des frühen Heidegger). Man erkennt
schnell, Wundts „Aktualitätslehre“ hatte vor allem das Ziel, alle ontologischen Annahmen über das Psychische oder die Seele überflüssig zu machen.
Vergleichbar der heutigen Systemtheorie gilt auch für Wundt, dass von den
'inneren' Mechanismen des Bewusstseins oder der 'Seele' nichts gewusst
werden kann und nichts gewusst werden muss. Wundts Psychologie hält sich,
um es mit Luhmanns Worten zu sagen, strikt „an die Ebene der faktisch aktu12
alisierten Operationen“ (Luhmann 1988, 885). Wundt erläutert das mit folgenden Worten: Der Satz - „so viel Aktualität, so viel Realität“ - „schließt
zugleich die Forderung in sich, (…) das wirkliche Geschehen nach allen ihm
selbst immanenten Kräften abzuschätzen. Diese immanenten Kräfte der Geschichte sind aber die seelischen Motive, die in den Gemeinschaften wie in
den Einzelnen lebendig sind, und die sich stetig und in fortwährender Wechselwirkung mit den äußeren Lebensbedingungen verändern" (Wundt 1907,
221).
Mit dieser fundamentalen wundtschen Abwehr aller Geschichtsontologie
sind wir bei einer neuen Disziplin namens "Zeitungswissenschaft" angekommen, die wohl nicht zufällig ebenfalls in Leipzig begründet wird. Dort
eröffnet Karl Bücher 1916 das erste gleichnamige deutsche Institut, die Geburtsstätte der deutschen Publizistik. Neben der Ausdifferenzierung der klassischen Rechts-, Wirtschafts- und Politiksysteme werden nun auch die Massenmedien in der Ausbildung einer eigenen Fachrichtung gewissermaßen
‚selbstbewusst’ und entwickeln sich ab Ende des 19ten Jahrhunderts zu einer
hoch ausdifferenzierten Beobachtungs- und Gedächtnis-Instanz der Gesellschaft. Massenmedien sind das einzige Funktionssystem, das die Gesellschaft
– teils im Namen einer unterstellten „öffentlichen Meinung“, teils auf eigene
Rechnung – als Ganze zu beobachten beansprucht. Andere Möglichkeiten
ihrer Gesamt-Beschreibung haben moderne Gesellschaften nicht. Natürlich
versuchen die Massenmedien damit auch, sich das Kulturelle Gedächtnis
einzuverleiben. Denn das, was jetzt „Gesellschaft“ heißt, die Semantik ihrer
Selbstbezüge, kann nicht mehr als Platonische Weisheitslehre rhetorisch
tradiert werden, als Bildungsroman beschrieben oder als transzendentale
Übereinstimmung in gemeinsamen Lebenswelten Verabredung finden. Es
artikuliert sich nur noch in den Formaten der Massenmedien. „Jeden Morgen
und jeden Abend senkt sich unausweichlich das Netz der Nachrichten auf die
Erde nieder und legt fest, was gewesen ist und was man zu gewärtigen hat.
Einige Ereignisse ereignen sich von selbst, und die Gesellschaft ist turbulent
genug, dass immer etwas geschieht. Andere werden für die Massenmedien
produziert. Dabei kann vor allem die Äußerung einer Meinung als ein Ereignis behandelt werden, so dass die Medien ihr Material reflexiv in sich selbst
eintreten lassen können“ (Luhmann 1997, 1097).
Schon in der Hochphase der Printmedien, mehr als noch, seit 1920 der
Hörfunk, um 1930 die Kino-Wochenschauen und um 1950 das Fernsehen
hinzutreten, gilt: Alles, was beschrieben, berichtet, gezeigt oder bebildert
wird, schnurrt vor dem Horizont einer behaupteten Aktualität auf eine Gegenwart zusammen, die ein tendenziell immer dichteres, selbstähnliches
Muster zeigt. Die massenmedial erzeugte Gegenwart war gestern eine andere
als heute und wird morgen wieder eine andere sein, und zwar ganz genau –
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dieselbe. Aktualität zieht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine
neue, aktuale Dimension zusammen. Im Lichte der gegenwärtigen Aktualität
erscheint jede vergangene inaktuell. Darin liegt, zweifellos, ein spezifisches
Moment von Freiheit, wie Henri Bergson und vor allem Gilles Deleuze es für
ihren Begriff der „lebendigen Gegenwart“ (Deleuze 1992, 100) zu Recht
reklamieren. Das gilt, so gesehen, auch für die Gegenwart der Massenmedien. Das Freiheitsmoment ihrer selbst erzeugten Gegenwart liegt darin, dass
sie alles Vergangene zur Gegenwart kontrahiert, und damit allein schon vom
Druck falscher Traditionsbehauptungen befreit. Entfaltete massenmediale
Systeme pflegen keine Tradition, nicht einmal die ihrer selbst (was wäre denn
auch an "50 Jahre Bild" die Neuigkeit?). Die massenmediale Gegenwartskonstitution amnestiert von allen Zwängen der Vergangenheit oder bindenden
Erwartungen an die Zukunft.
Die selbst erzeugte Gegenwart der Massenmedien schließt eines aus, nämlich den Bezug und die Reflexion auf ihre eigene Gegenwart. Das ist ihr
Paradox. „Die einzige Möglichkeit, den laufenden Augenblick (der nicht
Gegenstand der Reflexion sein kann) zu berücksichtigen, ist, die Beschreibung ständig zu verändern. Die Verbindlichkeit der Beschreibungen beruht
auf ihrer Instabilität, in der sozialen wie in der zeitlichen Dimension. Aber
gerade deshalb sind sie ausreichend flexibel und mehrdeutig für die Bedürfnisse einer komplexen Gesellschaft wie die funktional differenzierte Gesellschaft“ (Esposito 1999, 56). Massenmedien können durch die permanente
Reaktualisierung von Aktualität gleichermaßen Komplexität erhöhen als auch
reduzieren; dabei erzeugen sie eine Gegenwart, in der sie vergessen machen,
dass sie allein durch sie selbst erzeugt ist. Solange sich die Menschheit so
dramatisch vermehrt und mit der „auf dem Erdball zu findenden Biomasse“
auch die „die Menge der kommunikativen Ereignisse zugenommen hat“,
bleibt empirisch evident, dass solche „Mengensteigerungen dieser Art nur
durch Differenzierungen möglich sind“ (Luhmann 1997, 416) und deshalb
der Bedarf an Nachrichten über das stets „Neueste“ nicht versiegt. Die Vermehrung der Menschheit (1830 1 Milliarde; 2000 6 Milliarden) ist der empirische Treiber des ungeheuer dynamischen und bislang unaufhaltsamen Zugs,
der in der Gegenwartsvergessenheit der Massenmedien steckt; der alle Iterationen und Kontraktionen, alle Transaktionen und Rotationen ihrer Gegenwartserzeugungen immer wieder in die monomanische Singularität ihrer
selbst hineintreibt und versinken lässt. Hinzu kommt, dass dieser massenmediale Zug zur Amnestie der Gegenwart in sich selbst "allotechnische Süchte"
(Ronell 1994, 45) zu induzieren in der Lage ist und, sozusagen im Rückspiegel der Biomassenexpansion eine „Pleonexie“ (Bolz 2002, 138), eine unstillbar gangsterhafter Gier nach 'mehr' erzeugt. Das ist ihr zweites, sozusagen
performatives Paradox. Statt sich nämlich, wie es mit logischen Paradoxien
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möglich wäre, im Vollzug aufzulösen, zieht das ‚Begehren nach mehr’ und
die Süchte nach dem ‚Anderen’ in der Technik den Schirm des Vergessens
vor der Gegenwart ihrer Unerfüllbarkeit nur noch fester zu.
Die Vergessenheit der Gegenwart jedoch, die die Massenmedien konstituieren, tut gleich doppelt das, was Vergessenheit im Wortsinne meint. Durch
die Iteration permanenter Aktualität bringt sie das je durch Aktualität Überschriebene in Vergessenheit, das seinerseits bereits Vergessenes überschrieben hatte. So vollziehen sie also eine „oblivio“ und eine „amnestia“ zugleich.
Allerdings kann man eine Amnestie nicht noch einmal amnestieren. Schon
die Amnestie selbst deckt nichts auf, sondern entlässt nur ins Vergessen. Sie
befreit nicht von Schuld, mit der sie den Schuldigen ja gerade laufen lässt.
Mit Vergebung hat sie nichts zu tun, sondern nur mit dem Teil der Vergebung, der ‚Tilgung’ heißt. Alles andere bleibt, wie es ist. Nichts liegt also der
massenmedialen Gegenwartsvergessenheit näher, als eine längst vergangene
Schuld zu aktualisieren, also eine Schuld, die heute aktuell nicht mehr sühnbar, weil längst verjährt ist oder weil deren Akteure in der Mehrzahl nicht
mehr leben. Eine längst vergangenen Schuld aber zu aktualisieren und sie ins
diffuse Nichts der Folgenlosigkeit zu entlassen, passt in die Struktur der impliziten Gegenwartsamnestierung der Massenmedien am besten, die vor allem die Gegenwart, das Jetzt und hier, Akteure wie ihre ZuschauerInnen, von
Schuld freisprechen wollen. In diesem Trend wird ein schon benanntes Symptom noch einmal deutlich, nämlich das Symptom der Unfähigkeit der Massenmedien, über sich selbst zu reflektieren und ihren Ort innerhalb der Gesellschaft in Bezug auf das, was sie berichten, zu markieren. „Die Massenmedien sind in diesem Sinne das Gedächtnis der modernen Gesellschaft, ein
auf Verbindungen eher als auf Inhalte, auf Variabilität eher als auf Stabilität
begründetes Gedächtnis. In diesem Fall ist es mehr als in jedem anderen
deutlich, dass die Funktion des Gedächtnisses (die Massenmedien mit ihrer
Obsession für Neuigkeiten) mehr das Vergessen als das Erinnern ist. Die
Massenmedien sind ein riesiger und enorm wirksamer Apparat des Vergessens, und sie können sich nicht daran erinnern“ (Esposito 1999, 56f).
IV. Erinnerung und Vergessen im Internet
In den letzten beiden Jahrhunderten haben sich die Massenmedien etabliert
als auf Aktualität bezogene Systeme der Zeitungen und der elektromagnetischen Rundfunktechnik. Sie bilden ein durch rekursive Aktualisierung strukturiertes Gedächtnis einer auf Funktionalisierung umgestellten modernen
Gesellschaft. Das Gedächtnis der Massenmedien produziert, wie gesagt,
Erinnerung und Vergessen in einem höchst instabilen Gleichgewicht. Weil
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ihre Institutionen das aber unsichtbar machen, und alles Neue je für neu erklären, greifen ihre Archivare immer wieder ins Leere. Ein massenmediales
Programm kann man nicht archivieren so wie es ist. Außer, man würde den
kompletten Prozess der Sendung selbst, Minute für Minute, so wie sie gelaufen ist, in einen Datenspeicher ablegen. Pures Abspeichern von Sendeprozessen aber wäre wiederum keine Archivierung, weil der Kontext fehlt, aus dem
heraus ein Sendeprozess einmal verständlich war. Aber, ganz im Sinne Gordon Bells gefragt: Könnte man den Kontext einer Sendung, noch besser den
einen ganzen Lebens, und dessen Kontext noch einmal, nicht doch abspeichern, in den unbegrenzten Datenspeicher-Wolken des Internet? Welche
Kapazitäten hat das Gedächtnis des Internet?
Sein Status als Massenmedium ist fraglich. Für das Buch trifft nicht zu,
dass es „Aktualität, Periodizität, Publizität und Universalität“ besitzt. Für das
Internet aber gilt nicht einmal, dass bei seinen Transaktionen zwischen Sender und Empfänger „keine Interaktion unter Anwesenden“ stattfindet. Positiv
gesagt, jede Internet-Verbindung, was immer sie auch beinhalten mag (Email, WWW, File-Transfer, etc), besteht in einer Punkt-zu-Punkt-Verbindung
zwischen einem ‚Sender’ und einem ‚Empfänger’, wie beim Telefonat oder
Fax. Allerdings sind an beiden Enden nunmehr keine „trivialen Maschinen“
(Foerster 2004, 56) mehr im Einsatz (wie ein Telefonhörer z.B., den ein
Mensch abhebt), sondern Rechnerprogramme. In jeder Internetverbindung
kommunizieren Computer – mit oder ohne menschliche Bedienung – über
komplexe Protokolle miteinander. Ob man in einem soziologisch strengen
Sinn hier überhaupt von „Kommunikation“ sprechen kann, ist fraglich. Von
doppelter Kontingenz oder einer „Erwartungserwartung“ kann jedenfalls
keine Rede sein. Ein Computer, der einem Menschen antwortet, erwartet
nichts von ihm. Dennoch haben wir den Eindruck, dass auf der anderen Seite
eine Intelligenz agiert, die unsere Erwartungen zu kennen scheint. „Obwohl
produzierte und programmierte Maschinen, arbeiten solche Computer in
einer Weise, die für Bewusstsein und für Kommunikation intransparent bleibt
- und trotzdem über strukturelle Kopplungen auf Bewusstsein und Kommunikation einwirkt. Sie sind streng genommen unsichtbare Maschinen“ (Luhmann 1997, 152). Wenn eine Internet-Verbindung existiert, „kommunizieren“ unsichtbare Maschinen (z.B. über die sieben vereinbarten ProtokollSchichten des 'Open Systems Interconnection Reference Model'(OSI)) und
automatisierte Agenten miteinander. Der 'User' selbst ist kein Agent, sondern
modifiziert (wenn er kein Programmierer ist und Agenten programmiert)
lediglich die 'Interfaces' seiner Anfragen und Beobachtungen. Tritt ein Fehler
auf, so muss der „nicht funktionierende Computer (…) nicht verstanden,
sondern repariert werden“ (Esposito 1999, 58).
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Was allerdings weiterhin zu verstehen bliebe, wäre, dass, so lange der
Computer läuft und zu keinem erfolgreichen Halt gekommen ist, niemand
beweisen kann, dass ein Computer fehlerfrei arbeitet. Als der Mathematiker
Alan Turing diesen berühmten Beweis erbrachte, gab es noch keine Computer. Turing entwickelte ihren logischen Aufbau mittels Papier, Bleistift und
Radiergummi (1937). Seit aber solche 'Turing-Maschinen', assembliert aus
Myriaden von Integrierten Schaltung im Nanometer-Format, realiter existieren, die jeden berechenbaren Algorithmus gigahertzschnell erledigen, sind
wir von einer hyperkomplexen Welt darstellender (weil problemlösender)
und zugleich unsichtbarer Maschinen umgeben. Für sie aber gilt ebenfalls der
Turing-Beweis. Alles ist ‚richtig’ nur so lange es läuft; denn es gibt keine
Maschine, die beweisen könnte, ‚dass’ es richtig läuft. Nie auszuschließen
sind deshalb algorithmische Fehler, die beinhalten, dass Computer zwar laufen, aber anders als gedacht („Pentium Bug“, 1994 (Pratt 1995)). Das Internet
ist eine Ansammlung von Milliarden verkoppelter Computerrechner, von
deren Funktionsweise (und Fehlerfreiheit) ein normaler „User“ nichts weiß.
Wer einen Internet-PC bedient, kann und muss nicht wissen, was auf der
anderen Seite passiert. Was wahrgenommen wird, ist nicht Gegenwart für
jeden, sondern lediglich eine Präsenz für den einzelnen 'User'. Anders als bei
den Massenmedien ist, was die Generierung von Inhalten betrifft, im Internet
- abgesehen von speziellen „Streaming“-Formaten - nichts 'für alle'. In der
Regel gilt: Niemand anderes wird sehen, was ich derzeit in meinem Browser
sehe. Internet-Nutzung, ob mobil oder stationär, ist informelle Kommunikation.
Dennoch erwarten wir, dass, anders bei den Erwartungserwartungen informeller Kommunikation, andere User gleichermaßen sehen könnten, was
wir sehen. Im Transaktionsakt der Nutzung ist aber tatsächlich nur ein kontingenter Netzinhalt präsent, nicht jedoch seine Gegenwart. Die paradoxe
Gegenwartsauflösung der Massenmedien setzt sich hier in neuen Formen
fort. Während bei den elektronischen Massenmedien Radio und Fernsehen in
den Anfangsjahren jede Programm-Präsentation für alle, auch für die Produzenten selbst, Gegenwart - heute sagen wir: "live" - war (das Radio nimmt
eigene Sendung partiell erst ab den 1930er, das Fernsehen erst seit den späten
1950er Jahren auf), muss im Internet alles (vereinfacht gesagt) gespeichert
sein. Abgesehen von der Telefonie via IP, den Streams und „Internet Relay
Chats“ gibt in der Internet-Nutzung kein "live" und kein „Jetzt“, das im Sinne
Wilhelm Wundts „soviel Aktualität wie Realität“ hätte.
Internetnutzung addiert sich zwar aus Transaktionen informeller Kommunikation, die aber keineswegs implizit auch so verstanden werden. Alles ist ja
irgendwie öffentlich und auch privat zugleich. Unformalisierte und unformatierte Öffentlichkeiten, die nur privat und informell genutzt werden können,
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sind das eigentlich Neue am Internet. Öffentliche Nutzung oder 'public viewing' kennt das Internet nicht; vielleicht sind gerade deshalb diese öffentlichen Zurschaustellungen erst seit mit Internet (wieder) in Mode gekommen
(Gemeinsames Radiohören/Fernsehen gab es jeweils in den Anfangsjahren).
Was nun die informell besuchten Webseiten betrifft, so sind sie ja unmittelbar danach nicht gleich schon wieder verschwunden. Andere Nutzer können
sie gleichermaßen finden. Aufgrund dieser Erwartung ist es sinnvoll, dem
Internet, seinen Funktionen und seinen Inhalten eine massenmediale Orientierung zuzuschreiben. Mehr aber nicht. Denn weder die Gegenwart eines
„Live“ noch die „Masse“ des Angebots oder ihrer Nutzung stellen strukturbildende Momente des Mediums dar. Internet-Computer, so viele es auch
sein mögen, bilden keine Masse, sondern ein Netzwerk. Sie bilden kein Massen-, sondern ein Netzwerkmedium. Genauer ein Netzwerk aus Netzwerken,
daher der Name. Vom Verständnis seiner Struktur hängt wesentlich ab, wie
die Chancen für die Erreichbarkeit seiner Inhalte einzuschätzen sind und was
es insofern mit seinem Gedächtnis auf sich hat.
Das Internet ist nicht stern- oder kreisförmig geschlossen, sondern komplex vermascht wie die Textur eines Strickpullovers schier endlosen Ausmaßes. Es besteht aus Knoten und Verbindungen, die inzwischen über den gesamten Erdball verteilt sind. An auslaufenden Enden, aber auch in seiner
Mitte, können sich an jeden Knoten neue Knoten anlagern. Trotz dieser immensen Ausdehnung hängen alle Knoten zusammen und bilden ein dynamisches und prinzipiell unabgeschlossenes Leitungssystem. Informatiker sprechen von einem „gerichteten Multigraphen“, wobei die Webseiten „Knoten“
und die Links zu den Webseiten „gerichtete Kanten“ repräsentieren, die je
zwei Knoten in jeweils einer Richtung („gerichtet“) verbinden. Wie genau
die Konfiguration des gesamten Internet zu einem gegebenen Zeitpunkt aussieht, wie viele Sub-Netze mit ihren Routern, Switches, Bridges, Gateways,
Server-Clustern, Servern und Client-PCs zu einem Zeitpunkt „t“ aktiv sind,
kann niemand sagen. Das Internet, von zwei Milliarden Menschen genutzt
(WIUPS (2009)), hat keine Zentrale. Neuere Studien sagen, dass Woche für
Woche acht Prozent Webseiten mehr hinzukommen und 80 Prozent aller
Webseiten keine längere Lebenszeit als ein Jahr haben (Olston 2010, 199).
Das aber gilt nur für ihre technische Identität (Datum, Uhrzeit, Größe) und
muss über Inhalte nichts besagen. Umgekehrt ist das Internet gerade technisch außerordentlich robust. Das Protokoll, mit dem die Daten im Netz hin
und her bewegt werden, garantiert, dass, selbst wenn Teile des Netzes physikalisch außer Betrieb gesetzt würden, die verbliebenen Teile operabel blieben. April 2010 veröffentlichte das Suchmaschinen-Projekt „Majestic-SEO“
die Zahl von 1,7 Billionen indizierten Web-Seiten im Internet (Majestic
(2010)). Damit wurde eine entsprechende Zahl einer Google18
Veröffentlichung aus 2009 bestätigt und übertroffen. Stimmen die Angaben,
dann entfielen auf jeden Erdbewohner 243 Web-Seiten. 1000 Menschen
hätten 53 Jahre rund um die Uhr damit zu tun, jeweils eine Sekunde lang eine
jeweils neue Webseite anzuschauen. Jede Sekunde kämen fast 23 Tausend
neue Webseiten hinzu. In weniger als zwanzig Jahren nach der Einführung
des Internet ist die Zahl der heute existierenden Internet-Webseiten bereits
fünfzig mal höher als die Zahl der Buchseiten, die seit der Einführung des
Buchdrucks hergestellt wurden (Man rechnet mit etwa weltweit 135 Millionen existierenden Büchern; jedes mit 250 Seiten berechnet, ergibt 33,8 Milliarden Seiten...)
So immens diese Zahlen auch wirken, sie kommen an die Frage nach dem
Gedächtnis des Internet noch nicht heran. Außer vielleicht mit dem Hinweis,
dass es an technischer Kapazität nicht mangelt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Medien ist das Trägermaterial für die Aufzeichnung von Daten
kein knappes Gut mehr, sondern im Überfluss vorhanden. Aber, man vergesse nicht: Auch die schiere Zahl von 100 Milliarden Neuronen im menschlichen Gedächtnisorgan (die „im Mittel etwa 10 000 synaptische Kontakte
[bilden], so daß man auf etwa 1 000 000 000 000 000 Synapsen
kommt.“(Singer 2004)) sagt noch nichts darüber, ob der Mensch ein gutes
Gedächtnis hat und wie es funktioniert. Rein rechnerisch wären im Durchschnitt nur vier Schritte nötig, um zwei beliebige Neuronen zu verkoppeln
und damit Assoziationen mit und in jeder beliebigen Gehirnregion zu ermöglichen. Aber die Annahme einer derart dichten internen Vernetzung der Neuronen trifft offenbar nur für ausgewählte Regionen des Hirns zu (Song 2005).
Zudem ist die Frage, wie genau das Gehirn assoziativ Inhalte aktualisiert und
dafür andere überschreibt, noch weitgehend ungeklärt. Was als Analogie
bleibt, ist der Umstand, dass das Internet einem riesigen Lager an ständig in
Veränderung befindlichen Knotenpunkten = Webseiten = Informationen
gleicht. Im Unterschied zum Gehirn-Neuron kann eine Webseite dabei sogar
ohne jede weitere Verbindung existieren. Die meisten Webseiten haben zwar,
nach Tim Berners-Lees Definition, eine „Hypertext-Struktur“ (2000, 5), auf
die Links von („Backlinks“) und von der Links auf andere Seiten zeigen
(„Forward-Links“). Aber im Sonderfall muss das nicht so sein. Eine Webseite kann ein paar Zeilen Text bieten ohne jeden Verweis auf andere oder von
anderen. Sie ist dann nur durch eine direkte Adresse aufrufbar. Es gibt genug
davon („This Site is under construction“). Im Gehirn wäre das wohl unmöglich, denn Neuronen haben keine Adresse. Spätestens seit Charles Sherringtons Forschungen zu Ende des 19ten Jahrhunderts gilt, dass das Neuron in
seiner Ordnungsstruktur definiert ist durch synaptische „Assoziations“Bindungen (Sherrington 1906). Eine Webseite dagegen hat in der Ordnungsstruktur des Internet eine „Domäne“, die durch eine numerisch eineindeutige
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Adresse definiert ist (Kahn 1999, 12). „Portale“ oder „Homepages“ wären
durchaus, ohne jede weitere Assoziationsleistung, durch ein schlichtes (aber
sehr umständliches) Aufzählen der endlichen gut 4 Milliarden InternetAdressen erreichbar. Aufzählen aber ist keine Erinnerungsleistung, sondern
eine mathematische Funktion. Die Struktur des Internetgedächtnisses wird
nicht durch die interne Adressstruktur des Netzes repräsentiert. Sie ist zwar
das technische definiens und gibt jedem User und jeder Webseite eine zum
Nutzungszeitpunkt eineindeutige Registerzahl. Gedächtnistheoretisch ist aber
das belanglos. Wie Vannavar Bush, der schon zitierte Chef der Rüstungsforscher der USA im II. Weltkrieg, resümierend feststellte: „The human mind
does not work that way. It operates by association“ (Bush 1945, 9).
Halten wir zunächst fest, dass, Anders als Gordon Bell es behauptet, von
Vannavar Bushs Memex keineswegs die Tradition einer „Total Recall“ Linearaufschreibung eines "Life-Logs" ausgeht. Was von ihr ausgeht ist vielmehr
die Konstruktion des Internet. In der Konzeption seiner "Memex"-Maschine
ging Bush vom Assoziations-Paradigma der zeitgenössischen Hirnforschung
aus, gab ihm aber eine völlig neue Wendung. “The investigator is staggered
by the findings and conclusions of thousands of other workers - conclusions
which he cannot find time to grasp” (2). Bushs erfindet „Memex“ überhaupt
nur, weil er eine der größten Schwachstellen beheben will, die er als Chef der
US-Rüstungsforschung im Rückblick auf den eben zu Ende gegangenen
Weltkrieg ausfindig gemacht hatte, nämlich die Langsamkeit und Schwerfälligkeit des wissenschaftlicher Ergebnisumsatzes in der herkömmlichen Ordnung der Bücher, Zeitschriften und Bibliotheken. Bushs Ziel war es, einer
schon damals unbeherrschbaren Wissensflut und damit einem Wissensvergessen Herr zu werden. Alle Quellen des wissenschaftlichen Wissens sollten
stattdessen neu angeordnet werden, nämlich nach der Methode: „as we may
think“. Mit seinem Aufsatztitel bezieht sich Bush auf einen impliziten Plot
der Kybernetik, der neuen Episteme seiner Zeit. Einer ihrer Gründungstexte
war zwei Jahre zuvor erschienen, nämlich McCullochs und Pitts Versuch, die
Speicherfunktionen des Gehirns in einem rekursiven mathematischen „Calculus“ zu beschreiben (McCulloch 2004). Bush folgert, dass nach solchen Modellen auch der Bau neuer medialer Gedächtnis-Apparaturen erfolgen sollte.
„Bush thought that the creation of arbitrary associations between individual
records was the basis of memory, so he wanted a ‘mem(ory-)ex’, or ‘Memex’
instead of index" (Buckland 1992, 286). Wenn auch, wie neuere Studien
zeigen, der kybernetische Logikkalkül die neurologische Grundlagenforschung eher in die Irre gelenkt als befördert hat (Kay 2000), so bleibt doch
unbestreitbar, dass das Paradigma der Mathematisierung assoziativer Gehirnfunktionen in einer lückenlosen Kette von Vannavar Bush über Dough Engelbarth (1962; u.a. Erfinder der Computer-“Maus“ mit Bezug auf Bush) und
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Ted Nelson (1987; Schöpfer des Begriffs „Hypertext“ mit Bezug auf Engelbarth) zu Tim Berners-Lees Arbeiten (mit Bezug auf Nelson) führt, dem wir
die Architektur unseres heutigen WWW verdanken. Berners-Lee entwickelte
1990 am CERN das grundlegende Protokoll für die Vermittlung und Darstellung von Webseiten, das „Hypertext Transfer Protocol“ (http), das im Verein
mit der Skriptsprache „HTML“ die Basis des Internet-Erfolges gelegt hat. „A
‘web’ of notes with links (like references) between them is far more useful
than a fixed hierarchical system" (Berners-Lee 1990, 5).
Gegen die Wissensfluten und das Vergessen entwickelten KybernetikVisionäre seit den 1940er Jahren in den USA Konzepte von „Links“ oder
„Hyperlinks“ vor dem Horizont eines Logikkalküls der Gehirnassoziation.
Am Ende, im Rückblick auf seine Entwicklung der heutigen Internetstandards sagt Berners-Lee: “Hypertext” [is] human-readable information linked
together in an unconstrained way“ (Berners-Lee 1990, 10). Hypertext macht
Alles mit Allem verknüpfbar. Die verbindenden Glieder, "Links" genannt,
bilden sehr schnell eine kontingente Ordnungsstruktur; denn es genügt, dass
sie irgendeiner signifikanten Assoziationslogik folgen (inkl. Kausalität, Metapher, Metonymie, Ethymologie, Alliteration etc.). Ted Nelson wusste sehr
gut, dass er mit diesem Konzept der Verlinkung von Allem mit Allem die
Textstruktur des Literarischen, und mit ihr einen zutiefst romantischen Plot
focussierte. „At the kernel of the hypertext concept lie ideas of affiliation,
correspondence, and resonance. In this, as Nelson has argued from the start,
hypertext is nothing more than an extension of what literature has always
been" (Moulthrop 2003, 697). Ja mehr noch, hinter der HypertextPhilosophie steckt ein zudem politischer, egalitaristischer und liberalistischer
Zug, vielleicht sogar eine Alles mit Alles verlinkende Paranoia im Sinne
Thomas Pynchons: „the realization that everything is connected, everything
in the Creation - not yet blindingly one, but at least connected” (Pynchon
1973, 820). Nelsons Hypertext-Credo fasst all dies in einem weiteren Neologismus namens „Populitism“ zusammen, einer Kombination aus Elitismus
und Populismus. In einer Alles mit Allem verlinkten Welt entstehe ein „neuer
Populitismus, der das tiefere Verstehen von Wenigen am Ende den Vielen
verfügbar machen kann“ (Nelson 1990, 6). Diese antielitäre, antiautoritäre
und antihierarchische Utopie eines kontingent verlinkten Netzes ist natürlich
auch ein Kind der Studentenrevolten der 1960er Jahre. Aus all dem ist das
Internet hervorgegangen.
Nachdem nun das Internet da ist, und zwar in einem gigantischen, weltumspannenden Graph von mehr als Tausend Milliarden Seiten, auf die unabzählbar viele Links zeigen, - wie steht es um seine Gedächtnisstruktur, um
Vergessen und Erinnern im 'Netz'? Eine erste Antwort liegt in der Zahl der
Klicks (= Links), die es braucht, eine Webseite zu erreichen. Ist sie „weit“ (=
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viele Links) entfernt, droht ihr Vergessen, liegt sie nur wenige Klicks parat,
wird sie leicht erinnert. Das sind die einfachsten Regeln.
Wie aber lässt sich allgemein klären, welche Seiten ‚weit weg’ sind und
welche ‚nahe bei’? Oder sind alle Seiten gleich ‚nahe bei’ bzw. ‚weit weg’?
Antworten geben könnte ein spezielles Gesetz der großen Zahl („PoissonVerteilung“), das in der Graphentheorie gilt. “Random graph theory predicts
that if we assign social links randomly, we end up with an extremely
democratic society, where all of us are average and very few deviate from the
norm to be extremely social or utterly asocial types” (Barabási 2003, 22).
Nur, - diese Voraussetzung einer idealen Graphentheorie, die zugleich Voraussetzung der egalitaristischen Utopien Nelsons und Engelbarts war, trifft in
der Internet-Realität nicht zu. “In real networks linking is never random.
Instead, popularity is attractive. Webpages with more links are more likely to
be linked to again, highly connected actors are more often considered for new
roles, highly cited papers are more likely to be cited again, connectors make
more new friends. (…) At the end of the day, however, only a few of our
fellow gamblers walk away richer“ (21f). Die Links auf Webseiten im Internet sind nicht gleich verteilt, das ist die Diagnose aller Studien, die bisher
empirische Erkundungen unternommen haben. Vielmehr zerfällt das Web
vermutlich sogar in mehrere Zentren, die relativ inhomogene Bereiche darstellen und teilweise völlig gegeneinander verschlossen sind. Außerdem hat
dieser Graph zahlreiche Ranken, die im Nichts enden (Broder 2000). Was wir
über das WEB wissen, sagen uns keine mathematischen Vorhersagen, sondern allein die Ergebnisse von Suchmaschinen. Suchmaschinen sind Computer-Roboter, die das WEB rund um die Uhr durchwühlen. Sie heißen „Crawler“, „Spider“ oder „Robots“ und sind unsichtbare Agenten-Maschinen, die
nur in den (für normale User unzugänglichen) Logfiles der WEB-Server ihre
Spuren hinterlassen. Sie werden von den (neben „Google“, „Yahoo“, „Ask“
und „Bing“) rund eintausend Suchmaschinenfirmen (IDSE 2010) betrieben,
die das WEB indizieren, um Stoff für die Antworten ihrer NutzerInnen aufzubereiten. Crawler sammeln Texte, Bilder, Audio und Video-Material auf
die unterschiedlichste Weise, indizieren die Seiten, auf denen sie all dies
gefunden haben und bedienen ein hochkomplexes System von „Sortern“,
„Barrells“, „Lexicons“, „Doc-Indices“ und „Repositories“, aus denen die
Suchmaschinen in Sekundenbruchteilen ihre Antwort zusammenstellt. Diese
Maschinen und ihre Ergebnisse bilden die 'Oberfläche' des Internet, das selbst
keine Oberfläche hat. Drei Viertel aller NutzerInnen des WEB verwenden
Suchmaschinen (Vaughan 2007, 888).
Das Suchen im Internet ist die zentrale Gedächtnisleistung des Mediums.
Mit einer Archivsuche herkömmlicher Art hat sie nichts zu tun. Elena Esposito: "Das Archiv ermöglicht Vergessen unter der Bedingung, dass man die
22
Zeichen in Erinnerung behält, die im Katalog zusammengefasst sind (...).
Dagegen geht man (im Internet; W.H.) durch die Computertechniken der
Organisation der Daten zu einem virtuellen Gedächtnis über (...). Das statische Modell der Aufbewahrung von Daten wird durch das dynamische Modell der Konstruktion von Daten ersetzt, die ausgehend von den Befehlen des
Anwenders nach und nach erzeugt werden (...). Die 'search engines' wie Lycos, Alta Vista, Hot Bot usw. sind Datenverarbeitungsmaschinen, die Informationen als ihren Gegenstand produzieren — und zwar nicht, weil sie sich
an Informationen erinnern, sondern weil sie diese auf der Basis der Befehle
des Anwenders, die in jedem einzelnen Fall einen einzigartigen Suchpfad und
damit eine neue Gedächtnisstruktur generieren, jedes Mal neu konstituieren"
(Esposito 2005, 357).
Die Beschreibung ist zutreffend, aber nicht vollständig. Richtig ist: Das
Internet ist nicht so sehr deswegen kein Massenmedium ist, weil jeder 'User'
auf informelle Weise mitmachen darf, sondern weil es sich jedem Nutzer
anders darstellt. Es gibt keine formalisierbare Darstellungsstruktur für das
Internet, es gibt keinen Internet-Katalog. Als Gedächtnis existiert es nicht
einmal virtuell (denn dann hätte man immerhin eine fiktive Vorstellung von
seinem Umfang), sondern nur potentiell und operational. Damit es aber als
ein reales, operatives Gedächtnis fungieren kann, müssen Operationen einer
Suchmaschine aktiviert werden. Es gibt das Internet nur, sofern es durch
Suchmaschinen erreichbar ist. Für ein soziales Gedächtnis existent sind dabei
nur die Seiten des "Visible" oder "Surface Web". Demgegenüber steht ein
unbekannter Teil des Internet, das unter dem Namen "Deep Web" firmiert
und solche Seiten umfasst, die passwortgeschützt sind oder Formulareingaben verlangen und/oder auf Datenbanken verweisen (Li 2010). So sind in
Deutschland beispielsweise alle großen Bibliotheksverbünde online recherchierbar - und damit die Titel von 30 bis 50 Millionen Büchern. Aber wie
solche Bibliografien sind auch Myriaden weiterer Datensätze ungezählter
Web-Datenbanken durch eine Suchmaschinen-Abfrage direkt nicht erreichbar. Durchsuchbare Web-Seiten entstehen mit ihren Inhalten erst auf Anfrage. Immer wieder findet sich in der Forschung die (allerdings faktisch unüberprüfbare) Angabe, das "Tiefe Netz" sei bis zu 500 mal größer als das
sichtbare (He 2007, 94). Wie auch immer, für eine Gedächtnisfunktion (jenseits klassischer Katalog- oder Datenbankabfragen) bleibt es verloren.
Das (sichtbare) Internet existiert für jede Suchabfrage 'anders'. Suchmaschinen vollziehen, wie Elena Esposito anmerkt, prozedurale Operationen
und liefern Ergebnisse, die zuvor "noch nie gedacht worden sind" (358).
Suchmaschinen denken nicht. In ihren kontingenten und unvordenklichen
Ergebnissen kommt die Kontingenz einer informellen Anfrage de facto zurück und alles kommt darauf an, dass der oder die Anfragende den Kontext
23
seiner Anfrage in den Ergebnissen wieder findet, und zugleich offen genug
ist, seinen Kontext jederzeit zu wechseln. Es ist aber nicht nur die prozedurale Informalität, die für des Struktur des Internet-Gedächtnisses prägend ist.
Was hinzukommt (aber von Esposito unbeachtet bleibt), ist die Struktur
der Gewichtung, die jeder Antwortliste durch die Suchmaschine aufgeprägt
wird. Jede einzelne Seite, die im Zuge eines Suchvorgangs gefunden wird,
erhält vor ihrer Anzeige von der Suchmaschine ein Bedeutungsgewicht, das
mit der Anfrage selbst nichts zu tun hat. Diese Gewichtung bestimmt die
Reihenfolge der Suchergebnisse und damit ihre innere Bedeutungsstruktur.
Gefundenen Seiten werden von Suchmaschinen bekanntlich durch eine Liste
präsentiert, an deren Spitze das am meisten erwartete und insofern semantisch wertvollste Ergebnis steht. Die Maschine simuliert damit eine Erwartungserwartung, und zwar so, als wüsste sie, dass wir erwarten, dass sie
weiss, was für uns das Wichtigste ist. Das aber kann sie nicht wissen. Maschinen kennen keine Erwartungserwartung, denn sie können nicht reflektieren. Durch welche Operationen des aus Computern gemachten Internetgedächtnisses kann diese Simulation dennoch gelingen?
Damit eine Suchanfrage von einer Maschine beantwortet werden kann,
sind zwei Voraussetzungen nötig: das Netz mit all seinen erreichbaren Seiten
muss vollständig indiziert und jede einzelne muss 'bewertet' worden sein. Für
diesen Zweck arbeitet „Google“ beispielsweise mit einer Farm aus hundert
Tausenden von weltweit verstreuten Servern verschiedenen Typs, die durch
ein eigenes schnelles Netz mit einander verbunden sind. Diese Suchroboter,
die in riesigen Datenbanken das Netz indizieren, erzeugen ihrerseits vermutlich 40% des weltweiten Internet-Verkehrs (Yuan 2002) und in vielen WEBSeiten-Logfiles entsprechend viele, oft schwer identifizierbare ‚Besuchseinträge’ (die aber nicht als 'Besuchserfolg' verrechnet werden dürfen...). Man
kann solche Suchroboter von seinen WEB-Seiten fernhalten, aber dann würden diese Seiten nicht mehr indiziert und wären fürs Gedächtnis verloren.
Nur die wenigsten Such-Roboter indizieren Text- oder Bildinhalte einer Seite, also das, was ein User sucht. Weit mehr "Robots" und "Crawler" stürzen
sie sich auf die Links und damit den „Wert“ einer Seite. Rang, Wert, Bedeutung und Geltung einer Seite werden durch allein die Zahl und das Gewicht
der Links ermittelt, die auf die Seite zeigen. Diese „Backlinks“ sind die zentrale Währung im Netz. Die 'Popularität' einer Seite kommt nicht dadurch
zustande, dass man ermittelt, wie viele User oder reale Menschen eine Seite
nutzen. Vielmehr wird Popularität, Wert und Bedeutung aus ihren Position in
der Graphenstruktur des Internet rein algorithmisch errechnet, ohne das ein
menschlicher Verstand weiter Einfluss nähme.
Die Zeiten, in denen die Suchmaschine Yahoo sich einen großen Stab an
RedakteurInnen hielt, ein WEB-Seiten-Anbieter unter entsprechenden Rubri24
ken („Arts and Humanities“, „Education“, „Society and Culture“ etc.) sein
Angebot anmelden konnte, die Redaktion eine kritische Bewertung und eine
entsprechende Ausgabe von WEB-Seiten in Rubriken vornahm, die dieser
Bewertung entsprach, - diese Zeiten sind längst vorbei. Seit dem Zerplatzen
der sogenannten „Dot-Com-Blase“ (um die Jahrtausendwende) kann sich
auch ein so milliardenschwerer Weltkonzern wie Yahoo diesen Aufwand
nicht mehr leisten. An diese Zeiten erinnert einmal mehr das voluminöse
„Archive.Org“, das Brewster Kahle seit 1996 unter dem Titel „Creating a
Library Of Alexandria for the Digital Age“ aufbaut (Kahle 2004). Seine sogenannte „Way-Back“-Maschine hat zum Ziel, an alte Zeiten und Zustände
im Netz dadurch zu erinnern, dass die Seiten, sowie sie vor zehn und 15 Jahren einmal waren, aufbewahrt werden. So finden sich im Archive.Org zwar
noch alte Seiten von Yahoo aus 1996 mit den entsprechenden Redaktionsrubriken. Multimillionär Kahle hat in seinem lobenswerten Projekt zwar schon
150 Milliarden Web-Seiten gespeichert, aber über die Eingangs-Seiten geht
das selten hinaus; kein einziger der zahllosen Links der frühesten „WayBack“-Yahoo-Seite aus 1996 funktioniert noch.
Modelle wie die Yahoo-Redaktion vor der Dot-Com-Krise, Kahles "WayBack"-Maschine oder Gordon Bells "MyLifeBits" scheitern, weil sie auf das
epistemologisch falsche Gedächtnismodell setzen und das Internet mit einem
linearen Archiv verwechseln. Das Web hat keine erlernbare kategoriale
Struktur, nach der man seine Inhalte vergessen und wieder aufsuchen könnte.
Für die Gedächtnisstruktur des Web zählen nicht einmal die Inhalte einer
Seite, sondern allein ihre Links auf andere und die Links auf sie selbst. Die
komplexe Dynamik eines solchen Graphen kann ein starres und hierarchisches Kopien-Archiv, wie es Kahles „Way-Back“-Maschine darstellt, nicht
erreichen und Gordon Bells megalomane MyLifeBit Seiten sind nicht durch
Links verbunden, sondern durch die schlichte Linearität der Chronologie.
Was heute das Internet und sein Gedächtnis beherrscht, ist
der“PageRank“-Algorithmus, den die beiden Studenten (und späteren
Google-Gründer) Sergey Brin und Lawrence Page 1998 an der StanfordUniversität entwickelt haben (Brin 1998); er gilt für Google und alle andere
großen Suchmaschinen wie Yahoo oder Ask. Bereits zur Studentenzeit von
Prin und Page Ende der 1990er Jahre war unübersehbar, dass das Netz ohne
Suchmaschinen wertlos wäre. Die damals üblichen zufälligen Darstellungen
von Suchergebnissen aber führten zu absolut kontingenten und deshalb unbrauchbaren Ergebnissen. Die Devise der beiden Studenten lautete: “Bringing Order to the Web”. „Anyone who has used a search engine recently, can
readily testify that the completeness of the index is not the only factor in the
quality of search results. ‘Junk results’ often wash out any results that a user
is interested in“ (Brin 1998, 2). Brin und Lawrence suchten und fanden einen
25
Weg, der einerseits den Wert der gefundenen Dokumente ausweist, andererseits aber jegliche Redaktion mit menschlichen Augen überflüssig macht. Ihr
Algorithmus ist sehr ausgefeilt und stark rekursiv, so dass er in Klarschrift
weniger gut verständlich ist als in seiner mathematischen Formelzeile. Er
besagt, dass eine Webseite (A) nur so viel Wert hat, wie der Wert der Webseiten (B, C, ...), die auf sie verlinkt sind. Da sich der Wert der ‚Wert vergebenden’ „Backlink“-Webseiten (B, C, ...) nach der gleichen Formel errechnet, ist klar, welche rekursive Komplexität und zeitliche Oszillation die Berechnung des Wertes einer einzigen WEB-Seite bedeutet. Da Brin/Lawrence
mit diesem Verfahren Bezüge auslesen, die erwarten lassen, dass sie von
Menschen (mutmaßlich) sinnvoll gesetzt wurden, liest ihr Algorithmus also
‚menschengemachten’ Sinn zumindest indirekt aus. Wenn eine Webseite
bspw. einen Link enthält, der von Yahoo kommt, so ist dieser Link deshalb
viel Wert, weil so viele Seiten auf Yahoo verlinken, und Yahoo damit in den
Augen derer, die Yahoo 'kennen' und darauf verlinken, 'wertvoll' ist. Links
auf Webseiten sind aber mjndestens so volatil wie die Seiten selbst. Deshalb
müssen die Suchmaschinen-Crawler bereits x-mal ‚gecrawlte’ Web-Seiten
immer wieder neu durchsuchen, um den ihren „PageRank“ aufzufrischen.
Der so ermittelte Rangwert einer Seite hat dann die besagten Folgen für ihre
Darstellung im Suchmaschinen-Ergebnis: Wird nach einem Text-String gesucht, so werden alle Seiten, die diesen String enthalten, nach ihrem „PageRank“ absteigend in die Antwortliste gestellt. Man stelle sich beispielsweise
die Suche nach „Hotel Miami“ vor. Aber welches Hotel in Miami hätte nicht
Interesse, an die erste Stelle der Suchliste zu gelangen (ohne dafür zu bezahlen)? Ist also das Gedächtnis des Internet manipulierbar und kann es seine
Manipulationen reflektieren?
Der „PageRank“-Algorithmus steht epistemologisch in der Tradition der
klassischen Soziometrie des zwanzigsten Jahrhunderts, die ihrerseits in der
radikal antimetaphysischen Tradition der empirischen Sozialforschung eines
Paul F. Lazarsfeld zu verorten wäre. Prin/Lawrence schließen in ihrer Arbeit
konkret an soziometrische Studien über Cliquenstrukturen aus den 1950er
Jahren an (Hubbell 1965) und erweitern diesen Ansatz um bibliometrische
Studien über das akademische Zitieren. „Academic citation literature has
been applied to the web, largely by counting citations or backlinks to a given
page. This gives some approximation of a page's importance or quality.
PageRank extends this idea by not counting links from all pages equally, and
by normalizing by the number of links on a page” (Brin 1998, 3). Diese starke Orientierung an akademischen Zitierweisen offenbart zugleich das Problem der PageRank-Philosophie. Um im Beispiel zu bleiben: Brin/Lawrence
bewerten das Zitiert-Werden eines Buches durch ein Buch, das seinerseits
sehr oft zitiert wird (beispielsweise ein Lehrbuch) höher als das Zitiert26
Werden durch ein seinerseits noch unbekanntes und wenig zitiertes Buch.
Mit diesem Verfahren kommen WEB-Seiten an die vorderen Plätze, die sich
gegenseitig stark zitieren, zum Mainstream einer Forschungsrichtung gehören
und diesen Mainstream dadurch noch bekräftigen. Die PageRank-Philosophie
hat insofern zwei verzerrende Effekte. Wer im WEB sucht, um das Gedächtnis aufzufrischen, wird in den Erinnerungen bestärkt, die ohnehin eher bekannt sind und in den Erinnerungen geschwächt, auf die weniger Bezüge
existieren. „Only about 15 percent of Webpages offer links to opposing
viewpoints” (Barabási 2003, 170). Statt einer Gegenmeinung wird das bereits
gut Verlinkte präsentiert. So werden in vielen Themenfeldern die Hauptmeinungen gestärkt, aber eventuelle Brückenfunktionen zu übergeordneten Kontextualisierungen geschwächt. Mit „PageRank“ vernetzte Strukturen sind
deshalb in ihrer Tendenz autoritär, nur dass hier die vernetzende „Soziabilität“ „zum Ersatz für Autorität“ wird. „Daraus folgt, dass dichte soziale Umgebungen, die durch Übereinstimmung zusammengehalten werden, unpopuläre Information, die in den schwachen Bindungen an ihren Peripherien enthalten sind, oft übergehen“ (Metahaven 2009, 210). Die Gefahr zunehmender
Segregation und sozialer Fragmentierung in solchen Informationssystemen
sind nicht von der Hand zu weisen.
Hinzukommt, dass durch algorithmische Automaten ermittelte „PageRanks“ durch algorithmische Automaten ebenso gut getäuscht werden können. „Search Engine Optimization“ heißt hier das Stichwort. Zahllose Firmen
sind hier weltweit im Einsatz. Für 199 Dollar monatlich bieten sie bspw. die
(halb-)automatische Verfertigung von Webseiten an, in denen nicht Nützliches steht, außer soviel, dass es reicht, neue „Backlinks“ auf ein gewünschtes
Angebot im Netz zu fabrizieren. Ziel der Übung ist es, mehr Backlinks und
damit eine bessere Position in einer Suchantwortliste zu bekommen. Und das
geht so: „A professional journalist will create a 450-550 worded article, and
optimize it with the desired keywords. Next, we spin it into over 1,000
unique articles … essentially takes multiple copies … changes the content
around … we can put up to two links at any time … We can "rotate" the links
to ensure any amount of URLs get seen in article directories at random- it's
up to you!” (CPR 2010). Diese Verfahren können zwar wieder in die Algorithmen der WEB-Crawler eingearbeitet und dadurch detektiert werden.
Dennoch folgt aus dem gegebenen Beispiel, dass man nie sicher sein kann,
ob ein PageRanking einer bestimmten Seite durch rein algorithmische Konstruktionen zustande gekommen ist oder durch die realen Spuren einer in
Links gegossenen menschlichen Absicht.
Mit einem Wort: Noch nie hat es in der Geschichte einen so umfassenden
medialen Speicher für die Aufbewahrung kulturellen Wissens gegeben wie
ihn das Internet bietet. Es ist ein Speicher, an dessen Belegung nicht exklusi27
ve Wissensinstitutionen, Unterhaltungsformate, Agenturen und andere formelle „Gatekeeper“ allein beteiligt sind. Aufs Ganze gesehen sind formale
Institutionen oder Firmen nicht einmal vorrangig aktiv, weil das massenmedial orientierte Netz viel stärker durch informelle Nutzung geprägt und damit
auch durch informelle Zuarbeit gespeist wird, nämlich immerhin im Verhältnis von 99 passiven NutzerInnen zu einem aktiven, wie Jacob Nielsen herausgefunden hat (2006). Die rhizomartige und epidemische Belegung dieses
weltweiten Daten-Speichers erfolgt durch soziale Transaktionen völlig neuen
Typs, an dem eine sehr große Zahl von AkteurInnen beteiligt ist. Wikipedia,
das inzwischen unbestritten beste Konversationslexikon, das es je gab, ist mit
seinen Hunderttausenden von Autoren nur ein Beispiel. Das Internet kann
also durchaus als ein neuer kultureller Speicher angesehen werden im Sinne
Aleida und Jan Assmanns. Es enthält das klassische kulturelle Erbe schon
deshalb, weil alle Institutionen (Museen, Universitäten, Bibliotheken, Archive etc.), die es bisher verwalten, ihre Aktivitäten auf das Internet ausgedehnt
haben. Auch existiert im Internet-Gedächtnis eine gleichsam 'eingebaute'
Kanonik des PageRankings. Bei jeder Abfrage ergibt sich ein ein Kanon
gespeicherter Informationen. Allerdings sind die Funktionen von Gedächtnis
und Erinnerung in diesem Medium stark volatil, d.h. sie sind in einem steten
Fluss von Erneuerung, Überschreibung und Verlust. Erinnerung und Gedächtnis im Internet sind ausschließlich assoziativ organisiert. Assoziativität
und Volitalität schließen die Bildung eines statischen, in sich geschlossenen
Kanons aus. „Hypertext (Un)does the Canon“ meinte schon Ted Nelson. Das
Internet löst einerseits alle kanonischen Hierarchisierungen auf und ersetzt
sie durch die Kanonik neuer netzstruktureller Formate, nämlich durch „Stile“,
„Disziplinen“, „Rhetoriken“ und „Regime“, wie sie niemand besser als Harrison C. White beschrieben hat (2008). Das Internet zerfällt in Regionen, die
durch keine fixen Strukturen gekennzeichnet sind, außen solchen, die sie in
einer Art selbstreferentiellen Eigenwertlogik zusammenziehen. Diese durch
„PageRank“-Effekte sich bündelnde Themen-Globen könnte man ebenso als
Kanonisierungen interpretieren. Allerdings sind sie flüchtig wie ein
Schwarm. Alle Theorien jedenfalls, die auf das Internet mit linearen Konzepten losgehen, wie Gordon Bells „Total Recall“ oder Meyer-Schönbergers
„Delete“, verkennen seine Struktur völlig. Dennoch bleibt auch fürs Internet
der Satz der Assmanns gültig, dass, „solange wir den Tod nicht abschaffen
können“, das „kulturelle Gedächtnis“ „auch unter den Bedingungen der digitalisierten Mediengesellschaft“ fortbesteht. Nur wird dieses kulturelle Gedächtnis in der Internet-Welt, was seine Kanons betrifft, durch die neuen
Strukturen des Medienvergessens stärker und schwächer zugleich.
Vier abschließende Bemerkungen: (1) Soziale Gedächtnisse sind medienbasiert und überlagern sich historisch. Das heißt: Mit dem Internetgedächtnis
28
verschwindet das rhetorische Gedächtnis der Buchkultur keineswegs und
auch nicht das massenmediale. Letztere verlieren lediglich ihren jeweiligen
Alleinstellungsansprüche. (2) Das heraufziehende neue soziale Gedächtnis
der Computernetzgesellschaft basiert auf der Formatierung informeller und
volatiler Netzkommunikation, die durch Pagerank gesteuerte konformistische
Verdichtungen und randständige Ausschließungen gekennzeichnet ist. Aber
(3): Dieses neue Gedächtnis ist programmierbar und kann insofern über sich
reflektieren; anders als bei den Massenmedien zerstört die Aufdeckung von
Manipulationen nicht die Struktur des Internet-Gedächtnisses, sondern stärkt
sie. Deshalb müsste - aus meiner Sicht - (4) der PageRank- um einen SearchRank-Algorithmus erweitert werden, der schwach verlinkte Seiten durch ihre
Suchaufrufe im Seitenwert hebt. Was aber bedeuten würde, dass Google und
alle anderen Suchmaschinen-Firmen zur Offenlegung der Statistik ihrer eigenen Suchabfragen verpflichtet werden müssten. Die wichtigste Leistung eines
Gedächtnisses, also auch eines sozial-medialen, besteht nämlich nicht so sehr
im Antworten, sondern viel mehr im Fragen.
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