Technische Universität Hamburg-Harburg Arbeitsbereich Technikbewertung und Technikgestaltung WP 10 Working Papers zur Modellierung sozialer Organisationsformen in der Sozionik* Vorschläge für ein Szenario „Tauschbörse und E-Commerce“ Michael Florian Hamburg, Juni 2000 * Das Projekt „Modellierung sozialer Organisationsformen in VKI und Soziologie“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Schwerpunktprogramm Nr. 1077 „Sozionik: Erforschung und Modellierung künstlicher Sozialität“ unter der Kennziffer FL 336/1 gefördert Inhalt 1. Einleitung....................................................................................................... 3 2. Die „Szenario-Methode“ in der Sozionik...................................................... 4 3. Transportbörsen als virtuelle Marktplätze..................................................... 7 4. 3.1 Die Transportbörse als Anwendungsszenario......................................................... 8 3.2 Szenario 1: Die Transportbörse als „strategisches Netzwerk“ ............................ 10 3.3 Szenario 2: Die Transportbörse als „virtuelle Spedition“ ................................... 11 Der Gabentausch als sozialer Koordinierungsmechanismus ...................... 17 4.1 Zur Relevanz des Gabentauschmodells für die HFT und VKI .............................. 17 4.2 Vertrauensbildung durch Neutralisierung „ökonomischen“ Tauschverhaltens... 19 4.3 Verstärkung reziproker Bindungen ....................................................................... 25 4.4 Symmetrischer und asymmetrischer Gabentausch................................................ 26 5. Ausblick....................................................................................................... 29 6. Literatur ....................................................................................................... 31 2 1. Einleitung Im nachfolgenden Beitrag sollen Vorschläge für ein Szenario entwickelt und begründet werden, das den Rahmen für ein Modell elektronischer Tauschbörsen im Electronic-Commerce (E-Commerce) der Transportwirtschaft bildet: die „Transportbörse“. Die Zielsetzung ist dabei, die theoretischen Grundlagen für die Entwicklung eines Multiagentensystems (MAS) zu schaffen und anhand unterschiedlicher Szenarien zu untersuchen, ob die Habitus-Feld-Theorie (HFT) von Pierre Bourdieu sich für eine Modellierung verschiedener Formen vertikaler und lateraler Kooperation zwischen Transport- und Speditionsunternehmen verwenden lässt. Die dabei zu analysierenden Fragestellungen lauten: (1) Inwieweit ist die HFT als soziologische Basis für die Modellbildung derart unterschiedlicher Kooperationsformen wie hierarchische und heterarchische Netzwerke (exemplarisch am Beispiel des Kontrastes zwischen „strategischen Netzwerken“ und „virtuellen Unternehmen“) gleichermaßen geeignet? (2) Weist die HFT bei einer komparativen Analyse verschiedenartiger Organisationsformen zwischenbetrieblicher Zusammenarbeit jeweils spezifische Stärken und Schwächen auf, die bei der Entwicklung eines sozionischen MAS bedacht und bei der Präzisierung und Weiterentwicklung der HFT berücksichtigt werden müssen? In einem ersten Schritt soll geklärt werden, was wir unter „Anwendungsszenarien“ verstehen und worin die besonderen Merkmale unterschiedlicher Szenarien bestehen, die einen für die weitere Forschung relevanten „Kontrast“ bilden (Kapitel 2). Zweitens soll exemplarisch am Beispiel von Transportbörsen gezeigt werden, warum elektronische Tauschbörsen im Internet (und damit zusammenhängend Problemstellungen des E-Commerce) für unsere Modellbildung und Implementation als ein besonders geeignetes Anwendungsszenario erscheinen (Kapitel 3). In diesem Zusammenhang werden zwei Szenarien für die soziale Gruppierung der Agenten in Tauschbörsen vorgestellt, die sich auf die besonderen Merkmale zweier gegensätzlicher Formen interorganisationaler Netzwerke konzentrieren: einerseits das stärker hierarchisch geprägte „strategische Netzwerk“ miteinander kooperierender Transport- und Speditionsunternehmen sowie andererseits das „virtuelle Speditionsunternehmen“ als eine eher heterarchisch geprägte und zeitlich befristete Zusammenarbeit zwischen weitgehend gleichberechtigten Partnern. Da Tauschbörsen in ihrer Funktionalität aber aus soziologischer Perspektive stark eingeschränkt erscheinen und bislang nur rein „ökonomische“ Mechanismen für die soziale Koordination der Tauschpartner vorsehen („Auktionen“), sollen drittens Vorschläge entwickelt werden, um die technische Funktionalität von Börsen für die soziale Genese komplexerer Organisationsformen zu erweitern und die ökonomischen Tauschformen durch Formen sozialen Austausches zu ergänzen (Kapitel 4). Zu diesem Zweck wird das Konzept des Gabentausches, das in den Schriften von Pierre Bourdieu (1979; 1987, S. 180ff.) eher beiläufig als Beispiel für die Genese sozialer Praxis benutzt wird, aufgegriffen und als ein neuartiger Mechanismus für die soziale Koordination in Tauschbörsen eingeführt. Abschließend soll noch ein kurzer Ausblick auf die Weiterentwicklung der Funktionalität von Tauschbörsen im Internet gegeben werden (Kapitel 5). 2. Die „Szenario-Methode“ in der Sozionik Im Anschluss an eine klassische Definition von Kahn und Wiener (1967) ist ein Szenario ein hypothetischer Ablauf von Ereignissen, der für den Zweck konstruiert wird, die Aufmerksamkeit auf kausale Prozesse und Entscheidungspunkte zu richten. In der Zukunftsforschung und in der Technikbewertung wird die Szenariomethode meist als ein heuristisches Werkzeug benutzt, um die Analyse von komplexen Problemstellungen – vor allem unter Bedingungen unsicheren Wissens – mit Hilfe narrativer Kommunikationsformen zu fördern. Der bei der Erarbeitung von Zukunftsbildern und der Formulierung von Visionen produzierte „Text“ dient dabei aber nicht nur der inhaltlichen Strukturierung potenzieller Problemkonstellationen und der Freisetzung kreativer Ideen bei der Suche nach geeigneten Lösungswegen, sondern als Kommunikationshilfe unterstützen Szenarien zugleich den schwierigen Prozess der diskursiven Verständigung über eine gemeinsame Problemdefinition. Die Szenariomethode findet deshalb häufig in interdisziplinär ausgerichteten Forschungszusammenhängen Verwendung und eignet sich somit in besonderer Weise dazu, den Kommunikationsprozess zwischen Informatik und Soziologie innerhalb der Sozionik zu unterstützen. Die Formulierung von „Szenarien“ hat in der Verteilten Künstlichen Intelligenz (VKI) bereits eine weite Verbreitung gefunden. Zusammen mit einem ausgiebigen Gebrauch von Metaphern bilden Szenarien in der KI-Szene ein zentrales Medium für die Formulierung und Mitteilung von Ideen ebenso wie für die Entwicklung von anwendungstauglichen technischen Innovationen. So überrascht es nicht, dass in der internationalen VKI zum Beispiel das „Transportszenario“ als ein anerkanntes Anwendungsszenario gilt (vgl. Sandholm 1992). Am Deutschen Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken befasst sich eine Arbeitsgruppe schon seit geraumer Zeit mit der „Transportdomäne“, die als System kooperierender Agenten modelliert wird (vgl. z.B. Fischer und Kuhn 1993, Fischer et al. 1993). Mit der Entwicklung von Anwendungsszenarien sollen hier die Probleme der Koordination und Kooperation innerhalb sowie zwischen Transportunternehmen möglichst „realitätsnah“ beschrieben und mit Hilfe von Multiagentensystemen (MAS) modelliert werden. Das Transportszenario wird hier für die Beschreibung eines Anwendungsbereiches benutzt, in dem eine Vielzahl von geographisch auf verschiedene Standorte verteilten Speditionen Kundenaufträge akquirieren und ausführen unter Verwendung ihrer jeweils verfügbaren Transportkapazitäten (z.B. Lkw, Laderaum). Die Speditionen konkurrieren dabei um Kundenaufträge, müssen aber gegebenenfalls miteinander kooperieren, um für sich selbst ein günstiges Ergebnis zu erzielen. Die zentrale Aufgabenstellung für die VKI ist dabei ein komplexes Planungsproblem, in das hauptsächlich die Disponenten und Lkw-Fahrer einer Spedition als Agenten eingebunden sind. Kooperieren Speditionen miteinander, so müssen die Disponenten und vielleicht auch die Fahrer der einzelnen Unternehmen miteinander interagieren und ihre Aktivitäten koordinieren. Als Auftraggeber, Absender oder Empfänger sind die Kunden ihrerseits in dem Szenario als Agenten vorgesehen, die bei Vorliegen angemessener Konditionen einen Transportauftrag erteilen und die zu informieren sind über den Status der von ihnen erteilten Aufträge sowie über die möglicherweise bei der Auftragsausführung auftretenden Probleme. Die Be4 schreibung des Transportszenarios dient als Grundlage dafür, die praktischen Problemlösungen in Speditionen und Transportunternehmen unter Verwendung von VKI-Methoden zu modellieren und als Multiagentensystem in Form eines Prototypen zu konstruieren, der den Problemlösungsprozess im Transportwesen simuliert und dabei die praktischen Anforderungen des Anwendungsfeldes an eine „real-world application“ erfüllt. Das Sozionik-Projekt zur „Modellierung sozialer Organisationsformen in VKI und Soziologie“ verwendet die Szenariomethode, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den in der Transportwirtschaft empirisch auffindbaren Formen zwischenbetrieblicher Transportdisposition besser beschreiben und analysieren zu können. Angesichts unterschiedlicher Organisationsformen für die kooperative Transportdisposition ist die Ausarbeitung von kontrastbildenden „Anwendungsszenarien“ ein wichtiger Zwischenschritt, um den interdisziplinären Kommunikationsprozess zwischen Informatikern und Soziologen zu fördern und eine „realitätsnahe“ Modellierung der sozialen Strukturen und Abläufe zu erreichen. Was ist unter „kontrastbildenden Anwendungsszenarien“ zu verstehen und was meint „Realitätsnähe“ in diesem Zusammenhang? „Anwendungsszenarien“ sind Szenarien, die mit Blick auf eine mögliche Anwendungspraxis „im wirklichen Leben“ konstruiert werden. Die Orientierung an potenzieller Anwendbarkeit gilt dabei selbstverständlich nicht als einziger Maßstab für die Evaluation der Modellbildung und des Prototypen. Aber die Vorteile einer expliziten Formulierung von anwendungsorientierten Szenarien liegen darin, die empirische und technische Relevanz der Modellbildung unter Bezug auf überprüfbare Annahmen über den jeweils vorliegenden Wirklichkeitsausschnitt evaluieren zu können. Auf soziologischer Seite bedeutet „Anwendungsorientierung“ und „Realitätsnähe“, dass die Modellierung mit Hilfe empirischer Analysen in der Transportwirtschaft auf ihren Realitätsgehalt hin überprüft und abgeglichen werden kann.1 Für die VKI hat die Orientierung an Strukturen und Abläufen der sozialen „Realität“ den Vorzug, ihre Modelle und Implementationen nach strengeren anwendungsbezogenen Kriterien zu evaluieren, auch wenn die Entwicklung eines tatsächlich anwendbaren running systems keine Zielsetzung des auf Grundlagenforschung ausgerichteten Sozionik-Projektes darstellt. Die Leistungsfähigkeit und Robustheit des im Projektverlauf zu konstruierenden Prototypen sollte sich aber dennoch auch an den harten Bewertungskriterien orientieren, die von der potenziellen Anwendungspraxis an MAS gestellt werden. „Wesen“ 1 Die Bezugnahme der soziologischen Modellbildung auf eine soziale Realität darf nicht missverstanden werden. Es wird hier kein orthodoxer „Realismus“ vertreten, der durch die begriffliche “Widerspiegelung” der Wirklichkeit einen unmittelbaren Zugang zum tatsächlichen „Wesen“ der sozialen Realität behauptet. Die Forderung nach „Realitätsnähe“ distanziert sich aber auch von einem strengen Nominalismus, der eine (wie auch immer kontrollierbare) Relation zwischen Begriffen und Realität grundsätzlich abstreitet. Realitätsbezug weist hier lediglich darauf hin, dass die Modelle immer nur einen spezifischen Ausschnitt aus der sozialen Wirklichkeit in den Blick nehmen (können), auf den sie jeweils ausgerichtet sind, dass aber die Qualität und Angemessenheit dieser Orientierung an der Wirklichkeit wissenschaftlich kontrollierbar, d.h. vor allem auch durch andere nachprüfbar sein muss. Modelle eröffnen somit einen besonderen Zugang zur Realität, der nicht nur nach den Kriterien der Qualität der theoretischen Aussagen zu bewerten ist (z.B. logische Konsistenz und Kohärenz, Reichweite bzw. Umfang etc.), sondern sich auch unter dem Aspekt der empirischen Plausibilität zu bewähren hat. 5 Mit Hilfe von so genannten „Kontrastszenarien“ sollen konventionelle Formen der Unternehmenskooperation (Speditionskooperation und „strategische Allianz“) mit „virtuellen“ Formen der Kooperation in der Transportwirtschaft („virtuelles Speditionsunternehmen“) verglichen werden, um die Besonderheiten dieser unterschiedlichen Organisationsformen klarer heraus zu arbeiten und zu kontrastbildenden Anwendungsszenarien weiterzuentwickeln, die dann der nachfolgenden Modellierung als Orientierungshilfe dienen. In Zukunftsforschung und Technikbewertung dienen „extreme“ Szenarien dazu, die innere Widerspruchsfreiheit der Szenarien im Sinne der Idealtypenbildung bei Max Weber zu stärken und die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen den Typen zu lenken. Uns geht es nicht nur um den Kontrast zwischen „extremen“ Organisationsformen, sondern auch um die Überprüfung der These, dass der Kontrast zwischen verschiedenen sozialen Organisationsformen auf einer jeweils anders gearteten Konfiguration der prinzipiell für alle Organisationsformen verfügbaren Strukturierungs- und Koordinierungsmechanismen beruht. Das heißt, wir wollen ein abstraktes Modell sozialer Strukturierung und Koordinierung innerhalb und zwischen Transportunternehmen konstruieren, das alle wesentlichen Komponenten enthält, mit denen sich auf der Grundlage unterschiedlicher Kombinationen verschiedene soziale Organisationsformen „bauen“ lassen – von der bürokratischen Hierarchie über strategische Allianzen und Kooperationsnetzwerke bis hin zu virtuellen Formen der Zusammenarbeit. Vor diesem Hintergrund wurde bei der Antragstellung des Projektes eine Ausarbeitung zweier kontrastierender Anwendungsszenarien in Aussicht gestellt, die sich in Bezug auf einige relevante Merkmale klar voneinander unterscheiden lassen (s. Abb. 1 sowie Kapitel 3.2 und 3.3): strategische Netzwerke und virtuelle Unternehmen als Organisationsformen der zwischenbetrieblichen Kooperation in der Transportwirtschaft. Die in den ersten Monaten seit Projektstart durchgeführten Analysen führten jedoch zu einer inhaltlichen Akzentverschiebung. Anstelle der ursprünglich vorgesehenen ausschließlichen Fokussierung unserer Forschungsarbeit auf das operative Management zwischenbetrieblicher Transportdisposition und die Dispositionspraxis bei der Allokation von Aufträgen haben wir uns dafür entschieden, die Geschäftsführung kooperierender Transportunternehmen in die Untersuchung mit einzubeziehen, weil hier die strategischen Vorentscheidungen darüber getroffen werden, ob überhaupt und inwieweit eine Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen auf der Ebene der Transportdisposition in Frage kommt. Strategische Netzwerke Virtuelle Unternehmen • zeitlich unbefristete Kooperation • zeitlich befristete Kooperation • rechtlich unabhängige, aber meist wirtschaftlich abhängige Firmen • rechtlich unabhängige und wirtschaftlich selbstständige Firmen (oder Personen) • hierarchisch-zentralistisches Kooperationsmodell (Autorität und ökonomisches Kapital als primäre Machtressourcen) • polyzentrisch-laterales Kooperationsmodell (Vertrauen als zentraler Koordinationsmechanismus) Abb. 1: Zwei konträre Organisationsformen zwischenbetrieblicher Kooperation 6 Darüber hinaus entscheidet die Geschäftsführung über die Art der Kooperation und die dabei zu Grunde liegende Organisationsform, was von der informellen, projektbezogenen Zusammenarbeit bis hin zur langfristigen und rechtlich abgesicherten Partnerschaft von Gesellschaftern viele Formen der kooperierenden Zusammenarbeit einschließt und einen maßgeblichen Einfluss auf die organisationelle Praxis, besonders auf die Koordination des Handelns und notwendige Entscheidungen auf der operativen Ebene hat. Das Management interorganisationaler Beziehungen miteinander kooperierender Unternehmen bietet deshalb im Vergleich zur bloßen Transportdisposition eine angemessenere und reichhaltigere Forschungsperspektive, um die Mikro-Makro-Problematik bezüglich der Entstehung und Entwicklung (neuer) sozialer Organisationsformen sowie der Genese von Koordinationsstrukturen in der Transportwirtschaft zu untersuchen. Durch die Akzentverschiebung ist aber auch ein Perspektivenwechsel bei der Konstruktion der Anwendungsszenarien notwendig geworden. 3. Transportbörsen als virtuelle Marktplätze In unserem Alltagsverständnis ist ein „Markt“ ein Ort, an dem die Anbieter von Gütern, Dienstleistungen oder Arbeitskraft auf Nachfrager treffen, um über den Preis für den Tausch von Waren oder Leistungen zu verhandeln und bei einer Einigung den Austausch zu vollziehen. Mit der rasanten globalen Verbreitung des Internets (insbesondere dank des rapide wachsenden Internetdienstes „World Wide Web“) ist es technisch möglich geworden, den Marktprozess von der raumzeitlichen Anwesenheit der Anbieter und Nachfrager an einem spezifischen geografischen Ort zu entkoppeln. Ein „elektronischer Marktplatz“ lässt sich als eine internet-gestützte Kommunikationsplattform begreifen, mit deren Hilfe sich Anbieter von Produkten und Dienstleistungen „virtuell“ mit potenziellen Nachfragern treffen können, um ihre Geschäfte mit elektronischer Unterstützung abwickeln zu können. Eine elektronische Tauschbörse funktioniert in einfachster Form wie eine Art virtuelles „schwarzes Brett“, auf dem Anbieter oder Nachfrager von Produkten oder Dienstleistungen ihre Angebote oder ihre Gesuche inserieren können und bei Interesse mit dem gewünschten Transaktionspartner Kontakt aufnehmen können (vgl. Abb.2 am Beispiel einer elektronischen Frachtenbörse). Komplexere Formen von Tauschbörsen bieten direkte soziale Interaktionsmöglichkeiten, so dass beispielsweise die Suche geeigneter Partner oder die Auswahl passender Angebote mit Hilfe technischer Funktionen (z.B. Auktionen) unterstützt wird. Unter Verwendung einer Agententechnologie ist es darüber hinaus möglich, dass sich die Anbieter und Nachfrager durch Softwareagenten vertreten lassen, die an ihrer Stelle die erforderlichen Aktivitäten (z.B. das Auffinden geeigneter Tauschpartner und die Preisfindung mittels Auktionsverfahren) durchführen und den Handel somit in elektronischer Form abwickeln. Die grundsätzliche Frage nach der Eignung elektronischer Tauschbörsen für ein Anwendungsszenario der Sozionik soll im Folgenden exemplarisch am Beispiel von Transportbörsen untersucht und beantwortet werden. 7 Elektronische Frachtenbörse – Flucht nach vorn Elektronische Frachtenbörsen funktionieren wie ein schwarzes Brett. Bei Teleroute, dem europäischen Marktführer, kann ein Spediteur gegen eine monatliche Gebühr von 150,-DM bis zu 25.000 Angebote sichten. Er findet dort beispielsweise Angaben zu Start- und Zielort, zu Art und Gewicht der Ladung. Der Spediteur kann sich dann mit dem Anbieter in Verbindung setzen und den Auftrag übernehmen. Dieser Service ist für beide Seiten von Nutzen. Versender können sich das günstigste Angebot auswählen und die Transportunternehmen können ihre Kapazitäten effizienter einsetzen. Die Teleroute ist seit 1989 in Deutschland aktiv und der Zuspruch wächst ständig, denn die Angebote kommen aus ganz Europa. Gemäß einer Studie des Verkehrswissenschaftlichen Institutes an der Universität zu Köln sind die LKW-Kapazitäten im gewerblichen Verkehr nur zu 56 % und im Werkfernverkehr nur zu 41 % ausgelastet. Elektronische Frachtenbörsen sind ein gutes Instrument, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. Einige Spediteure haben jedoch Vorbehalte gegen die Frachtenbörsen. Der Geschäftsführer der Teleroute Medien Gmbh in Kriftel Ludger Kuhlmann begründet diese Vorbehalte damit, dass die Spediteure Angst haben, ihre Kunden zu verlieren. Langfristig sind die elektronischen Frachtenbörsen jedoch ein wichtiger strategischer Faktor wenn es darum geht, im europäischen Wettbewerb bestehen zu können. Quelle: Henke, R., Wirtschaftswoche, Nr. 34; 19.08.1994, S. 96 (Text zusammengefasst durch TELEROUTE unter http://www.teleroute.de/presse/p14_text.htm) Abb. 2: Teleroute - eine elektronische Frachtenbörse 3.1 Die Transportbörse als Anwendungsszenario Im Unterschied zu reinen Frachtbörsen, die nur Ladung vermitteln, werden in Transportbörsen zugleich Ladungen und freier Laderaum angeboten (Strampp 1999b). Allerdings hat das Angebot von Frachten im Vergleich zum Angebot von leeren Fahrzeugen und freiem Laderaum bislang noch ein deutliches Übergewicht - zumindest bei den offenen Frachten- und Transportbörsen (vgl. z.B. die europäischen Marktführer „Teleroute“ oder „TIR Online“; vgl. Abb. 3 und 4).2 Welche Probleme sind mit elektronischen Transportbörsen verbunden und welche Lösungsansätze sind dafür bislang entwickelt worden, die bei einer Modellierung zu berücksichtigen sind? Transportbörsen locken mit Angeboten Die Zahl der Frachtenbörsen steigt. Die Transportunternehmen haben die Wahl zwischen geschlossenen Systemen, regionalen Angeboten, Börsen von Verbänden und Börsen, bei denen eine Gebühr oder Provision verlangt wird. [...] Die derzeit erfolgreichste Frachtenbörse ist "Teleroute" mit 150.000 Anfragen pro Tag und knapp 35.000 festen Kunden, gefolgt von "TIR Online" mit ca 30.000 Anfragen pro Tag und 4400 festen Kunden. Quelle: Strampp, J. M., Transportbörsen locken mit Angeboten. Was Transportbörsen wirklich können. DVZ Nr. 21 vom 18. Februar 1999 (Text zusammengefasst durch TELEROUTE unter http://www.teleroute.de/presse/p2_text.htm) Abb. 3: Teleroute und TIR Online als Beispiel für Frachten- und Transportbörsen 2 Der Anteil der täglichen Frachtangebote lag im Jahr 1998 bei TIR Online und bei Teleroute bei ca. 80 bis 96% (Angaben nach „Virtueller Marktplatz“, Logistik Heute 1/2-98, S. 72) und im Jahr 1999 lagen die Gesuche nach Frachten bei ca. 70-80% aller Suchanfragen (Strampp 1999b). 8 Dank des Internets gehören die anfänglichen technischen Schwierigkeiten der Laderaumbörsen in den siebziger und achtziger Jahren (z.B. BTX-Technik) ebenso wie die damals noch immens hohen Verbindungskosten (für Datex-P-Leitungen) mittlerweile der Vergangenheit an. Die Nutzung des Internets ist im Vergleich zu den alten Übertragungstechniken nicht nur komfortabel und schnell, sondern auch deutlich preisgünstiger. Andere Hemmnisse, sich an einer Transport- oder Frachtenbörse zu beteiligen, sind allerdings nach wie vor wirksam und nur mit besonderen Anstrengungen aus der Welt zu schaffen: die mangelnde Einschätzbarkeit der Zuverlässigkeit und Qualität der Transaktionspartner. Diese Unsicherheitslücke kann entweder durch rechtliche Garantien und Sanktionsmechanismen geschlossen werden und/oder sie macht „Vertrauen“ erforderlich. So werden heute vor allem Säumigkeit, Zahlungsunfähigkeit und Unzuverlässigkeit als Gründe dafür angeführt (vgl. im Folgenden Strampp 1999b), dass die Nutzung von Transportbörsen immer noch relativ gering ist (einer Studie von Baum zufolge werden in Deutschland nur 1,7% der Lkw-Fahrten von Transportbörsen vermittelt). Dies ist überraschend angesichts unverkennbarer ökonomischer Vorteile (Kostenreduzierung durch Verbesserung von Auslastung und Deckungsbeitrag) und ökologischer Effekte (Reduzierung von Schadstoffemissionen durch Verringerung unnötiger Lkw-Verkehre). Was ist Teleroute? Teleroute ist ein national und international betriebene Frachtenbörse, die auf 10 Jahre Erfahrung zurückblickt. Sie ermöglicht den angeschlossenen Teilnehmern Informationen zu Frachten und Laderaum abzurufen. Attraktiv ist Teleroute vor allem durch die Vielzahl der Angebote und durch die zuverlässigen Teilnehmer, die auf Bonität und Seriosität geprüft sind. Teleroute bringt Ihnen folgende Vorteile: • • • • Zeiteinsparung für die Kontaktaufnahme, weil Sie Angebote direkt abrufen und platzieren können. Bessere Auslastung Ihrer Kapazitäten und Einsparung von Leerfahrten Teleroute ist regional, national und international tätig und verzeichnet täglich ca. 200.000 Zugriffe Teleroute verfügt über eine hohe Geschwindigkeit und einfache Abläufe Zum Thema Zuverlässigkeit: • • • • • hohe Ausfallsicherheit 24 h Verfügbarkeit Bonitätsprüfung jedes Neukunden bei Fehlverhalten eines Kunden wird dieser abgemahnt und gegebenenfalls von der Nutzung ausgeschlossen Angebote werden mit Firmenprofilen verknüpft, um Ihnen einen besseren Überblick zu verschaffen Quelle: Internetauftritt der Firma Teleroute vom 07.04.2000 unter http://www.teleroute.de/frachtenboerse/fracht.htm Abb. 4: Die Frachtenbörse „Teleroute“ Die mangelnde Nutzung von Frachten- und Transportbörsen lässt sich im wesentlichen auf vier Ursachen zurückführen. Erstens haben solche Börsen im Transportgewerbe einen schlechten Ruf. Die Gründe für das negative Image der Transportbörsen sind nach Strampp vor allem darin zu suchen, dass „schwarze Schafe“ dort Phantasieaufträge („Seifenblasen“) in die Datenbanken speisen, dass hier Aufträge angeboten werden, die schon längst erledigt 9 wurden oder dass sich dort ökonomisch unseriöse Angebote finden, die noch nicht einmal die Treibstoffkosten decken. Zweitens wirft die einvernehmliche betriebswirtschaftliche Verrechnung der Leistungen (Vorteilsausgleich, Inkasso) zwischen den beteiligten Transaktionspartnern einige Probleme auf. Darüber hinaus sind aber noch zwei weitere Gründe ausschlaggebend, Transportbörsen zu ignorieren: drittens das Risiko, sensible Daten über das eigene Unternehmen oder seine Kunden preiszugeben sowie viertens schließlich die grundsätzlichen Risiken und Unsicherheiten, die mit Datenübertragungen im Internet verbunden sind. Beim letzten Punkt zeigen sich zudem die widersprüchlichen Anforderungen an die Funktionen einer Transportbörse. Auf der einen Seite soll sie Anonymität gewährleisten (z.B. den Wunsch von Kunden nach Wahrung ihrer Anonymität oder das fundamentale Interesse jeder Spedition nach „Kundenschutz“), auf der anderen Seite aber soll die Börse auch in der Lage sein, Anonymität zu verletzen, wenn es um zweifelhafte Geschäftspraktiken geht. Vor allem bei Spezialtransporten (z.B. Gefahrgut, Kühlgut oder Silofracht), bei denen die Zuverlässigkeit und Kompetenz der Transportunternehmen eine besonders große Bedeutung hat, stellt sich die Vermittlung von Laderaum oder Frachten mittels Transportbörse als besonders schwierig dar: „Zuverlässige Frachtführer mit Spezialkenntnissen sind hier besonders gefragt. Zufallsbekanntschaften können aber in der Anonymität einer elektronischen Börse nur schlecht beurteilt werden“ (Strampp 1999b). Und – so lässt sich ergänzen – im Internet sind alle Katzen bunt, d.h. aus der Präsentation im WWW allein lässt sich noch kein verlässlicher Eindruck über die tatsächliche Kompetenz, über die Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit der dahinter stehenden Akteure gewinnen. 3.2 Szenario 1: Die Transportbörse als „strategisches Netzwerk“ Das erste Szenario verwendet die Transportbörse als ein Fallbeispiel für ein „strategisches Netzwerk“ von Speditionen und Transportunternehmen, die eine zeitlich unbefristete, hierarchisch-zentralistische Kooperation zwischen rechtlich unabhängigen, aber meist wirtschaftlich abhängigen Firmen bilden. Das Konzept strategischer Netzwerke ist eng an die Vorstellung gebunden, dass die Kooperation zwischen Unternehmen durch eine oder mehrere so genannte „fokale Unternehmungen“ strategisch geführt wird (vgl. Jarillo 1988 und Sydow 1992). Auf Grund ihrer starken Machtressourcen innerhalb des Netzwerkes beansprucht die fokale Unternehmung eine Führungsposition, indem sie das zu beliefernde Marktsegment definiert, die ökonomischen Strategien und einzusetzenden Technologien sowie die entsprechende Ausgestaltung der Organisation des Netzwerkes bestimmt. Beispiele für strategische Netzwerke finden sich in der Automobilindustrie, in der die Automobilhersteller als dominierende fokale Unternehmungen den relevanten Bezugspunkt für die zahlreichen untergeordneten Zulieferbetriebe und Abnehmer bilden. Aber auch in der Transportwirtschaft lassen sich strategische Netzwerke finden, in denen ein fokales Unternehmen seine Kooperationspartner beherrscht (vgl. z.B. Freichel 1992). Für die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Organisationsformen zwischenbetrieblicher Zusammenarbeit bildet das Szenario des strategischen Netzwerkes eine Art Kontrastpunkt und 10 Vergleichsmaßstab. Dank seiner beherrschenden Stellung innerhalb des Netzwerkes sind im Management interorganisationaler Beziehungen vor allem solche sozialen Koordinationsmechanismen zu erwarten, die auf der Dominanz und relativen Stärke des fokalen Speditionsunternehmens im Kräfteverhältnis zu den Kooperationspartnern basieren. „Hierarchie“ und „Markt“ lassen sich hier als die entscheidenden (primären) Koordinierungsmechanismen identifizieren, was nicht bedeutet, dass es neben der Autorität des fokalen Unternehmens fallweise nicht auch andere (informelle) Autorisierungsmechanismen geben kann oder dass alle Austauschprozesse allein nach dem Muster rein „ökonomischer“ Beziehungen ablaufen müssen. Aber im Vergleich zu Hierarchie und Markt werden alternative Koordinierungsformen (wie z.B. Vertrauen) in unserem idealtypischen Szenario eher sekundär genutzt. Für das Modell einer Transportbörse bilden Hierarchie und Markt keine außergewöhnliche Probleme. Der in Tauschbörsen üblicherweise verwendete Auktionsmechanismus folgt der Logik des ökonomischen Äquivalententausches par excellence und vertikale Über- und Unterordnungsverhältnisse sind bereits überall dort vorhanden, wo an zentraler Stelle über gemeinsame Fragen entschieden wird (z.B. über den Eintritt oder Ausschluss eines Partners aus dem Netzwerk der Tauschbörse). Weil Autorität und Markt für die Modellierung von Multiagentensystemen (MAS) keine grundsätzlichen Schwierigkeiten aufwirft, wollen wir uns an dieser Stelle nicht länger mit dem Szenario strategischer Netzwerke aufhalten und uns statt dessen intensiver dem zweiten Szenario zuwenden: der virtuellen Spedition. 3.3 Szenario 2: Die Transportbörse als „virtuelle Spedition“ Als zweites Szenario soll die Transportbörse als Fallbeispiel für ein virtuelles Transportunternehmen („virtuelle Spedition“) genutzt werden. Die Grundidee ist dabei, dass sich einzelne Unternehmen, Unternehmensteile oder auch Einzelpersonen (Subunternehmer, Frachtführer, „owner operator“) auf dem elektronischen Markplatz einer Transportbörse temporär zu einem virtuellen Unternehmen zusammenschließen, um entlang der Wertschöpfungskette durch die Koordinierung und Kombination vieler Einzel- und Teilleistungen eine zweck- und zeitgebundene Gesamtdienstleistung „aus einer Hand“ zu produzieren. Die Transportbörse dient hierbei gewissermaßen als ein sozialer Raum, in dem sich Kunden, Kooperationspartner und Konkurrenten (repräsentiert durch ihre Agenten) begegnen und (auf der Grundlage der im transportökonomischen Feld vorherrschenden sozialen Strukturen, Positionen, Kapitalverteilungen etc.) miteinander interagieren. Im Unterschied zu einer stabilen und dauerhaft institutionalisierten Kooperation zwischen Transportunternehmen (vgl. Szenario 1 Speditionskooperation als „strategisches Netzwerk“), zeichnet sich die soziale Netzwerkorganisation einer virtuellen Spedition durch besondere Merkmale aus (s. Abb. 5).3 3 Unser Szenario einer virtuellen Spedition orientiert sich an einschlägigen Definitionen, die Scholz (1994, S. 23) und Arnold et al. (1995, S. 10) generell für „virtuelle Unternehmen” vorgeschlagen haben. 11 Die „virtuelle Spedition“ ... • ist ein zeitlich begrenztes Netzwerk von rechtlich unabhängigen (Teil-)Unternehmen und/oder Einzelpersonen; • erbringt auf der Basis eines gemeinsamen Geschäftsverständnisses eine Leistung wie ein einheitliches Unternehmen („wie aus einer Hand“); • operiert auf der Grundlage von hohem gegenseitigem Vertrauen, kompatiblen Werten und Grundannahmen (gemeinsame „Vertrauenskultur“ und „Spielregeln“); • verfügt über keine gemeinsame institutionalisierte Leitung, Verwaltung und Kontrolle (d.h. ohne Institutionalisierung zentraler Managementfunktionen); • ist vor allem durch die sich ergänzenden Kernkompetenzen auf der Basis gemeinsamer Standards in der Lage, Ressourcen (Kapitalien) und damit Kosten und Gewinne untereinander zu teilen; • soll durch die Verstärkungs- und Multiplikatoreffekte der temporären Netzwerkbildung neue Märkte erschließen oder Wettbewerbsvorteile auf bestehenden Märkten erlangen. Abb. 5: Das Konzept „virtueller Speditionen“ In unserem Szenario der Transportbörse haben die einzelnen Unternehmen somit die strategische Option, eine geforderte Logistik- und Transportdienstleistung entweder ganz aus eigener Kraft, durch Akquisition oder Fusion geeigneter Konkurrenten oder durch Aufbau oder Beteiligung an einem dauerhaften oder temporären Netzwerk kooperierender Organisationen zu verwirklichen. Die Wirksamkeit sozialer Koordinationsmechanismen wie Preise und Kosten, Autorität und Vertrauen ist aber an bestimmte Bedingungen geknüpft. So stellt sich die (nur empirisch zu beantwortende) Frage, inwieweit Preis- und Kostenfunktionen tatsächlich als Koordinierungsmechanismen wirksam sind, inwieweit wirklich Machtbefugnisse bestehen, um autoritäre Anweisungen geben und hierarchische Kontrollen durchführen zu können und inwiefern vertrauensvolle Austauschbeziehungen entstehen können. Worin unterscheidet sich das Szenario virtueller Spedition von dem Szenario eines strategischen Netzwerkes? Was macht den „Kontrast“ aus, mit dessen Hilfe sich die beiden Organisationsformen bei der Herausbildung zwischenbetrieblicher Netzwerke voneinander abgrenzen lassen? Im Anschluss an Überlegungen und Vorschläge, die Christian Scholz (1994) allgemein für unterschiedliche Kooperationsformen erarbeitet hat, lassen sich die spezifischen Merkmale benennen, dank derer sich die eher „klassischen“ horizontalen Kooperationsformen der Gemeinschaftsunternehmung (Joint Venture) und der strategischen Allianz4 gegenüber dem neuartigen Typus virtueller Speditionen unterscheiden (s. Abb. 6). 4 Der Begriff der „strategischen Allianz” bezieht sich auf eine horizontale Kooperation zwischen rechtlich und wirtschaftlich (weitgehend) selbstständigen Partnerunternehmen (Freichel 1992, S. 59 im Anschluss an Gahl 1991, S. 11f.), während das „strategische Netzwerk” im Sinne unseres ersten Szenarios ein vertikales Kooperationsgefüge bezeichnet, das von einer dominierenden „fokalen Unternehmung” geführt wird (vgl. Sydow 1992). 12 Kooperationsform Gemeinschaftsunternehmung (Joint Venture) Merkmale Rechtlicher Rahmen Vertragliche Bindung - formal/informal - dauerhaft/befristet Organisation - Organisationsstruktur - Organisationskultur Management Ressourcen Strategische Allianz kooperierender Speditionen Virtuelle Spedition Wertschöpfungspartnerschaft mit Zulieferern / Abnehmern (= vertikale strategische Allianz) oder Partnerschaft zwischen Wettbewerbern auf einem oder mehreren, aber nicht allen strategischen Geschäftsfeldern (= horizontale strategische Allianz) Spontaner Zusammenschluss von Unternehmen mit lockeren und informellen Bindungen, ohne eigenständige Rechtsform, keine Kapitalverflechtung, gemeinsame Eigentums- und Verwertungsrechte an Produkten, Patenten, Lizenzen (Bsp.: Bahntrans, DISI GmbH) Zusammenschluss von zwei oder mehr Partnern, die ihre Mittel und Erfahrungen z. Betrieb eines gemeinsamen Unternehmens einsetzen, das ihnen gemeinsam gehört, das sie gemeinsam kontrollieren u. dessen Ergebnisse sie teilen Lediglich mündlich oder auf elektronischem Wege getroffene Vereinbarung über eine zeitlich begrenzte Zusammenarbeit Beibehaltung der eigenen Ohne feste OrganisationsGründung eines neuen Unternehmens mit Schaf- Organisationsstruktur unter struktur auf der Basis gleifung einer eigenständigen Bewahrung der eigenen cher Werte und GrundanUnternehmensidentität Unternehmensidentität und nahmen, gemeinsamer Visiund Unternehmenskultur Unternehmenskultur onen und Ziele Von den Partnern eingeInstitutionalisierte, unterKeine institutionalisierte, setztes, eigenständig agie- nehmensübergreifende unternehmensübergreifende rendes Management, Leitung, Planung, Entschei- Leitung, Planung, Entscheigeringere Notwendigkeit dung und Kontrolle, forma- dung und Kontrolle, inforzur interorganisationalen le Kommunikationswege melle Kommunikationswege Kommunikation Die in das neue UnterKnow-how-Transfer, Tech- Unbeschränkter (?), wechnehmen eingebrachten nologie-Transfer, Überwin- selseitiger Zugriff auf die Beiträge der Venturedung von Markteintrittsbar- Ressourcen der Partner (Resource Sharing), KnowPartner werden unmittel- rieren barer Bestandteil des how-Transfer Unternehmens Formal geschlossener und Formal geschlossener, eher auf Dauer angelegter langfristig orientierter KoJoint-Venture-Vertrag operationsvertrag Abb. 6: Vergleich unterschiedlicher Kooperationsformen Noch deutlicher fallen freilich die besonderen Merkmale der virtuellen Spedition aus, wenn sie nicht mit anderen horizontalen Kooperationsformen wie dem Joint Venture oder der strategischen Allianz verglichen wird, sondern mit der vertikalen Kooperationsform des strategischen Netzwerkes, die wir im ersten Szenario (Kapitel 3.1) beschrieben haben. Neben dem temporären Charakter der Netzwerkbindungen, der für horizontale und vertikale Kooperationsformen gleichermaßen gelten kann, ist vor allem die Koordinierung der Aktivitäten im Netzwerk, d.h. das Management der Interdependenzen zwischen den einzelnen Aktivitäten, Strukturen und Abläufen, eine zentrale Herausforderung für die Modellierung der virtuellen Spedition. Wegen des weitgehenden Verzichtes auf eine Institutionalisierung zentraler Managementaufgaben besitzt das virtuelle Speditionsunternehmen keine Hierarchien, Organigramme oder stabile Abteilungsstrukturen (vgl. generell zu virtuellen Unternehmen Scholz 1995, S. 52). Es verfügt weder über ein gemeinsames juristisches Dach noch über eine gemeinsame Verwaltung. Und es kann sich nicht auf die dominante Machtposition eines fokalen Partners verlassen, der allen Beteiligten seine Orientierung auferlegen könnte. Statt dessen ist die Kooperation zwischen den einzelnen Einheiten der virtuellen Spedition durch ein ausge13 prägtes Vertrauensverhältnis zwischen den Akteuren gekennzeichnet. Die Koordination erfolgt primär auf elektronischem Weg durch den Einsatz einer ausgereiften Informationstechnologie (vgl. Scholz 1995, S. 17 für virtuelle Unternehmen). „Eine virtuelle Organisation hat die Möglichkeiten und das Potential einer traditionellen Organisation, ohne jedoch über einen vergleichbaren institutionalen und strukturellen Rahmen zu verfügen. Es ist eine Als-obOrganisation, deren Funktionalität unter Verzicht auf traditionelle Mittel (...) erreicht wird“ (Klein 1994, S. 309). Wegen der Möglichkeit, die Auftragsbearbeitung „virtuell“ abzuwickeln, ist das Dienstleistungsangebot „virtueller Speditionen“ nicht unbedingt an eine langjährige Erfahrung und ausgewiesene Kompetenz im Bereich von Transport und Logistik gebunden. Mit der Verbreitung des Internet und seinem Einsatz als Kommunikationsmedium, mit dem sich auch komplexe Geschäftsprozesse elektronisch abbilden und managen lassen, besteht die Möglichkeit, dass Speditions- und Logistikunternehmen innerhalb der Wertschöpfungskette des elektronischen Handels selbst zu Subunternehmern „degradiert“ werden. So werden heute bereits die großen Transportbörsen nicht etwa von Insidern aus der Transport- und Logistikbranche betrieben, sondern sie sind (oder waren bis vor kurzem noch) an große Verlagshäuser und Medienkonzerne angebunden, die damit ihrer Medienkompetenz ein neues Geschäftsfeld erschlossen haben (vgl. z.B. die beiden Marktführer Teleroute Medien GmbH, ein Tochterunternehmen der Verlagsgruppe Wolters Kluwer, oder TIR Online, das zur englisch-niederländischen Verlagsgruppe Reed Elsevier gehört und in Deutschland mit dem Internetdienst „Verkehr Online“ der Bertelsmann AG kooperiert). Mit der zunehmenden Verbreitung von E-Commerce bei Geschäfts- und Privatkunden ist ein Szenario denkbar, dass sich neue Unternehmen mit Internet- und EC-Kompetenz (und möglicherweise auch mit VKI-Kompetenzen für die agentengestützte Abwicklung der Geschäftsprozesse im Internet) zwischen die Transportunternehmen und deren Kunden drängen und dort als Systemführer einnisten, um verschiedene Dienstleistungen (einschließlich der Transporte und Anlieferungen) zu einem „value-added“Servicepaket zu bündeln und im Internet als komplette Serviceleistung aus einer Hand anzubieten. Solch ein umfassender Dienstleister kann (ähnlich wie bei Call Centern) eine beliebige Firma sein, die in der Lage ist, eine Online-Auftragserfassung (z.B. in Form eines virtuellen Marktplatzes mit Börsen- bzw. Auktionsmechanismen) anzubieten, in die dann die Speditionen oder Transportunternehmen als (untergeordnete) ausführende Transportagenturen eingebunden sind. Gelingt es den Speditionen nicht, diese strategische Vermittler- und Brokerfunktion selbst zu besetzen und für die Akquisition von Transportaufträgen und logistischen Mehrwertleistungen zu nutzen, könnten sie auf lange Sicht aus der Rolle eines „Architekten des Güterverkehrs“ verdrängt werden. Wegen der (die Transportpreise drückenden) online möglichen Preisvergleiche zwischen Anbietern von Transport- und Logistikdiensten und wegen der virtuellen Auftragsbearbeitung per Internet könnten sich dann Speditionen und Transportunternehmen künftig in einer ähnlichen Situation wieder finden wie sie sich heute bereits für den Einzelhandel als Anbieter von CDs und Büchern mit der Verbreitung von Teleshopping andeutet. 14 Wie realistisch solch ein Szenario zumindest für den expandierenden Bereich der KurierExpress- und Paketdienstleistungen (Kep) ist, zeigt der nachfolgende Textauszug (s. Abb. 7): Virtuelle Auftragsbearbeitung in der Spedition Das Internet revolutioniert den Transport „Im Kep-Bereich lassen sich derzeit erste Anzeichen einer noch weitergehenden Entwicklung ablesen. Hier ensteht eine neue Generation von Kep-Spediteuren, ein Trend, der aus dem Internet-Pionierland USA stammt. Es sind bereits mehrere Dienstleister aktiv, die online Preisvergleiche sowie Auftragserfassung im Internet anbieten. Dabei arbeiten diese Dienstleister firmenübergreifend (‚multi carrier systems‘) und sind mit den jeweiligen Kep- beziehungsweise Speditionsdienstleistern über eine permanente Online-Verbindung verbunden. Grundsätzlich lassen sich die neuen Services in zwei Kategorien einteilen: Zum Einen gibt es Services, die gegenüber den Transporteuren als Großversender auftreten und die Preisvorteile anteilig weitergeben. Daneben platzieren sich die Anbieter, die ihren Service als eigenständige Dienstleistung – ohne Einkaufsbündelung – gegen Berechnung von so genannten Transaktionskosten, anbieten. Die virtuellen Dienstleister stellen die größte Gefahr für die tradierten Transportsysteme dar und zwingen die jetzigen Anbieter zu schnellen Investitionen in Kommunikationstechnologie. Durch eine sowohl horizontale als auch vertikale Bündelung von Serviceleistungen können diese Firmen schlagartig als leistungsfähige Wettbewerber zu Speditionen und Kep-Diensten auftreten, obwohl sie über kein eigenes Transportnetzwerk verfügen. Für den Versender stellen die umfangreichen zusätzlichen Kommunikationsservices das ausschlaggebende Argument für die Zusammenarbeit dar; der Kep-Dienst beziehungsweise Spediteur wird lediglich noch als Subunternehmer für den physischen Transport benötigt – und austauschbar. Ähnlich, wie die Firma amazon.com im Buchmarkt, können neue Firmen in den klassischen Transportbereich eindringen und durch die konsequente Nutzung der Internettechnologie das heutige Marktgefüge auf den Kopf stellen.“ Aus: Bernd Müller und Horst Manner-Romberg, Telematik und Kommunikationstechnik. Eine Sonderbeilage der DVZ, 53. Jg., Nr. 54, 6. Mai 2000, S. 9 Abb. 7: Virtuelle Auftragsbearbeitung in Speditionen Auch wenn sich eine Virtualisierung ehemals stabiler Unternehmensstrukturen und Organisationsformen andeutet und zuweilen schon als Indiz für das Entstehen neuer „grenzenloser“ Unternehmungen gewertet wird (vgl. z.B. Picot et al. 2001), sollte nicht übersehen werden, dass eine potenzielle „Auflösung“ von Unternehmensgrenzen auch mit einigen Problemen und Risiken verbunden ist, was eine vorsichtige Skepsis gegenüber allzu euphorischen Virtualisierungsvisionen sinnvoll erscheinen lässt. Deshalb sollen im Folgenden einige ausgewählte Problemstellungen der Organisationsform virtueller Speditionen benannt werden (vgl. im Folgenden Thomas Müller 1997, S. 33ff., der sich generell mit kritischen Aspekten virtueller Unternehmen befasst). • Die zeitliche Begrenzung der Kooperation und wechselnde Mitgliedschaften im Netzwerk Im Unterschied zu der in Szenario 1 behandelten Speditionskooperation als „strategisches Netzwerk“, das eine gewisse (zeitliche und organisatorische) Stabilität aufweist, wird der Aufbau einer „Vertrauenskultur“ zwischen den in der virtuellen Spedition kooperierenden Agenten durch den temporären Charakter der virtuellen Organisationsform weitaus schwieriger zu realisieren sein. Auch wenn wir davon ausgehen können, dass sich die einzelnen Part15 ner innerhalb des virtuellen sozialen Raumes einer Transportbörse immer wieder begegnen können und Fehlverhalten durch die betroffenen Partner öffentlich kommuniziert werden kann, kann die Bindungskraft einer gemeinsamen Geschichte und gemeinsamer Erfahrungen wenn überhaupt, dann nur sehr bruchstückhaft unterstellt werden. „Bis ein nennenswertes Maß an Gemeinsamkeiten wachsen könnte, hat sich das Netz in aller Regel schon aufgelöst“ (Reiss 1996, S. 12). Bei dem häufigen Wechsel zwischen den Partnern und in der Zusammensetzung der einzelnen Teams ist kaum auszuschließen, dass ein Kooperationspartner von heute zum Konkurrenten von morgen wird. So ist es denkbar, dass sich die Partner in der virtuellen Spedition um so weniger vertrauen, je wahrscheinlicher potenzielle Partner für gegenwärtige oder mögliche Wettbewerber gehalten werden. Andererseits ist gegenseitiges Vertrauen aber für eine erfolgreiche Zusammenarbeit innerhalb virtueller Speditionen dringend erforderlich. Daraus folgt, dass spezifische Mechanismen der Vertrauensbildung gefunden werden müssen, um die notwendige Vertrauenskultur zumindest in Ansätzen zu schaffen. • Fehlende vertragliche Absicherung Wegen der Flexibilität und Zeitersparnis wird in der virtuellen Spedition auf detaillierte vertragliche Regelungen verzichtet. Statt dessen werden heimliche Standards vorausgesetzt und elektronische Standardverträge mit erweitertem Interpretationsspielraum eingesetzt, die aber das Risiko von opportunistischem Verhalten einzelner Netzwerkpartner zu Lasten der anderen erhöhen. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Aufbau einer Vertrauenskultur eine wesentliche Rolle zu (vgl. Sieber und Suter 1996, S. 6). • Fehlende Konzeptionen für ein auf Vertrauensbildung orientiertes Koordinierungsmodell in virtuellen Speditionen Im Anschluss an Sydow und Windeler (1994, S. 4ff.) lassen sich vier basale Managementfunktionen unterscheiden, die bei der Gestaltung von interorganisationalen Netzwerken von entscheidender Bedeutung sind: (1) Die Selektion geeigneter Kooperationspartner, (2) die Regulation der Aktivitäten und der Beziehungen zwischen den Organisationen, (3) die Allokation der Ressourcen zwischen den Organisationen und (4) die Evaluation der interorganisationalen Beziehungen. Unter Berücksichtigung der besonderen Situation der Organisationsform virtueller Speditionen müssen diese vier (zusätzlichen) Managementaufgaben in ihren Wirkungen und hinsichtlich ihrer Voraussetzungen für die Entstehung und Entwicklung von Vertrauen und interorganisationalen Vertrauenskulturen berücksichtigt werden. Bislang fehlen jedoch tragfähige soziologische Konzeptionen, mit denen sich die Vertrauensbildung in Unternehmensnetzwerken für ein Management interorganisationaler Beziehungen modellieren lässt. Mit Hilfe des Gabentausch-Konzeptes werden wir im nächsten Kapitel einen Vorschlag für einen für die Organisationsforschung „neuartigen“ sozialen Koordinationsmechanismus entwickeln, der sich für die Modellbildung vertrauensvoller Beziehungen eignet (Kapitel 5). 16 4. Der Gabentausch als sozialer Koordinierungsmechanismus In vielen archaischen Kulturen und so genannten „primitiven“ Gesellschaften findet der soziale Austausch und die Herausbildung von gegenseitigen sozialen Verpflichtungen, die denen des „Vertrages“ ähnlich sind, in Form von Geschenken statt, die „theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen“ (Mauss 1990, S. 17). Noch vor der sozialhistorischen Institutionalisierung von Vertragsrecht, Waren- und Geldwirtschaft hat es bereits frühe Formen der Verbindung von „Ökonomie“ und „Moral“ (oder Ethos) gegeben, ohne die eine soziale Genese des (friedlichen) Tausches von Waren zwischen einander fremden Kollektiven und eine Etablierung (ver-)bindender Sozialbeziehungen kaum denkbar erscheinen. Mit zunehmender gesellschaftlicher Arbeitsteilung und der sozialen Ausdifferenzierung von Funktionsbereichen als relativ autonome soziale Felder in der modernen Gesellschaft stellt sich die Frage, ob und inwieweit auch heute noch die sozialen und ökonomischen Beziehungen durch moderne Formen des Gabentausches moralisch gestützt werden (müssen)? Ohne hier ein abschließendes Urteil in dieser Frage auch nur andeuten zu wollen, ist zu vermuten, dass der Gabentausch auch in den Ökonomien der modernen Gesellschaften eine nicht zu unterschätzende, wenn nicht sogar eine tragende Rolle bei der Entstehung reziproker sozialer Verpflichtungen zwischen sozialen Gruppierungen spielt (vgl. z.B. Blau 1974). Von dieser Annahme ausgehend soll die Wirkungsweise des Gabentausches bei der sozialen Genese vertrauensvoller Unternehmenskooperationen am Beispiel der Transportwirtschaft untersucht werden. 4.1 Zur Relevanz des Gabentauschmodells für die HFT und VKI Die Modellierung sozialer Organisationsformen trifft vor allem dort an ihre Grenzen, wo es darum geht, die soziale Praxis in eine adäquate soziologische Theorie dieser Praxis zu überführen, ganz zu schweigen von der Transformation dieser soziologischen Theorie in ein formales Modell der VKI oder gar in ein funktionsfähiges MAS, das diese soziale Praxis auf eine „angemessene“ Weise nachbilden oder simulieren soll. Auch wenn wir diese absolute Grenzziehung nachvollziehen und akzeptieren mögen, stellt sich für die Sozionik die Forschungsfrage, bis zu welchem Punkt eine Modellierung und Implementation noch innerhalb dieser Grenze vorzudringen vermag und zu welchen Erkenntnisgewinnen dieses Vorhaben auf Seiten der Soziologie und der VKI führt. Was liegt also näher, als den potenziellen Nutzen anhand eines Beispiels zu ermitteln, das auf beiden Seiten als relevant betrachtet werden kann. Ein geeignetes Fallbeispiel für die Modellierung sozialer Organisationsformen bietet nach unserer Überzeugung das Modell des Gabentausches, das Bourdieu im Anschluss an Überlegungen von Marcel Mauss („Die Gabe“, 1923/24 zuerst erschienen; dt. Ausgabe 1975 bzw. 1990) und Claude Lévi-Strauss („Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“, dt. 1981) weiterentwickelt hat. Aus Sicht von Bourdieu bildet der Gabentausch „ein relativ einfaches Erzeugungsmodell (...), mit dem die Logik der Praxis theoretisch erklärt werden kann“ (1987, S. 183), was für uns eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Übertragung der Habitus-Feld-Theorie in die VKI darstellt. Inwieweit diese Übertragung tatsächlich ge17 lingt, hängt in entscheidendem Maße davon ab, welche Problemstellungen von MAS mit Hilfe des Gabentausches angemessener modelliert und (vielleicht auf bessere Weise) gelöst werden können. Hierbei denken wir vornehmlich an Probleme, die im Zusammenhang mit der Herausbildung sozialer Gruppierungen auftreten und die üblicherweise mit der Entstehung von vertrauensvollen Sozialbeziehungen verknüpft werden. Am Beispiel zweier Szenarien aus dem Bereich der Transportdomäne – der sozialen Genese einer kooperativen Transportdisposition in einer Speditionskooperation und einer Transportbörse als virtueller Unternehmensform - sollen dabei die Vorzüge eines mit Hilfe der HFT modellierten Gabentausches überprüft werden. Zunächst ist aber zu klären, welche Eigenschaften den Gabentausch kennzeichnen (vgl. dazu im Folgenden Mauss 1990, Lévi-Strauss 1981, Bourdieu 1979 und 1987, Paul 1997). Aus soziologischer Sicht ist zunächst festzuhalten, dass sich der Gabentausch als ein kollektives Phänomen zwischen sozialen Gruppen abspielt, auch wenn er durch den interaktiven Austausch von Geschenken zwischen Individuen realisiert wird.5 Der Austausch von Gaben beeinflusst ein bestehendes soziales Kräfteverhältnis (bzw. Kräftefeld), weil er in den Beziehungen zwischen sozialen Gruppierungen die Grenze zwischen „Krieg“ und „Frieden“ markiert, indem die Feindschaft, Konkurrenz oder Rivalität durch die Verkettung von Gabe und Gegengabe (zumindest vorübergehend) „außer Kraft gesetzt“ werden kann. Gleichzeitig ist aber auch die grundlegende Ambivalenz jeder Gabe zu beachten, weil sie einen bestehenden sozialen Konflikt nicht nur zu besänftigen vermag, sondern auch eine „gedämpfte Herausforderung“ (Bourdieu 1987, S. 182) bedeuten kann, die im Zuge der wechselseitigen Erwiderungen einen latenten Konflikt erst manifest werden lässt. Der soziale Sinn einer Gabe ist es, soziale Verpflichtungen als Ehrensache zu erzeugen, die sich je nach Bedeutung entweder in Dankbarkeit ausdrücken oder in einer Parade münden als Antwort auf eine Herausforderung. Die Reziprozität des Gabentausches ist kein reines Interaktionsphänomen, sondern als ein komplexes soziales Beziehungsmuster zu verstehen, das durch die bestehenden sozialen Strukturen maßgeblich geprägt wird und das über den Aspekt der Kopräsenz weit hinaus reicht. Mit dem Gabentausch ist zugleich eine soziale Positionierung der Tauschpartner verbunden, die soziale Gleichrangigkeit und die moralische Gleichwertigkeit des Gebenden entweder anzuerkennen oder als unzumutbare Anmaßung zurückzuweisen. Der Gabentausch zielt mit der Anhäufung von sozialem Kapital („Beziehungen“) zugleich auf eine Akkumulation des symbolischen Kapitals der Ehre. Hierbei ist entscheidend, ob der Gabentausch ein symmetrisches Austauschverhältnis zwischen annähernd sozial gleichrangigen Akteuren begründet oder eine asymmetrische Beziehung zwischen Akteuren höheren und niederen Ranges erzeugt (mit den symbolischen Effekten der Großzügigkeit oder Wohltätigkeit). Kennzeichnend für den Gabentausch ist schließlich sein fundamentales Spannungsverhältnis zu rein ökonomischen Tauschbeziehungen (die Ablehnung ökonomischer Nutzenkalküle als Voraussetzung für die wechselseitige soziale Anerkennung und symbolische Wertschätzung) sowie sein Konkurrenzverhältnis zum (bürgerlichen) Vertragsrecht, das den Gabentausch (nach Treu und Glau5 Dies lässt den sozialen Austausch zuweilen sogar als ein Paradox erscheinen (vgl. z.B. Blau 1974, S. 210), da er nicht nur freundschaftliche Bindungen zwischen „peers“ zu stiften vermag, sondern auch Statusunterschiede zwischen Personen erzeugt. 18 ben) als einzigen Garanten für vertrauensvolle wirtschaftliche Beziehungen historisch verdrängt hat. Hierzu nun einige Thesen. 4.2 Vertrauensbildung durch Neutralisierung „ökonomischen“ Tauschverhaltens Als erste These wäre zu untersuchen, inwieweit die für die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen erforderliche Vertrauensbildung auf einer symbolischen Neutralisierung der Ökonomie kommerzieller Tauschbeziehungen beruht, d.h. notwendigerweise an eine durch die Gabe öffentlich zur Schau gestellte Aussetzung ökonomischer Interessen und Rivalitäten gebunden ist. Der Gabentausch wäre dann in dieser Hinsicht eine Art Test auf Vertrauenswürdigkeit (der „Gabentausch-Test“), ob die vom Gebenden mitgebotene Schwäche (die in dem Risiko liegt, dass die Gabe nach ökonomischem Kalkül mißbraucht werden kann) opportunistisch um persönlicher Vorteile willen ausgenutzt wird anstatt sich „ehrenhaft“ und „anständig“ zu verhalten. In diesem Zusammenhang unterscheidet Bourdieu (1998, S. 171) zwei konträre Logikformen, und zwar die rein kommerzielle „Logik des Warenaustausches“ (bzw. die Logik des Marktes oder des Geschäfts) und die „Logik des Gabentausches“, bei der es nicht um den Tausch ökonomischer Waren, sondern um den Austausch von „Ehre“ geht. Die Gegenüberstellung und der Vergleich einiger Merkmale dieser beiden Tauschmodelle (s. Abb. 7) zeigt, dass die Vertrauensbildung beim Gabentausch durch eine symbolische Verneinung der ökonomischen Zweckrationalität erfolgt (vgl. bei Bourdieu 1979, S. 360f.). Auf Marktgeschäften beruhende ökonomische Tauschbeziehungen Auf Treu und Glauben beruhende soziale Tauschbeziehungen zwischen Vertrauten (Max Weber: „Gesellschaft“) (Max Weber: „Gemeinschaft“) • Anonymität unpersönlicher Tauschbeziehungen • „Geschäft ist Geschäft“ • Notwendigkeit vertraglicher (rechtlicher) Garantien gegen Betrug • „rationale Information“ über Tauschpartner, Produkte und Strategien von Rivalen • zusätzliche Sicherheiten (Markenimage oder Firmenreputation beruht eher auf „rationaler“ Information durch unabhängige Dritte wie „Stiftung Warentest, TÜV, DIN, GSE, ISO Normen etc.) • strikt an Personen (Institutionen) gebundene Eigenschaften, persönliche Tauschbeziehungen in einer Gemeinschaft (Speditionskooperation, Netzwerk) • Vertrauenskapital: Reputation und Status durch das symbolische Kapital der Ehre • Ansehen (Prestige) beruht auf persönlicher Bekanntheit, Reziprozitätsbeziehungen bedürfen der Bekanntschaft (Öffentlichkeit, „totale Information“) • Herstellung von gegenseitiger Bekanntschaft kann über Dritte erfolgen Abb. 7: Vergleich zweier Tauschmodelle Die Spannung zwischen ökonomischem Kalkül und sozialem Vertrauen sieht Peter M. Blau (zitiert nach Blau 1974) offenbar ähnlich, wie die Lektüre seines bekannten Artikels zur Austauschtheorie („Social Exchange“ vgl. Blau 1974, S. 204-214) zeigt, der überraschend viele Gemeinsamkeiten mit Bourdieus Sichtweise zum Konzept des Gabentausches aufweist: „the concept of exchange refers to voluntary social actions that are contingent on rewarding reactions from others and that cease when these expected reactions are not forthcoming“ (Blau 1974, S. 208). 19 „The most basic difference [between social and strictly economic exchange; M.F.] is that the obligations incurred in social transactions are not clearly specified in advance. (...) In social exchange, by contrast, one party supplies benefits to another, and although there is a general expectation of reciprocation, the exact nature of the return is left unspecified. Indeed, it must remain unspecified, since any attempt to specify it in advance destroys the social meaning of the transaction by transforming it into a merely economic one. Doing a favor has an entirely different social significance from making a bargain“ (ebd.). „Social exchange (...) entails supplying benefits that create diffuse future obligations. (...) The distinctive significance of social obligations requires that they remain unspecific, and the fact that social, as distinguished from economic, commodities have no exact price facilitates meeting this requirement“ (S. 209). „...social exchange requires trusting others, whereas the immediate transfer of goods or the formal contract that can be enforced obviates such trust in economic exchange. (...) Indeed, creating trust seems to be a major function of social exchange, and special mechanisms exist that prolong the period of being under obligation and thereby strengthen bonds of indebtedness and trust. (...) In our society (...) it is considered improper to reciprocate for a gift or return an invitation too quickly. The condemnation of posthaste reciprocation stimulates the growth of trust by constraining exchange partners to remain under obligation to each other for extended periods“ (ebd.). Der entscheidende Punkt ist, dass hier die beiden Seiten des (ökonomischen) Austausches in ihrem Zusammenspiel berücksichtigt werden: (1) die materielle Seite, denn selbstverständlich geht es bei jedem Gabentausch, der die sozialen Beziehungen in einem Netzwerkes stärken soll, auch um eine ökonomische Strategie und um langfristig wirksame ökonomische Interessen, dass sich die Gabe irgendwie und irgendwann einmal auch ökonomisch „auszahlen“ wird (d.h. dass sich soziales Kapital erfolgreich in ökonomisches Kapital konvertieren lässt) und (2) die symbolische Seite, die den ganzen Akt des Gabentausches überhaupt erst als „sinnvoll“ erscheinen lässt gerade wegen der (in erster Linie: symbolischen) Differenz zu einer rein ökonomischen Transaktion. Mit dieser soziologischen Paradoxie, dass eine Handlung ökonomisch orientiert ist und zugleich das eigentlich Ökonomische daran zu negieren versucht, können die üblichen handlungs- oder strukturtheoretischen Ansätze nicht umgehen. Aber genau in dieser scheinbaren Paradoxie liegt das Geheimnis, warum der Gabentausch im ökonomischen Feld als eine vertrauensbildende Maßnahme wirksam werden kann. Die soziale „Funktion“ (wenn man so will) und Wirksamkeit des Gabentausches als ein (latenter) sozialer Koordinations- und Steuerungsmechanismus hängt geradezu von einer grundlegenden Verkennung dieser symbolischen Dimension der Außerkraftsetzung ökonomischer Interessen ab. Eine derart unscharfe Handlungslogik, die auf der richtigen „Wahrnehmung“ und zugleich auf dem (V)Erkennen der verborgenen Symbolik beruht, lässt sich mit Theorien rational handelnder und wählender Akteure nicht erklären. Ebenso schwer haben es strukturalistische Konzepte, den in der Austauschbeziehung enthaltenen Aspekt der Handlungsoption angemessen nicht-deterministisch zu modellieren, wonach die beteiligten Akteure das im Gabentausch verborgene symbolische Angebot freundschaftlicher bzw. solidarischer Beziehungen tatsächlich annehmen, aber auch ablehnen können. Der Beitrag des Gabentausches zur Netzwerkbildung ist nur dann soziologisch modellierbar, wenn begriffen wird, dass hier innerhalb einer ökonomischen Beziehung das ökonomische Interesse (vorübergehend) „ausgesetzt“ oder „ausgeschlossen“ wird. Nur Dank seines symbolischen Charakters wird das prinzipiell im Verborgenen weiterbestehende ökonomische Inte20 resse domestiziert und kaschiert: Der Gabentausch klappt nur, wenn das vordergründige, „rein“ ökonomisches Interesse hier und jetzt keine Rolle mehr spielt. Durch die Annahme oder Ablehnung der Interaktion als „Gabentausch“ wird die weitere Anschlußfähigkeit gesteuert und genau das ist der Mechanismus, der das Risiko vertrauensvoller Beziehungen auf beiden Seiten reduziert. Die Vorleistung einer angebotenen Gabe ist ebenso wie die Annahme dieser und die Rückführung einer anderen Gabe riskant, wenn man den Zeitverlauf berücksichtigt, in dem eine angenommene Gabe sich als Trojanisches Pferd ablehnenden oder opportunistischen Verhaltens entpuppen kann; denn beide Aktivitäten bleiben in ihrer Bedeutung solange offen, bis die reziproke Handlung vollzogen ist und dadurch die Verkettung gegenseitiger Verpflichtungen fortgeführt wird. Der Tausch von Gaben bleibt solange riskant, wie die beteiligten Agenten darüber unsicher sind, ob ihre Handlungspartner die für einen Gabentausch geeigneten Agenten sind und ob sie die Logik des Gabentausches verstehen, richtig beurteilen sowie das damit verbundene soziale Spiel beherrschen und angemessen „spielen“ können! Wirklich verlässlich und vertrauensvoll ist diese Transaktion somit nur dann, wenn der symbolische Aspekt, der in dem Gabentausch verborgen ist, erstens von allen Beteiligten zugleich erkannt und übersehen wird, zweitens seine grundsätzliche Unbestimmtheit der Fortsetzung und das darin enthaltene demonstrative Risiko als symbolische Vorleistung behält und dennoch gerade deshalb nicht auf lange Sicht „strategisch“ ausgebeutet werden kann, ohne den Verlust der Partnerschaft zu riskieren. Dieser angemessene Umgang mit der Vagheit ist genau das, was die scheinbar spielerische Meisterschaft und die soziale Zusammengehörigkeit (!) der Agenten als eine wesentliche Voraussetzung dafür ausmacht, sich an einem Gabentauschspiel beteiligen zu können. Entscheidend für die Reduzierung von Enttäuschungen ist, dass die verborgene Logik verstanden wird und dadurch auch ohne die explizite Ver-Sicherung der enthaltenden Bedeutung des Gabentausches wirksam wird, die das gemeinsame latente Einverständnis nur (zer)stören würde. Eine vage Sicherheit vor einseitiger Ausbeutung des Risikos kann es demnach nur geben, wenn alle Beteiligten nicht anders können als in der Logik des Gabentausches zu denken und zu handeln. Sobald einem der potenziellen Partner in den Sinn kommt, dass er sich ja auch anders (nämlich ausbeutend und opportunistisch) verhalten könnte, und er daraufhin versucht, diese Alternative durch eine explizite Äußerung oder Vereinbarung auszuschließen, wird die implizite symbolische Kraft und Wirksamkeit des Gabentausches zerstört und ein anderer Mechanismus (z.B. ein Vertrag mit Sanktionsdrohung) muss den verlorenen Part der reziproken Bindung auf andere Weise herzustellen versuchen. Wie Marsh (1994, S. 96) in einem Aufsatz über Vertrauen in der Verteilten KI zu Recht bemerkt, ist Vertrauen oder Misstrauen in die Absichten und Aktivitäten anderer Agenten vor allem in offenen Systemen ein Problem, in denen die Verhaltensweisen der (fremden) Agenten nicht per se und a priori bekannt (weil per Design festgelegt) sind. Gesucht wird somit ein Mechanismus, der eine Reduktion jener Komplexität erlaubt, die bei dem wechselseitigen Aufeinandertreffen von Erwartungen an die ungewisse künftige Verhaltensweise des oder der Anderen entsteht. In menschlichen Gesellschaften sind Handlungssituationen, in denen eine vollständige Ungewissheit über die Absichten, Pläne und nächsten Aktionen der Anderen 21 herrscht, relativ selten, weil selbst unbekannte Akteure („Fremde“) zumindest spontan nach den lebensgeschichtlich erworbenen Klassifizierungsmustern des Habitus kategorisiert und in den bestehenden Handlungsraum entsprechend eingeordnet (sozial positioniert) werden. Die spontane Positionierung wird - wo dies möglich ist - in der sozialen Interaktion überprüft und nach den üblichen Klassifikationsschemata und auf der Grundlage einer schnellen Abwägung des vorhandenen Kapitalbesitzes (vor allem durch Fragen nach dem Kapitalbesitz, nach der Berufstätigkeit etc.) gegebenenfalls korrigiert. Handelt es sich (wie in unserem Szenario) um ein gesellschaftlich stark vorstrukturiertes soziales Feld (beim Ernst des Wirtschaftslebens verstehen die Akteure in der Regel keinen Spaß), dann wirft die Begegnung mit Fremden allenfalls für den nicht wirklich am sozialen Spiel beteiligten Beobachter Klassifizierungsprobleme auf. Denn solange die „Fremden“ im selben sozialen Feld operieren und auf Grund ihrer ähnlichen Geschichte (Berufsausbildung und Berufspraxis) vorausgesetzt werden kann, dass sie das gemeinsame Spiel zu spielen und die sozialen Effekte ihrer Verhaltensweisen kennen gelernt haben, lassen sich ihre sozialen „Kräfte“, ihre typischen Interessen, Strategien etc. durch Bezugnahme auf ihre jeweilige Position in dem Feld als „Geschäftsführer“, als „Disponent“ oder als „Fahrer“ der Firma XY (vor allem über die spezifische Struktur ihres Kapitalbesitzes) praktisch mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit einschätzen. Selbst unerwartete und unvorhersehbare Spielzüge einzelner Agenten sind vor dem Hintergrund der in einer bestimmten Stellung (objektiv) begrenzten Spielmöglichkeiten (re-) interpretierbar und verschaffen durch das Überraschungsmoment und die damit verbundenen Ungewissheiten allenfalls vorübergehende Vorteile, bevor das Unerwartete bei erfolgreichem Ausgang zu einem auch von anderen imitierbaren Repertoire wird. Der entscheidende Punkt vertrauensvoller Beziehungen in menschlichen Gesellschaften scheint somit genau jener zu sein, den Marsh auch für künstlichen Agentengesellschaften herausstellt, nämlich: „the notion of trust (...) relies on a judgement based on experience, coupled with, if available, past knowledge of the agent to be trusted and their behaviour“ (Marsh 1994, S. 96). Die Vorstellung, dass die Zukunft auf der Grundlage von vergangenen Erfahrungen bewertet wird, bringt die HFT ins Spiel, weil sie Aussagen darüber ermöglicht, auf welche Weise vergangene Erfahrungen und das Wissen über andere Agenten mental verarbeitet, geordnet und für die weitere Handlungspraxis bereitgehalten werden. Entscheidend ist dabei, dass bei der HFT die vertrauensbildende (oder Misstrauen erzeugende) Wahrnehmung und Einschätzung der Anderen nicht auf die soziale Logik eines nur an die Kopräsenz der beteiligten Agenten gebundenen Interaktionszusammenhanges eingeschränkt wird. Im Gegenteil schafft die Bezugnahme auf die Wirkungsweise sozialer Felder zusätzliche Möglichkeiten, die potenziellen Sackgassen zwischenmenschlicher Beziehungen zu vermeiden. So werden „Ungewissheiten“ darüber, ob und auf welche Weise ein bestimmter Arbeitsauftrag erledigt wird, schon bereits dadurch in ihrem die Interaktion möglicherweise blockierenden Effekt reduziert, dass die Agenten auch ohne zeitaufwendige Kommunikationsprozesse bereits aus ihrer beruflichen Erfahrung heraus wissen, wie solche Tätigkeiten üblicherweise ausgeführt werden (müssen), um zu akzeptablen Resultaten zu führen, und nach welchen Kriterien über die Angemessenheit der Tätigkeiten und des Resultates entschieden wird. Dabei kann zugleich unterstellt werden, dass andere Agenten vom Typus „Geschäftsführer“, „Disponent“ oder „Fahrer“ in einer bestimmten Ar22 beits- bzw. Entscheidungssituation nur ein bestimmtes Spektrum an sinnvollen Handlungsstrategien zur Verfügung haben. Die mit der Zurechnung zu einer sozialen Position in einem Feld verbundene Typisierung von Handlungsmöglichkeiten und Handlungseinschränkungen erlaubt somit in der beruflichen Praxis eine ebenso schnelle wie Ressourcen sparende Bewältigung der an sich „heiklen“ Situationen, deren praktische Logik aber für die unmittelbar Beteiligten nur wenig an Ungewissheiten oder Überraschungen, dafür aber viel Selbstverständliches enthält. In diesem Zusammenhang ist es dann auch kein allzu großes Wunder, dass die für die Bewältigung heikler Interaktionssituationen notwendige „Reziprozität“ (vgl. z.B. Marsh 1994, S. 106) eher beiläufig hergestellt wird und nur in seltenen Ausnahmefällen überhaupt Aufmerksamkeit erfordert und nur unter äußerst kritischen Bedingungen einer expliziten Klärung bedarf. Mit Blick auf den Faible der VKI für normative Gesellschaftsmodelle (vgl. Florian 1998) stellt sich die Frage, welche „normative“ Bedeutung die mit dem Gabentausch erzeugte „Verpflichtung“ zu reziprokem Verhalten hat. Handelt es sich hierbei um eine soziale Norm, die von den Akteuren als Handlungsregel in ihr Rollenrepertoire internalisiert wird und dadurch jene Art von normativen Verpflichtungen herstellt, die Talcott Parsons als „commitments“ bezeichnet? Oder enthält die Gabe eine moralische Verpflichtung, etwas Ehrenhaftes zu tun, um über den Austausch von Ehre sich der Ver-Bindung zur Gemeinschaft und der sozialen Zusammengehörigkeit zu vergewissern? Bekanntermaßen steht die HFT normativen Erklärungsmodellen sehr skeptisch gegenüber (vgl. die Äußerungen von Bourdieu zu der Illusion der Regel oder Wacquant 1990 zur Kritik der Rollentheorie). Ohne an dieser Stelle detaillierter auf den Unterschied zwischen den Dispositionen des Habitus in der Theorie der Praxis und den normativen Pflichten in der Rollentheorie eingehen zu können, scheint mir die entscheidende Differenz zwischen Parsons und Bourdieu in der unterschiedlichen Behandlung der Zeit als ein strukturelles Moment menschlicher Handlungspraxis zu liegen.6 Aus Sicht der HFT ist gerade die Zeit (bzw. der Zeitintervall), die zwischen der Gabe und der Gegengabe verstreichen muss, ein konstitutives Moment des Gabentausches, das zwar seine Grenzen (zum ökonomischen Tausch) markiert, zugleich aber innerhalb dieser Begrenzung noch genügend Spielräume bietet für einen strategischen Umgang mit den Verpflichtungen und den aus der Unbestimmtheit des Zeitintervalls resultierenden Mehrdeutigkeiten. In kritischer Auseinandersetzung vor allem mit Talcott Parsons hat sich Alvin W. Gouldner (1984) eingehender mit dem Problem der normativen Verpflichtung zu reziproken Verhaltensweisen befasst. Aus Gouldners Sicht lässt sich in menschlichen Kulturen eine generalisierte Norm der Reziprozität nachweisen, die vor allem in frühen Phasen der Gruppenbildung 6 Ein entscheidender Streitpunkt zwischen der klassischen, an Parsons orientierten Rollentheorie und jüngeren, durch den Symbolischen Interaktionsmus beeinflussten Rollenkonzeptionen ist die Frage, inwieweit Rollenträger über eine eigenständige Persönlichkeit verfügen, die eine Distanzierung gegenüber den moralischen Verpflichtungen ermöglicht und eine eher spielerische Ausgestaltung der Rollenanforderungen erlaubt (role making). In beiden Fällen sind Rollen äußere Darstellungsformen des Selbst, hinter denen sich die eigentliche Persönlichkeit verbirgt. Der „Habitus” dagegen ist ein fester „sozialer” Bestandteil der Persönlichkeit, dem gegenüber man in Grenzfällen und auch dann nur punktuell eine distanzierte Haltung einnehmen kann, aus dem man nicht ohne weiteres einfach „aussteigen” kann und der dennoch ein umfassendes Repertoire an kreativen Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt. 23 als ein wichtiger „Auslösemechanismus“ für die Initiierung sozialer Interaktionen auf der Grundlage gegenseitiger Verpflichtungen wirksam ist (1984, S. 108) und die in ihrer transkulturellen Formulierung zwei miteinander verbundene Minimalforderungen stellt (1984, S. 118): „1. Man soll denen helfen, die einem helfen, und 2. Man soll jene nicht verletzen, die einem geholfen haben.“ Beide Forderungen können ohne weiteres als „Regeln“ von der VKI modelliert werden. Für Gouldner ergeben sich aus der Reziprozitätsnorm aber Ambiguitäten, die geregelt werden müssen, damit die sozialen Beziehungen nicht zusammenbrechen. Die beiden entscheidenden Punkte, die Unsicherheit und Mehrdeutigkeit bedeuten, sind für ihn: 1. das Problem der Ausgewogenheit, d.h. die Frage danach, welches Verhalten bei allen Beteiligten als „ungefähr gleichwertig“ definiert und anerkannt wird, das somit der Reziprozitätspflicht hinreichend genügt, und 2. das Problem des Umgangs mit „abweichendem“ Austauschverhalten, d.h. die Frage danach, inwieweit welchem Akteur ein Kredit für nicht-konformes Verhalten gewährt wird. Die Andeutungen von Gouldner bleiben in diesem Zusammenhang aber recht vage, soweit er von „diffusen Gefühlen von Zuneigung, Vertrauen, Loyalität oder Liebe“ spricht, die sich aus früheren Interaktionserfahrungen herleiten oder wo er sich recht unvermittelt rollentheoretisch auf die mit einem bestimmten sozialen Status verbundenen expliziten Rechte und Pflichten beruft (1984, S. 161f.). Gouldners doppelte Argumentation, dass die Bewältigung von Ambiguität einerseits auf diffusen Emotionen beruht und andererseits der Explizitheit und Klarheit der Formulierung von Rechten und Pflichten zu verdanken ist, vermag nicht so recht zu überzeugen, da völlig unklar bleibt, woher diese enorme Klarheit, Explikation und Spezifik der Rollenanforderungen plötzlich herkommen soll angesichts ansonsten eher unbestimmten und vagen normativen Verpflichtungen zu einem „ungefähr gleichwertigen“ und „ausgewogenen“ Austauschverhalten? Mit Hilfe der HFT lässt sich an dieser Stelle ein plausibleres Erklärungsmodell für die Bewältigung von Unsicherheiten reziproker Austauschbeziehungen formulieren, wonach neben den vergangenen persönlichen Erfahrungen mit bestimmten Interaktionspartnern auch ein sozialstrukturelles Moment zur Reduzierung von Ambiguitäten beitragen kann: ein gemeinsamer Habitus und die mit ihm verbundene Affinität einer gemeinsamen sozialen Position innerhalb des sozialen Raumes/Feldes, die in der Alltagspraxis eine hinreichend solide Grundlage für eine kollektiv abgestimmte, sozial anerkannte Definition von Ausgewogenheit und Angemessenheit bereithält. Auch ohne ein diffuses, soziologisch unbegründetes Zusammengehörigkeitsgefühl und erst recht ohne die Notwendigkeit einer expliziten Ausformulierung normativer Erwartungen werden somit Vorhersagen mit einer hohen Trefferwahrscheinlichkeit darüber ermöglicht, welche grundsätzlichen Erwartungen die Interaktionspartner in bestimmten Situationen jeweils hegen, „was abgefordert und was als akzeptabel angesehen werden kann“ (Gouldner 1984, S. 162).7 7 Eine Weiterentwicklung der Argumentation von Gouldner in Richtung auf soziale Gruppen/Klassen bzw. soziale Strukturen ist nötig und mit Hilfe der HFT möglich. Die entsprechende These wäre: Die „allgemeine Reziprozitätsnorm“ (wenn man bei den moralischen Verpflichtungen der Ehre überhaupt von einer normativen Pflicht sprechen sollte; Ethos wäre vielleicht angemessener) gilt gerade nicht unabhängig von der 24 Soziologisch fruchtbarer erscheint, die Entstehung eines Gemeinschaftsgefühls in einer sozialen Gruppierung in Bezug auf die sozialen Stellungen der in einem Feld positionierten Agenten zu bestimmen und die sozialstrukturellen „Zwänge“ zu ermitteln, die dazu beitragen, dass bestimmte Akteure erst gar nicht auf die Idee kommen, Bündnisse zu schmieden oder sich auf Kooperationen einzulassen, während sich das für andere als sinnvolle Option geradezu aufzudrängen scheint. Als These formuliert bedeutet das: Die allgemeine Reziprozitätsnorm gilt gerade nicht unabhängig von der sozialen Position der Interaktionspartner, sondern sie wird wie jede („normative“) Zumutung durch die soziale Position bzw. über die Wahrnehmung dieser qua Habitus gefiltert bzw. gebrochen, und zwar jeweils in Abhängigkeit von der besonderen historischen Situation, in der sich die Akteure befinden (d.h. dem Stand des sozialen Kräfteverhältnisses entsprechend verfügbare Handlungsoptionen in Form des jeweils spezifischen Kapitalbesitzes und die den jeweiligen gesellschaftlichen, politischen etc. Rahmenbedingungen angemessenen „Strategien“ etc.). 4.3 Verstärkung reziproker Bindungen Eine zu überprüfende zweite These lässt sich aus dem Problem der Anschlussfähigkeit und zeitlichen Verkettung der einzelnen Gabentauschakte herausarbeiten. Die soziale Verpflichtung, eine angebotene Gabe parieren zu müssen, initiiert (bei erfolgreicher Annahme) nicht nur vertrauensvolle reziproke Verhaltenszumutungen, sondern fördert mit der Etablierung von Gabentauschbeziehungen zugleich eine zunehmende, sich selbst im Laufe der Zeit verstärkende Wahrscheinlichkeit, das wechselseitige Parieren von Tauschakten immer weiter fortzusetzen und nur in großer Not einzustellen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die eingelöste Verpflichtung von der Bedeutung her dem Parieren einer Gabe durch Gegengabe (Solidaritätsspirale) folgt oder in Form einer Herausforderung erwidert wird (Konflikt- oder Rivalitätsspirale). Dies wird am Beispiel einer Abbildung deutlich, die bei Bourdieu (1987, S. 184) zu finden ist, und die hier entsprechend modifiziert wurde (Abb. 8).8 sozialen Position der Interaktionspartner. Wie jede normative Zumutung ist sie stets durch die soziale Position bzw. über die Wahrnehmung dieser qua Habitus gefiltert bzw. gebrochen. Luc Boltanski (1990) hat hier mit Blick auf die soziale Enstehung der „cadres” in Frankreich entscheidende Vorarbeiten geleistet. 8 Die Abb. 8 sollte vielleicht als Spirale dargestellt werden, bei der das Nichtparieren jeweils einen immer weniger wahrscheinlichen Ausstieg aus der Reziprozität des Ehrentausches bedeutet. 25 als Weigerung (Verachtung des Anderen) Gabe Aussage Sprechakt Aktion Leistung etc. Nichtparieren als Unfähigkeit (Selbst-Entehrung) Parieren durch Gegengabe od. Erwiderung Nichtparieren Nichtparieren Parieren Nichtparieren Parieren Parieren Abb. 8: Das Schema des Gabentausches Und auch hier wieder ein Auszug von Blau, der die Verstärkungsthese stützt: „Typically (...) social exchange relations evolve in a slow process, starting with minor transactions in which little trust is required because little risk is involved and in which both partners can prove their trustworthiness, enabling them to expand their relation and engage in major transactions. Thus, the process of social exchange leads to the trust required for it in a self-generating fashion“ (Blau 1974, S. 209). 4.4 Symmetrischer und asymmetrischer Gabentausch Eine dritte These bezieht sich auf das Verhältnis des Gabentausches zur Macht, was die Unterscheidung zwischen symmetrischem und asymmetrischem Gabentausch mit einschließt. Dem Gabentausch liegt hierbei ein doppelter sozialer Sinn zu Grunde: Herstellung und Stärkung sozialer Bindungen (Konstruktion einer sozialen Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit, Solidarität) sowie das Erzeugen und Anzeigen von Statusunterschieden (Konstruktion von sozialer Hierarchie). Der Gabentausch zwischen Ranggleichen ist als symmetrischer Gabentausch zu verstehen, während der Austausch zwischen Agenten mit unterschiedlichem Sozialstatus einen asymmetrischer Gabentausch bildet. Machtausübung durch Wohltätigkeit und Großzügigkeit? Die Unterstellung machtpolitischer Motive widerspricht den üblichen Vorstellungen über die (scheinbar) selbstlose Uneigennützigkeit wohltätiger Verhaltensweisen. Aber auch hier gilt das, was bereits an anderer Stelle über die Doppeldeutigkeit der symbolischen Verneinung des Eigeninteresses gesagt wurde. Dass in der Handlungspraxis ein Eigeninteresse an der Uneigennützigkeit bestehen kann, erscheint nur der unbeteiligten Beobachtung als paradox, weil nur sie in der Lage ist, Selbstlosigkeit als egoistische Illusion zu entlarven oder als ein machtpolitisches Kalkül bloßzustellen. Im Anschluss an Überlegungen von Richard M. Emerson (1962) formuliert Peter M. Blau (1974, S. 211) vier Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Akteur aus dem Bedarf anderer durch seine Wohltätigkeit Machtchancen gewinnen kann, weil seine freiwilligen Ga- 26 ben asymmetrische Abhängigkeitsbeziehungen erzeugen.9 Die Relevanz dieser vier Bedingungen, lässt sich dabei am Beispiel der Transportdomäne überprüfen: Asymmetrischer Austausch als Machtressource Wohltätigkeit und Großzügigkeit erzeugt Abhängigkeit der Beschenkten* „Dependence relations“ im Transportszenario Zur Bedeutung symbolischer Gewalt: • Freiwillige Großzügigkeit, die nicht arbeits1. Die unterlegenen Akteure haben keine oder tarifvertraglich geregelt ist und zu denen (gleichwertigen!) Ressourcen, die der Wohltäkeine arbeitsrechtliche Verpflichtung besteht ter benötigt, sonst könnten sie eine direkte Austauschbeziehung eingehen, um ihren Be- • Die Ressourcen der Unterlegenen werden gesellschaftlich in ihrem Wert geringer eingedarf zu befriedigen. schätzt, als Voraussetzung dafür, dass eine 2. Die unterlegenen Akteure dürfen die WohltaAsymmetrie/Abhängigkeit im Gabentausch ten nicht von einer alternativen Quelle erhalentstehen kann. ten können, die sie unabhängig von ihrem • Loyalität der Unterlegenen als Gebot der FairWohltäter machen würde. ness („gerechter“ Tauschbeziehungen), Ver3. Die unterlegenen Akteure müssen dazu unfäkennung sozialer Ungleichheit (Lohn gegen hig oder unwillig sein, sich die Gabe mit GeArbeitsleistung als äquivalenter Tausch) walt zu verschaffen. • Arbeitslosigkeit, Arbeitskräfteüberangebot, 4. Die unterlegenen Akteure müssen einen relaGrenzen des Wohlfahrtsstaates, Hochschättiv dauerhaften Bedarf nach der betreffenden zung von Arbeit Gabe haben, um davon abhängig zu bleiben. • Hegemonie der herrschenden Klasse (*vgl. Blau 1974, S. 211; Übersetzung durch M.F.) • Großzügigkeit wird als Erleichterung der Arbeit, als Vergünstigung etc. erfahrbar Abb. 9: Wohltätigkeit und Großzügigkeit als Machtressourcen Wohltätigkeit und Großzügigkeit können somit einen sozialen Unterschied schaffen. Sie lassen sich wie folgt voneinander unterscheiden: • Asymmetrischer Gabentausch: „Etwas gegen nichts“ Wohltätigkeit erwartet keine direkt reziproke Tauschbeziehung, sondern allenfalls eine Befriedigung intrinsischer Motive (z.B. milde Gabe) oder einen symbolischen Kredit an Prestige bei der öffentlichen Gabe (Wohltätigkeitsveranstaltung, öffentliche Spende), bei dem der Prestigegewinn allerdings nicht von dem beschenkten Tauschpartner aufgebracht wird, sondern von (und in) der „Öffentlichkeit“ in Form des symbolischen Kapitals der Ehre vergeben wird. • Asymmetrischer Gabentausch: „Mehr gegen weniger“ Großzügigkeit erwartet (annähernd gleichwertige oder ähnliche) reziproke Gegenleistungen (im Sinne von Wohlverhalten, Dankbarkeit, Hilfe), die allerdings unterhalb des Geberniveaus bleiben können und dadurch eine Asymmetrie begründen. Der Prestigegewinn resultiert aus dem Kontrast bzw. Niveauunterschied zwischen dem Wert der Gabe und dem der Gegengabe. Beispiel: Schonarbeitsplätze für nicht mehr voll arbeitsleistungsfähige Mitarbeiter (anstelle 9 Mit der Wohltätigkeit als einer besonderen Machtressource, die auf einer asymmetrischer Form reziproker Tauschbeziehungen beruht, hat sich übrigens auch Gouldner in „Etwas gegen nichts“ (1984b) befasst. 27 von Entlassung) oder Vergünstigungen, zu denen keine arbeits- oder tarifvertragliche Pflicht besteht. • Symmetrischer Gabentausch: „Gleiches gegen annähernd gleiches“ Zum sozialen Gabentausch gehört jeder nicht-ökonomische Tausch, der nicht direkt als ökonomisches Kapital verwertbar ist oder ausdrücklich per Arbeitsvertrag (Stellenbeschreibung) geregelt ist, sondern einer Konvertierung bzw. Konkretisierung bedarf. Für die genannten Aspekte lassen sich leicht Beispiele aus der sozialen Praxis in der Transportwirtschaft finden. So zielt der Gabentausch zwischen Disponenten und Fahrern auf Gefälligkeiten bzw. Großzügigkeiten, die nicht unmittelbar ökonomisch verwertbare Vergütungen oder vertraglich festgelegte Privilegien enthalten, die aber im Vergleich zur üblichen Verfahrensweise unzweifelhaft als Sonderbehandlung erkennbar sind (z.B. Vergabe beliebter Touren, begehrter Fahrzeuge, gefragten Equipments, Bevorzugung, kleine Vergünstigungen, Schonarbeit bzw. Gewährung eines autonomen Arbeitszeitmanagements etc.). Auch der umgekehrte Gabentausch zwischen Fahrern und Disponenten folgt diesem Muster in Form einer Ableistung freiwilliger Mehr- und Zusatzarbeit oder einer Erledigung der notwendigen Feindisposition unterwegs vor allem bei der Durchführung kritischer Aufträge, bei denen eine Dienstleistung „nach Vorschrift“ scheitern würde (z.B. zeitkritische Aufträge; nichtvertragliche Zusatzleistungen; gesetzwidriger Verzicht auf Pausen, auf Einhaltung der Lenkzeiten und der vorgeschriebenen Verkehrsregeln). Der Gabentausch zwischen Disponenten kann gegenseitige Hilfen beinhalten wie z.B. die Konsultation bei der Lösung schwieriger Probleme, die informelle Teilung der Arbeit nach Beliebtheit und Kompetenz oder den Tausch von Touren (Kunden). Der Gabentausch zwischen Fahrern schließlich enthält beispielsweise den Tourentausch als Gefälligkeit sowie die gegenseitige Arbeitserleichterung und Unterstützungen unterwegs und auf dem Hof (z.B. Einwinken beim Parken, Einblinken nach Überholmanöver, Meldung von Stau- und Radarfallen oder Polizeikontrollen, soziale Kontakte und Unterstützung durch Treff an bestimmten Raststätten, Kommunikation per CB-Funk etc.). In archaisch-patriarchalischen Gesellschaften dient die Heirat als Tausch von Frauen dem Knüpfen wichtiger Verwandtschaftsbeziehungen, wobei Frauen hier als kostbares „Gut“ erscheinen, dessen Austausch dazu beiträgt, das eigenen Kapital zu bewahren oder sogar zu vermehren. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, welches die kostbaren Gaben sind, mit denen Speditionen sich in modernen Gesellschaften untereinander verbinden (und verbünden)? Welches „Gut“ ist bei Transportunternehmen derart überlebenswichtig, um vor Rivalen verborgen zu werden und zwischen den Firmen als vertrauensbildende Maßnahme ausgetauscht zu werden? Die „Kunden“ sind das entscheidende „Kapital“ der (vor allem mittelständischen) Speditionsfirmen, die ihren Kundenstamm zuweilen mit jahrzehntelanger Akribie aufgebaut haben und den sie als kostbares Gut gegenüber Rivalen zu schützen versuchen (Kundenschutz). Akquisitionen anderer Firmen oder die großen Fusionen verfolgen im Speditionsbereich oft das Ziel, an die Kundendaten der Konkurrenten heranzukommen und diese in eigener Rechnung zu übernehmen. Was kann somit als ein stärkerer Vertrauensbe28 weis gelten, als untereinander Kundendaten auszutauschen bzw. den Partnerspeditionen Teilaufträge von Kunden zur eigenen Disposition zu überlassen?! 5. Ausblick Zum Abschluss sollen noch einige Möglichkeiten angedeutet werden, in welche Richtung sich die technische Funktionalität und soziale Komplexität von Tauschbörsen im Internet am Beispiel der Transportbörse mit Hilfe der Sozionik weiterentwickeln lässt. Die (in Kapitel 3.1) genannten Schwierigkeiten von Transportbörsen bilden eine grundsätzliche Herausforderung an die Funktionalität von Multiagentensystemen (MAS). Dabei sind die Übergänge von einer herkömmlichen Transportbörse als „virtuellem Marktplatz“ im Internet, die individualisierte Tauschinteressenten mittels elektronischem Auktionsmechanismus miteinander verbindet, zu dem Szenario der Speditionskooperation durchaus fließend, weil eine dauerhafte Zusammenarbeit von Speditionen zumindest in ihrer frühen Genese zunächst vor ähnlichen Problemen steht wie die stärker anonymisierte Bildung von Bekanntschaften und Vertrauen im Internet, auch wenn bestimmte Aspekte (wie z.B. die Vertrauensbildung oder die zuverlässige Einschätzung von Interaktionspartnern) mit dem elektronischen Tauschhandel in Transportbörsen noch an Relevanz und Risiko gewinnen. So dürfte eine strenge Unterscheidung zwischen Speditionskooperationen und Transportbörsen in solchen Sonderfällen nur schwer durchzuhalten sein, in denen die Kooperation für ihre Mitglieder (vielleicht durch Etablierung einer zentralisierten Planung und Disposition der Transporte) eine Art von geschlossener Transportbörse einrichtet oder wo eine Transportbörse mit einem festen, durch Kooperations- und Franchisevertrag geschlossenen Teilnehmerkreis (wie z.B. bei „back pack“) nicht nur Ladungen vermittelt, sondern das zu transportierende Stück- und Gefahrgut im eigenen Namen einkauft, um es dann anschließend an die beteiligten Speditionen zu verkaufen. Vermutlich müssen wir in solchen Fällen eine sinnvolle Grenzziehung auf der Grundlage von institutionellen Arrangements („Verträge“, „offener“ oder „geschlossener“ Teilnehmerkreis) treffen. Wichtig ist darüber hinaus im Auge zu behalten, inwieweit der „virtuelle Marktplatz“ der betreffenden Transportbörsen in seiner Funktionalität lediglich eine Verteilung und Zuweisung von Laderaum und Frachten betreibt, oder ob das „Auktionsmodell“ hier zusätzliche Dienstleistungen und Funktionen bereithält, die eine kooperative Planung und Disposition ermöglichen (z.B. als mögliche Dienstleistung für kleine Speditionen und Frachtführer, die sich eine aufwändige Disposition ihrer Transporte gar nicht leisten können). Eine derartige Erweiterung der Funktionalität von einer bloßen „Auktion“ für Ladungen und Frachtraum hin zu einer kooperativen Abstimmung der Planungs- und Dispositionsprozesse zwischen den an der Auktion beteiligten Firmen, erscheint als eine potenzielle „Mehrwert“Dienstleistung von Transportbörsen sinnvoll. Da mit reinen Transporten oder der bloßen Vermittlung von Laderaum und Frachten angesichts der starken Konkurrenz osteuropäischer Billiganbieter kaum noch Geld zu verdienen ist (von einer Sicherung oder gar Stärkung der Wettbewerbsposition im sozialen Kräfteverhältnis des transportökonomischen Feldes einmal 29 ganz zu schweigen), ist es nicht weiter überraschend, dass Logistikunternehmen und Transportbörsen (wie der Marktführer „Teleroute“) sich gegenwärtig nach einträglicheren Verwertungsquellen umsehen und bei der geplanten Entwicklung von Mehrwertdiensten vor allem an das Internet denken. Da trifft es sich gut, dass gerade das Internet mit Blick auf die Weiterentwicklung der Agententechnologie zu höher skalierten, offenen Multi-Agentensysteme in der VKI als Anwendungsszenario eine große Rolle spielt (vgl. z.B. das boomende Feld der Softwareagenten fürs Internet und der damit verbundenen Lösung von Organisations- bzw. Koordinationsproblemen miteinander interagierender Agenten). Ein mögliches Anwendungsszenario wäre dann ein MAS für die Betreiber einer Transportbörse im Internet mit Erweiterungsmöglichkeiten in Richtung auf E-Commerce, weil alles dafür spricht, dass die geschäftlichen und privaten Kunden ihre Transportaufträge auch direkt, d.h. ohne Umweg über den Einzelhandel, in die Tauschbörse einspielen können und ihren elektronischen Vertretungsagenten in der Tauschbörsen-Auktion dann die Verhandlungen, die Übermittlung von Anforderungen an den Transport sowie die Berücksichtigung ihrer Entscheidungskriterien für den Abschluss des Transportauftrages etc. überlassen. Soziologisch betrachtet, lässt sich die enge betriebswirtschaftliche Perspektive herkömmlicher Börsensysteme öffnen, sobald verschiedene Auktionstypen modelliert werden, die je nach dem institutionellen Setting unterschiedliche Verhandlungs- und Kommunikationsmodelle erfordern (z.B. asymmetrische Auktionen bei denen eine Zentrale oder ein fokales Unternehmen dominiert; symmetrische Auktionen mit dem Problem, wie sich die Koordination gleichberechtigter Partner selbst organisieren lässt). Auktionen werfen darüber hinaus aber weiterführende soziale bzw. symbolische Probleme auf, wenn es um die akzeptierbare Bewertung der angebotenen und gelieferten Leistungen und um den Vergleich unterschiedlicher Leistungsanbieter nach Bonität, Seriosität, Vertrauenswürdigkeit etc. geht. Die Suche und Auswahl geeigneter Partner gestaltet sich im Internet außerordentlich schwierig, weil eine eindrucksvolle Präsentation auf der Homepage kein geeigneter oder zuverlässiger Indikator für den „Wert“ des Unternehmens darstellt, das dahinter steckt. Für die Auswahl geeigneter Kooperationspartner ist aber eine Einschätzung ihres Wertes wichtig, d.h. aus Sicht der HFT: die richtige „Einordnung“ oder Positionierung des Unternehmens in dem sozialen Feld der insgesamt für eine Zusammenarbeit oder geschäftliche Beziehung in Frage kommenden Unternehmen. Ein funktionsfähiger Klassifizierungs- und Auswahlmechanismus (wie beispielsweise der „Habitus“ bei individuellen Akteuren), der die Spreu vom Weizen trennt, wäre hier für die Börsenagenten von großem Vorteil und würde ein langwieriges Abchecken der Eignung potenzieller Partner ersparen. 30 6. Literatur Arnold, O., Faisst, W., Härtling, M. und Sieber, P. (1995): Virtuelle Unternehmen als Unternehmenstyp der Zukunft? In: HMD 32, 185, S. 8-23 Blau, P.M. (1974): Social Exchange. In: Blau, P.M.: On the Nature of Organizations. New York, London, Sydney, Toronto 1974, S. 204-214 (zuerst 1968) Boltanski, L. (1990): Die Führungskräfte. Die Entstehung einer sozialen Gruppe. Frankfurt/New York Bourdieu, P. (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt/Main Bourdieu, P. (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M Bourdieu, P. u.a. (1998): Der Einzige und sein Eigenheim. Schriften zu Politik und Kultur 3. Hamburg Emerson, R. M. (1962): Power-Dependence Relations, American Sociological Review 27, S. 31-41 Fischer, K.; Kuhn, N.(1993): A DAI Approach to Modeling the Transportation Domain. Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. DFKI-Research Report RR-93-25. Saarbrücken, Juni 1993 Fischer, K.; Kuhn, N.; Müller, H.J.; Müller, J.P.; Pischel, M.; Schroth, A. (1993): Verteiltes Problemlösen im Transportwesen. In: IM Information Management 2/93, S. 32-40 Florian, M (1998): Die Agentengesellschaft als sozialer Raum. Vorschläge zur Modellierung von "Gesellschaft" in VKI und Soziologie aus der Sicht des Habitus-Feld-Konzeptes von Pierre Bourdieu. In: Malsch, T. (Hg.): Sozionik. Soziologische Ansichten über künstliche Sozialität. Berlin, S. 297344 Freichel, S.L.K. (1992): Organisation von Logistikservice-Netzwerken. Theoretische Konzeption und empirische Fallstudien. Berlin Gahl, A. (1991): Die Konzeption strategischer Allianzen. Berlin Gouldner, A.W. (1984a): Die Norm der Reziprozität. Eine vorläufige Formulierung. In: Reziprozität und Autonomie. Ausgewählte Aufsätze, Frankfurt/Main 1984, S. 79-117 Gouldner, A.W. (1984b): Etwas gegen nichts. Reziprozität und Asymmetrie. In: Reziprozität und Autonomie. Ausgewählte Aufsätze, Frankfurt/Main 1984, S. 118-164 Gouldner, A.W. (1984): Reziprozität und Autonomie. Ausgewählte Aufsätze, Frankfurt/Main 1984 Henke, R. in: Wirtschaftswoche, Nr. 34; 19.08.1994, S. 96 Jarillo, J.C. (1988): On strategic networks. In: Strategic Management Journal 9 (1), S. 31-41. Kahn, H.; Wiener, A. J. (1967): The Year 2000: A Framework for Speculation on the Next Thirtythree Years. New York Klein, S. (1994): Virtuelle Organisation, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium 23, Nr. 6, S. 309311 Lévi-Strauss, C.( 1981): Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt/Main Marsh, S. (1994): Trust in Distributed Artificial Intelligence. In: Castelfranchi, C. & Werner, E. (Eds.): Artificial Social Systems. 4th European Workshop on Modelling Autonomous Agents in a MultiAgent World, MAAMAW ’92 S. Martino al Cimino, Italy, July 29-31, 1992, Selected Papers, Berlin Heidelberg 1994, S. 94-112 Mauss, M. (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt/Main Müller, B. und Manner-Romberg, H. (2000): Virtuelle Auftragsbearbeitung in der Spedition - Das Internet revolutioniert den Transport. In: „Telematik und Kommunikationstechnik“. Eine Sonderbeilage der DVZ, 53. Jg., Nr. 54, 6. Mai 2000, S. 9 Müller, T. (1997): Virtuelle Organisation. Konzept, Theoriebasis, Möglichkeiten und Grenzen. Diskussionsbeitrag Nr. 21 (1997) für „Management Forschung und Praxis“, hrsg. von R.G. Klimecki, Lehrstuhl für Management, Fakultät für Verwaltungswissenschaft, Universität Konstanz, Konstanz, Oktober 1997 Paul, A.T. (1997): Gabe - Ware - Geschenk. Marginalien zur Soziologie des Schenkens. In: Soziologische Revue, 20 (1997), S. 442-448 Picot, A., Reichwald, R. und Wigand, R.T. (2001): Die grenzenlose Unternehmung. Information, Organsiation und Management. Lehrbuch zur Unternehmensführung im Informationszeitalter. 4., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Wiesbaden 31 Reiss, M. (1996): Virtuelle Unternehmung - Organisatorische und personelle Barrieren. In: Office Management, H. 5, S. 10-13 Sandholm, T. (1992): Automatic Cooperation of Area-Distributed Dispatch Centers in Vehicle Routing. Int. Conf. on AI Applications in Transportation Engineering, San Buenaventura, California, 1992, pp. 449-467 Scholz, Christian (1994): Die virtuelle Organisation als Strukturkonzept für die Zukunft? Diskussionsbeitrag Nr. 30, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, Universität des Saarlandes, Saarbrücken Scholz, Christian (1995): Virtuelle Unternehmen: Zehn zentrale Fragen und erste Antworten. In: Der Karriereberater, H. 4, S. 39-58. Sieber, P. und Suter, B. (1996): Virtuelle Strukturen bei C&L International (Fallstudie). In: Griese, J., Ehrenberg, D. und Mertens, P. (Hrsg.): Arbeitspapier der Reihe „Informations- und Kommunikationssysteme als Gestaltungselement Virtueller Unternehmen“ Nr. 79, Bern - Leipzig - Nürnberg. Strampp, J.M. (1999a): Transportbörsen locken mit Angeboten – Wer die Wahl hat, hat die Qual. In: DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung Nr. 21 vom 18.2.1999, S. 6 Strampp, J.M. (1999b): Was Transportbörsen wirklich können – Verkehrswelt im Börsenfieber. In: DVZ Deutsche Verkehrs-Zeitung Nr. 21 vom 18.2.1999, S. 7 Sydow, J.(1992): Strategische Netzwerke - Evolution und Organisation. Wiesbaden 1992 Sydow, J. und Windeler, A. (Hrsg.) (1994): Management interorganisationaler Beziehungen. Opladen Virtueller Marktplatz – Frachtbörsen im Internet. In: Logistik Heute 1/2-98, S. 71f. Wacquant, L.J.D. (1990): Exiting Roles or Exciting Role Theory? Critical Notes on Ebaugh’s ‚Becoming an Ex‘, Acta Sociologica 22, 1990, No. 4, S. 397-404 32