Lernort Museum – Wie wollen wir leben? Ethische Debatten im Museum Texte und Materialien für Schulen und Museen Herausgegeben vom Deutschen Hygiene-Museum gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung Inhaltsverzeichnis Gisela Staupe Vorwort 5 Johannes Bauer, Manfred Prenzel Schule im Museum Eine Chance für anregendes und nachhaltiges Lernen 6 Das Deutsche Hygiene-Museum 9 Die Dauerausstellung Kulturelle Bildung am Deutschen Hygiene-Museum 9 12 Das Projekt "Wie wollen wir leben? Ethische Debatten im Museum" 13 Modul 1: Mensch – Gesellschaft – Ethik. Wie wollen wir leben? 15 Modul 2: Ethik und Medizin – Unser Umgang mit Grenzsituationen des Lebens Modul 3: Perfektionierung des Menschen Modul 4: Sterbehilfe. Sterben in Würde? 19 22 25 Modul 5: Künstliche Fortpflanzung 27 Evaluation 29 Anhang Theda Rehbock Allgemeine philosophische Einführung in das Thema "Ethik, Moral und Medizin" "Was ist ein Museum?" – Arbeitsmaterial für die Schule Impressum Rechtehinweis Bildnachweise 33 38 47 47 47 Vorwort | 5 Gisela Staupe Vorwort Das Deutsche Hygiene-Museum begreift sich als ein Diskurs-Museum. Es möchte junge und ältere Besucherinnen und Besucher, Schülerinnen und Schüler, Familien, Kulturinteressierte und vermehrt auch die "Nicht-Besucher" von Museen ansprechen und sie zu einer Auseinandersetzung mit der Rolle des modernen Menschen in Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur anregen. Als "Museum vom Menschen" will es für sein Publikum ein lebendiger Ort der Kommunikation sein und die Dinge in der Ausstellung für die Fragen der Gegenwart zum Leben erwecken. Ein Museum kann als informeller Ort des Lernens nicht nur Wissen, sondern auch Kompetenzen und Werte vermitteln, Einstellungen und Überzeugungen prägen und Interessen für neue Themen wecken. Welches Potenzial der "Lernort Museum" speziell für Schu- Abb. 1.1: Gisela Staupe len und Museen hat, wollen wir in dieser Broschüre am Beispiel des Projektes "Wie wollen wir leben? Ethische Debatten im Museum" aufzeigen. Das Deutsche Hygiene- Das in dieser Broschüre vorgestellte Projekt beschreibt ex- Museum hat das vom Bundesministerium für Bildung und emplarisch, welchen Beitrag ein Museum in Kooperation Forschung geförderte Projekt entwickelt, um bei Jugendli- mit der Schule zu wichtigen gesellschaftlichen Diskussio- chen und jungen Erwachsenen das Interesse an medizin- nen leisten kann. Es zeigt neue Wege der Zusammenarbeit ethischen Fragen zu fördern und sie in den Dialog über zwischen Schule und Museum auf und möchte beide für aktuelle Themen wie Neuro-Enhancement, künstliche das Thema "Ethik" sensibilisieren. Die zusammengestellten Fortpflanzung oder Sterbehilfe einzubeziehen. Das aus- Texte und Materialien sollen für den Unterricht praktische stellungsbegleitende Angebot wurde wissenschaftlich eva- und theoretische Anregungen geben, ethische Fragen am luiert und sehr gut angenommen: Gymnasien, Mittel- und "Lernort Museum" aufzugreifen und zu diskutieren. Unter Berufsschulen haben es in nur einem Jahr mehr als 200 individueller Modifikation können ethische Debatten in allen mal gebucht. Altersstufen und Schularten auch in anderen Museen durchgeführt werden. Das große Interesse an dem Thema des Projektes zeigt, wie sinnvoll und wichtig es ist, die Auswirkungen der neu- Gisela Staupe ist stellvertretende Direktorin sowie Muse- esten wissenschaftlich-technischen Entwicklungen auf un- ums- und Ausstellungsleiterin am Deutschen Hygiene- sere Gesellschaft nicht nur in der Politik und in den Medien, Museum Dresden und leitet die Abteilung Kulturelle Bildung. sondern auch mit Laien – und dabei auch mit Heranwachsenden – zu diskutieren. Es werden schließlich elementare Fragen behandelt, die jeden von uns betreffen und für die jeder eine individuelle Antwort finden muss: Welche Werte sind heute für uns wichtig? An welchen moralischen Maßstäben soll sich die High-Tech-Medizin orientieren? Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie gehen wir mit Krankheit und Sterben um? Wer soll entscheiden, welche Maßnahmen das Ende unseres Lebens begleiten? Abb. 1: Projekt in der Dauerausstellung, Raum "Leben und Sterben" 6 | Schule im Museum | 7 Johannes Bauer, Manfred Prenzel Erklären und Aushandeln unterschiedlicher Perspektiven Sinne als eine Gesamtheit von geistigen, materiellen, inter- Schule im Museum – Eine Chance für anregendes und nachhaltiges Lernen und Interpretationen Ausdruck findet und damit eben auch kulturellen, emotionalen und sozialen Aspekten, die eine wieder soziale Lernprozesse in Gang setzt. Mit der Umset- Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen.8 Kul- zung entsprechender Lehr-Lernprinzipien fördern Museen turelle Bildung vollzieht sich also über die Teilhabe an und selbstbestimmt-motiviertes Lernen und die Entwicklung die Auseinandersetzung mit Kulturgütern. Museen können von Interesse an Gegenstandsbereichen. Dass Museen dazu einen zentralen Beitrag leisten. Sie können ästheti- Museen gewinnen als Partner und Lernorte für Schulen zu- Lern- und Handlungsmöglichkeiten als etwa ein – auch mit das Potenzial haben, solche hochwertigen Lernprozesse sche Empfindungen auslösen und zur Geschmacksbildung nehmend an Bedeutung. Ein Grund dafür ist, dass Museen größter Mühe gestaltetes – Klassenzimmer. Wie lassen sich auszulösen, zeigen aktuelle empirische Studien.6 Allerdings beitragen. Von großer Relevanz ist daneben das Lernen das Potenzial haben, problemorientiertes Lernen in authen- vor diesem Hintergrund das Lernen in der Schule und das muss dieses Potenzial durch überlegte Planung und ge- inhaltsbezogener Motivationen und Interessen, die im Mu- tischen Anwendungskontexten anzuregen, ein Lernen, das Lernen im Museum in Verbindung setzen? schickte didaktische Gestaltung erschlossen werden. seum angeregt werden können. Manche Objekte können durch Vergnügen und Interesse, Eigenaktivität und Kom- "überwältigen" und damit besonders in Erinnerung bleiben. munikation, durch Aha-Erlebnisse und richtiges Verstehen Lauren Resnick hat vor einiger Zeit das Lernen in der Schu- gekennzeichnet ist. In diesem Beitrag erläutern wir, warum le und das Lernen in außerschulischen Kontexten syste- insbesondere die Kombination des Lernens in Schule und matisch verglichen. Während Lernen in der Schule häufig Museum Chancen eröffnet, anregende und nachhaltige stark individuell, kognitiv-abstrakt und abgekoppelt von Lernprozesse in Gang zu setzen. Erfahrungsinhalten, Eigenaktivität, authentischem Material Selbstverständlich ist ein Museumsbesuch kein Selbstläu- und Anwendungskontexten stattfindet, trägt das Lernen Während Schulen engere, auf das Fach bezogene Kom- werden. Museen ermöglichen also die Auseinanderset- fer, der interessiertes Herangehen und Erkenntnisgewinne außerhalb der Schule oft andere Züge: Es zeichnet sich petenzen in den Blickpunkt rücken, leben Museen davon, zung mit verschiedenen Dimensionen kultureller Wirklich- garantiert. Museumsbesuche können unter einer ermüden- durch die gemeinsame ("sozial geteilte") und problemori- Objekte und Sachverhalte in einen soziokulturellen und his- keit (historisch, ästhetisch, politisch, natur- oder wissen- den Überlast von Exponaten, staubig anmutenden Darstel- entierte Bearbeitung relevanter und authentischer Aufga- torischen Kontext oder in aktuelle Diskussionszusammen- schaftsbezogen) anhand von konkreten Objekten, die sich lungen und unverständlichen Erklärungen leiden. Ein Muse- ben in konkreten Handlungskontexten aus. hänge zu setzen. das lernende Subjekt reflektierend erschließt.9 Besucher in Aktivitäten verwickeln, von denen auszugehen Diese Gegenüberstellung kann auch erklären, warum es in Im Fokus der Schule steht primär der Erwerb von Kern- ist, dass sie zum Nachdenken und Fragenstellen anregen, der Schule oft schwer fällt, flexibel anwendbares Wissen kompetenzen, die den Lernenden eine verantwortungs- zu neuen Perspektiven führen, die auch Orientierungen und aufzubauen. Oft bleibt das in der Schule gelernte Wissen volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen Einstellungen beeinflussen. "träge". Die neueren Bemühungen, Unterricht stärker auf sollen. Dies sind insbesondere Kompetenzen in den Berei- Ein Museumsbesuch muss deshalb mehr sein als reines Anwendungskontexte zu beziehen und zu "situieren" sowie chen des Lesens, der Mathematik, der Naturwissenschaf- Infotainment1, mehr als der Versuch, Inhalte in einer unter- durch problemorientierte Fragestellungen zu beleben4, un- ten sowie in den Sprachen. Die jüngeren Diskussionen über Die Kombination schulischen Lernens und des Lernens im haltsamen Verpackung auf den Markt der Freizeitaktivitäten terstützen die Lernmotivation und fördern ein auf Verstehen Schulleistungen betonen häufig eine eng kognitive, auf die Museum eröffnet Chancen für kumulatives und nachhalti- zu werfen, bei dem der Nervenkitzel eines lautstarken Ex- zielendes Lernen. Sachstruktur einer Disziplin ausgerichtete Schwerpunkt- ges Lernen. Zu diesem Zweck gilt es, Museen als Lern- setzung. Tatsächlich ist der Bildungsauftrag der Schule (in umwelten zu betrachten und die Kooperation mit Schulen gezielt zu stärken. 3 Man kann z.B. lernen, dass etwas spannend oder bedeu- Inwiefern können Museen Schulen bei der Diskussion gesellschaftlich und bildungsrelevanter Themen und Probleme unterstützen? tungsvoll ist, tiefer erschlossen werden kann oder weiteres Nachdenken erfordert. Einstellungen und Überzeugungen können bei einem Museumsbesuch bekräftigt oder in Frage gestellt, aber vielleicht auch erstmals bewusst artikuliert umsbesuch mit Lernwirkung muss die Besucherinnen und periments und am Ende der Besuch des Museumsshops in Welche Bedeutung kann der Lernort Museum für die Schule haben? – Die Ermöglichung kumulativer Lernprozesse Erinnerung bleiben. Um Lernprozesse in Gang zu bringen, Während die Schule beim Versuch, authentische Situati- den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen) deutlich ist vielmehr eine aktive, epistemische Auseinandersetzung onen zu schaffen, grundsätzlich an Grenzen gerät, bietet breiter definiert. Ebenso wichtig wie kognitives Lernen ist mit den Exponaten und ein Durchdringen der neuen Infor- das Museum fantastische Möglichkeiten, alle Gestaltungs- das Lernen von Motiven, Überzeugungen, Gefühlen, Per- Unter kumulativem Lernen verstehen wir ein Lernen, das an mationen auf Basis des eigenen Vorwissens erforderlich. prinzipien auszunutzen.5 Museen können aktuell relevan- spektiven und Handlungsmustern, die wesentlich zur Per- vorhandenes Wissen anknüpft und dieses mit neuem Wis- te Themen ihrer jeweiligen Domäne aufgreifen und sie in sönlichkeitsbildung beitragen. Lernende sollen beispiels- sen so verbindet, dass die Bereitschaft und die Vorausset- authentischen Anwendungskontexten darstellen – etwa im weise soziale Kompetenzen erwerben, sie sollen erlernen, zungen für weiteres Lernen gestärkt werden. Die Aufgabe Fall des Deutschen Hygiene-Museums die Themen "Ethik wertbezogene Urteile und Entscheidungen im Angesicht der Schule ist es, über die Jahrgangsstufen Wissensgrund- und Medizin", "Sterbehilfe" oder "Künstliche Fortpflan- widersprüchlicher, fehlender oder fragiler Evidenz treffen zu lagen aufzubauen, die ein selbstständiges Weiterlernen Warum lernen Schüler im Museum anders als in der Schule? – Lerntheoretische Argumente zung". Sie können durch die Bereitstellung von Aufgaben können. Diese Bildungsziele betreffen nicht minder wichti- ermöglichen. Kumulatives Lernen setzt Kontinuität in der Museen haben ein einzigartiges Potenzial, wirkliche Lern- und Aktivitäten die Besucherinnen und Besucher zur ak- ge Voraussetzungen für eine aktive und verantwortungs- Auseinandersetzung mit Themen und Fragestellungen umgebungen zu gestalten. Unter Lernumgebung verstehen tiven, problemorientierten und selbstgesteuerten Ausein- volle Partizipation an der Gesellschaft. Museen können hier voraus. Es verlangt ein wiederholtes und weiterführendes wir dabei ein Setting, das den Raum und die dort befind- andersetzung mit diesen Problemen einladen. Schließlich – ergänzend und in Abstimmung mit Schulen – eine wichti- Durchdringen und Elaborieren von Problemstellungen und lichen Objekte (Gegenstände, Medien, etc.) in ihrem Ar- betrifft ein wichtiger Aspekt die soziale Seite des Lernens: ge Rolle als Bildungseinrichtungen spielen. Erklärungen. Das Anstoßen und die Unterstützung solcher rangement umfasst und zugleich Aktivitäten nahelegt und Museumsbesuche konstituieren häufig ein gemeinsames Museen haben seit jeher einen wichtigen Auftrag in der kul- Elaborationsprozesse ist deshalb eine wichtige didaktische anregt.2 Eine Ausstellung im Museum bietet andersartige Erlebnis, das in der Kommunikation über Eindrücke, im turellen Bildung.7 Kultur verstehen wir dabei in einem breiten Aufgabe – sowohl in der Schule als auch im Museum. 1 2 3 4 5 Vgl. Neil Postman, Amusing ourselves to death. New York 1985 Vgl. Urie Bronfenbrenner, Die Ökologie der menschlichen Entwicklung, Stuttgart 1981 Vgl. Lauren B. Resnick, Learning in school and out, Educational Researcher 16(9), 1987, S. 13 – 20 Vgl. Alexander Renkl, Träges Wissen: Wenn Erlerntes nicht genutzt wird, Psychologische Rundschau, 47, 1997, S. 78 – 92 sowie Heinz Mandl, Hans Gruber & Alexander Renkl, Situiertes Lernen in multimedialen Lernumgebungen, in Ludwig J. Issing & Paul Klimsa (Hrsg.), Information und Lernen mit Multimedia und Internet, Weinheim 2002, S. 139 – 151 Vgl. Manfred Prenzel, Was man alles im Museum lernen kann: Lernvoraussetzung, Prozesse und Ergebnisse, in International Council of Museums (Hrsg.), Wissenschaftskommunikation – Perspektiven der Ausbildung – Lernen im Museum, Frankfurt 2009, S. 137 – 142 6 7 8 9 Vgl. Doris Lewalter & Claudia Geyer. Motivationale Aspekte von schulischen Besuchen in naturwissenschaftlich-technischen Museen, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 12, 2009, S. 28 – 44 sowie Gun-Brit Thoma & Manfred Prenzel, Was verbinden Museumsbesucher mit Lernen im Museum und in der Schule?, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 12, 2009, S. 64 – 81 Vgl. Michael Parmentier, Der Einbruch der Bildungsidee in die Sammlungsgeschichte. Auf der Suche nach den Ursprüngen des modernen Museums, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 12, 2009, S. 45 – 63 Vgl. UNESCO, Mexico City Declaration on Cultural Policies. World Conference on Cultural Policies, Mexico City 1982 Vgl. Wolfgang Klafki, Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung, Weinheim 1957 8 | Schule im Museum Das Deutsche Hygiene-Museum | 9 Für Museen ergeben sich zwei Herausforderungen bezüg- Das Deutsche Hygiene-Museum lich der Unterstützung kumulativer Lernprozesse. Erstens müssen Ausstellungen für Lernende mit unterschiedlichem Vorwissen differenzielle Lerngelegenheiten anbieten. Die Berücksichtigung von Besuchervoraussetzungen geht da- Das 1912 gegründete Deutsche Hygiene-Museum be- ergebnisse zu vermitteln, sondern vor allem darum, de- bei über eine gängige Unterscheidung von Zielgruppen greift sich als ein Forum für Wissenschaft, Kultur und Ge- ren gesellschaftliche Auswirkungen zu hinterfragen und (etwa nach Alter, Geschlecht, etc.) hinaus, denn sie bezieht sellschaft. Der moderne Mensch, dessen gegenwärtige die ethischen Konsequenzen dieser Entwicklungen zur sich gerade auf die nicht sofort sichtbaren Unterschiede in Lebensweise und dessen Verantwortung sich selbst und Debatte zu stellen. kognitiven und motivationalen Lernvoraussetzungen. Dies der Umwelt gegenüber sind das Hauptthema seiner Arbeit. verlangt eine reflektierte Klärung von Lerngelegenheiten Mit der ständigen Ausstellung "Abenteuer Mensch", den und Herausforderungen in Hinblick auf unterschiedliche Sonderausstellungen, seinem Kinder-Museum und einem Besuchergruppen: Welche Lernprozesse sollen (auf wel- umfangreichen wissenschaftlichen wie pädagogischen chem Niveau) und mit welchen Ergebnissen (Erfahrungen, Begleitprogramm versucht das Museum, ein zahlenmäßig Auf einer Fläche von rund 2.000 Quadratmetern beschäftigt Erkenntnisse, Einsichten, offene Fragen) angeregt werden? großes und nach seiner Sozialstruktur breites Publikum für sich die Dauerausstellung "Abenteuer Mensch" mit zentra- gesellschaftsrelevante Themen der Zeit anzusprechen. Es len Grundfragen der menschlichen Existenz: Wie beeinflusst Der zweite – und möglicherweise schwierigere – Aufgaben- zählt jährlich rund 300.000 Besucherinnen und Besucher, die moderne Naturwissenschaft unser Menschen- und Kör- bereich betrifft die Unterstützung einer Reflexion über die mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder, Jugendliche und perbild? Wie werden heute Leben und Tod definiert? An Eindrücke im Museum und deren Elaboration in Bezug auf junge Erwachsene. Rund 68.000 Schülerinnen und Schüler welchen Werten können wir uns heute orientieren? das eigene Vorwissen, die persönlichen Einstellungen und nehmen jährlich an etwa 2.900 gebuchten Schulveranstal- Überzeugungen. Die primär selbstgesteuerte Art des Ler- tungen teil. 10 Die Dauerausstellung In sieben Themenräumen werden Aspekte des Lebens behandelt, die in der Alltagserfahrung der Besucher verankert nens im Museum birgt (trotz ihrer motivationalen Vorteile) die Gefahr, dass Erfahrungen und Eindrücke im Museum inzi- In den vergangenen 20 Jahren hat das Deutsche Hygiene- sind: Leben und Sterben, Essen und Trinken, Sexualität, dentell und eklektisch bleiben, nicht systematisch reflektiert Museum etwa 100 Sonderausstellungen realisiert, die Denken und Lernen, Bewegung und Schönheit. Die inhalt- und in einen größeren Bedeutungszusammenhang gebracht das Profil des "Museums vom Menschen" entscheidend lichen Felder der ständigen Ausstellung reichen von der werden. Wenn sich beispielsweise Experimente in naturwis- prägten. Ihre Titel lauteten beispielsweise: "Die Pille – Von schon vor Jahrhunderten begonnenen Sichtbarmachung senschaftlich-technisch ausgerichteten Museen auf das Ma- der Lust und von der Liebe" (1996), "Gen-Welten" (1997), des Körperinneren über die Molekularbiologie und Zellfor- nipulieren nicht verstandener Variablen und auf das Erzielen "Kosmos im Kopf: Gehirn und Denken" (2000), "Der (im-) schung bis hin zur Reproduktionsmedizin, Altersforschung plakativer Effekte beschränken – also keine tiefer gehenden perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit" und der Hirntoddebatte. Prozesse des Hinterfragens, des Formulierens von Vermu- (2000 – 2002), "Krieg und Medizin" (2009), "Arbeit. Sinn und tungen und des Suchens von Erklärungen anregen – bleiben Sorge" (2010) oder "Was ist schön?" (2010/2011). In etli- Neben rund 1.300 klassischen musealen Objekten werden sie Infotainment. Sie führen dann bestenfalls zu einem ober- chen Ausstellungen wurden neue Forschungsbereiche wie multimediale Informationsterminals, Demonstrationsobjek- flächlichen und eklektizistischen Lernen, schlimmstenfalls die Genetik, die Hirnforschung oder die Reproduktionsbio- te wie ein Modell zur Proteinbiosynthese oder Modelle zur Bildung oder Verstärkung von Fehlkonzepten und einer logie thematisiert. Es ging jedoch nicht primär darum, den von Zellen präsentiert, ebenso Mitmachobjekte, Filme Illusion des Verstehens. Es genügt in Museen also nicht, le- Besucherinnen und Besuchern die neuesten Forschungs- und Animationen. diglich Objekte und Wissen anzubieten, vielmehr müssen Aneignungsversuche bei den Lernenden angestoßen wer- Dr. Johannes Bauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am den, die über das Beobachten, Lesen und Untersuchen bis Lehrstuhl für Empirische Bildungsforschung der School of hin zur Artikulation von Vermutungen und systematischen Education der Technischen Universität München. Reflexion von neu Erfahrenem reichen. Das Lernen im Museum wird also vor allem dann relevant und Prof. Dr. Manfred Prenzel ist Inhaber des Susanne Klatten- effektiv, wenn es mit dem Lernen in der Schule abgestimmt Stiftungslehrstuhls für Empirische Bildungsforschung und ist. Diese Abstimmung erfordert eine intensive Kooperation Gründungsdekan der School of Education der Technischen zwischen Schulen und Museen. In solchen Kooperationen Universität München sowie federführendes Mitglied im natio- können beide Institutionen ihre jeweiligen Stärken einbringen. nalen und internationalen PISA-Konsortium. Raum 1 Der Gläserne Mensch. Bilder des Menschen in den modernen Wissenschaften Der erste Raum, der in das Generalthema der Ausstellung "Abenteuer Mensch" einführt, befasst sich mit den Methoden der Forschung, den Körper des Menschen sichtbar zu machen, zu mustern und zu vermessen. Er beschäftigt sich mit der Frage, welche Auswirkungen wissenschaftliche Forschungen auf das Menschenbild haben, beispielsweise in der Zeit des Nationalsozialismus. 10 Vgl. Bernhard Graf & Annette Noschka-Roos, Stichwort: Lernen im Museum, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 12, 2009, S. 7-27 10 | Das Deutsche Hygiene-Museum Das Deutsche Hygiene-Museum | 11 Raum 2 Raum 5 Leben und Sterben. Von der ersten Zelle bis zum Tod des Menschen Erinnern – Denken – Lernen. Kosmos im Kopf: Das Gehirn Die ethischen Fragen nach dem Beginn und dem Ende Der fünfte Raum der Dauerausstellung widmet sich den des Lebens werden im zweiten Raum thematisiert. neuen Erkenntnissen der Hirnforschung, die sich zu ei- Aufgrund der Fortschritte in Biologie und Medizin drin- ner Schlüsseldisziplin der Natur- und Geisteswissen- gen Wissenschaftler zunehmend in molekulare Tiefen- schaften entwickelt hat. Die Besucherinnen und Besu- schichten vor, in denen das Menschliche die Gestalt cher gewinnen darüber hinaus Einblicke in die Arbeit von Buchstabensequenzen anzunehmen scheint. Die des Gehirns. An interaktiven Elementen können sie ihre Abstraktheit verdeutlicht, wie komplex dieses Thema Gedächtnisleistungen und ihre Aufmerksamkeitsfähig- ist, mit dem sich Gen-Forscher, Politiker und die Öffent- keit testen. lichkeit auseinandersetzen müssen. Raum 3 Raum 6 Essen und Trinken. Ernährung als Körperfunktion und Kulturleistung Bewegung. Die Kunst der Koordination Die Bewegungen des menschlichen Körpers, die sich Der dritte Raum beschäftigt sich mit dem Vorgang des abhängig und unabhängig von unserem Willen vollzie- Essens – von der Verlockung durch den Anblick und hen, sind das Thema im sechsten Ausstellungsraum. das Aroma der Speisen bis zu ihrer Verdauung in Mund, Bewegung dient auch der Kommunikation und ermög- Magen und Darm. Besonders hingewiesen wird auf das licht die Erfahrung eines positiven Körper- und Selbst- enge Verhältnis zwischen der Ernährung und der Kultur gefühls. An Mitmachstationen können die Besucherin- in verschiedenen Ländern. nen und Besucher z.B. ihren Gleichgewichtssinn oder ihr Rhythmusgefühl testen. Raum 4 Raum 7 Sexualität. Liebe, Sex und Lebensstile im Zeitalter der Reproduktionsmedizin Schönheit, Haut und Haar. Offene Grenze zwischen Körper und Umwelt Einerseits ermöglichen sichere Verhütungsmethoden Keinen anderen Teilen seines Körpers widmet der heute eine bewusste Trennung der Sexualität von der Mensch so viel Aufmerksamkeit wie Haut und Haa- Fortpflanzung, andererseits kann die moderne Repro- ren. Die kosmetikhistorische Sammlung Schwarzkopf duktionsmedizin die Fortpflanzung inzwischen ohne wird im letzten Raum der Dauerausstellung aktuellen Sex realisieren. Vor diesem Hintergrund thematisiert naturwissenschaftlichen Erläuterungen zur Hülle des die vierte Abteilung der Ausstellung Fragen der klas- menschlichen Körpers gegenübergestellt. sischen Sexualaufklärung ebenso wie die Risiken der modernen Sexualität und die ethischen Probleme der künstlichen Fortpflanzung. 12 | Das Deutsche Hygiene-Museum Kulturelle Bildung am Deutschen Hygiene-Museum Kulturelle Bildung und Kulturvermittlung sind wichtige Aufgaben der Museumsarbeit, weil sie die Teilhabe an Kultur Das Projekt »Wie wollen wir leben? Ethische Debatten im Museum.« | 13 Das Projekt "Wie wollen wir leben? Ethische Debatten im Museum." Intention und Gesellschaft ermöglichen. Dabei versteht das Deutsche Hygiene-Museum unter kultureller Bildung weit mehr Die Bedeutung der modernen Lebenswissenschaften und Das Deutsche Hygiene-Museum ist durch seine konzeptio- als die Entwicklung und Umsetzung von pädagogischen der Biotechnologie als Schlüsseltechnologie des 21. Jahr- nelle Ausrichtung ein besonders geeigneter Ort für die Er- Begleitprogrammen. Kulturelle Bildungsarbeit beginnt hier hunderts ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. örterung ethischer Themen (siehe Seite 9 "Das Deutsche bereits bei der Planung und Realisierung von Ausstellun- Die Debatten über die Folgen der Gen- und Hirnforschung, Hygiene-Museum"). Das in dieser Broschüre vorgestellte gen, indem jedes neue Projekt vorab hinsichtlich seiner Pränataldiagnostik und künstlichen Fortpflanzung finden in Projekt "Wie wollen wir leben? Ethische Debatten im Muse- gesellschaftlichen Bedeutung untersucht wird: Welche der Politik, in den Medien und Gerichtssälen statt – und um" wurde für die Arbeit mit Jugendlichen in der Daueraus- Ausstellungsthemen sind für große und verschiedene Teile zunehmend auch im privaten Umfeld. Die ethische Be- stellung des Deutschen Hygiene-Museums konzipiert. Es der Gesellschaft relevant? Welche Fragestellungen stoßen trachtung und Bewertung der Konsequenzen dieser For- wurden Bildungsangebote zu fünf verschiedenen Themen bei wem auf Interesse? Wie können wir diese Themen für schungen auch durch "Laien" scheint daher zwingend neu entwickelt und erprobt: unterschiedliche Zielgruppen aufarbeiten? Und wie kann erforderlich. Das Deutsche Hygiene-Museum möchte mit das Museum diese Zielgruppen über sein Medium "Aus- seinem Projekt "Wie wollen wir leben?" einen Beitrag zu 1. Mensch – Gesellschaft – Ethik. stellung" erreichen? diesen wichtigen ethischen Debatten leisten. Für die pädagogische Vermittlungsarbeit können dann Ethische Fragestellungen nehmen eine zentrale Rolle im im zweiten Schritt weitestgehend zielgruppengenaue Bil- Leben junger Menschen ein – ohne selbstverständlich 3. Perfektionierung des Menschen dungsangebote entwickelt werden, dies immer mit dem auf diese Altersgruppe beschränkt zu sein. In der Schule 4. Sterbehilfe. Sterben in Würde? Interesse, die Beteiligten zur Reflexion, zur Diskussion und beschäftigen sich Schülerinnen und Schüler nicht nur im 5. Künstliche Fortpflanzung zur Meinungsbildung und -äußerung anzuregen. gleichnamigen Schulfach mit dem Thema "Ethik". Ethische Die mittlerweile durchweg dialogorientierten Bildungsange- Probleme, die aus neuen wissenschaftlichen Forschungen bote reichen von der klassischen Übersichtsführung über resultieren, stehen auch im Fach Biologie zu Debatte. Über Experimentiertage im Labor bis hin zu ganzen Themenwo- das Thema Menschenwürde wird in Gemeinschaftskunde chenenden. Durch die Auseinandersetzung mit den Aus- und Religion diskutiert. Die moralische Verantwortung des Ziel des Projektes "Wie wollen wir leben? Ethische Debat- stellungsobjekten und -installationen sollen die Angebote Menschen gegenüber der Natur kann im Fach Geografie ten im Museum" ist es, Jugendliche und junge Erwachse- das Lernen im Museum für möglichst viele verschiedene Thema sein. Nicht nur im Unterricht, auch in ihrem sozialen ne an bioethische Fragen heranzuführen sowie ihre Re- Besuchergruppen interessant machen – und neben Wissen Umfeld werden Jugendliche mit ethischen Problemen kon- flexions- und Diskursfähigkeit und die Entwicklung ihrer auch Spaß an Bildung sowie kulturelle und gesellschafts- frontiert. Der Umgang mit Lehrern, Freunden und Mitschü- individuellen Wert- und Normvorstellungen zu fördern. politische Kompetenz vermitteln. lern gehört ebenso dazu wie die eigene Entwicklung und Dazu werden neben ethischen auch rechtliche und sozia- die Verantwortung sich selbst gegenüber. le Aspekte der modernen Lebenswissenschaften und der Wie wollen wir leben? 2. Ethik und Medizin – Unser Umgang mit Grenzsituationen des Lebens Zielgruppe Biotechnologie beleuchtet. Die persönlichen Perspekti- Von Staatsminister Bernd Neumann, dem derzeitigen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Zur Erörterung ethischer Themen bietet sich das Muse- ven, aus der die Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer stammt der Satz "Kultur und kulturelle Bildung vermitteln um als außerschulischer Lernort für Jugendliche in be- das Thema betrachten, spielen dabei eine wichtige Rolle. Traditionen, Kenntnisse und Werte, die eine Gesellschaft sonderem Maße an. Das Alleinstellungsmerkmal eines Werte wie Achtung, Toleranz und Verantwortung sollen erst lebenswert machen." In diesem Sinne versucht das Museums, die Präsentation von Dingen in Ausstellungen, als unverzichtbare Grundlagen unseres Zusammenlebens Projekt "Wie wollen wir leben? Ethische Debatten im Mu- ermöglicht eine Herangehensweise, die die Schule aus verständlich gemacht werden. Die Projekte sind so konzi- seum" insbesondere den Diskurs über Werte aufzugreifen. räumlichen, zeitlichen und institutionellen Gründen nicht piert, dass sich die Schülerinnen und Schüler Wissen zu Dabei hat es ethische Fragestellungen, wie sie sich aus den leisten kann. Eine Ausstellung kann ein Lernen mit allen bestimmten Themen über die selbstständige Erkundung modernen Lebenswissenschaften ergeben, in den Mittel- Sinnen ermöglichen. Dazu leisten die vorhandenen Expo- der Dauerausstellung mit Hilfe eines Aufgabenkataloges punkt gerückt. Dieses Projekt hat das Profil der kulturellen nate einen wichtigen Beitrag. aneignen, das sie dann in der Gruppe präsentieren und Bildungsarbeit am Deutschen Hygiene-Museum nachhaltig Mit neuen, modernen Präsentationsformen, wie z.B. multi- zur Diskussion stellen. geschärft. medialen Informationsterminals, Demonstrations-, und Mit- Zielgruppe des Projektes sind Schülerinnen und Schüler machobjekten, Filmen und Animationen kann das Museum der Klassen 9 bis 12 bzw. 13. Die Veranstaltungen können auf die geänderte Wahrnehmungs- und Rezeptionsfähig- von Mittelschulen, Gymnasien und Berufsschulen gebucht keit der heranwachsenden Generation eingehen. Schüle- werden. Ein Lehrplanbezug besteht zu den Unterrichts- rinnen und Schüler erlernen auf diese Weise den Umgang fächern Ethik, Religion, Gemeinschaftskunde / Recht / Wirt- mit dem Medium Ausstellung. schaft, Biologie, Geschichte und Deutsch. 14 | Das Projekt »Wie wollen wir leben? Ethische Debatten im Museum.« Mensch – Gesellschaft – Ethik | 15 Modul 1: Mensch – Gesellschaft – Ethik. Wie wollen wir leben? Um sicherzustellen, dass die angebotenen Themen die zeugt, denn der ruhige und forschende Blick ist dem The- Interessen der entsprechenden Zielgruppen berühren, ma angemessen. Das Spezifische des Museums, in dem wurden sie für die unterschiedlichen Projekte durch eine die Worte zurücktreten und Gegenständliches zum Vor- vorangegangene Evaluierung unter Lehrern und Schülern schein kommt, erlaubt Einsichten, die in diesen wichtigen Im Zentrum der Übersichtsführung, die sich die Schülerin- erarbeitet. Bei Bedarf besteht natürlich die Möglichkeit, die und komplexen Debatten oft eher randständig bleiben. nen und Schüler im ersten Projekt eigenständig erarbeiten, steht das Prinzip der Menschenwürde. Die Teilnehmenden Projekte für andere Zielgruppen zu modifizieren. Methoden Über die intensive Beschäftigung mit ausgewählten Ob- befragen die Dauerausstellung auf Informationen und Po- jekten, Medienstationen, Ausstellungstexten und Filmen sitionen zu sechs wichtigen ethischen Fragestellungen. in der Dauerausstellung entwickeln die Schülerinnen und Fragen nach einem würdigen Umgang mit unseren Mit- Schüler in Gruppen themenzentrierte Fragen und sammeln menschen werden ebenso gestellt wie solche nach der Kulturpädagogische Projekte in Museen bieten den Besu- Informationen zu ethischen Themen, die anschließend im Umsetzung dieses Prinzips in unserer Gesellschaft. In ei- cherinnen und Besuchern die Gelegenheit, mit allen Sinnen Plenum vorgestellt und diskutiert werden. Durch die eigen- nem aktiven Meinungsbildungsprozess setzen sich die Ju- zu lernen und individuelle Erfahrungen mit Fakten abzuglei- ständige Erkundung der Ausstellung üben sie die Fähigkeit, gendlichen mit den verschiedenen Positionen und rechtli- chen. Bei Schülerinnen und Schülern unterstützt die anre- sich über das Medium Ausstellung selbstständig ein The- chen Aspekten auseinander und tauschen sich dazu aus. gende und offene Lernsituation im Museum das informelle ma zu erarbeiten. Sie macht junge Menschen im Umgang Lernen – auch, weil Leistungen hier nicht benotet werden mit einer Ausstellung vertrauter und vermittelt, wie diese und Lehrerinnen und Lehrer eine passive Rolle überneh- gedeutet und gelesen werden kann. Die Präsentation und Zielgruppe men. In diesem Freiraum kann durch die vielschichtige Be- Diskussion der Arbeitsergebnisse fördern darüber hinaus Mittelschulen, Berufsschulen und Gymnasien ab Klasse 9 trachtung von Objekten die Auseinandersetzung mit gesell- die kommunikativen und sozialen Kompetenzen der Teil- schaftlich wichtigen Themen gefördert werden. Das Projekt nehmerinnen und Teilnehmer. Methode Gruppenarbeit in der Dauerausstellung, Erarbeitung von "Ethische Debatten im Museum" versucht exemplarisch aufzuzeigen, mit welchen Themen und mit welchen Me- Methodisch gehört das Besprechen und Analysieren von Informationen über Betrachtung von Medien in der Aus- thoden dieser Lernraum im Museum für junge Menschen Fallgeschichten ebenso zum Repertoire wie die Arbeit in stellung (Exponate, Film, Medienstation, Texte), Rollen- genutzt werden kann. Kleingruppen, das Rollenspiel, das Präsentieren der Ar- spiel, Präsentation beitsergebnisse vor anderen oder die Durchführung einer Natürlich muss in diesem Zusammenhang gefragt werden, Podiumsdiskussion. Durch den Einsatz dieser unterschied- Rahmenbedingungen ob ethische Fragen der modernen Lebenswissenschaften lichen Methoden soll erprobt werden, wie der Lernraum Ort: Foyer vor Raum 1 der Dauerausstellung überhaupt ein Thema für ein Museum sind. Gehört in ein Museum genutzt werden kann. Sie sollen die Teilnehmerin- (Begrüßung), Ausstellungsräume 1, 2, 3, 5, 6, Foyer Museum, was im Parlament, in den Medien, im öffentlichen nen und Teilnehmer individuell motivieren, sich den gestell- nach Raum 7 (Resümee, Verabschiedung) wie im privaten Raum diskutiert wird? Wir sind davon über- ten Themen aus verschiedenen Perspektiven anzunähern. Zeit: 2 Stunden Teilnehmer: 6 Arbeitsgruppen mit je 3 – 5 Schülern/innen, Abb. 2: Rollenspiel "Ethikkomission" 1 begleitende/r Lehrer/in, 1 museumspädagogische/r Mitarbeiter/in Ablauf Material Die Schülerinnen und Schüler werden als Mitglieder einer Die Lehrer/innen erhalten zur Vorbereitung ein zweiseiti- "Ethikkommission" begrüßt. Ihre Aufgabe ist es, sich in der ges Informationsblatt über Inhalt und Ablauf der Veran- Dauerausstellung in den entsprechenden Bereichen mit staltung. Die Schüler/innen bringen Schreibmaterialien sechs verschiedenen Fragestellungen zu beschäftigen, und mit. Am Beginn der Veranstaltung wird Arbeitsmaterial zwar anhand der dort gezeigten Exponate und mit Hilfe zu- für die Klassenstufen 9/10 bzw. 11/12/13 ausgegeben: sätzlicher Hintergrundinformationen. Dazu werden sechs Arbeitsanleitungen, themenspezifische Aufgaben, Quel- Expertengruppen gebildet. Jede Gruppe erhält themenspe- lentexte, Checkliste für die Präsentation, Hilfsimpulse für zifisches Arbeitsmaterial. Die Arbeit der Expertengruppen in die jüngeren Schüler/innen (Kl. 9/10), Raumübersichten/ der Dauerausstellung wird von einem/r pädagogischen Mit- Lagepläne. arbeiter/in unterstützt und begleitet. Im Anschluss an die Gruppenarbeit findet ein gemeinsamer Ausstellungsrund- Abb. 1.2: Projekt in der Dauerausstellung, Raum "Der Gläserne Mensch" Schulfächer gang statt, bei dem die verschiedenen Expertengruppen Ethik, Religion, Biologie, Gemeinschaftskunde/Recht/ dem Plenum der "Ethikkommission" die Komplexität ihrer Wirtschaft, Geschichte, Deutsch jeweiligen ethischen Fragestellung vorstellen. 16 | Mensch – Gesellschaft – Ethik Mensch – Gesellschaft – Ethik | 17 1. Expertengruppe: Menschenrechte, Menschenwürde 2. Expertengruppe: Die Geburt – der Beginn des Lebens? 3. Expertengruppe: Wie endet das Leben? Altern und Sterben in Würde 4. Expertengruppe: Umweltethik – Wie gehen wir mit Tieren und Pflanzen um? Die Teilnehmer/innen der Arbeitsgruppe 1 analysieren in Ausgehend von der aktuell gültigen rechtlichen Definition Raum 1 (Der Gläserne Mensch) das Menschenbild des Na- des Lebensbeginns bearbeiten die Schülerinnen und Schü- Thema der dritten Gruppe ist das Altern und die Fragen Die Gruppe in Raum 3 (Essen und Trinken) fragt nach den tionalsozialismus unter Bezug auf die 1948 von den Verein- ler in Raum 2 (Leben und Sterben) ethische Fragen, die im nach Recht, Würde, Willens- und Handlungsfreiheit am Auswirkungen der industrialisierten Landwirtschaft auf un- ten Nationen erklärten Menschenrechte und den Begriff der Zusammenhang mit der modernen Fortpflanzungsmedizin Lebensende. Die Ausstellungseinheiten dazu finden sich ser Verhältnis zu Tieren und Pflanzen sowie den ethische Menschenwürde. stehen und den Begriff der Menschenwürde berühren. in Raum 2 (Leben und Sterben). Implikationen dieser Art der Nahrungsmittelproduktion. Beispielhafte Arbeitsaufgaben Beispielhafte Arbeitsaufgaben Beispielhafte Arbeitsaufgaben Beispielhafte Arbeitsaufgaben 1. Betrachten Sie die drei Modelle "Grundtypen des 1. Betrachten Sie in der ersten Vitrine (s. Lageplan) Altern: 1. Betrachten Sie die Gläserne Kuh in der Mitte des Körperbaus" aus dem Jahr 1930 des Psychiaters Ernst links die Abbildung einer befruchteten Eizelle im Vor- 1. Betrachten Sie die verschiedenen Objekte in der Vi- Raumes. Neben der Vermittlung von Fachwissen steht Kretschmer (1888 – 1964) und beschreiben Sie diese. kernstadium. Ab wann beginnt menschliches Leben trine "Warum altern wir?" (s. Lageplan). Was vermitteln sie für die Idee einer technisierten Landwirtschaft. Fin- Dann sehen Sie sich das Objekt in der Vitrine darun- nach der deutschen Gesetzgebung? Positionieren Sie Ihnen die Objekte über das Altern? den Sie weitere Ausstellungsstücke, die diese Idee ter an: "Typisierende Darstellung eines 'Idioten'" von sich zu dieser Festlegung! vermitteln und begründen Sie Ihre Auswahl! 2. Informieren Sie sich an der Medienstation "Theori- 1930 (s. Lageplan): Wie wird der sogenannte "Idiot" in dieser Zeit typischerweise dargestellt? Beziehen Sie 2. Informieren Sie sich an der Medienstation "Prä- en des Alterns" (s. Lageplan) über die verschiedenen 2. Der in Deutschland heftig umstrittene Philosoph Pe- auch den Text "Im Dienste der NS-Ideologie" auf der nataldiagnostik und Geburt" über das "Embryonen- Theorien des Alterns und fassen Sie einige kurz zu- ter Singer beschäftigt sich unter anderem mit Fragen Text-Bild-Wand gegenüber mit ein. Was sagen diese schutzgesetz" von 1990 und den Paragrafen 218 zum sammen. der Umweltethik. Fassen Sie die in der Quelle darge- Darstellungen über das Menschenbild des National- Schwangerschaftsabbruch über die Frage: Wie wird sozialismus aus? der Beginn des Lebens definiert? Welche Widersprü- 3. Was bedeutet für Sie "in Würde altern"? Beziehen che oder ethischen Probleme können Sie erkennen? Sie bei Ihren Überlegungen auch die Ausstellungsstü- Nehmen Sie Bezug zu Aufgabe 1. cke in der Vitrine mit ein, die Menschen das Leben im 3. An der interaktiven Station "Füllhorn" (s. Lageplan) Alter erleichtern sollen, und betrachten in der Medien- erfahren Sie, was in verschiedenen Kulturen geges- 2. In unterschiedlichen Vitrinen befinden sich Objekte zum Thema "Rassenhygiene und Rassenkonzept" der stellte These von Singer zusammen, positionieren Sie sich dazu und stellen Sie einen Bezug zu Aufgabe 1 her! Nationalsozialisten: Rassenkundliche Darstellung des 3. Informieren Sie sich an der Medienstation "Pränatal- station den Film, der verschiedene Lebensstationen sen wird und wie wertvoll diese Nahrungsmittel für die "'Idealtypus' eines Melanesiers",1940; "Schädelguss- diagnostik und Geburt" über die Therapie von Frucht- von Menschen im Alter dokumentiert. menschliche Ernährung sind. 30.000 Pflanzenarten formen unterschiedlicher 'Rassen' ", 1935 sowie eine barkeitsstörungen und die Möglichkeiten der vorge- Lichtbildreihe zum Thema "Vererbungslehre, Bevölke- burtlichen Diagnostik. Stellen Sie diese ganz kurz im Tod: Tier- und Pflanzenarten dürfen aus kulturellen oder aus rungspolitik und Rassenhygiene" aus dem Jahr 1933. Plenum vor. Welche ethischen Probleme erkennen 4. Früher war ein Mensch tot, wenn sein Herz aufhörte Artenschutzgründen gegessen werden. Finden Sie am Betrachten Sie die Objekte, lesen Sie die entspre- Sie? zu schlagen; heute wird ein Mensch schon für tot er- Füllhorn heraus, welche Tierarten geschützt sind und klärt, wenn sein Gehirn "tot" ist, sein Herz aber noch daher nicht mehr gegessen werden dürfen. chenden Erläuterungstexte. Was verstanden die Nationalsozialisten unter dem Begriff "Rasse"? Welches Quellentext Menschenbild entstand aus diesem Rassenkonzept? und etwa 50.000 Tierarten sind essbar. Aber nicht alle weiter schlägt. Informieren Sie sich an der Medienstation "Wann ist ein Mensch tot?" über dieses Thema; 4. An der Station "Umweltbelastung durch Lebens- Positionieren Sie sich zum Menschenbild der Natio- Auszüge aus den Grundrechten, Art. 1 und 2, nehmen Sie auch die Stellungnahmen zum Thema mittelproduktion" können sie u. a. die unterschiedli- nalsozialisten! Grundgesetz der BRD (1949) Hirntod zur Kenntnis. Mit welcher Position können Sie chen Auswirkungen ökologischer bzw. konventionel- sich am ehesten identifizieren und aus welchen Grün- ler Landwirtschaft darstellen. Beschreiben Sie diese. den? In Artikel 20a des Grundgesetzes steht: "Der Staat 3. Vergleichen Sie das deutsche Gesetz zur Verhütung schützt auch in Verantwortung für die künftigen Ge- erbkranken Nachwuchses von 1933 mit den Grundrechten im deutschen Grundgesetz (1949) und der 5. Betrachten Sie die fünf Fotos von Rudolf Schä- nerationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Deklaration der Menschenrechte (1948). Welche Un- fer zum Thema Tod: "Visages de Morts – Der ewige Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung terschiede im Menschenbild sind erkennbar? Schlaf", 1979/1981 in der Vitrine rechts vor dem Aus- durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Ge- gang. Beschreiben Sie Ihre Gefühle beim Anblick der setz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Fotos. Was bedeutet für Sie "in Würde sterben"? Rechtsprechung." Wie kann diese Absicht praktisch Quellentexte umgesetzt werden? Auszüge aus dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (1933) Auszüge aus den Grundrechten Art. 1 – 3 des Grundgesetzes der BRD (1949) Auszüge aus der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) Bestattung: 6. In einer Vitrine finden Sie Objekte, die verschiede- Quellentext ne Bestattungsriten vorstellen. Wählen Sie ein Objekt aus, beschreiben Sie es und begründen sie, warum das Ritual der Bestattung in vielen Kulturen eine zentrale Stellung einnimmt? aus: Peter Singer, Praktische Ethik (1999) 18 | Mensch – Gesellschaft – Ethik Ethik und Medizin | 19 5. Expertengruppe: Wie gehen wir mit kranken Menschen um? 6. Expertengruppe: Unser Umgang mit Behinderung Modul 2: ETHIK UND MEDIZIN – UNSER UMGANG MIT GRENZSITUATIONEN DES LEBENS Die Gruppe in Raum 5 (Erinnern – Denken – Lernen) be- Die Gruppenteilnehmer/ innen informieren sich in Raum 6 Durch den Dokumentarfilm "Mein kleines Kind" (2002) von schäftigt sich mit dem Phänomen Krankheit und dessen (Bewegung) über gesetzliche Regelungen zur Integration Katja Baumgarten werden die Schülerinnen und Schüler möglichen Auswirkungen auf unser Bild vom Menschen. behinderter Menschen und diskutieren über Gründe und mit einer scheinbar ausweglosen Situation konfrontiert, in Dabei geht es am Beispiel psychischer Erkrankungen vor Folgen der Ausgrenzung behinderter Menschen in unserer der eine Frau in der Mitte ihrer Schwangerschaft entschei- allem um Fragen der Stigmatisierung, der Ausgrenzung, Gesellschaft. den muss, ob sie ein mutmaßlich schwerkrankes Kind zur der Betreuung und der gesellschaftlichen Verantwortung. Welt bringt oder nicht. Von dieser Fallgeschichte ausgeBeispielhafte Arbeitsaufgaben Beispielhafte Arbeitsaufgaben hend untersuchen die Jugendlichen in der Ausstellung verschiedene bioethische Fragestellungen, wie sie sich heute 1. Bewegung ist Teil unseres Lebens. Leider kann die im Verhältnis des Einzelnen zur modernen Medizin stellen. 1. Psychische Erkrankungen sind heute zu einem gro- Bewegungsfähigkeit eines Menschen aber auch ein- Dabei geht es um die Chancen und Risiken der Fortpflan- ßen Prozentsatz der Grund für Krankschreibungen in geschränkt sein. Welche Erkrankungen dazu führen zungsmedizin, um Krankheit, Behinderung, Eugenik, das der Arbeitswelt. In der Vitrine an der hinteren Wand können, können Sie in Raum 6 erforschen. Stellen Sie Alter und das Lebensende. Die Fähigkeit zur ethischen Ur- (s. Lageplan) wird eine Lichtbildreihe von psychisch einige Krankheitsbilder vor. teilsbildung wird in Kleingruppen und im Plenum eingeübt. kranken Menschen aus den 1920er Jahren präsentiert. Betrachten Sie zuerst die Fotos, ohne die Bildunter- 2. Betrachten Sie die Gipsabdrücke der Füße und den schriften zu lesen und beschreiben Sie die Menschen. Film (s. Lageplan) über den armlos geborenen Carl Zielgruppe Lesen Sie danach die Bildunterschriften. Welches Bild Hermann Unthan, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Mittelschulen, Berufsschulen und Gymnasien ab Klasse 9 von psychisch kranken Menschen vermitteln diese als "Fußkünstler" in einem Zirkus auftrat. Warum traten Fotos aus den 1920er Jahren? damals behinderte Menschen häufig auf Jahrmärkten Methode Abb. 3: Eine Schülergruppe vor den historischen Präparaten des Anatomen Werner Spalteholz und im Zirkus auf? Ist das heute noch so? Und wenn Fallanalyse, Gruppenarbeit in der Dauerausstellung, Ablauf 2. Aus welchen Gründen sind psychische Erkrankun- nicht, warum hat sich das geändert (s. dazu auch den Erarbeitung von Informationen über Betrachtung und Angeregt durch Ausschnitte aus dem autobiografischen Do- gen (z. B. Depressionen) auch heute noch stigmatisie- Auszug aus dem Sozialgesetzbuch)? Analyse von Medien (Exponate, Film, Medien, Texte) in kumentarfilm "Mein kleines Kind" (2002) der Hebamme und der Ausstellung, Gedankenexperiment, Empathieübung, Filmemacherin Katja Baumgarten besprechen und reflektie- 3. In der Ausstellung wird die Oberschenkelprothese Stimmungsbarometer, Gruppenarbeit mit Präsentation, ren die Jugendlichen in einem Brainstorming verschiedene eines Kriegsheimkehrers gezeigt: Joachim Collasius Gesprächsrunde Grenz- und Konfliktsituationen, wie sie jedem Menschen im rend? Welche Möglichkeiten sehen Sie, dem entgegenzuwirken? Lauf seines Lebens persönlich oder in seinem Umfeld etwa 3. Wie verändert sich mit fortschreitender Entwicklung war im 2. Weltkrieg sowohl am Bein als auch im Ge- der Diagnosemethoden und Medizintechniken das sicht verletzt worden. Er hinterließ dem Museum seine Rahmenbedingungen durch Krankheit, Behinderung oder Tod begegnen können. Bild des Menschen? Prothese und merkte an, dass ihn sein entstelltes Ge- Ort: Seminarraum, Ausstellungsräume 1, 2, 4 und 5 Danach gehen die Schülerinnen und Schüler in die Dauer- sicht stets mehr behindert habe als das fehlende Bein. Zeit: 4,5 Stunden ausstellung, wo sie sich anhand von Modellen, Exponaten Was sagt seine Bemerkung über den Umgang unserer Teilnehmer: bis zu 9 Arbeitsgruppen mit je 2 – 3 und über den Audioguide zu bestimmten Fragen informieren Gesellschaft mit behinderten Menschen aus? Schülern/innen, 1 begleitende/r Lehrer/in, 1 und arbeitsteilig in bis zu neun Kleingruppen den Fragen ih- museumspädagogische/r Mitarbeiter/in rer Arbeitsblätter nachgehen. Nach der sich anschließenden Quellentext Pause stellen die Gruppen ihre Ergebnisse im Plenum vor. Material Auszug aus: Sozialgesetzbuch IX, § 1 und 2, Rehabili- Die Lehrer/innen erhalten zur Vorbereitung ein zweiseiti- tation und Teilhabe behinderter Menschen ges Informationsblatt über Inhalt und Ablauf der Veranstaltung. Die Schüler/innen bringen Schreibmaterialien mit. Am Beginn der Veranstaltung wird Arbeitsmaterial für die Klassenstufen 9 – 12/13 ausgegeben: Arbeitsanleitungen, themenspezifische Aufgaben, Raumübersichten/ Lagepläne. Schulfächer Ethik, Religion, Biologie 20 | Ethik und Medizin Ethik und Medizin | 21 1. Gruppe: Ethische Fragestellungen zur Pränataldiagnostik 3. Gruppe: Wann beginnt menschliches Leben? Weitere Themen Die Arbeitsgruppe 1 erschließt sich an der Medienstation Mit den Möglichkeiten der modernen Fortpflanzungsmedi- 4. Schauen Sie sich die Embryonen in dem entspre- Je nach Größe der Klasse können weitere Gruppen in Raum 2 (Leben und Sterben) Informationen und Hinter- zin und der Gentechnik ist die Beantwortung dieser Frage chenden Alter sowohl als Wachsmodell (Vitrine in der beispielsweise zu den folgenden Themen gebildet werden: grundwissen über moderne Techniken vorgeburtlicher Di- zunehmend schwieriger und folgenreicher geworden. Die Abteilung "Schwangerschaft und Geburt") als auch die agnostik (PND, PID), deren Chancen und Risiken anhand Schülergruppe beschäftigt sich anhand von Embryonen- Feuchtpräparate von Werner Spalteholz an (Vitrine im – Kinderwunsch und Fortpflanzungsmedizin von Fallbeispielen diskutiert werden. modellen, Präparaten und Filmen in Raum 2 (Leben und Durchgang zur Abteilung "Zellbiologie und Genetik"). – Unser Umgang mit Krankheit Sterben) mit der möglichen Tragweite der Frage und disku- Was empfinden Sie bei der Betrachtung? – Unser Umgang mit dem Altern ... Beispielhafte Arbeitsaufgaben 1. Eine Sonderform der Pränataldiagnostik (PND) ist tiert unter ethischen Aspekten über Embryonenexperimen5. Treffen Sie sich mit Ihren Mitschülern aus den Ar- che Befruchtung und Abtreibung. beitsgruppen 4 (Krankheit) und 5 (Sterben und Tod) die Präimplantationsdiagnostik (PID). Informieren Sie sich an der Medienstation (s. Lageplan) über diese Di- und erläutern Sie ihnen, was Sie über den Beginn des Beispielhafte Arbeitsaufgaben agnostik und wie PID funktioniert. Ist diese Methodik in Deutschland erlaubt? – Unser Umgang mit dem Lebensende te, medizinische Eingriffe am Beginn des Lebens, künstli- 1. Schauen Sie sich den Film "Wunder des Lebens" punkt man bereits von menschlichem Leben sprechen Serie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" (GZSZ) an. Anto- kann? nia hat die Krankheit-Thalassämie, und nur eine pas- – ab dem ersten Herzschlag sende Knochenmarkspende kann ihr das Leben retten. – wenn sich die befruchtete Eizelle in der Gebärmutter Weil sich kein geeigneter Spender findet, entschließen eingenistet hat (etwa am 10. – 14. Tag nach der Be- sich ihre Eltern und Ärzte, mit Hilfe künstlicher Be- fruchtung) fruchtung und einem präimplantationsdiagnostischen – mit dem Abschluss der Organausbildung Auswahlverfahren ein Geschwisterkind als potenziellen – wenn das Gesicht im Ultraschall zu erkennen ist Spender zu zeugen. Wie beurteilen Sie dieses Vorge- – wenn das Nervensystem des Fötus ausgebildet ist hen? Tauschen Sie Ihre Meinungen dazu aus! – ab der Verschmelzung der Vorkerne von Ei- und Sterblichkeit, Bedürftigkeit, Verletzlichkeit usw. punkt ein Embryo nach deutschem Recht schützens- umzugehen? Wo gibt es Hilfe? wert ist. Samenzelle (Befruchtung) – ab der 12. Schwangerschaftswoche (bis zu diesem Zeitpunkt ist nach Erwerb eines Beratungsscheins 2. Gruppe: Eugenik ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland straf frei möglich) In Raum 1 (Der Gläserne Mensch) analysieren die Schüle- – ab der Geburt des Kindes rinnen und Schüler kritisch das Menschenbild und die aussondernde Rassenideologie der Nationalsozialisten. Dazu 2. Begründen Sie, weshalb Sie sich für Ihre Antwort gibt es in der Ausstellung historische Exponate, wie z. B. entschieden haben! Vergleichen Sie im Anschluss Ihre rassenkundliche Darstellungen, Schädelgussformen und Ergebnisse untereinander und erläutern Sie, durch die Lichtbildreihe "Vererbungslehre". welche Überlegung Sie zu Ihren Antworten gekommen und psychischen Erkrankungen – Welche Möglichkeiten gibt es, mit Begrenztheit, menschlichen Lebens wissen und ab welchem Zeit- an. Was denken Sie (jede/r für sich!), ab welchem Zeit2. Sehen Sie sich anschließend die Ausschnitte aus der – Unser Umgang mit geistigen Behinderungen sind! 3. Lesen Sie in Ihren Arbeitsmaterialien den Text "Verschiedene Definitionen für den Beginn menschlichen Lebens" und stellen Sie fest, ab welchem Zeitpunkt ein Embryo in Deutschland, in Großbritannien und im jüdischen Kulturkreis als schützenswert gilt. ... Abb. 3.1: Raum "Sexualität" 22 | Perfektionierung des Menschen Perfektionierung des Menschen | 23 Modul 3: PERFEKTIONIERUNG DES MENSCHEN 1. Gruppe: Geschichte der Perfektionierung In dieser Gruppe gewinnen die Schülerinnen und Schüler 3. Gruppe: Ethische Aspekte menschlicher Perfektion: Zusammenfassung, Abschlussrunde und Diskussion im Plenum In diesem Projekt werden verschiedene Möglichkeiten der Einblicke in den menschlichen Körper. Sie erfahren anhand Optimierung des Menschen und die daraus folgenden ethi- von Exponaten in Raum 1 (Der Gläserne Mensch), mit wel- Diskutieren Sie zunächst in Ihrer Gruppe und danach auch schen Probleme diskutiert. Aus welchen Gründen versu- chen Methoden und bildgebenden Verfahren Forscher seit im Plenum folgende Fragen (s.u.). Halten Sie die Ergebnisse chen Menschen, ihren Körper zu perfektionieren? Sollte es Jahrhunderten versuchen, das Körperinnere sichtbar zu ihrer Gruppendiskussion schriftlich fest, damit Sie Ihre Über- möglich sein, menschliche Erbsubstanz zu optimieren? Ist machen. So kann den Schülern vermittelt werden, dass die legungen und Statements für die Diskussion im Plenum es erstrebenswert, die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns Fortschritte der Medizin neue, sensationelle Möglichkeiten parat haben. Sie müssen zu keinem Konsens gelangen. und die Belastbarkeit unserer Psyche zu steigern? Und der Diagnose von Krankheiten und deren Heilung geschaf- was passiert mit den Menschen, die sich der Perfektionie- fen haben. Gleichzeitig haben diese Fortschritte aber auch rung verweigern? dazu beigetragen, die Voraussetzungen für die Arbeit an der Perfektionierung des Körpers zu erweitern. Beispielhafte Arbeitsaufgaben 1. Der Wunsch nach Korrektur und Verbesserung der Zielgruppe menschlichen Natur ist so alt wie die Menschen selbst. Mittelschulen, Berufsschulen und Gymnasien ab Klasse 9 Wie ist dieser Wunsch zu erklären? 2. Gruppe: Gibt es den perfekten Körper? Methode 2. Der heutige Wunsch vieler Menschen nach Perfek- Gruppenarbeit in der Dauerausstellung, Erarbeitung von Die Schülerinnen und Schüler befassen sich in den Räu- tionierung ist umfassender geworden: Medizinische Informationen über Betrachtung und Analyse von Me- men 4 (Sexualität), 6 (Bewegung) und 7 (Schönheit, Haut Technologien ermöglichen perfektionierende "Bau- dien (Exponate, Filme, Texte etc.) in der Ausstellung, und Haar) mit dem Schönheitsbild in unserer Gesellschaft, maßnahmen" am Körper wie z. B. in der Schönheits- Gruppenpuzzle, Diskussionsrunde mit den Möglichkeiten und Risiken der Schönheitschirurgie chirurgie. Die Hoffnung auf eine zunehmende Befrei- und schließlich auch mit der Frage, was sie selbst tun, um ung des Menschen von Krankheit und Leiden wird sich zu perfektionieren. genährt. Kann es ein Leben mit nur perfekten Körpern Rahmenbedingungen Ort: Museums-Foyer (Begrüßung), Seminarraum, Ausstellungsräume 1, 2, 4, 5, 6 und 7 und ein Leben ohne Krankheit und Leid geben? Ist Abb. 4: Ein perfektes Gesicht? Raum "Sexualität" Beispielhafte Arbeitsaufgaben solch ein Leben erstrebenswert? Zeit: 2 Stunden Teilnehmer: 6 Arbeitsgruppen aus 1. Informieren Sie sich über die Objekte in der Vitrine 3. Gibt es einen indirekten gesellschaftlichen Zwang je 3 – 5 Schülern/innen, 1 begleitende/r Lehrer/in, Ablauf in der Mitte von Raum 4 (s. Lageplan) über die Mög- nach Perfektionierung? Was passiert mit Menschen, 1 museumspädagogische/r Mitarbeiter/in Diese Veranstaltung beginnt mit einer kurzen "Blitzlicht"- lichkeiten der kosmetischen Korrekturen des Körpers. die sich diesem Druck nach Perfektionierung verwei- Fragerunde im Seminarraum, bei der die Schülerinnen und Beschreiben Sie diese. Betrachten Sie die Modelle gern? Welche ethischen Probleme könnten sich aus Material Schüler auf die Frage "Was fällt Ihnen spontan ein, wenn von Frau und Mann an der Wand, die Ihnen die Maße diesem 'Perfektionierungszwang' ergeben? Die Lehrer/innen erhalten zur Vorbereitung ein zweiseiti- Sie sich den perfekten Menschen vorstellen?" assoziativ der deutschen Durchschnittsfrau und des deutschen ges Informationsblatt über Inhalt und Ablauf der Veran- antworten. Die Antworten werden gesammelt, thematisch Durchschnittsmannes vermitteln. Warum haben Men- staltung. gebündelt und sechs Arbeitsgruppen zugeordnet. Mit Ar- schen das Bedürfnis, ihren Körper über schmerzhaf- Die Schüler/innen bringen Schreibmaterialien mit. beitsmaterial ausgestattet erarbeiten sich die Schülergrup- te Operationen scheinbar perfektionieren zu wollen? Am Beginn der Veranstaltung wird Arbeitsmaterial für die pen nun in der Dauerausstellung Hintergrundwissen und Warum ist nicht der 'normale', der 'durchschnittliche' Klassenstufen 9 –12/13 ausgegeben: Arbeitsanleitungen, Einschätzungen zu ihrem jeweiligen Expertenthema. Da- Körper das Ideal, an dem sich unsere Schönheitsvor- themenspezifische Aufgaben, Quellentexte, Sicherungs- nach trifft sich die Klasse wieder im Seminarraum, wo die stellungen orientieren? Wer formt unsere Vorstellun- bögen zur Dokumentation der Recherchen in den Aus- Gruppen neu gemischt werden (Gruppenpuzzle): Die neuen gen von Schönheit? Was ist schön? stellungsräumen, Raumübersichten/Lagepläne. Gruppen bestehen nun aus je einem Vertreter jeder ThemenArbeitsgruppe, so dass sich die Schüler in dieser Runde 2. In Raum 6 und 7 finden Sie verschiedene "Gerät- Schulfächer über ihre Expertenthemen austauschen und abschließend schaften" zur Verschönerung des Körpers, wie zum Ethik, Religion, Biologie, Geschichte, Deutsch fundiert übergeordnete Fragen besprechen können. Beispiel Trainingsgeräte oder Geräte für die Haarpflege. Wählen Sie einige aus und beschreiben Sie diese. Handelt es sich bei diesen Exponaten auch um Mittel zur Perfektionierung des Körpers? Gibt es Grenzen zwischen Gesundheitsvorsorge, Körperpflege, Verschönerung und Perfektionierung? Wenn ja, wo würden Sie diese ziehen? 24 | Perfektionierung des Menschen Sterbehilfe | 25 Modul 4: Sterbehilfe – Sterben in Würde? 4. Gruppe: Das optimierte Gehirn 6. Gruppe: Perfekter Sex, perfekte Fortpflanzung? In unserer modernen Gesellschaft lastet ein großer Druck Die Schülerinnen und Schüler informieren sich über die auf dem Einzelnen, perfekt zu funktionieren, besonders in der Analyse von ausgewählten Exponaten in Raum 4 (Se- Ausgehend von zwei authentischen Fällen und mit Unter- Arbeitswelt. Könnte der Mensch sich mit Hilfe von Drogen xualität) darüber, welche Möglichkeiten der künstlichen stützung von Exponaten und Hintergrundinformationen und Psychopharmaka geistig perfektionieren, und welche Befruchtung es heute gibt, welche Auswirkungen die aus der Dauerausstellung setzen sich die Schülerinnen und Folgen hätte dies? Mit diesen Fragen beschäftigt sich diese künstliche Befruchtung auf die Gesellschaft langfristig Schüler kritisch mit der Sterbehilfe auseinander und erar- Schülergruppe in Raum 5 (Erinnern – Denken – Lernen). haben könnte und ob Eltern ein Recht auf "perfekte" Kin- beiten sich eigene Positionen zu wichtigen Fragen: Welche der haben. Darüber hinaus erörtern sie, warum manche Formen von Sterbehilfe gibt es, und sind diese ethisch ver- Menschen versuchen, ihr Sexualleben mit Potenz- und tretbar? Hat ein Mensch am Ende seines Lebens das Recht Luststeigerungsmitteln zu verändern: Muss auch der Sex und die Willens- und Handlungsfreiheit, über seinen Tod zu zukünftig perfekt sein? entscheiden? Gibt es ethische Grenzen der Sterbehilfe? 5. Gruppe: Krankheit und Perfektionierung In Raum 2 (Leben und Sterben) machen sich die Jugendli- Abb. 6: Porträts von Verstorbenen, Raum "Leben und Sterben" chen in Grundzügen mit der Funktionsweise des menschlichen Immunsystems sowie verschiedenen krankheits- 7. Gruppe: Genetische Optimierung auslösenden und -abwehrenden Faktoren vertraut. Dabei Zielgruppe Ablauf Mittelschulen, Berufsschulen und Gymnasien ab Klasse 9 Im Seminarraum sehen die Jugendlichen Ausschnitte aus gehen sie auch der Frage nach, ob eine Welt vorstellbar Die Jugendlichen erarbeiten sich in Raum 2 (Leben und ist, in der es nur noch Gesunde und keine Kranken mehr Sterben) Informationen über die Möglichkeiten der Präna- Methode unheilbar Kranker erzählt werden, die ihren immer schlechter gibt, weil der Mensch und die Medizin so weit perfektioniert taldiagnostik und über die Chancen und Risiken verän- Fallanalyse, Gruppenarbeit in der Dauerausstellung, werdenden Zustand und den Tod vor Augen haben. Diese wurden, dass niemand mehr Krankheiten erleiden muss. derten Erbmaterials. Analyse und Betrachtung von Medien in der Ausstellung Filmausschnitte bieten Anlass für eine erste Gesprächsrun- (Exponate, Film, Medienstationen, Texte), Stationenler- de, in der die Schülerinnen und Schüler ihre Assoziationen, nen, Diskussionsrunde, Moderation Gedanken und Gefühle zum Thema Sterbehilfe austau- zwei TV-Dokumentationen, in denen die Geschichten zweier schen. Danach begeben sie sich in kleinen Arbeitsgruppen Rahmenbedingungen mit Aufgabenblättern und Quellentexten in Raum 2 (Leben Ort: Museums-Foyer (Begrüßung), Seminarraum, und Sterben) der Dauerausstellung. Dort erarbeiten sie sich Ausstellungsraum 2 an sieben verschiedenen Stationen Hintergrundwissen, um Zeit: 2 Stunden im Anschluss im Plenum über ethische Aspekte der Sterbe- Teilnehmer: bis zu 7 Arbeitsgruppen aus hilfe und des Sterbens in Würde zu debattieren. Dabei spie- je 3 – 4 Schülern/innen, 1 begleitende/r Lehrer/in, len auch rechtliche, medizinische und soziale Komponenten 1 museumspädagogische/r Mitarbeiter/in eine Rolle. Als Anstoß und Auftakt zu dieser Schlussdiskussion schauen sich die Jugendlichen weitere Ausschnitte aus Material den beiden Filmdokumentationen an: Während einer der Die Lehrer/innen erhalten zur Vorbereitung ein zweiseiti- beiden Männer sein Leben mit der Krankheit bis zum Ende ges Informationsblatt über Inhalt und Ablauf der Veran- leben möchte, erwägt der andere für sich die Möglichkeit staltung. des assistierten Suizids. Die Schüler/innen bringen Schreibmaterialien mit. Am Beginn der Veranstaltung wird Arbeitsmaterial für die Klassenstufen 9 –12/13 ausgegeben: Arbeitsanleitungen, themenspezifische Aufgaben, Quellentexte, Laufzettel zur Dokumentation der Recherchen in den Ausstellungsräumen, Raumübersichten/Lagepläne. Schulfächer Ethik, Religion, Deutsch, Gemeinschaftskunde/Recht/ Abb. 5: Idealfiguren? Raum "Sexualität" Wirtschaft 26 | Sterbehilfe Künstliche Fortpflanzung | 27 Modul 3: KÜNSTLICHE FORTPFLANZUNG 1. Station: In Würde sterben 3. Station: Wann ist ein Mensch tot? An der ersten Station betrachten die Schülerinnen und An der Medienstation "Was geschieht, wenn der Mensch Schüler Porträts von verstorbenen Menschen. Die fünf aus- stirbt?" erfahren die Schülerinnen und Schüler, dass sich Wie sieht die Zukunft der Sexualität aus, wenn Kinder im gestellten Fotografien aus dem Zyklus "Visages de Morts – der Tod eines Menschen nicht von einer Sekunde auf die Reagenzglas gezeugt werden können? Wird Sex zu Fort- Der ewige Schlaf" von Rudolf Schäfer sind Ausgangspunkt andere vollzieht, sondern dass Sterben ein Prozess ist, in pflanzungszwecken künftig überflüssig? Wird es Familien, für erste Überlegungen über das Bild des Todes und die dessen Verlauf die verschiedenen Körperfunktionen nach so wie wir sie kennen, bald nicht mehr geben? Diese und Bedeutung des Lebensendes. und nach erlöschen. Wann also ist ein Mensch wirklich tot? viele andere Fragen werden im Projekt problematisiert, von Welche Kriterien gibt es, und welche ethischen Fragestel- den Schülerinnen und Schülern mit Hilfe der Exponate und lungen ziehen sie nach sich? Diskutiert werden unter an- Informationen in den Ausstellungsräumen 2 (Leben und derem lebensverlängernde Maßnahmen, Wiederbelebung Sterben) und 4 (Sexualität) untersucht und im Rahmen ei- sowie Organspenden und -transplantationen. ner Podiumsdiskussion diskutiert. Beispielhafte Arbeitsaufgaben Betrachten Sie die Fotografien in der Vitrine. Beispielhafte Arbeitsaufgaben 1.Was assoziieren Sie mit diesen Fotos? Zielgruppe 2.Woran denken Sie, wenn Sie sich ein "Sterben in Begeben Sie sich zu der Medienstation Würde" vorstellen? "Wann ist ein Mensch tot?" (s. Lageplan): Mittelschulen, Berufsschulen und Gymnasien ab Klasse 9 Methode 1. Finden Sie heraus, ab welchem Zeitpunkt ein Rollenspiel, Gruppenarbeit in der Dauerausstellung, Be- Mensch heute als tot bezeichnet wird. trachtung und Analyse von Exponaten, Podiumsdiskus- 2. Station: Hospizbewegung und Palliativmedizin sion. Die Rolle des Moderators ist während der freien 2. Aus welchen Gründen ist für die heutige Medizin Gruppenarbeit in der Dauerausstellung für den Lernpro- An der zweiten Station geht es für die Jugendlichen um der Hirntod das Todeskriterium? Ab welchem Zeit- zess sehr wichtig. die Frage nach den Bedürfnissen Sterbender, um Sterbe- punkt ist für Sie persönlich ein Mensch tot? Abb. 7: Ist Sex bald überflüssig? Raum "Sexualität" Ablauf begleitung, um Schmerzlinderung und um Menschenwür- Rahmenbedingungen Die Veranstaltung beginnt im Seminarraum. Bei einem de am Lebensende. Sie befassen sich mit Exponaten und Ort: Museums-Foyer (Begrüßung), Seminarraum mit Brainstorming ("Was fällt Ihnen zum Thema 'Künstliche Podium, Ausstellungsräume 2 und 4 Fortpflanzung' ein?") werden Stichworte gesammelt, z.B. zu Zeit: 2 Stunden den Themen unerfüllter Kinderwunsch, Wege der Befruch- Teilnehmer: 7 Arbeitsgruppen aus je 2 – 5 Schülern/in- tung, Invitrofertilisation, Chancen und Risiken künstlicher Zusätzlich zu den genannten drei Stationen können noch nen, 1 begleitende/r Lehrer/in, Befruchtung, Pränataldiagnostik, Embryonenschutzgesetz die folgenden Themen behandelt werden: 1 museumspädagogische/r Mitarbeiter/in etc. Danach gehen die Teilnehmer/innen in die Ausstellung, Sterben als einen normalen Prozess an. Sie will den – Grenzfälle: Möglichkeiten und Dilemmata der Material ziologen, Sexualwissenschaftler, Juristen und Philosophen Tod weder beschleunigen noch hinauszögern. Die Pal- Die Lehrer/innen erhalten zur Vorbereitung ein zweiseiti- Hintergrundinformationen, auch zu den rechtlichen und liativmedizin stellt die Linderung von Schmerzen und – Gesetzeslage: Juristische Aspekte der ges Informationsblatt über Inhalt und Ablauf der Veran- ethischen Aspekten der künstlichen Fortpflanzung, erarbei- anderen Beschwerden in den Vordergrund, integriert staltung. ten. Abschließend treffen sich die Jugendlichen zu einer Po- die psychischen und spirituellen Bedürfnisse und bie- – Lebensverlängernde Maßnahmen: Das Recht Die Schüler/innen bringen Schreibmaterialien mit. diumsdiskussion wieder im Seminarraum. Ein Vertreter jeder tet ein System der Unterstützung an, damit das Leben Informationen aus der Hospizbewegung und der Palliativmedizin. Quellentext Weitere Themen wo sie sich in verteilten Rollen als Patienten, Mediziner, So- "Die Palliativmedizin bejaht das Leben und sieht das Intensivmedizin Sterbehilfe Am Beginn der Veranstaltung wird Arbeitsmaterial für Gruppe begibt sich auf das Podium, wo er die erarbeiteten der Patienten bis zum Tod so aktiv wie möglich sein die Klassenstufen 9 –12/13 ausgegeben: Arbeitsan- Positionen aus seiner Sicht vertritt und zur Diskussion stellt. kann." leitungen, themenspezifische Aufgaben, Quellentexte, Ein oder zwei der Schülerinnen und Schüler begleiten die (Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V., Checkliste für die Präsentation, Raumübersichten/Lage- Diskussion als Moderator/en. Dabei sind Fragen und Beiträ- www.hospiz.net/pal) pläne. ge aus dem Publikum zugelassen und erwünscht. auf Leben im Konflikt mit der Menschenwürde? Schulfächer Ethik, Religion, Biologie, Gemeinschaftskunde/Recht/ Wirtschaft, Deutsch 28 | Künstliche Fortpflanzung 1. Gruppe: Unerfüllter Kinderwunsch aus Patientensicht Evaluation | 29 3. Gruppe: Die soziologische Perspektive: Soziale und gesellschaftliche Auswirkungen der Reproduktionsmedizin Evaluation Ergebnisse Die Teilnehmer/innen dieser Gruppe übernehmen die Rolle Anhand der in Raum 4 (Sexualität) ausgestellten Schaubil- Das Projekt "Wie wollen wir leben? Ethische Debatten im gesamt zugenommen hat. Anzumerken ist, dass bei denje- eines Ehepaars, dessen Kinderwunsch mit Hilfe künstlicher der und Objekte zu Alterspyramiden, Geburtenraten und Museum" wurde vom Institut für Empirische Sozialfor- nigen, die sich vorher kaum für biomedizinische Themen in- Befruchtung erfüllt wurde. Welche Beweggründe könnte es sich verändernden Familienkonstellationen beschäftigt sich schung der Technischen Universität Dresden wissenschaft- teressierten, eine größere Interessenssteigerung zu messen für ein Paar geben, diesen Weg zu gehen? die Gruppe der Soziologen mit den möglichen gesamtge- lich evaluiert. Ziel der Evaluation war es herauszufinden, ob war als bei denjenigen, die schon ein hohes Ausgangsinter- sellschaftlichen Auswirkungen der neuen Fortpflanzungs- es dem Projekt gelingt, bei Jugendlichen Interesse an bio- esse mitbrachten. techniken. ethischen Fragestellungen zu wecken und ihre moralische Beispielhafte Arbeitsaufgaben 1. Schauen Sie sich den Film "Sehnsucht nach einem Kind" am Ende von Raum 4 (s. Lageplan) an. Welche Weitere Themen körperlichen und psychischen Auswirkungen hatten Urteilsfähigkeit in medizinethischen Fragen zu fördern. Als Bei der moralischen Urteilskompetenz der Schülerinnen Erhebungsverfahren wurden die standardisierte Befragung und Schüler konnten nur geringe Steigerungen gemessen zur Messung der Prozess- und Ergebnisqualität sowie die werden. Die Gründe dafür sind naheliegend, denn diese teilnehmende Beobachtung eingesetzt. Die Prozessquali- Variable ist mit festen Einstellungs- und Persönlichkeits- die Behandlung und die künstliche Befruchtung auf Je nach Größe der Klasse können weitere Gruppen tät, die die Qualität der Lehrveranstaltungen erfasst, wurde strukturen verknüpft, die sich nur schwer innerhalb kurzer die Frau? Wie hat sich die Beziehung des Paares ver- beispielsweise zu den folgenden Themen gebildet werden: durch einen Fragebogen am Ende der Veranstaltung ermit- Zeit verändern lassen. ändert? telt. Die Ergebnisqualität, die den Lernerfolg der Teilneh– Die sexualwissenschaftliche Perspektive: merinnen und Teilnehmer zeigt, wurde mit einer schriftlichen Die Prozessqualität wurde insgesamt sehr positiv bewertet. 2. Betrachten Sie anschließend die Objekte in der Vi- Befragung zur moralischen Urteilsfähigkeit erhoben. Eine Die Rahmenbedingungen für das Gelingen einer Veranstal- trine "Kinder ohne Sex" und lesen Sie die Texte dazu. – Die juristische Perspektive: Das Embryonen- Kontrollgruppe stellte die Ergebnisse der Projekte als Ver- tung zur Förderung sozialer Kompetenzen wurden in fast al- Versetzen Sie sich in eine Person hinein, die sich für schutzgesetz und andere rechtliche Aspekte der gleichsgruppe sicher. len aufgeführten Punkten erfüllt. die künstliche Fortpflanzung entscheidet. Verglei- Reproduktionsmedizin chen Sie eventuell mit dem natürlichen Weg der Be- – Die philosophische Perspektive: Ethische Hinsichtlich der Ergebnisqualität wurde in der Evaluation Insgesamt 80 Prozent der Befragten haben sich in den Ver- fruchtung (Vitrine dazu: "Befruchtungsvorgang"). Was Überlegungen zum Umgang mit befruchteten Eizellen festgestellt, dass das Interesse an den behandelten Themen anstaltungen wohl gefühlt. 60 Prozent bewerteten sie all- könnte diese Personen bewogen haben, sich für eine und künstlich gezeugten Embryonen des Projektes bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ins- gemein mit "sehr gut" und "gut". 71 Prozent würden sie an Sexualität, Intimität und künstliche Fortpflanzung künstliche Befruchtung zu entscheiden? Mit welchen Komplikationen müssen sie eventuell rechnen? Moderation Die beiden Moderatoren/innen nehmen eine Sonderrolle 2. Gruppe: Die medizinische Perspektive: Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin ein: Ihre Hauptaufgabe ist es, die in den Ausstellungseinheiten dargestellten Themen und Sichtweisen überblicksartig zu erfassen, um das Podiumsgespräch begleiten und Die Gruppe der Ärzte erarbeitet sich in den Räumen 2 (Le- strukturieren zu können. Für die Anmoderation und als ben und Sterben) und 4 (Sexualität) medizinisches und Hintergrundinformation erhalten sie einen Text aus dem medizinethisches Grundwissen über die natürliche und die im Jahr 2000 erschienenen Buch des Evolutionsbiologen künstliche Fortpflanzung. Dabei geht es um Ursachen und Robin Baker "Sex im 21. Jahrhundert. Der Urtrieb und die Behandlungsmöglichkeiten von Fruchtbarkeitsstörungen moderne Technik." und um verschiedene Techniken der künstlichen Befruchtung wie der Invitrofertilisation. Ausstellungsstationen sind hier unter anderem die Medienstationen zur "Pränataldiagnostik" in Raum 2 und zur "Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI)" in Raum 4 sowie die Informationen über Eizell- und Spermienreifung am Elektronenmikroskop in Raum 2. Abb. 8: Die Beurteilug der besuchten Veranstaltungen nach Schulform gesplittet, alle Angaben in Prozent. Tabelle: Technische Universität Dresden 30 | Evaluation | 31 Freunde und Bekannte weiterempfehlen. Allerdings spra- Wichtig bei der Beurteilung der Projekte war für die Teilneh- chen eher die weiblichen (77 Prozent) als die männlichen merinnen und Teilnehmer das subjektive Gefühl, bei der Er- Veranstaltungsteilnehmer (60 Prozent) eine Weiterempfeh- arbeitung der Themen Freiräume zu haben und eigene Ent- lung aus. scheidungen treffen zu können. Ein Mitspracherecht bei der Wahl des Projektthemas oder der Gruppenaufteilung kann Den größten Einfluss auf die Bewertung nahm die Schulform den Verlauf der Veranstaltung positiv beeinflussen. ein: Während die Veranstaltung den meisten Schülerinnen und Schülern aus den Gymnasien und den Berufsschulen Dennoch sollte durch die Lehrerin oder den Lehrer eine sorg- alles in allem sehr gut und gut gefallen hat, gaben das nur 40 fältige Vorauswahl des Themas getroffen werden, da die In- Prozent der Mittelschülerinnen und -schüler an. Aus diesem halte der fünf Projekte nicht für alle Schulklassen gleich gut Grund ist es sinnvoll, die Projekte speziell für die Zielgruppe geeignet sind. Es ist zu empfehlen, bei der Themenauswahl Mittelschule und altersspezifisch differenziert zu überarbei- das unterschiedliche Vorwissen und Interesse je nach Alter ten und für Lehrerinnen und Lehrer, die das Projekt für eine und Schulart und auch die individuellen Lebenserfahrungen Schulklasse buchen wollen, Fortbildungen anzubieten. der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen. Eine positive Gesamtbilanz konnte hinsichtlich der Bewertung von Inhalt, Aufbau und Durchführung gezogen werden. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben die Veranstaltungen als klar strukturiert und die Inhalte als verständlich und angemessen wahrgenommen. Festzuhalten ist auch, dass die Veranstaltungsreihe gemäß der konzeptionellen Vorgabe dialogorientiert ausgerichtet ist, wobei die Mehrheit die Rolle der Veranstaltungsleiter positiv beurteilte. Dieses Fazit wurde durch die Ergebnisse der Beobachtung gestützt. Empfehlungen für Lehrerinnen und Lehrer Ebenso wie die thematische Vorbereitung ist auch eine Nachbereitung der Veranstaltung im folgenden Unterricht sehr zu empfehlen. Damit können die Lehrerinnen und Lehrer auf das gewachsene Interesse an den angesprochenen Themen eingehen ebenso wie auf den Wunsch der Schülerinnen und Schüler, mehr Zeit für die Diskussion zu haben. Es wäre außerdem sinnvoll, für die Klassen, die das Deutsche Hygiene-Museum noch nicht kennen, im Anschluss an die Veranstaltung genügend Zeit für die eigene Erkundung der Ausstellung einzuplanen. Diesen Wunsch hatten viele Schülerinnen und Schüler geäußert. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die erwünschte Passivität der Lehrerinnen und Lehrer während der Veranstaltung, die sich auf das Verhalten der Schülerinnen und Schüler in den Diskussionsrunden positiv auswirkt. Sowohl die aktive Teilnahme der Lehrer an der Debatte als auch eine Notengebung im Museum kann die Schülerinnen und Schüler bei der Präsentation ihrer Arbeitsergebnisse und der freien Meinungsäußerung behindern. Anhang Philosophische Einführung | 33 Theda Rehbock Allgemeine philosophische Einführung in das Thema "Ethik, Moral und Medizin" Die Ethik ist eine Disziplin der Philosophie und lässt sich Trotzdem ist es wichtig, beide Aspekte der Ethik, das Wollen allgemein als kritische Reflexion von Fragen, Problemen, und das Sollen, genau zu unterscheiden. Die Frage "Was Normen und grundlegenden Orientierungen des guten soll ich tun?" stellt sich uns tagtäglich. Nicht immer handelt oder richtigen Lebens und Handelns charakterisieren. So es sich dabei (unmittelbar) um eine moralische Frage, un- verstanden ist sie, wie das Philosophieren überhaupt, nicht mittelbar beschäftigen uns meist eher technische, pragma- nur eine Angelegenheit für Fachphilosophen, sondern eine tische, rechtliche oder therapeutische Fragen, zum Beispiel: allgemein menschliche Tätigkeit und Aufgabe. "Die Phi- Was soll ich tun, um wieder gesund zu werden, um die Prü- losophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit" schreibt fung zu bestehen, um mit den Gesetzen nicht in Konflikt zu Ludwig Wittgenstein.11 geraten oder um im Leben weniger frustriert zu sein? Diese Fragen setzen voraus, dass ich etwas Bestimmtes will, ein In der Philosophie wird heute unterschieden zwischen der bestimmtes Ziel habe und nach dem richtigen Weg oder Ethik im Sinne einer Philosophie der Moral, die vor allem Mittel suche, um es zu erreichen. Dieses Sollen ist daher von Immanuel Kant begründet wurde, und der Ethik im Sin- nur ein bedingtes Sollen, abhängig vom jeweiligen Ziel, ne einer Philosophie des guten Lebens oder der Lebens- das ich mit meinem Handeln erreichen will. kunst, deren Anfänge in die antike Philosophie (Platon, Aristoteles, Epikur, Seneca u.a.) zurückreichen. Während die Eine moralische Frage wäre dagegen zum Beispiel: Soll ich, Grundfrage der Ethik im Sinne der Moralphilosophie Kant als Ärztin, einem schwerkranken Patienten die Wahrheit zufolge lautet: "Was soll ich tun?" besteht die Grundfra- über seinen Zustand sagen, wenn ich befürchten muss, ge einer Ethik des guten Lebens darin: "Was will ich tun?" dass er sie nicht verkraftet und sein Zustand sich dadurch oder "Wie will ich leben?" Oder weniger individualistisch aller Voraussicht nach verschlimmert? Oder darf, ja muss formuliert: "Wie wollen wir leben?" Die ethischen Debatten ich auf Grund meiner Verantwortung und Fürsorgepflicht seit den 1970er Jahren haben deutlich gemacht, dass bei- ihm diese Wahrheit verschweigen? Darf, ja soll ich dies de Fragen und damit beide Formen von Ethik miteinander auch dann tun, wenn der Patient explizit nach der Wahrheit zu verknüpfen sind, wenn wir die konkreten praktischen fragt? Wie dieses Beispiel zeigt, handelt es sich bei morali- Fragen und Probleme, zum Beispiel der Medizinethik, klä- schen Fragen oft um Konflikte oder Dilemmata. Einerseits ren und bewältigen wollen. Wenn wir wissen wollen, wie wir haben wir gelernt, dass wir nicht lügen dürfen. Andererseits mit kranken, sterbenden, behinderten oder alten Menschen haben wir ebenso gelernt, dass wir gegenüber einem Men- umgehen sollen, dann müssen wir klären, wie wir selbst schen, der sich in einer Notlage befindet, die Pflicht haben, in Situationen des Krankseins, des Sterbens, der Behin- ihm zu helfen. Wir können also in Situationen geraten, in derung und des Altseins und Älterwerdens leben wollen denen die Erfüllung einer Norm oder Pflicht, hier die Pflicht und was "Grenzsituationen" des menschlichen Lebens für zur Wahrhaftigkeit, geradezu notwendigerweise, einher- das Menschsein bedeuten. Eine Einsicht des Philosophen geht mit der Verletzung einer anderen Norm oder Pflicht, Karl Jaspers, der diesen Begriff der Grenzsituation geprägt hier der Pflicht zur Hilfe oder Fürsorge. Darin besteht der hat, besteht darin, dass uns diese besonderen Situationen Konflikt oder das Dilemma (Zwangslage). des Lebens auf die Endlichkeit – Begrenztheit, Sterblichkeit, Bedürftigkeit, Verletzlichkeit usw. – der menschlichen Von ähnlicher Art ist auch das in der gegenwärtigen Ethik Grundsituation aufmerksam machen und uns dazu veran- viel diskutierte Problem des Paternalismus. Es ist einer- lassen, diese Grundsituation insgesamt als Grenzsituation seits ein allgemein anerkannter Grundsatz, vor allem der zu begreifen. 12 modernen Ethik seit der Aufklärung, dass jeder Mensch das Recht und die Freiheit hat, sein Leben autonom (selbstbestimmt), nach seinen eigenen Vorstellungen von einem 11 12 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 4.111. Vgl. Karl Jaspers, Philosophie II. Existenzerhellung, München 1954, Kap. 7. Kurzfassung in: Karl Jaspers, Was ist der Mensch?, ed. Hans Saner, München/Zürich 2003, S.231– 239. Vgl. dazu auch Theda Rehbock, Personsein in Grenzsituationen. Beiträge zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns, Paderborn 2005, Kap. I. guten oder glücklichen Leben zu gestalten, ohne sich von anderen Menschen, wie ein Kind durch seine Eltern, bevormunden und Vorschriften machen zu lassen, solange nicht die Freiheit anderer Menschen dadurch eingeschränkt wird. 34 | Philosophische Einführung Philosophische Einführung | 35 (Das ist insbesondere ein Grundsatz des politischen Libe- durch vorgeburtliche medizinische Diagnostik, die immer Charakteristisch für moralische Fragen ist, dass sie sich schriebener, sozialer Normen, die uns durch Erziehung und ralismus, der in John Stuart Mills Schrift On Liberty (1859), weiter entwickelt und verfeinert wird, festgestellt werden auf Normen oder Pflichten sowie ihnen zugrunde liegen- kulturelle Praxis vermittelt werden. Wir haben mit sozia- aber auch von Kant in seinen Schriften zu politischen Phi- kann, ob das Kind behindert ist, welches Geschlecht und de ethische Prinzipien beziehen, die das Verhältnis zum len Sanktionen zu rechnen, wenn wir uns nicht an diese losophie, z.B. in der bekannten kleinen Schrift Was ist Auf- welche möglicherweise anderen Eigenschaften es haben Anderen, das Zusammenleben der Menschen regeln, wie Normen halten. Doch die bloße Tatsache, dass bestimmte klärung? (1784) verteidigt wird.) Andererseits kann jeder wird, oder wenn durch künstliche Befruchtung Embryonen etwa das Lügenverbot oder das Recht auf Selbstbestim- Normen allgemein anerkannt sind und sanktioniert werden, Mensch, vor allem durch Krankheit, in die Lage geraten, außerhalb des Mutterleibes im Reagenzglas erzeugt, dann mung. Im Unterschied zu nicht-moralischen Normen gelten ist kein hinreichender Grund dafür, dass sie tatsächlich nicht oder nur fähig zu sein, rational begründete Entschei- möglicherweise vernichtet oder zu Forschungszwecken sie universal, das heißt: für alle Mitglieder einer Gemein- gut und richtig sind. Man denke etwa an die Gesetze von dungen zu seinem eigenen Wohl zu treffen. Kann es dann verwendet werden. schaft bzw. für alle Menschen, sowie unbedingt, das heißt: Unrechtsstaaten, an Sklaverei, Folter und die Ungleichbe- unter Umständen gerechtfertigt, ja sogar notwendig sein, unabhängig von meinen individuellen Handlungszwecken handlung von Minderheiten. Regeln und Praktiken, die frü- zu seinem eigenen Wohl, auch gegen seinen Willen oder Um eine vergleichbare konflikthafte Grenzsituation handelt oder Lebenszielen.13 Dass ich in einem Studium Prüfungen her als richtig galten, werden heute verurteilt. Das gleiche Widerstand, etwas für ihn zu tun, zum Beispiel durch eine es sich am Ende des Lebens, wenn ein schwer kranker ablegen soll, ist davon abhängig, dass ich mit diesem Stu- gilt für ein ärztliches Standesethos, das über der Fürsorge lebensrettende Operation, zwangsweise Einweisung in eine und leidender Mensch einen Freund oder einen Arzt darum dium ein bestimmtes Lebensziel erreichen möchte, zum für das (vermeintliche) Wohl des Patienten dessen Recht psychiatrische Klinik oder ähnliches? Hier steht das Recht bittet, ihm bei der Beendigung seines Lebens, etwa durch Beispiel Ärztin zu werden, und das ist nicht von allen Men- auf Selbstbestimmung vernachlässigt. auf Achtung der Autonomie ebenfalls gegen die Verpflich- Beschaffung eines geeigneten Medikamentes, zu helfen schen, sondern nur von denen zu verlangen, die Ärzte wer- tung zur Hilfe und Fürsorge. (Beihilfe zum Selbstmord, assistierter Suizid) oder ihn wo- den wollen. Dass ich nicht lügen, das Leben, die Selbstbe- Herrschende Normen bedürfen also der Begründung oder möglich aktiv zu töten, wenn sein Leiden anders nicht zu stimmung und Würde anderer Menschen achten soll, das Rechtfertigung, und unter Umständen der Kritik. Nur un- Weitere, heute viel diskutierte moralische Probleme stellen lindern ist. Hier stellt sich die Frage, ob das Tötungsverbot ist von mir wie von jedem anderen schlechthin zu fordern. ter dieser Voraussetzung besteht die Möglichkeit, sie nicht sich am Anfang und Ende des Lebens. Im Fall der Diskus- durch das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen auf- Doch mit welchem Recht können Normen einen so starken nur aus Angst vor Strafe oder vor der Missbilligung der sion über den Schwangerschaftsabbruch stellt sich die gehoben werden kann. Geltungsanspruch erheben? Das bedarf der Begründung Mitmenschen, und damit letztlich nur aus Eigeninteresse, und Rechtfertigung. sondern aus eigener Überzeugung und auf Grund vernünf- Frage, ob das Recht auf freie Selbstbestimmung schwerer wiegen kann als das Tötungsverbot bzw. das Recht Es kann aber auch sein, dass wir eine herrschende Praxis auf Leben. Das ist normalerweise nicht der Fall. Wir dür- oder bestimmte Verhaltensweisen als moralisch kritikbe- Die Aufgabe der philosophischen Ethik bzw. der philoso- tigste Unterschied zwischen Moral und Recht, der sowohl fen niemanden töten, weil er oder sie unsere Freiheit be- dürftig ansehen. Ein paternalistisches Verhalten von Ärz- phischen Reflexion besteht nicht (unmittelbar) in der Beant- in heutigen ethischen Debatten als auch in der Praxis oft hindert, vom Grenzfall der Notwehr in lebensbedrohlicher ten, das sie an der Stelle und für das Wohl ihrer Patienten wortung oder Lösung moralischer Fragen und Konflikte der vernachlässigt wird. Eine rechtliche Regelung der medizi- Lage einmal abgesehen. Zu fragen ist aber, ob bzw. inwie- – ohne diese zu informieren und ihre Zustimmung einzuho- genannten Art, sondern in der Klärung und Rechtfertigung nischen Praxis – zum Beispiel durch die gesetzliche Fest- fern zu Beginn des Lebens für die Mutter bzw. die Eltern len, und unter Umständen sogar gegen deren Willen – über der dafür maßgebenden Normen und Prinzipien. In diesem legung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen oder in Beziehung zu ihrem ungeborenen Kind eine besondere medizinische Maßnahmen entscheiden lässt, wurde lange Zusammenhang ist es von besonderer Bedeutung, drei durch die Forderung der "aufgeklärten Zustimmung", des Art von Grenzsituation vorliegt, die eine solche Einschrän- Zeit als selbstverständlich angesehen. Aus heutiger medi- Ebenen der Reflexion voneinander zu unterscheiden: informed consent, als notwendige Voraussetzung medizi- kung oder Aufhebung des Tötungsverbotes rechtfertigen zinethischer Sicht gilt dieses Verhalten als in hohem Maße könnte. Hierfür wird meist mit dem noch wenig entwickel- kritikbedürftig. Es wird dagegen das Recht des Patienten 1. konkrete moralische Urteile, bezogen auf einzelne ten Zustand des Menschen als Embryo oder Fötus und mit auf Autonomie, auf eine selbstbestimmte Entscheidung der besonders engen leiblichen Beziehung des Kindes zur und auf die dafür notwendige Information und Aufklärung 2. inhaltlich bestimmte Normen oder Pflichten, die das diese Weise kommt es in der Praxis zur so genannten "De- Mutter argumentiert. In diesem Zustand ist, so scheint es, durch den Arzt eingeklagt, das in Form der Forderung ei- fensivmedizin": Maßnahmen und Handlungen werden nur das Kind noch gar keine Person, kein Rechtssubjekt, dem ner "aufgeklärten Zustimmung" oder des informed consent 3. formale Grundbegriffe oder Prinzipien, als Maßstab durchgeführt, um die gesetzlichen Bestimmungen zu erfül- man ein Recht auf Leben zuschreiben könnte – so lautet auch im Medizinrecht verankert ist. oder Kriterium für die Beurteilung konkreter Normen, len und Sanktionen zu vermeiden, aber nicht zum Wohle Regeln usw. oder im Interesse des Patienten, unter Umständen sogar eine, allerdings sehr umstrittene, Position. Gegenpositi- tiger Einsicht zu befolgen. Darin besteht der vielleicht wich- nischer Maßnahmen – nützt gar nichts, wenn Ärzte diese Handlungen oder Situationen Handeln und Urteilen regeln Gesetze nicht aus eigener Überzeugung befolgen, sondern als Fremdbestimmung und äußeren Zwang ansehen. Auf onen, die schon den Embryo als moralische Person, das Die moralischen Problemlagen und Konflikte, mit denen sich heißt als Subjekt moralischer Rechte mit Anspruch auf die ethischen Debatten am Deutschen Hygiene-Museum Zu den Normen oder Pflichten zählen zum Beispiel das Achtung seiner Würde ansehen, argumentieren meist für vor allem befassen, werden heute dem Bereich der Medizi- Lügenverbot, das Tötungsverbot oder die Verpflichtung Für die Rechtfertigung oder Kritik herrschender moralischer ein striktes Verbot all dieser Praktiken. Eine dritte mögli- nethik oder Bioethik als einer "Bereichsethik" zugeordnet. zur Hilfe in Notlagen. Sie haben zum Teil die Form kodi- und rechtlicher Normen bedarf es übergeordneter Maßstä- che Position könnte darin bestehen, am personalen Status Ähnlich wie in der "Wirtschaftsethik", "Medienethik" oder fizierter rechtlicher oder institutioneller Regelungen, wie be oder Kriterien, diese Rolle erfüllen die grundlegenderen jedes Menschen – auch des Embryos, des Verstorbenen "politischen Ethik" bezieht sich hier die ethische Reflexi- etwa die Verbote zu töten oder zu stehlen, oder auch wie formalen Grundbegriffe oder Prinzipien etwa der Autono- usw. – festzuhalten, für die Bestimmung konkreter Ver- on auf einen bestimmten Lebens- oder Praxisbereich, in standesrechtliche Normen, etwa der Gesundheitsberufe. mie, der Menschenwürde, der Person, der Fürsorge usw. pflichtungen, Verbote usw. aber immer die Besonderheit dem sich praktische Probleme und moralische Konflikte in Wir haben mit rechtlichen Sanktionen zu rechnen, wenn Dabei handelt es sich um begriffliche Instrumente der phi- der konkreten Situation des Menschen zu berücksichtigen. besonderer Weise stellen. Die zugrunde liegenden norma- wir gegen sie verstoßen. Viele dieser Normen, wie etwa losophischen Reflexion, die dazu dienen, den allgemeinen Der Verstorbene zum Beispiel hat natürlich kein Recht auf tiven Prinzipien und Orientierungen – wie etwa Autonomie, das Lügenverbot, haben aber auch nur die Form unge- Orientierungsrahmen moralischen Handelns und Urteilens Leben mehr, aber sehr wohl das Recht auf Respektierung Wahrhaftigkeit, Fürsorge, Verantwortung, Gewissen usw. – seines "letzten Willens", eine angemessene Bestattung sind aber allgemeinerer Natur. Eine kritische Klärung und oder Schutz gegen Verleumdung. Reflexion dieser grundlegenden Begriffe – angesichts der konkreten Problemlagen verschiedener Lebensbereiche – Zu Beginn des Lebens stellt sich die Frage nach dem moralischen Status der Person in besonderer Weise, wenn ist Aufgabe der allgemeinen philosophischen Ethik. zu seinem Nachteil und Schaden. offenzulegen. Dieser Rahmen liegt nicht ein für allemal fest. Ihn in seiner Bedeutung für die menschliche Praxis kritisch 13 Dieser universale und unbedingte Geltungsanspruch moralischer Normen ist einerseits in der philosophischen Ethik weithin anerkannt, wird aber seit der Antike, unter Hinweis auf die individuelle und kulturelle Relativität moralischer Normen, auch immer wieder bestritten. Vgl. Robert Spaemann, "Philosophische Ethik, oder: Sind Gut und Böse relativ?", in: ders., Moralische Grundbegriffe, 41991, 11– 23. zu klären, ist vielmehr eine permanente Aufgabe philosophischer Reflexion der Moral, wozu es unterschiedliche theoretische Ansätze und Beiträge gibt, die unterschiedliche Aspekte von Moral aufweisen. 36 | Philosophische Einführung Philosophische Einführung | 37 Den Menschenrechten im politischen Bereich entsprechen det sich für die einen ein ziemlich rigoristisches Verbot, cher Lebenslagen, auch zum Beispiel auf die Situation des heute auch in der philosophischen Ethik wieder zuneh- in der Medizinethik die von Tom L. Beauchamp und James für die anderen die Forderung nach weitgehender Libe- Verstorbenen, anwenden. Es kommt nur darauf an, die Si- mend die Einsicht durch, und zwar auch unter Rückgriff Childress in ihrem Standardwerk The Principles of Biomedi- ralisierung umstrittener medizinischer Praktiken der Ster- tuation des Verstorbenen oder des Menschen im Zustand auf die antike Ethik des guten Lebens, dass es gewisse cal Ethics (2008) formulierten vier Prinzipien: behilfe, Abtreibung, Embryonenforschung usw. des Komas oder der Demenz im Kontext seines gesamten notwendige, allgemeine Bedingungen gibt, die erfüllt sein Lebens zu betrachten und zu fragen, was im Interesse, im müssen, damit von einem guten und gelingenden mensch- 1. Achtung der Autonomie (respect for autonomy), In diesem Zusammenhang werden drei Aspekte der Prob- Sinne oder nach dem Willen des Verstorbenen ist. Eben so lichen Leben – und so auch von einem guten und gelingen- 2. Nicht-Schaden (non-maleficence), lematik oft zu wenig beachtet oder verkannt:17 zu fragen und handeln bedeutet, ihn als Person und seine den Umgang mit Krankheit, Behinderung, Alter, Sterben moralischen Rechte zu respektieren. Aktuelle Willensäuße- und Tod – gesprochen werden kann. Dazu bedarf es einer 1. Die medizinethischen Probleme betreffen in der Regel Si- rungen sind natürlich hilfreich, aber keineswegs der einzig anthropologischen Reflexion der Moral. So wie rechtli- tuationen des menschlichen Lebens am Anfang und Ende mögliche Anhaltspunkt dafür, was dem Willen eines Men- che Regelungen der moralphilosophischen Reflexion und In modifizierter Form sind diese und ähnliche Prinzipien des Lebens, die auch in diesem Sinne als Grenzsituatio- schen gemäß ist. Frühere schriftliche Äußerungen, verläss- Kritik mittels moralischer Prinzipien bedürfen, so sind diese nicht nur für den Arztberuf, sondern für sämtliche Gesund- nen zu begreifen sind. Daraus folgt, dass hier die genann- liche Mitteilungen von Angehörigen, Lebensgewohnheiten Prinzipien ihrerseits in einem größeren anthropologischen 3. Wohltun, Fürsorge (beneficence), 4. Gerechtigkeit (justice). 14 In ethischen Fallbesprechungen und ten ethischen Prinzipien nicht mit gleicher Eindeutigkeit oder auch allgemeine Üblichkeiten, z.B. einer angemesse- Kontext der menschlichen Grundsituation ethisch zu inter- medizinethischen Debatten ist es notwendig, sich immer anzuwenden sind wie in Normalsituationen menschlichen nen Beerdigung und einer respektvollen Behandlung, sind pretieren und zu reflektieren. wieder auf diese höchsten Gesichtspunkte der Moral zu Lebens. Wir wissen im Normalfall, was es heißt, das Le- nur einige weitere mögliche Anhaltspunkte. Im Falle von beziehen, um die spezifische moralische Dimension der bensrecht eines Menschen zu achten. Was aber bedeutet noch nicht geborenen Menschen bestehen diese Möglich- Probleme explizit zu machen und sie von anderen, zum dies in Bezug auf Menschen, die selbst sterben wollen oder keiten natürlich nicht bzw. weniger. Doch auch der Embryo Beispiel technischen, therapeutischen, psychologischen sich erst im Zustand eines aus wenigen Zellen bestehenden ist nicht isoliert als rein biologisches Material, sondern im oder rechtlichen Dimensionen der Problematik zu unter- Embryos befinden? Statt für diese besonderen Situationen größeren Kontext des zu erwartenden Lebens dieses Men- scheiden. Nur auf diese Weise sind eine im eigentlichen eindeutige Antworten von der philosophischen Ethik zu er- schen und der Beziehung zu anderen Menschen, zu den El- Sinne ethische Reflexion der Probleme und eine ethische warten, könnte es sinnvoller und angemessener sein, sich tern, zur Gesellschaft sowie mit dem Anspruch auf Schutz Kritik herrschender Normen und Verhaltensweisen mög- um ein möglichst genaues und differenziertes Verständnis und Fürsorge zu betrachten. lich.16 Nur auf diese Weise ist es auch möglich, die morali- dieser Problemlagen zu bemühen. So ist es möglich, einen schen Konflikte der bereits genannten Art zu erkennen und Orientierungsrahmen für individuelle Entscheidungen zu 3. Es ist ein grundlegender Fehler der medizinethischen herauszuarbeiten. gewinnen, ohne dem Einzelnen die individuelle Entschei- Debatten über Person und Menschenwürde zu meinen, Zwei zentrale Konfliktmuster, die so gut wie alle Problem- dung im Einzelfall abzunehmen. Es wäre allerdings falsch, dass die Zuschreibung des moralischen Status der Per- bereiche prägen und auch miteinander zusammenhängen, aus der Tatsache, dass es sich um Grenzsituationen han- son zwingend bestimmte Gebote oder Verbote impliziert, betreffen delt, den Schluss zu ziehen, dass die genannten Begriffe etwa gemäß der Formel: Person = Lebensrecht = absolutes gar nicht mehr anwendbar wären, es bedarf nur größerer Tötungsverbot. Was konkret moralisch geboten oder ver- 1. die oft spannungsreiche Beziehung zwischen den Prin- Klärung, wie sie, angesichts der Besonderheit der konkre- boten ist, das hängt vielmehr von der konkreten (Art der) zipien der Autonomie und der Fürsorge im Zusammen- ten Situation, anzuwenden sind. individuellen Situation ab, die im Falle des Embryos, des heitsberufe relevant. 15 hang mit der bereits genannten Problematik des Pater- erwachsenen, gesunden Menschen oder des Menschen nalismus, 2. Normative ethische Prinzipien der Person und Au- im Koma ganz unterschiedlicher Art ist. Die Aufgabe ethi- 2. die Anwendbarkeit der Begriffe der Person, Menschen- tonomie mit scher Reflexion als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe werden fälschlicherweise gleichgesetzt würde und Autonomie auf Menschen, die kaum oder gar deskriptiven Begriffen personaler Eigenschaften oder besteht gerade darin, angesichts der jeweiligen (Art der) nicht über personale Fähigkeiten der rationalen Ent- Fähigkeiten und vom faktischen Vorliegen solcher Eigen- Situation zu beraten, wie der Umgang mit Menschen in scheidung, der Selbstbestimmung, des Selbstbewusst- schaften oder Fähigkeiten abhängig gemacht. Das gilt den genannten Grenzsituationen moralisch zu beurteilen seins, der Kommunikation usw. verfügen. Hier stehen auch für metaphysisch-konservative Positionen, die zum und gesetzlich zu regeln ist. Diese ethische Reflexion führt sich metaphysisch-konservative Positionen, die unein- Beispiel auch Embryonen diese personalen Eigenschaf- dann letztlich wieder vom Sollen zum Wollen und damit zu geschränkt für jedes Mitglied der menschlichen Gattung ten zuschreiben wollen und diesen Status an potenzielle Grundfragen einer Ethik des guten menschlichen Lebens den moralischen und rechtlichen Status der Person als Eigenschaften, an ein noch zu entwickelndes Potenzial, zurück. Was ein gutes Leben ausmacht, das kann heute Subjekt von Rechten, auch für Embryonen zum Beispiel, binden. Versteht man dagegen die genannten moralischen nicht mehr durch externe Autoritäten, etwa der Kirche, des behaupten, und empirisch-liberale Positionen, die die- Grundbegriffe (Prinzipien) als normative Gesichtspunkte Staates oder der Tradition einfach festgelegt und vorge- sen Status mehr oder weniger einschränken, oft unver- ethischer Reflexion (Reflexionsbegriffe) konkreter Prob- schrieben werden, es ist weitgehend eine Angelegenheit söhnlich gegenüber. Denn mit diesen Positionen verbin- lemsituationen, so lassen sie sich auf jede Art menschli- der individuellen Selbstbestimmung. Gleichwohl setzt sich 14 15 16 17 Vgl. Bettina Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, Stuttgart 2007, Kap. 2. Vgl. Marianne Rabe, Ethik in der Pflegeausbildung. Beiträge zur Theorie und Didaktik, Bern 2009, Kap. 2. Vgl. Theda Rehbock, "Fälle oder Prinzipien. Zur Bedeutung und Kritik ethischer Kasuistik", in: Arbeitsgruppe "Pflege und Ethik" der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. (ed.), "Für alle Fälle...". Arbeit mit Fallgeschichten in der Pflegeethik, Hannover 2005, S.202 – 219. Vgl. zum Folgenden: Theda Rehbock, Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns, Paderborn 2005. Zur Autonomie- und Paternalismusproblematik vgl. insbesondere 16. "Autonomie – Fürsorge – Paternalismus. Zur Kritik (medizin-)ethischer Grundbegriffe", Zeitschrift für Ethik in der Medizin 3 (2002), S. 131 – 150; leicht überarbeitet wieder abgedruckt als Kapitel X in Personsein in Grenzsituationen. PD Dr. Theda Rehbock ist Privatdozentin für Philosophie an der Technischen Universität Dresden und vertritt zur Zeit die Professur für Praktische Philosophie am Institut für Philosophie der Philipps-Universität Marburg. 38 | Arbeitsmaterial Arbeitsmaterial | 39 Arbeitsblatt: Was ist ein Museum? Was ist ein Museum? Arbeitsmaterial für die Schule 1. Zur weiterführenden Vor- und Nachbereitung eines Musems- Ziel eines Museums ist es, Kunstwerke oder kulturhisto- d) Ausstellen besuches mit ihrer Schulklasse haben wir für Lehrerinnen rische Gegenstände (auch Dinge, Objekte oder Exponate In Ausstellungen werden Sammlungsobjekte präsentiert und und Lehrer Arbeitsmaterial zusammengestellt. Die Informa- genannt) aus zumeist vergangenen Zeiten zu einem be- der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Ausstellen ge- tionen und Materialien zu den Aufgaben und zur Geschichte stimmten Thema fachgerecht und dauerhaft aufzubewah- schieht in Dauer- oder Sonderausstellungen, wobei die Ob- des Museums in der Schule für die vertiefende Beschäfti- ren und den Besuchern zugänglich zu machen. Dies ge- jekte oft in neuen thematischen Zusammenhängen präsen- gung mit dem Thema "Museum" verwendet werden: schieht in Dauer- und Wechselausstellungen. Bestände, die tiert werden. Diese Aufgabe des Museums wird heute immer man aus Platzmangel nicht ständig zeigen kann, werden im wichtiger. Arbeitsblätter zum Kopieren: Depot verwahrt. Die offizielle Definition des Internationalen Museumsrates lautet: Ein Museum ist "eine gemeinnützi- e) Vermitteln ge, ständige, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung im Vermitteln heißt, den Besuchern die Objekte und Ausstel- Dienst der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, die zu Studi- lungen näher zu erläutern. Die geschieht zum einen durch en-, Bildungs- und Unterhaltungszwecken materielle Zeug- Raumtexte, Objektbeschriftungen, Kataloge oder Audio- nisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, bewahrt, guides und zum anderen durch Personen, die z. B. Füh- erforscht, bekanntmacht und ausstellt". rungen und Projekte durchführen oder öffentliche Vorträge 1. Was ist ein Museum 2. Geschichte der Institution Museum 3. Das Deutsche Hygiene-Museum 4. Museumsquiz Zur Diskussion: Weiterführende Fragen halten. Eine Vermittlung in vielen unterschiedlichen Formen Ausgewählte Literatur und Internet-Links 1.1 Die Hauptaufgaben von Museen wird angestrebt, um eine möglichst breite Öffentlichkeit zu a) Sammeln erreichen. Gesammelt haben Menschen schon immer, sowohl Kunstobjekte, technische Erfindungen, Kuriositäten oder Naturalien. Viele private Sammlungen bilden den Grundstock unserer heutigen Museen. Anders als es oft bei privaten Sammlungen geschieht, erfolgt das Sammeln im Museum zielgerichtet. Es dient der Erweiterung, Zusammenführung und Ergänzung der bestehenden Sammlungsbereiche im Hinblick auf für die Nachwelt zu erhaltendes Kulturgut. Aber wer entscheidet, welches Objekt für die Nachwelt aufbewahrt werden soll? b) Bewahren Die gesammelten Gegenstände müssen im Museum bewahrt werden. Dabei werden Objekte vor dem Verfall geschützt, um sie für kommende Generationen zu erhalten und damit den Wert einer Sammlung zu garantieren. Zum Bewahren gehört neben dem Konservieren und Restaurieren der Objekte auch deren sachgerechte Behandlung, wobei besonders auf optimale Lagerungsbedingungen geachtet werden muss. c) Forschen Auch im Museum wird geforscht. Das Forschen umfasst die wissenschaftliche Beschäftigung mit Objekten und Objektzusammenhängen, wobei die Erkenntnisse und Informationen dokumentiert und öffentlich zugänglich gemacht werden, z.B. in Publikationen oder Ausstellungen. Neben der Inventarisierung des Objekts und dem Herkunftsnachweis sind die Einordnung des Objekts in seinen ursprünglichen Kontext wichtige Aufgaben der Forschungstätigkeit. Abb. 9: Das Deutsche Hygiene-Museum Abb. 10: Phrenologischer Schädel aus der Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums, nach dem Arzt und Anatomen Franz Joseph Gall (1758 – 1828), 1840 40 | Arbeitsmaterial 2. Arbeitsmaterial | 41 Arbeitsblatt: Geschichte der Institution Museum 3. Arbeitsblatt: Das Deutsche Hygiene-Museum Der Begriff "Museum" geht zurück auf das Wort "Museion", Zu den ersten öffentlichen Museen in Europa zählen das Das Deutsche Hygiene-Museum versteht sich als ein Mu- vermittelt, aber auch Fragen der Gesundheitsvorsorge oder das in der Antike eine den Musen, den Schutzgöttinnen der British Museum in London (eröffnet 1753) und das Herzog- seum vom Menschen. Es ist ein öffentliches Forum für ak- Ernährung behandelt. Immer auf dem neuesten Stand der Künste, Kultur und Wissenschaften, geweihte Stätte be- Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig (1754). Das älteste tuelle Fragen, die sich aus den kulturellen, politischen und Wissenschaft trug das Museum während der Weimarer Re- zeichnete. als Museum errichtete Gebäude in Europa ist das 1779 er- wissenschaftlichen Umwälzungen unserer Gesellschaft am publik mit seinen allgemeinverständlichen Präsentationsfor- öffnete Museum Fridericianum in Kassel. Beginn des 21. Jahrhunderts ergeben. In der Dauerausstel- men maßgeblich zu einer Demokratisierung des Gesund- Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance gel- lung "Abenteuer Mensch" werden auf rund 2.500 Quadrat- heitswesens bei. Als größte Attraktion der Ausstellung galt ten ebenso wie die fürstlichen Sammlungen des Barock Im letzten Jahrhundert entstanden viele auf unterschiedliche metern neben wertvollen Exponaten aus der Sammlung der Gläserne Mensch, in dem sich das Menschenbild der mit ihren unterschiedlichen Objekten als Vorläufer heuti- Themen spezialisierte Museen. Nach neueren Zählungen des Museums zahlreiche Mitmachelemente und Medienin- Moderne in der zukunftsgläubigen Verbindung von Wissen- ger Museumssammlungen. Die gesammelten Kunstwerke, gab es am Ende des 20. Jahrhunderts weltweit ca. 38.000 stallationen präsentiert. In regelmäßig stattfindenden Son- schaft, Transparenz und Rationalität materialisierte. Antiquitäten, Bücher, Naturalien, technischen Geräte und Museen, mehr als 20.000 davon in Europa, über 10.000 in derausstellungen werden neueste Forschungsergebnisse Kuriositäten sollten den universalen Zusammenhang der Nordamerika, knapp 5.000 in Asien. Die restlichen 3.000 aus den Wissenschaften vom Menschen ebenso wie Fra- Nach 1933 wurden das volksaufklärerische Gedankengut Welt darstellen und wurden "theatrum mundi" (Weltthea- verteilen sich über Südamerika, Afrika und Ozeanien . gen der Alltagskultur behandelt. Sie setzen sich mit gesell- des Museums und seine hoch entwickelten Vermittlungs- ter) genannt. Bei den Sammlungen der frühen Museen in In Deutschland gibt es mehr als 6.000 Museen, davon über schaftspolitischen Problemen sowie geistes- und kulturge- methoden in den Dienst der nationalsozialistischen Rasse- Deutschland (Darmstadt, Dresden, Karlsruhe, München, 400 in Sachsen. schichtlichen Themen auseinander. ideologie gestellt. Beim Bombenangriff auf Dresden im 18 Stuttgart) handelt es sich also um Bestände aus Kunstkam- Februar 1945 wurden große Teile des Museumsgebäudes mern der Fürsten und Könige. und seiner wertvollen Sammlungsbestände vernichtet. Zur Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums In der Zeit der Aufklärung entstanden die ersten bürgerli- Während der DDR-Jahre nahm das Museum eine vergleichbare Aufgabe wahr wie die Bundeszentrale für ge- chen Sammlungen. Viele Sammlungen dieser Zeit sind Die Gründung des Deutschen Hygiene-Museums (1912) heute in Form von Staatssammlungen oder als Grundstock geht zurück auf eine Initiative des Dresdner Industriellen und städtischer oder privater Sammlungen erhalten. Im 19. Jahr- Odol-Fabrikanten Karl August Lingner (1861–1916). Lingner Nach 1991 erhielt das Deutsche Hygiene-Museum eine voll- hundert kam es in vielen Städten zu bürgerlichen Museums- hatte 1911 zu den Protagonisten der I. Internationalen Hygi- kommen neue Konzeption, die mit zeitgemäßen Mitteln an ene-Ausstellung gehört, zu der über fünf Millionen Besucher den innovativen Ansatz seiner Gründerjahre anknüpft. Es nach Dresden gekommen waren. Diese Ausstellung hatte entwickelte sich zum Museum vom Menschen, das in all sei- mit modernsten Techniken und in einer bis dahin unbekann- nen Ausstellungen zwei zentrale Fragen verfolgt: Wie wollen ten Anschaulichkeit Kenntnisse zur Anatomie des Menschen wir leben? An welchen Werten orientieren wir uns heute? neugründungen (Bremen, Frankfurt a.M., Hamburg). 18 Waidacher, Friedrich: Museologie knapp gefasst, 2005, S. 17 Abb. 11: Blick in die Sonderausstellung "Was ist schön?" des Deutschen Hygiene-Museums, 2010 sundheitliche Aufklärung in der Bundesrepublik. Abb. 12: Blick in die Sonderausstellung "Arbeit. Sinn und Sorge" des Deutschen Hygiene-Museums, 2009 42 | Arbeitsmaterial | 43 4. Arbeitsblatt: Museumsquiz 1. Aus welcher Sprache stammt der Begriff "Museum"? aus dem Lateinischen aus dem Griechischen aus dem Deutschen 2. Auf welchem Kontinent gibt es heute die meisten Museen? in Europa in Asien in Nordamerika 3. Was schätzen Sie? Wie viele Museen gibt es ungefähr in Deutschland? ca. 10.000 ca. 6.000 ca. 500 4. Museen haben fünf Hauptaufgaben. Wie heißen die beiden nicht aufgeführten Tätigkeiten? Sammeln Bewahren Erforschen 5. Was unterscheidet Museen von anderen Freizeit- oder Kultureinrichtungen? Museen handeln mit originalen Objekten Museen besitzen originale Objekte, erforschen diese und zeigen sie in Ausstellungen Museen zeigen Multimedia-Präsentationen zu bestimmten Themen 6. Was ist ein Exponat? ein Gegenstand, der in einem Museum ausgestellt wird ein Gegenstand, den ein Museum besitzt eine Person, die Erklärungen in einer Ausstellung gibt 7. Bitte ergänzen Sie die folgende Aussage richtig: "Das Deutsche Hygiene-Museum ist …" … ein Museum vom Menschen … ein Kunstmuseum … ein Museum über 8. Welches Museum haben Sie schon einmal besucht? Hat es Ihnen gefallen, wenn ja, warum? 9 . Was halten Sie persönlich von Museen? Bitte ergänzen Sie den folgenden Satzanfang: Museen sind für mich... Abb. 13: Blick in die Dauerausstellung, Raum "Erinnern – Denken – Lernen" 44 | Diskussion Diskussion | 45 ZUR DISKUSSION Vier mögliche weiterführende Fragen mit Hintergrundinformationen zur Diskussion mit Schülern: 1. Wozu braucht man heute noch Museen? Ist nicht das Wissen um ihre gesellschaftliche Funktion, ihre Wirkungs- etwas über die Vergangenheit. Aus diesem Grund sind die Internet längst das viel größere, viel bessere und viel weise – wann und wie sie sich mit Macht verbinden – die Gestaltung und die Präsentation der Dinge in Ausstellun- demokratischere Archiv der Bilder und Dinge? Welche Fähigkeit, selbst Bedeutungen und Bilder generieren zu gen immer wichtiger geworden. Leistungen erbringen sie konkret für die Gesellschaft? können." (Gisela Weiß) Was können Museen für eine Gesellschaft im sozialen Wandel (hohe Arbeitslosigkeit, Wandel der Arbeitswelt, 4. Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden wurde als Auflösung eines einheitlichen Bildungskanons, Indivi- 2. Museen sammeln ganz unterschiedliche Dinge. War- Museum zur Gesundheitsaufklärung gegründet. Heute dualisierung und Alterung der Gesellschaft) leisten? um werden Dinge in Museen überhaupt aufbewahrt? versteht es sich als Museum vom Menschen. Was den- 1. Museen sind "Erinnerungsorgane" von Gesellschaften, In Museen werden "originale" (man sagt auch "authenti- vor allem von Gesellschaften westlicher Prägung. Sie sind sche") Dinge aufbewahrt; ein wichtiges Merkmal in einem Sachverwalter des kulturellen und des kollektiven, kom- Zeitalter, in dem von dem allgemeinen Schwinden der In den vergangenen zehn Jahren hat das Deutsche Hy- munikativen Gedächtnisses von Gesellschaften. Ein Ge- "Dingwelt" gesprochen wird. Wenn Gegenstände so wert- giene-Museum etwa hundert temporäre Themenausstel- dächtnis ist aber kein statischer Speicher, er arbeitet immer geschätzt werden, dass sie auf Dauer und für die folgenden lungen realisiert, die fächer- und disziplinenübergreifende prozess- und gegenwartsbezogen. Jede Fragestellung an Generationen bewahrt werden sollen, gelangen sie ins Mu- Perspektiven auf gesellschaftsrelevante Themen ermög- Geschichte geht von der Gegenwart aus und ist immer seum. Voraussetzung dafür ist, dass ihnen eine oder auch lichten, die entscheidend das Profil des Deutschen Hygi- auch auf Zukunft ausgerichtet. mehrere Bedeutungen zugeschrieben werden. ene-Museums als das Museum vom Menschen geprägt ken Sie, welche Ausstellungen zu welchen Inhalten und Themen es heute präsentiert? haben: Titel dieser Sonderausstellungen waren zum Bei- 2. Museen sind heute "Orte der Selbstbeobachtung der Doch wer schreibt ihnen Bedeutungen zu? Die Wege von spiel "Die Pille – Von der Lust und von der Liebe" (1996), modernen Gesellschaft" (Peter Sloterdijk). Es reicht also Objekten in Museen können sehr verschieden sein. Museen "Gen-Welten" (1997) "Der neue Mensch" (1999), "Kosmos nicht mehr aus, wenn Museen – bewusst überspitzt for- kaufen aus ganz unterschiedlichen Gründen an, abhängig im Kopf: Gehirn und Denken" (2000), "Sex – Vom Wissen muliert – sich als "bloße Inventarverwalter des kulturellen von ihrem Sammlungsprofil und ihrer finanziellen Ausstat- und Wünschen" (2001), "Der (im-) perfekte Mensch. Vom Erbes" begreifen. Historisches Material wird in Form von tung. Gegenstände können jedoch auch durch Schenkun- Recht auf Unvollkommenheit" (2000 – 2002), "Krieg und Ausstellungen aktiviert, um die moderne Gesellschaft ak- gen ins Museum gelangen oder durch die Umwandlung Medizin" (2009), "Arbeit. Sinn und Sorge" (2009/2010) oder tuell zu hinterfragen. von Institutionen, z.B. von Betrieben in Industriemuseen. "Was ist schön?" (2010/2011). 3. "Je gehetzter, je zufälliger vielen Menschen ihre Existenz Auch in der ständigen Ausstellung "Abenteuer Mensch" erscheint, desto populärer wird das Museum, in dem sich 3. Wie erschließen sich Dinge in einem Museum werden Grundfragen des Lebens und der menschlichen das Zufällige in Sinn verwandelt. Jedenfalls stellt sich das den Besuchern? Existenz zur Diskussion gestellt: Wie etwa beeinflusst die Museum den Beliebigkeiten der Postmoderne entgegen, es moderne Naturwissenschaft unser Menschen- und Kör- trifft eine Auswahl, es ordnet und systematisiert, es zeigt, in Ein Ding (Exponat) und seine Anordnung im Raum er- perbild und mit welchen Folgen? Wie werden Leben und welcher Beziehung Gestern und Heute, das Nahe und das schließt sich dem Besucher erst durch Beteiligung seiner Tod heute definiert? Was bedeutet es, wenn die Lebens- Ferne stehen. Es ist eben viel mehr als nur ein Riesenspeicher Erinnerung, seines Wissens und seiner Imaginationskraft. grenzen, Geburt und Tod, "weich" werden, "gestaltbar" wie das Internet, viel mehr auch als ein Tempel der Schau- Ohne die richtige Präsentation bleiben Objekte in einer oder "verschiebbar" erscheinen? Gibt es Grenzen wissen- lust. Es ist ein Ort der Erkenntnis." (Hanno Rauterberg) Ausstellung allerdings sprachlos und sagen uns nichts. schaftlicher Machbarkeit? An welchen Werten können wir Das heißt, sie müssen zunächst erforscht werden, um dann uns heute orientieren? Es werden sieben Themenbereiche 4. Die Begegnung mit Originalen macht das Museum zu in einer Ausstellung in einen Zusammenhang gestellt und präsentiert: Der Gläserne Mensch; Leben und Sterben; Es- einer Schule des Sehens. "An Museen werden Schlüssel- in eine Geschichte eingebunden werden zu können. Erst sen und Trinken; Sexualität; Erinnern – Denken – Lernen; kompetenzen vermittelt, wie die Fähigkeit, sich Objekten/ wenn wir etwas über sie erfahren, z. B. wo und wann sie Bewegung; Schönheit, Haut und Haar. Bildern in ihrem jeweiligen Kontext adäquat anzunähern, entstanden sind oder gefunden wurden, wer sie benutzte, das Wissen, wie Bedeutungsmuster, Icons, entstehen, das wofür sie verwendet wurden, "erzählen" uns die Objekte 46 | Anhang Anhang | 47 AUSGEWÄHLTE LITERATUR UND INTERNET-LINKS Impressum 1. Museum und Ausstellungen Hans Belting, Das Museum als Medium, In: John, Hart- Hannelore Kunz-Ott/Susanne Kudorfer/Traudel Weber Lernort Museum – Wie wollen wir leben? Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben mut/Krämer, Harald (Hg.), Bedeutungswandel der Kunst- (Hg.): Kulturelle Bildung im Museum. Aneignungsprozesse Ethische Debatten im Museum "Wie wollen wir leben? Ethische Debatten im Museum – museen im Zeitalter der digitalen Revolution, Tagung vom – Vermittlungsformen – Praxisbeispiele. Bielefeld 2009. Texte und Materialien für Schulen und Museen. Übersichtsführungen und Projekte ab Schulklasse 9 in der Dauerausstellung" wurde mit Mitteln des Bundes- 25. – 27.11.1998 in Bonn. Nürnberg 1998, S. 31 – 43. Gisela Staupe: Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft – ministeriums für Bildung und Forschung unter dem Martina Eberspächer, Gudrun Marlene König, Bernhard Strategien der kulturellen Bildung am Deutschen Hygiene- Förderkennzeichen 01GP0777 gefördert. Die Verantwor- Tschofen (Hg.), Museumsdinge. Köln, Weimar, Wien 2002. Museum Dresden, in: Museumskunde Bd. 74, 2/2009 tung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt ("Chefsache Bildung"), S. 57 – 65. beim Autor. Hanno Rauterberg: Musealisiert die Museen. Über den Wert und die Werte einer großen Institution, in: Museumskunde, Gisela Weiß: Warum ins Museum? Chancen und Möglich- Herausgegeben vom Deutschen Hygiene-Museum Bd. 67, 2/2002, S. 34 – 40. keiten der Museen als außerschulische Lernorte. Vortrag gefördert vom Bundesministerium für Bildung auf der Fachtagung "Bildungspartner NRW – Museum und Forschung. Anke te Heesen und Petra Lutz (Hg.), Dingwelten. Das und Schule", 17.09.2008 Oberhausen. Online-Publikati- Museum als Erkenntnisort (= Schriften des Deutschen on: http://www.medienberatung.schulministerium.nrw.de/ Hygiene-Museums, hrsg. von Gisela Staupe, Bd. 4), Köln/ dokumentationen/2008/weiss_vortrag_090103.pdf. Redaktion: Barbara Brugger, Ute Meckbach Gestaltung: büro quer Kommunikationsdesign, Dresden Weimar/Wien 2005. Darin u. a.: Gisela Staupe: Im Reich der Dinge. Die neue Dauerausstellung des Deutschen Klaus Weschenfelder und Wolfgang Zacharias: Handbuch Hygiene-Museums, S. 151 – 159. Museumspädagogik. Orientierungen und Methoden für die Druck: SDV – Die Medien AG, Sächsisches Druck- und Evaluierung des Projektes: Praxis. Düsseldorf 1993. Verlagshaus AG, Dresden Technische Universität Dresden, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie Klaus Vogel: Die inszenierte Ausstellung – einziger Weg in die Zukunft?, in: Museumskunde, Bd. 71, 2/2006, S. 69 – 75. Willi E. R. Xylander: Fit? Ideen zu den Anforderungen an Museen im 21. Jahrhundert, in: Museumskunde, Bd. 71, 2/2006 ("Museen gestalten Zukunft – Perspektiven im 21. Jahrhundert"), S. 10 – 15. 2. Bildung im Museum Bundesverband für Museumspädagogik e. V. / Deutscher Museumsbund / Mediamus Schweiz / Österreicherischer Verband der KulturvermittlerInnen im Museums- und Aus- 3. Links Bildnachweise: Titel Prof. Dr. Michael Häder, Ramona Lange Jörg Gläscher Deutsches Hygiene-Museum Dresden www.dhmd.de Seite 9 – 11 Raum 1, 2, 5, 7 David Brandt Museumsführer für Sachsen www.sachsens-museen-entdecken.de Raum 3, 4, 6 Jörg Gläscher Deutscher Museumsbund www.museumsbund.de Institut für Museumsforschung www.smb.spk-berlin.de/ifm/ Kontakt: Dr. Pia Ritter 0351 4846-252 Babett Tauber 0351 4846-277 Besucher-Service: 0351 4846-400 Abb. 1 – 3.1, 9, 11, 12 Oliver Killig Abb. 4, 5, 7, 13 Jörg Gläscher Abb. 6 Walter Schels Abb. 8 Technische Universität Dresden Abb. 10 David Brandt Bundesverband Deutscher Kinder- und Jugendmuseen www.bv-kindermuseum.de/ stellungswesen (Hg.): Qualitätskriterien für Museen: Bildungs- und Vermittlungsarbeit. Berlin 2008. Max Fuchs: Kultur – Teilhabe – Bildung. Reflexionen und Impulse aus 20 Jahren. München 2008. © Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, November 2010 www.dhmd.de/ethik Deutsches Hygiene-Museum Lingnerplatz 1 01069 Dresden