Diplomarbeit „…und plötzlich war es still.“ – Identitätsarbeit von

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Katholische Stiftungsfachhochschule München, Abt. München
„…und plötzlich war es still.“
Identitätsarbeit von spätertaubten Erwachsenen
im Kontext von Gehörlosenkultur und hörender Kultur
Analyse anhand qualitativer Interviews und Diskussion von
Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit
Eingereicht als Diplom- und Prüfungsarbeit für die staatliche Abschlussprüfung zur
Diplom - Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin (FH)
Verfasserin: Doreen Senst
Betreuerin:
Prof. Dr. A. Vogt
München, den 11. April 2005
Für Judith Angela Ziegler
und für Ingelore
2
Danksagung
Ich möchte mich bei all meinen Freunden und Freundinnen bedanken, die mich während der letzten Monate und Wochen in vielfältiger Weise unterstützten. Vor allem geht
mein Dank an Judith Angela Z. und Anna M. für den anregenden fachlichen Austausch,
an Christine G., die sich stets meinen Fragen und Nöten im Hinblick auf die technische
Gestaltung dieser Arbeit annahm, an Anke Marion F. und Katrin M. für ihre Unterstützung zur Bewältigung meiner beruflichen Nebentätigkeit und an Katrin Sch. sowie Sebastian F., die sich korrigierend dieser Arbeit annahmen.
Darüber hinaus bedanke ich mich besonders bei Tilmann G., der in dieser Zeit stets an
mich dachte, mich immer wieder zum Lachen brachte und mir einen schönen Konzertabend schenkte.
Schließlich gilt mein Dank auch Yvonne K., Maria G., Pia A., Stephanie D., Simone R.,
Claudia F., Jennifer E. und Johannes S., die für meine Situation Verständnis zeigten und
mir den nötigen Freiraum gewährten.
Ihnen allen möchte ich ganz herzlich für die emotionale Unterstützung in den letzten
Wochen danken.
Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern, die mir mein Studium finanziell ermöglichten.
Abschließend bedanke ich mich bei den interviewten Personen, die mit ihrer Bereitschaft, mir einen Einblick in ihr Leben zu gewähren, den entscheidenden Rahmen dieser
Arbeit formen. Da es zur vorliegenden Thematik kaum Fachliteratur gibt, konnte die
Studie nur mit ihrer Unterstützung in dieser Form angefertigt werden. Dafür bedanke
ich mich herzlich.
3
INHALTSVERZEICHNIS
1
Einleitung................................................................................................................. 8
2
Allgemeine Grundlagen des Hörens und seine Schädigungen.......................... 10
2.1
Anatomie und Physiologie des menschlichen Hörorgans............................... 10
2.2
Klassifikationen von Hörschädigungen .......................................................... 11
2.2.1
Art und Ausmaß des Hörschadens.......................................................... 11
2.2.1.1
Schallleitungsschwerhörigkeit ............................................................ 11
2.2.1.2
Schallempfindungsschwerhörigkeit.................................................... 12
2.2.1.3
Schädigung des Hörnervs oder im Gehirn.......................................... 13
2.2.2
Zeitpunkt des Eintretens der Hörschädigung.......................................... 13
2.2.2.1
Prälinguale Gehörlosigkeit ................................................................. 13
2.2.2.2
Postlinguale Gehörlosigkeit................................................................ 14
2.2.3
3
Anthropologische Bedeutung des Hörens............................................... 15
Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter .................................................................................. 17
3.1
Der Ablauf eines Kommunikationsprozesses ................................................. 17
3.2
Das Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun ..................................... 18
3.2.1
Die Anatomie einer Nachricht aus der Sender-Perspektive.................... 18
3.2.2
Die Anatomie einer Nachricht aus der Empfänger-Perspektive............. 19
3.2.3
Zusammenfassung .................................................................................. 20
3.3
Auswirkungen des Hörverlustes auf die Mehrdimensionalität der
Kommunikation .............................................................................................. 21
3.4
Möglichkeiten und Grenzen des Lippenabsehens für postlingual ertaubte
Erwachsene ..................................................................................................... 23
3.5
Sprache und Kommunikation in ihrer sozialen Funktion ............................... 24
3.6
Der Zusammenhang von Sprache und Interaktion auf die Identität eines
Individuums .................................................................................................... 25
3.7
Resümee.......................................................................................................... 26
4
4
Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung..................................... 28
4.1
Allgemeine Begriffsdefinition von „Identität“ ............................................... 28
4.2
Klassische psychologische und soziologische Identitätstheorien ................... 30
4.2.1
Kritische Reflexion der Entwicklungstheorie von E. Erikson................ 30
4.2.2
Kritische Reflexion der Entwicklung des Selbst bei G.H. Mead
und seiner Fortführung durch L. Krappmann ......................................... 34
4.3
Das sozialpsychologische Modell der Identitätsarbeit.................................... 37
4.3.1
Grundlegendes Verständnis von Identität............................................... 37
4.3.2
Identitätsentwicklung als prozesshafte alltägliche Identitätsarbeit......... 38
4.3.2.1
Situationale Selbstthematisierungen ................................................... 39
4.3.2.2
Bildung von Teilidentitäten ................................................................ 40
4.3.2.3
Metaidentität ....................................................................................... 43
4.3.2.4
Subjektive Handlungsfähigkeit als Ergebnis der prozesshaften
alltäglichen Identitätsarbeit................................................................. 45
4.3.3
Zusammenfassung .................................................................................. 45
4.3.4
Identitätsentwürfe und Identitätsprojekte ............................................... 47
4.3.5
Der Zusammenhang zwischen Identitätsarbeit und sozialen
Netzwerken ............................................................................................. 47
4.3.6
5
Kulturelles Konzept von Gehörlosigkeit............................................................. 50
5.1
Definition von „Kultur“ .................................................................................. 50
5.2
Die Gebärdensprachgemeinschaft als kulturelle Minderheit.......................... 50
5.3
Die Gebärdensprache als eigenständiges visuelles Sprachsystem.................. 53
5.4
Weitere Formen der manuellen Kommunikation ........................................... 54
5.4.1
Lautsprachbegleitende Gebärden............................................................ 54
5.4.2
Das Fingeralphabet ................................................................................. 55
5.5
6
Kulturelle Identität.................................................................................. 48
Zusammenfassung .......................................................................................... 55
Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit
spätertaubten Erwachsenen................................................................................. 56
6.1
Empowerment als Grundhaltung für die Soziale Arbeit................................. 56
6.2
Das Konzept „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ .................................... 57
6.2.1
Traditionslinie der Theorie ..................................................................... 57
5
6.2.2
Der Lebensweltansatz ............................................................................. 58
6.2.3
Leitlinien und Ziele der „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ ....... 59
6.3
6.3.1
Das Zusammenspiel von Biographie und Lebenslauf ............................ 61
6.3.2
Grunddimensionen der biographischen Lebensbewältigung.................. 61
6.3.3
Arbeitsprinzipien einer biographisch orientierten Sozialen Arbeit ........ 64
6.4
7
Das „Biographiekonzept“ nach L. Böhnisch .................................................. 60
Zusammenfassung .......................................................................................... 64
Zusammenfassung des theoretischen Zugangs und Ableitung der
empirischen Fragestellung ................................................................................... 65
8
Operationalisierung der allgemeinen Fragestellung ......................................... 67
8.1
Grundlegende Entscheidung bezüglich der benutzten Methoden................... 67
8.2
Kriterien für die Wahl einer spezifischen Interviewform............................... 67
8.3
Inhaltliche Struktur des Interviewleitfadens ................................................... 68
8.4
Kommunikative Kriterien für die Durchführung der Interviews.................... 70
8.5
Möglichkeiten und Grenzen von schriftlichen Befragungen.......................... 70
9
Durchführung der Untersuchung........................................................................ 71
Anwerbung der Interviewteilnehmer .............................................................. 71
9.2
Durchführung der Interviews.......................................................................... 72
9.3
Durchführung der Nachgespräche .................................................................. 72
10
9.1
Darstellung und Auswertung der Ergebnisse .................................................... 73
10.1
Auswertung der empirischen Methode ........................................................... 73
10.2
Vorstellung der Interviewpartner.................................................................... 74
10.2.1
Frau P...................................................................................................... 74
10.2.2
Herr A. .................................................................................................... 75
10.2.3
Herr C. .................................................................................................... 76
10.2.4
Herr M..................................................................................................... 76
10.3
Auswertung der Interviews............................................................................. 77
10.3.1
Die Auswirkungen der Ertaubung auf die berufliche Situation.............. 77
10.3.2
Die Auswirkungen der Ertaubung auf die Partnerschaft und Familie .... 83
10.3.3
Die Auswirkungen der Ertaubung auf die sozialen Netzwerke .............. 86
6
10.3.4
Die Auswirkungen der Ertaubung auf die kulturelle Zugehörigkeit ...... 91
10.3.5
Verknüpfung der Teilidentitäten zu einer Metaidentität......................... 95
10.4
11
Zusammenfassung ........................................................................................ 101
Diskussion von Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit ................... 102
Lebenswelt und Alltag als Rahmenkonzept und Handlungsmuster ............. 103
11.2
Biographie und Lebenslauf als Rahmenkonzept und Handlungsmuster ...... 107
12
11.1
Fazit und Ausblick .............................................................................................. 110
Abkürzungsverzeichnis .............................................................................................. 113
Literaturverzeichnis ................................................................................................... 114
7
1 Einleitung
1
Einleitung
Die vorliegende Arbeit ist eine qualitative Studie über die Identitätsarbeit von im Erwachsenenalter ertaubten Personen im Kontext von Gehörlosenkultur und hörender
Kultur.
Spätertaubung stellt eine Hörbehinderung dar, in deren Folge der betreffende Mensch
Sprache akustisch nicht mehr wahrnehmen kann und demnach seine bisherigen Kommunikationsmöglichkeiten mit der sozialen Umwelt beeinträchtigt werden. Infolgedessen wirkt sich eine Spätertaubung auf grundlegende menschliche Erlebnis- und Erfahrungsbereiche eines Individuums aus. Meine theoriegeleitete Analyse umfasst ausschließlich Menschen, die im erwerbsfähigen Alter ertaubten. Folglich kann die Problematik einer Ertaubung im Schul- und Jugendalter, wie auch diejenige im Rentenalter
aus dem Blickfeld genommen werden. Ferner betrachte ich Spätertaubung in Abgrenzung zur Gehörlosigkeit, die vor dem Spracherwerb vorhanden war.
Ich werde in dieser Arbeit aufzeigen, dass Individuen ihre Identität in der Interaktion
mit der sozialen Umwelt entwickeln und darstellen. Dabei ist Sprache das zentrale Medium, mit dem sich Identität ausdrückt. Demzufolge ist Sprache das wichtigste Instrument von Individuen, um ihre Einstellungen und Erwartungen zu kommunizieren und
sich damit in ihrem Selbstverständnis darzustellen. Die besondere Lebenssituation eines
spätertaubten erwachsenen Menschen lässt mich vermuten, dass sich die kommunikativen Einschränkungen auf die Identität der betreffenden Person auswirken. Als theoretische Grundlage für meine qualitative Untersuchung dient das sozialpsychologische Modell zur Identitätsarbeit. In diesem Konzept wird die Identitätsentwicklung als offener,
lebenslanger Prozess verstanden, in dem das Subjekt fortlaufend neue lebensweltliche
Erfahrungen interpretiert.
Ein zentraler Aspekt für die Identitätsarbeit eines Menschen bildet sein soziales Netzwerk, in dem u.a. kulturelle Werte und Orientierungen vermittelt werden, welche für die
Ausbildung einer kulturellen Identität von Bedeutung sind. Ein kulturelles Netzwerk für
gehörlose Menschen bildet die Gebärdensprachgemeinschaft. In der vorliegenden Arbeit werde ich die Gebärdensprachgemeinschaft als eine Subkultur der hörenden Dominanzkultur vorstellen. Im kulturellen Konzept von Gehörlosigkeit spielt der Begriff
„Behinderung“ für die Selbstidentifizierung von gehörlosen Menschen keine wesentliche Rolle. In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass die verminderte Hörleistung erst in
der Kommunikation und Interaktion mit der hörenden Dominanzkultur zu einer sozialen
Behinderung wird. In der Gebärdensprachgemeinschaft ist die Beherrschung der Gebär8
1 Einleitung
densprache das verbindende und Kultur kennzeichnende Merkmal, welches uneingeschränkte Kommunikations- und Interaktionserfahrungen bietet und soziale Beziehungen herstellt.
Spätertaubte Menschen sind physiologisch betrachtet gehörlos und erleben kommunikative Einschränkungen in der hörenden Gesellschaft. Jedoch bestimmt die physiologische
Hörschädigung nicht automatisch die Zugehörigkeit zur Gebärdensprachgemeinschaft.
Entscheidender als das medizinische Kriterium ist die Identifikation mit der Gruppe
hörgeschädigter Menschen.
Ausgehend von meinen bisherigen Überlegungen werde ich mich in der vorliegenden
Arbeit mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern sich ein plötzlicher Hörverlust im
Erwachsenenalter auf die Identitätsarbeit einer betroffenen Person auswirkt; mit dem
speziellen Blickwinkel auf die kulturelle Zugehörigkeit eines spätertaubten Menschen
im Kontext der Gebärdensprachgemeinschaft und der hörenden Gesellschaft.
In diesem Zusammenhang gebe ich zu bedenken, dass Identität die subjektive Konstruktion über die eigene Person ist. Folglich kann nur der betreffende Mensch selbst über
seine Identität Auskunft geben. Diese Sichtweise hat mich dazu veranlasst, meine theoretische Abhandlung mit der Darstellung und Auswertung von biographischen Interviews zu ergänzen. Die retrospektiven Interviews beleuchten die individuelle Identitätsarbeit von einzelnen Biographien.
Zum Abschluss der vorliegenden Arbeit werde ich mögliche Handlungsanforderungen
an eine biographisch- und lebensweltorientierte Soziale Arbeit mit spätertaubten Menschen herausarbeiten. Das Ziel dieser Arbeit besteht nicht darin, einheitliche normative
Vorstellungen über die Identitätsarbeit des betreffenden Personenkreises aufzuzeigen.
Vielmehr möchte ich einen Denkrahmen für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Menschen liefern, in dem die Vielfalt und Beweglichkeit von persönlichen Identitätsprozessen ihre Berücksichtigung finden.
Abschließend weise ich darauf hin, dass ich in der vorliegenden Arbeit wegen der besseren Lesbarkeit darauf verzichtet habe, die männliche und die weibliche Form zu verwenden. Dies geschieht jedoch nicht, um Frauen zu diskriminieren oder zu benachteiligen. Ich hoffe, alle Leserinnen haben dafür Verständnis.
9
2 Allgemeine Grundlagen des Hörens und seine Schädigungen
2
Allgemeine Grundlagen des Hörens und seine Schädigungen
Im Folgenden lege ich grundlegende Informationen zur Hörfähigkeit und zu verschiedenen Schädigungen des Gehörs dar. Damit möchte ich eine Basis an spezifischem
Wissen schaffen, welches für den weiteren Verlauf der Arbeit bedeutsam ist.
2.1
Anatomie und Physiologie des menschlichen Hörorgans
Geräusche sind akustische Zeichen, welche mittels Schall an das Hörorgan übertragen
werden. Das Ohr empfängt die Schallwellen und wandelt diese mechanischen Schwingungen in elektrische Impulse um, die anschließend vom Gehirn als Geräusche oder Töne interpretiert werden können. Der Hörvorgang vollzieht sich in den drei Stufen:
1) Aufnahme der Schallschwingungen,
2) Verstärkung der Schallschwingungen und
3) Umwandlung der Schwingungen in elektrische Impulse (Ilenborg 2001, 63).
Dementsprechend gliedert sich das menschliche Ohr in die Bereiche: Außenohr, Mittelohr und Innenohr. Die zwei Ohrmuscheln ermöglichen das stereophone Richtungshören.
Beim Hörvorgang wandern die, durch die Ohrmuschel aufgenommenen, Schallwellen
durch den Gehörgang und versetzen das Trommelfell in Schwingung. Die Gehörknöchelkette des Mittelohrs führt den Schall durch das ovale Fenster in das Innenohr weiter. Dieser Vorgang wird als Schallleitung bezeichnet. Das Innenohr besteht aus dem
Gleichgewichtsorgan und der Hörschnecke (Cochlea). In der Schnecke werden die mechanischen Reize in elektrische Energie umgewandelt. Diese Energie wird anschließend
vom Hörnerv als Impuls an das Gehirn übermittelt und es entsteht ein Höreindruck (vgl.
Fink 1995, 58).
Das Außenohr
1. Ohrmuschel
2. Gehörgang
Das Mittelohr
3. Trommelfell
4. Hammer
5. Amboss
6. Steigbügel
7. Ohrtrompete
Gehörknöchelkette
Das Innenohr
8. Hörschnecke (vgl. Cochlea)
9. Bogengänge
10. Hörnerv und Gleichgewichtsnerv
Abb. 1: Das menschliche Ohr (in Anlehnung an www.schwerhoerigen-netz.de, 2004)
10
2 Allgemeine Grundlagen des Hörens und seine Schädigungen
2.2
Klassifikationen von Hörschädigungen
Störungen der physiologischen Hörfähigkeit werden zum einen nach Art und Ausmaß
des Hörschadens eingestuft und zum anderen nach dem Zeitpunkt des Eintretens der
Schädigung. Die Art der Hörstörung entscheidet über die verschiedenen medizinischen
Rehabilitationsmöglichkeiten. Der zeitliche Aspekt bezieht sich auf die kindliche
Sprachentwicklung. Einerseits verdeutlicht diese Definition den Zusammenhang von
Hörfähigkeit und Lautspracherwerb, denn der Hörsinn bildet die Basis der lautsprachlichen Kommunikation, andererseits wird die Bedeutung von Sprache und Kommunikation als Bindeglied zwischen Individuen hervorgehoben. Demnach hat Sprache vor allem
eine soziale Funktion. Mittels Sprache wird der Kontakt zu anderen Menschen hergestellt. Ergänzend füge ich hinzu, dass Lautsprache nicht die Prämisse für eine Verständigung mit der Umwelt sein muss. Die bisherigen Ausführungen gelten ebenfalls für die
Benutzung der Gebärdensprache als visuelles Sprachsystem.
Im Rahmen dieser Arbeit verwende ich für die Definition von Hörschädigungen die
Begrifflichkeiten „Schwerhörigkeit“, „Gehörlosigkeit“ und „Spätertaubung“. Sie beinhalten eine hinreichende Klassifikation für meine weitere Analyse.
2.2.1
Art und Ausmaß des Hörschadens
2.2.1.1 Schallleitungsschwerhörigkeit
Die Ursache der Hörstörung liegt in der unzureichenden Übertragung der Schalleindrücke vom Außenohr zur Cochlea. Ursache hierfür können krankhafte Veränderungen des
Trommelfells bzw. der Gehörknöchelkette sein. Die Schallleitungsstörung führt zur
Verringerung der Hörweite und damit zur Schwerhörigkeit. Die Hörminderung erstreckt
sich gleichmäßig auf alle Frequenzen ohne störende Entstellung oder Verzerrung der
Sprachlaute (vgl. Ilenborg 2001, 64). Die Schallleitungsschwerhörigkeit ist durch operative Eingriffe therapierbar und wird in der folgenden Analyse nicht weiter berücksichtigt. Die nachstehende Abbildung stellt einen optischen Vergleich zur Schallleitungsstörung dar.
Abb. 2: Optische Parallele zur Schallleitungsstörung (Lienhard 1992, 47)
11
2 Allgemeine Grundlagen des Hörens und seine Schädigungen
2.2.1.2 Schallempfindungsschwerhörigkeit
Bei der Schallempfindungsschwerhörigkeit liegt eine Funktionsstörung vor, die vom
Innenohr ausgeht und die Cochlea betrifft. Krankhafte Veränderungen der Hörsinneszellen und der Hörnerven verhindern die Umwandlung der mechanischen Reize in elektrische Reize bzw. die Weiterleitung der Impulse zum Gehirn. Schallempfindungsstörungen reichen von Schwerhörigkeit bis zur vollständigen Taubheit und sind oftmals
irreversibel. Zur Hörminderung treten zusätzlich akustische Wahrnehmungsverzerrungen auf. Der medizinischen Versorgung mit einem Hörgerät sind in diesem Fall Grenzen gesetzt. Krüger (1982, 6) postuliert, dass eine akustische Verstärkung erreicht werden kann, jedoch bleiben die qualitativen Veränderungen und Klangentstellungen der
wahrgenommenen Sprache bestehen.
Die Klassifikation von Schwerhörigkeit richtet sich in erster Linie auf das vorhandene
Sprachverständnis als wichtigste Funktion des menschlichen Gehörs. Bei an Taubheit
grenzender Schwerhörigkeit und bei vollständiger Taubheit ist kein Sprachverständnis
über das Ohr möglich. Leven (2003, 15) stellt einschränkend fest, dass die Grenzbereiche von hochgradiger Schwerhörigkeit, an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit und
Gehörlosigkeit aufgrund verschiedener audiometrischer Verfahren und individueller
Möglichkeiten der betroffenen Personen fließend sind und die bisherigen medizinischen
Einteilungen nicht mehr aussagekräftig erscheinen.
In den letzten Jahren wurden zunehmend mehr hörgeschädigte Menschen mit CochleaImplantaten (CI) versorgt. Dabei handelt es sich um ein elektronisches Hörgerät, welches in die Hörschnecke eingepflanzt wird. Für eine erfolgreiche Implantation sind intakte Hörnerven die Voraussetzung. Im Idealfall bewirkt das CI ein Verstehen von gesprochener Sprache (vgl. www.uni-heidelberg.de, 2005). Die folgende Abbildung stellt
einen optischen Vergleich zur Schallempfindungsschwerhörigkeit dar.
Abb. 3: Optische Parallele zur Schallempfindungsstörung (Lienhard 1992, 48)
Die medizinische Versorgung sollte möglichst schnell nach Eintreten der Taubheit erfolgen, um an frühere auditive Wahrnehmungen anknüpfen zu können. Bucher (1991,
46) weist darauf hin, dass es um so schwieriger für die betroffenen Menschen ist, sich
12
2 Allgemeine Grundlagen des Hörens und seine Schädigungen
der hörenden Welt wieder anzuschließen und Lauteindrücke eindeutig zu interpretieren,
je mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt der vollständigen Taubheit und der medizinischen
Rehabilitation liegt.
2.2.1.3 Schädigung des Hörnervs oder im Gehirn
Diese Form der Hörschädigung betrifft den Hörnerv oder das zentrale Hörsystem im
Gehirn, so dass kein Höreindruck entsteht. Der Übertragungsweg der Nervenimpulse
vom Ohr zum Gehirn ist geschädigt (vgl. Ilenborg 2001, 64). Die Versorgung mit einem
CI ist nicht möglich und die betroffenen Menschen sind unter medizinischen Gesichtspunkten gehörlos (vgl. Ilenborg 2001, 64).
Gegenstand dieser Arbeit sind Menschen mit Schallempfindungsstörungen bzw. einer
Schädigung des Hörnervs (vgl. Kapitel 2.2.1.2; vgl. Kapitel 2.2.1.3). Einschränkend
stelle ich fest, dass die medizinische Sichtweise auf die Dysfunktion des menschlichen
Hörorgans für meine weitere Analyse unzureichend ist. Eine Abgrenzung von Gehörlosigkeit unter Berücksichtigung des Eintrittszeitpunktes erscheint sinnvoll für eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Personenkreis der ertaubten Menschen.
2.2.2
Zeitpunkt des Eintretens der Hörschädigung
2.2.2.1 Prälinguale Gehörlosigkeit
Prälinguale Gehörlosigkeit beinhaltet die begrenzte Aufnahme auditiver Höreindrücke.
Insbesondere die gesprochene Sprache wird nicht über das Ohr wahrgenommen. Diese
restriktiven Bedingungen verhindern weitgehend den natürlichen Lautspracherwerb des
Kindes (vgl. Krüger 1982, 21). Mehrere Autoren (Krüger 1982, 21; vgl. Leven 2003,
15; vgl. Rosen-Bernays 1992, 10) benennen den Zeitraum der Ertaubung vor Abschluss
der primären Spracherwerbsphase, d.h. in den ersten vier Lebensjahren. Die Sozialisation von prälingual gehörlosen Kindern ist durch ein Leben ohne Gehör geprägt und
weist demzufolge signifikante Unterschiede zur Entwicklung von Personen auf, die erst
nach dem Lautspracherwerb ertaubten.
Das genuine Kommunikationsmittel von Menschen, die vor der Spracherwerbsphase
ertaubten, ist die Gebärdensprache. Als visuelle Sprache stellt sie analog zur Lautsprache ein signifikantes Zugehörigkeitsmerkmal zu einer kulturellen Sprachgemeinschaft
dar, in diesem Fall zur Gebärdensprachgemeinschaft. Das Emanzipationsstreben prälingual hörgeschädigter Menschen bezieht sich auf eine soziokulturelle Perspektive von
13
2 Allgemeine Grundlagen des Hörens und seine Schädigungen
Gehörlosigkeit und grenzt sich demnach von der pathologischen Sichtweise ab. Im kulturellen Konzept von Gehörlosigkeit begreifen sich hörgeschädigte Menschen als Angehörige einer Minderheitskultur, die ihnen personale und soziale Identität bietet (vgl.
Leven 2003, 18). Aus diesem Blickwinkel heraus sehen gehörlose Personen das Cochlea Implantat häufig als eine Bedrohung ihrer Kultur an, da es dazu dient einen Anschluss an die hörende Gesellschaft zu erhalten, der einher geht mit der Abwertung ihrer
eigenen Sprache und Kultur (vgl. Ilenborg 2001, 81).
2.2.2.2 Postlinguale Gehörlosigkeit
Personen mit postlingualer Gehörlosigkeit werden auch als Ertaubte oder Spätertaubte
bezeichnet. Die Hauptursachen für erworbene Hörschädigungen liegen in Unfällen und
Krankheiten begründet. Der Verlust des Gehörs erfolgt in diesen Fällen nach dem natürlichen Lautspracherwerb in der kindlichen Entwicklung. Fengler (1990, 16) spricht von
Spätertaubung, wenn der Hörverlust nach dem fünften Lebensjahr erfolgt. Zu diesem
Zeitpunkt verfügt das Kind bereits über differenzierte Kenntnisse der Grammatik sowie
über einen umfangreichen Wortschatz. Analog zu prälingual gehörlosen Personen können spätertaubte Menschen Sprache nicht über das Ohr aufnehmen, aber dennoch relativ
verständlich sprechen.
Im Rahmen dieser Arbeit geht es speziell um Personen, die erst im Erwachsenenalter
einen Gehörverlust erfahren haben. Sie unterscheiden sich von allen bisher beschriebenen Gruppen aufgrund ihrer jahrzehntelangen Hörfähigkeit. Spätertaubte Erwachsene
sind soziokulturell in der hörenden Kulturgemeinschaft aufgewachsen. Mit der eintretenden Gehörlosigkeit nehmen die Partizipationsmöglichkeiten in der hörenden Gesellschaft ab. Das Cochlea Implantat stellt für ertaubte Erwachsene, im Gegensatz zu prälingual gehörlosen Menschen, die Hoffnung dar, wieder einen Anschluss an ihre bisherige Alltagswelt zu finden (vgl. Ilenborg 2001, 81).
Der Hörverlust verändert die psychosoziale Situation der Betroffenen nachhaltig. Die
kommunikativen Einschränkungen können sowohl psychische Belastungen als auch
Verunsicherung bezüglich der personalen und sozialen Identität hervorrufen (vgl. Leonhardt 1999, 70). Bedenkt man, dass soziale Interaktion in erster Linie auf verbaler Ebene erfolgt, so wird das Ausmaß der Verständigungsprobleme deutlich (vgl. Fink 1995,
123). Die ertaubte Autorin Hannah Merker postuliert in ihrem Buch „Listening“:
„Da ich mein Gehör als Erwachsene fast vollständig und ganz plötzlich verlor,
fand ich mich nach dem Verlust an einem merkwürdigen Nicht-Ort wieder. Die
14
2 Allgemeine Grundlagen des Hörens und seine Schädigungen
Sinne sind wach, doch man ist abgeschnitten, allein in seiner unheimlichen Isolation. Die Welt eilt vorwärts, und man kann nicht Schritt halten.“ (Merker
1998, 72).
Hannah Merker illustriert auf diese Weise die anthropologische Bedeutung des Hörens
im Sinne einer gesellschaftlichen Teilhabe. Im Folgenden führe ich diesen Sachverhalt
näher aus.
2.2.3
Anthropologische Bedeutung des Hörens
Die Einteilung der Hörschädigungen unter Berücksichtigung der Lautsprachentwicklung beinhaltet die Feststellung, dass Hören eine Sinnesbrücke ist, durch die Individuen
mit der physischen Umwelt in Verbindung stehen (vgl. Krüger 1982, 3). Vom anthropologischen Standpunkt aus gesehen erscheint der Mensch somit als subjektiv handelndes,
auf seine Umwelt wirkendes und von ihr beeinflusstes Wesen. Fink (1995, 314) hebt in
diesem Zusammenhang hervor, dass der Sinnesausfall keine ausschließlich medizinische, sondern eine soziale Behinderung zur Folge hat, die sich aus der kommunikativen
Beeinträchtigung ergibt. Das Gehör bietet die Möglichkeit, kontinuierlich Schalleindrücke aus allen Raumrichtungen aufzunehmen. Selbst während der Schlafphase ist der
Hörsinn selektiv aktiv. Die regelmäßige Wiederkehr der Schallerregung bietet einen
fortwährenden Kontakt zur Umwelt und der menschliche Organismus wird permanent
über Umweltveränderungen informiert (vgl. Barthes 1991, 56). Gemäß Krüger (1999,
55) lässt sich der Gesamthörprozess analytisch in folgende Funktionsebenen gliedern:
-
die Wahrnehmung der allgegenwärtigen Umwelt mit den kaum bewussten Hintergrundgeräuschen (z.B. Verkehrsgeräusche, Naturgeräusche oder die eigenen
Atemgeräusche),
-
die Signalebene mit Geräuschen, die Individuen identifizieren, die Gefahr anzeigen oder denen sich Menschen wegen ihrer auffallenden Akustik zuwenden und
-
die Symbolebene mit der hörbar gesprochenen Sprache als wesentliches interaktives Kommunikationssystem in einer Sozial- und Sprachgemeinschaft.
Das Wissen um den Verlust der Hörfähigkeit bei spätertaubten Menschen beinhaltet
andere Voraussetzungen und Problemlagen als bei prälingual ertaubten Personen. Von
Geburt an gehörlose Menschen sind auf das Wahrnehmen visueller Signale der akustischen Umwelt geschult. Indessen sind postlingual gehörlose Menschen mit dem plötzlichen Wegfall eines wichtigen menschlichen Fernsinnes konfrontiert. In Folge der Kom-
15
2 Allgemeine Grundlagen des Hörens und seine Schädigungen
pensation des Hörverlustes durch den Sehsinn gehen der spätertaubten Person zwangsläufig Informationen aus der auditiven Umwelt verloren (vgl. Fink 1995, 68f.). Des
Weiteren erlebt der Mensch auf der Signalebene einen plötzlichen Einschnitt in seine
Orientierungssicherheit, die auf visuellem Wege wiedererlangt werden muss (vgl. Krüger 1999, 54). Die physiologische Hörfähigkeit bezieht die Möglichkeit der auditiven
Sprachaufnahme ein und stellt damit eine Voraussetzung für die Zugehörigkeit und
Partizipation zur hörenden Kulturgemeinschaft dar (vgl. Leven 2003, 50). In diesem
Zusammenhang konstatiert Leven:
„Sprache, […], ist als soziale und kulturelle Eigenschaft von Menschen unerlässlich für die Entwicklung des Individuums sowie der Gemeinschaft.“ (Leven
2003, 50).
Hintermair und Voit (1990, 68) führen weiter aus, dass die menschliche Sprachfähigkeit
eine eigene Lebensqualität begründet bzw. deren Ausdruck darstellt. Demzufolge wird
die Komplexität des Hörverlustes im Erwachsenenalter besonders auf der Symbolebene
deutlich. Die menschliche Sprache ist sozial tradiert und wird durch Anpassung und
Erprobung erworben. Spätertaubte Menschen können sehr gut sprechen und scheinen
zunächst nicht in ihrer Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt. Die sensorische Deprivation behindert allerdings die Wahrnehmung der Sprachlaute und die zwischenmenschliche Verständigung mit der sozialen Umwelt.
Zusammenfassend halte ich fest, dass spätertaubte Personen zwar die Laut- und Schriftsprache beherrschen, jedoch nicht mehr uneingeschränkt am Leben der hörenden
Sprach- und Kulturgemeinschaft teilhaben können. Lienhard (1992, 29) postuliert in
diesem Kontext, dass Sprache und Kommunikation zentrale Elemente der Alltagswelt
sind und ihr Verlust umfassend in die psychosoziale Lebenswelt eines Betroffenen eingreift. Die Auswirkungen der Ertaubung auf die Kommunikationsmöglichkeiten eines
Menschen sind Gegenstand des nachfolgenden Kapitels.
16
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
3
Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
Nachdem ich die grundlegenden Merkmale von Hörschädigungen dargelegt habe, erörtere ich im Folgenden die Auswirkungen der akustischen Deprivation auf die zwischenmenschliche Kommunikation. Dazu schildere ich zunächst den Ablauf eines
Kommunikationsprozesses. Anschließend rekurriere ich das Kommunikationsmodell
von Schulz von Thun und wende es auf die kommunikativen Einschränkungen von
spätertaubten Personen an.
3.1
Der Ablauf eines Kommunikationsprozesses
Die verbale Kommunikation ist ein intentionaler Hörakt und das zentrale Verständigungsmittel in der heutigen Kommunikationsgesellschaft. Ein wesentlicher Bestandteil
dabei ist die Lautsprache, die mittels der individuellen Stimme des Menschen übertragen wird. Jede verbale Nachricht wird durch nonverbale Anteile in der Mimik und Gestik begleitet und ergänzt (vgl. Schulz von Thun 2001, 33). Der Grundvorgang menschlicher Kommunikation setzt mindestens zwei Subjekte in Beziehung. Der Kommunikationspsychologe Schulz von Thun (2001, 25) spricht in diesem Kontext von einem Sender, „der etwas mitteilen möchte“, und einem Empfänger, „der dieses wahrnehmbare
Gebilde zu entschlüsseln“ versucht. Hierzu kodiert der Sender seine zu übermittelnden
Gedanken und Intentionen in abstrakte Zeichen. Die Aufgabe des Empfängers besteht
anschließend in der Dekodierung der Nachricht. Die grundlegende Prämisse für Verständigung zwischen Sender und Empfänger besteht in der Verwendung einer homogenen Sprache. Dies gilt sowohl bei der Verwendung verbaler als auch bei visuellen Sprachen. In diesem Zusammenhang lasse ich die Schriftsprache mit ihren Eigenarten und
Besonderheiten der menschlichen Kommunikation außer Acht und konzentriere mich
auf die mündliche Interaktion als zentrales gesellschaftliches Verständigungsmittel.
Zur Analyse und Beschreibung von Kommunikationsprozessen entwickelte Schulz von
Thun 1981 sein kommunikationspsychologisches Modell. Schulz von Thun betrachtet
Kommunikation nicht nur als ein Vermitteln von Sachinhalten durch Sprache, sondern
auch als ein umfangreiches intra- und interpersonales Verhalten (vgl. Leven 2003, 23).
Für meine theoriegeleitete Analyse bietet sich dieses Modell an, weil der Autor Kommunikation in den unterschiedlichen Funktionen beleuchtet und entsprechende Störungsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen darlegt.
17
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
3.2
Das Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun
3.2.1
Die Anatomie einer Nachricht aus der Sender-Perspektive
Schulz von Thun (2001, 25ff.) arbeitet in seinem Kommunikationsmodell vier Teilaspekte menschlicher Kommunikation heraus, die als Botschaften in ein und derselben
Nachricht enthalten sind. Daraus lässt sich ableiten, dass eine Nachricht mehrdeutig ist.
Gemäß Schulz von Thun (2001, 13) gliedern sich die Aspekte in:
-
Sachaspekt,
-
Beziehungsaspekt,
-
Selbstoffenbarungsaspekt und
-
Appellaspekt.
Der Sachaspekt umfasst die Übermittlung von Fakten, Daten und Informationen. Dieser Gesichtspunkt bezieht sich vor allem auf Sachfragen und Richtigstellungen. Emotionale Sachverhalte und Beziehungsfragen finden dabei keine Berücksichtigung (vgl.
Leven 2003, 20).
Aus dem Beziehungsaspekt der Nachricht geht hervor, wie der Sender zum Empfänger
steht und wie der Sender die Beziehung zwischen sich und dem Empfänger deutet. Gemäß Schulz von Thun (2001, 28) werden auf diese Weise „Du-Botschaften“ und „WirBotschaften“ transportiert. Neben der verbalen Formulierung können sowohl nichtsprachliche Begleitsignale in der Mimik und Gestik des Senders als auch parasprachliche Signale bedeutsam sein. Nach Voit (zit. n. Ahrbeck 1997, 95) sind parasprachliche
Phänomene durch Pausengliederung, Grundlautstärke, Grundtonhöhe sowie einen Veränderungsverlauf in der Sprachgeschwindigkeit gekennzeichnet. Schulz von Thun
(2001, 27) und Leven (2003, 21) verweisen auf die eminente Signifikanz des Beziehungsaspektes in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Hier fühlt sich eine Person in bestimmter Weise behandelt bzw. „misshandelt“. Beziehungsbotschaften wirken
nicht nur für den Augenblick, sondern tragen auch längerfristig zum Selbstkonzept des
Empfängers bei (vgl. Leven 2003, 21).
Der Selbstoffenbarungsaspekt bezieht sich auf die Tatsache, dass in jeder Nachricht
Informationen über den Sender enthalten sind. Die vermittelten Inhalte können die Person des Senders, seine Gefühle oder Wertvorstellungen betreffen. Die Selbstoffenbarung vollzieht sich gewollt in Form der Selbstdarstellung oder ungewollt in Form der
Selbstenthüllung. Hierbei handelt es sich stets um „Ich-Botschaften“, die an den Empfänger gesendet werden.
18
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
Sie bewegen sich vorwiegend auf der nonverbalen Kommunikationsebene und äußern
sich in Tonfall, Mimik und Gestik (vgl. Schulz von Thun 2001, 33).
Der letzte Teilaspekt einer gesendeten Nachricht richtet sich als Aufforderung an den
Empfänger etwas „zu tun oder zu unterlassen“ (Schulz von Thun 2001, 29). Schulz von
Thun bezeichnet diese Seite der Kommunikation als Appellaspekt. Der Sender möchte
mit seiner Nachricht etwas bewirken und versucht, Einfluss auf den Empfänger zu nehmen.
Grundsätzlich sind die einzelnen Sachverhalte einer Nachricht gleichrangig, auch wenn
der Sender in jeder einzelnen Situation einen bestimmten Aspekt in den Vordergrund
hebt. Auf allen vier Ebenen können explizite und implizite Botschaften transportiert
werden. Für implizite Botschaften wird häufig der nonverbale Kommunikationskanal
genutzt. Die Vermittlung dieser eigenständigen, qualifizierten Aussagen erfolgt über die
Phonation, die Artikulation und über die begleitende Mimik und Gestik (vgl. Schulz
von Thun 2001, 35). Die verbalen und nonverbalen Anteile einer Nachricht können sich
einerseits ergänzen und unterstützen, andererseits aber auch widersprechen und Verwirrung auslösen. Die Mehrdeutigkeit von Nachrichten korreliert mit einem beträchtlichen
Störungspotential für die interpersonale Kommunikation und enthält die Gefahr von
Fehlinterpretationen (vgl. Leven 2003, 22).
3.2.2
Die Anatomie einer Nachricht aus der Empfänger-Perspektive
Der Ambiguität bzw. Mehrdeutigkeit einer Nachricht ordnet Schulz von Thun (2001,
44ff.) den „vierohrigen Empfänger“ zu. Dabei betrachtet der Autor die vier Seiten der
gesendeten Nachricht aus der Sicht des Empfängers. Auf der Sachebene konzentriert
sich der Empfänger auf die Frage, wie der Sachinhalt der Nachricht zu verstehen ist,
während er sich auf der Beziehungsebene überlegt: „Wie redet mein Gegenüber mit
mir?“ und „Wie fühle ich mich behandelt?“. Die Selbstoffenbarung des Senders lässt
den Empfänger vermuten, in welcher Stimmung sich dieser befindet oder was für ein
Mensch er sein mag. Auf der Appellebene spekuliert der Empfänger über die Intentionen des Senders und stellt sich die Frage: „Was soll ich tun, denken, fühlen aufgrund
seiner Mitteilung?“ (vgl. Schulz von Thun 2001, 45).
Prinzipiell hat der Empfänger die freie Wahl, auf welche Botschaft er reagieren möchte.
Gleichzeitig wird jede Kommunikation durch die intra- und interpersonale Beziehung
der Interaktionspartner beeinflusst (vgl. Becker 2003, 31). Ferner ist zu berücksichtigen,
dass die individuelle Wahrnehmung des Empfängers durch seine lebensweltlichen Er19
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
fahrungen, die in seiner Biographie kumulieren, geprägt ist. Im Laufe der Sozialisation
macht der Mensch verschiedene Kommunikationserfahrungen und entwickelt eine Vorstellung davon, ob er verstanden, akzeptiert und geschätzt oder missverstanden und
missachtet wird (vgl. Leven 2003, 22). Auf diese Weise konstruiert sich „ein inneres
Bild von dem, wie der Betreffende meint, von anderen wahrgenommen zu werden“ (Leven 2003, 22). Mit anderen Worten: Sprache kann als Vehikel der Sozialisation verstanden werden. Im Sinne einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne finden
solche Lernerfahrungen zeitlebens statt (vgl. Haußer 1995, 71).
Während des zwischenmenschlichen Interaktionsprozesses ergeben sich Kommunikationsstörungen, wenn der Empfänger auf eine Botschaft der Nachricht Bezug nimmt, die
der Sender nicht herausstellen wollte oder wenn der Empfänger tendenziell immer nur
eine bestimmte Seite der Nachricht perzipiert und die anderen Botschaften unberücksichtigt lässt (vgl. Schulz von Thun 2001, 46).
3.2.3
Zusammenfassung
Aus psycholinguistischer Perspektive ist Kommunikation ein Transfer von Botschaften
zwischen mindestens zwei Personen. Ein Informationsaustausch ist erst gegeben, wenn
der Empfänger die kodierten Botschaften des Senders entschlüsselt hat. Der Empfänger
hebt beim Zuhören die akustischen Reize aus ihrer kognitiven Indifferenz und verdichtet sie zu bedeutungstragenden Nachrichten (vgl. Richtberg 2001, 44). Voraussetzung
dafür ist das Verwenden eines gemeinsamen Sprachsystems. Der Empfänger reagiert
seinerseits auf die interpretierten Signale und sendet eine Nachricht zurück. Infolgedessen befinden sich die Gesprächspartner in einem zirkulären Interaktionsprozess. Die
bisherigen Ausführungen gelten sowohl im Zusammenhang mit der Benutzung der
Lautsprache als auch bei der Verwendung der Gebärdensprache, als visuelles Sprachsystem. Das psychologische Modell der zwischenmenschlichen Interaktion lässt sich
grafisch folgendermaßen darstellen:
Sachinhalt
Sender
Selbstoffenbarung
Nachricht
Appell
Empfänger
Beziehung
Abb. 4: Modell der zwischenmenschlichen Kommunikation (in Anlehnung an Schulz von Thun 2001, 30)
20
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
Notwendigerweise stellt das Modell eine Vereinfachung menschlicher Kommunikations- und Interaktionsprozesse dar. In den meisten Fällen befinden sich mehrere Personen gleichzeitig in Interaktionsprozessen und es bestehen komplexe Beziehungen zwischen den Beteiligten.
3.3
Auswirkungen des Hörverlustes auf die Mehrdimensionalität der Kommunikation
Mit sinkendem Hörvermögen sind spezifische Erschwernisse der Kommunikation verbunden, die im Folgenden näher betrachtet werden.
Zunächst ist zu bedenken, dass Ertaubung eine unsichtbare Sinnesbehinderung darstellt.
Die Gehörlosigkeit verhindert die Möglichkeit der auditiven Sprachaufnahme. Unter
linguistischen Gesichtspunkten können die betroffenen Menschen ihre Nachrichten in
Bezug auf Artikulation, Stimmgabe und Lautstärke nicht kontrollieren. Die verbalen
Anteile der Nachricht, z.B. eine laute oder schrille Modulation der eigenen Stimme,
können den nonverbalen Anteilen widersprechen und beim Empfänger Verwirrung auslösen oder als situationsunangebracht interpretiert werden. Folglich sind spätertaubte
Menschen in Interaktionsprozessen mit fremden Personen zuerst genötigt, auf der Sachebene über das Faktum ihrer Hörschädigung zu informieren, um den Dialog zu beginnen oder seinen Fortgang zu ermöglichen (vgl. Leven 2003, 23). Die Selbstoffenbarung
des hörgeschädigten Senders dient der erleichterten Kommunikation. Gleichzeitig sind
Auswirkungen auf der interpersonalen Beziehungsebene die Folge, da der hörgeschädigte Sender nicht den Erwartungen des hörenden Empfängers entspricht (vgl. Leven
2003, 23). Mit der gesendeten Sachinformation über die Hörschädigung richtet der Sender einen Appell an den Empfänger, langsam, deutlich und mit Blickkontakt zu sprechen. Leven (2003, 23) konstatiert weiter, dass der hörende Empfänger auf die Konfrontation mit seinen eigenen Unsicherheiten oder Ängsten nicht selten mit Kontaktabbruch
reagiert. Demzufolge scheint für ertaubte Erwachsene die kommunikative Verbindung
zur sozialen Umwelt zunächst unterbrochen.
Innerhalb der Kommunikationsprozesse verhalten sich Gesprächsteilnehmer nach den
geltenden Regeln einer Sprachgemeinschaft. Diese Fähigkeit wird als „kommunikative
Kompetenz“ bezeichnet (Fink 1995, 47). Matthes (1996, 360) umschreibt kommunikative Kompetenz als Fähigkeit, „Redesituationen herbeizuführen und eigene Interessen
zu artikulieren sowie soziale Beziehungen neu zu definieren.“. Spätertaubte Personen
können in der Interaktion mit der sozialen Umwelt nicht auf gewohnte sprachliche Mus21
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
ter zurückgreifen. Dazu zählen z.B. kulturelle Besonderheiten bei der Begrüßung und
Verabschiedung sowie allgemein gültige Sprach- und Kommunikationsgewohnheiten.
Infolgedessen ist ihre kommunikative Kompetenz unter den bisherigen Bedingungen
eingeschränkt. Weiterhin sind sie auf das visuelle Wahrnehmen einer gesendeten Nachricht angewiesen, indem sie von den Lippen absehen. Becker (2003, 36) weist darauf
hin, dass Menschen in einer akustisch orientierten Gesellschaft nicht geschult sind, optische Eindrücke ausreichend zu erfassen und zu interpretieren. Neben der erhöhten Konzentration kommt die kommunikative Unsicherheit hinzu, ob die Nachricht richtig verstanden wurde. Ein daraus resultierender, erlebter Verlust an Spontanität kann der hörende Empfänger auf dem Selbstoffenbarungsohr als ein zurückhaltendes oder ruhiges
Verhalten auslegen (vgl. Seithe 1998).
Ferner ist davon auszugehen, dass hörende Menschen nicht in der Kommunikation mit
hörgeschädigten Personen geschult sind. Seitliches Wegdrehen des Kopfes, schnelles
Sprechtempo oder ein abgedunkelter Raum verhindern jegliches Verstehen. Die Gefahr
der Reduktion auf die unbedingt notwendigen Informationen ist gegeben. Becker (2003,
36) und Merker (1998, 155) zeigen auf, dass sich die Gewichtung der Kommunikation
in Richtung Sachebene verschieben kann. Stellt ein Sender beim Empfänger wiederholt
Nichtverstehen fest, kann sich seine Ungeduld oder Unerklärlichkeit in der Mimik widerspiegeln und vom Empfänger ablehnend auf seine Person hin bezogen interpretiert
werden. Diese impliziten Botschaften wirken sich auf die Beziehung zwischen Sender
und Empfänger aus. Watzlawick (zit. n. Berg 2000, 31) spricht in diesem Zusammenhang von Rückkoppelungskreisen, da jedes Individuum das Gegenüber beeinflusst und
seinerseits gelenkt wird. Die Beziehungsbotschaften in einer Nachricht werden außerdem mittels parasprachlicher Äußerungen übermittelt. Aufgrund der Taubheit kann die
betroffene Person weder sich selbst mit Hilfe parasprachlicher Mitteilungen verdeutlichen noch wird es ihr gelingen, die Äußerungen des Kommunikationspartners dahingehend zu entschlüsseln. Beispielsweise gehören dazu ironische Aussagen, welche mit der
Grundtonhöhe und der Pausengliederung parasprachlich unterstützt werden (vgl. Kapitel 3.2.1).
Darüber hinaus sind die Botschaften von Seiten der Umwelt für die Entstehung des subjektiven Selbstbildes von Bedeutung. Kommunikative Misserfolge wirken sich auf das
Selbstwertgefühl des Empfängers aus und können in der Entwicklung eines negativen
Selbstbildes kumulieren (vgl. Seithe 1998).
22
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
Subsumierend stelle ich fest, dass eine plötzliche Ertaubung eine elementare Störung
der zwischenmenschlichen Kommunikation auf allen vier Ebenen nach sich zieht. Spätertaubte Menschen sind aus der Sender- sowie aus der Empfängerperspektive nicht
mehr in der Lage, ungehindert auf der Sachebene, der Beziehungsebene, der Selbstoffenbarungsebene sowie der Appellebene zu kommunizieren. Durch den Versuch, die
Nachricht optisch von den Lippen abzusehen, entsteht möglicherweise eine Verschiebung zur Inhalts- und Sachebene der gesendeten Nachricht hin. Des Weiteren ist von
lebensweltlichen Exklusionserfahrungen in der hörenden Sprach- und Kulturgemeinschaft auszugehen. Mehrmalige Misserfolge in der Kommunikation verdichten sich im
Selbstkonzept des Individuums und wirken sich auf die Identität der Person aus (vgl.
Leven 2003, 22).
3.4
Möglichkeiten und Grenzen des Lippenabsehens für postlingual ertaubte
Erwachsene
Spätertaubte Erwachsene haben die Lautsprache als „Normalhörende“ erlernt. Demzufolge können sie nach der Ertaubung über Wort und Schrift verfügen. In verbalen
Kommunikationsprozessen sind sie auf die visuelle Wahrnehmung in Form des Lippenabsehens angewiesen. Hierbei sind die sprachlichen Erinnerungsvorstellungen für das
Umstellen der veränderten Perzeptionsbedingungen von eminenter Wichtigkeit (vgl.
Lienhard 1992, 36f.). Die Erinnerungen ermöglichen den betroffenen spätertaubten
Personen, eine kognitive Vorstellung über den artikulierten Inhalt der gesendeten Nachricht des Gesprächspartners zu entwickeln. Das Absehen befähigt spätertaubte Menschen, alltägliche Kommunikationssituationen selbstständig zu bewältigen (vgl. Becker
2003, 60).
Neben den genannten Möglichkeiten ist der Absehfähigkeit eine Anzahl von Grenzen
gesetzt. Zunächst einmal bleibt diese Form der Verständigung immer auf den direkten
Augenkontakt beschränkt (vgl. Ebbinghaus/Heßmann 1989, 237). In der Interaktion mit
mehreren Personen können spätertaubte Menschen aufgrund des schnellen Sprecheroder Themenwechsels nicht mehr auf das visuelle Absehen zurückgreifen. Infolgedessen sind die betreffenden Personen in Gruppengesprächen oder Versammlungen keine
gleichberechtigten Teilnehmer mehr (vgl. Ebbinghaus/Heßmann 1989, 237). Des Weiteren ähneln sich in der Lautsprache viele der gesprochenen Phoneme in ihrer Lippenstellung bzw. werden im Rachen gebildet und sind optisch nicht erkennbar (vgl. Leven
2001, 28). Darüber hinaus hat jeder Mensch seine individuell geprägte Aussprache.
23
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
Dementsprechend unterscheiden sich die Mundbilder der sprechenden Personen. Leven
(2001, 28) schlussfolgert, dass nur ein Drittel der gesprochenen Informationen von den
Lippen absehbar ist. Folglich benötigen spätertaubte Personen eine ausgezeichnete
Kombinationsgabe für die korrekte Perzeption und Interpretation. Diese muss sich der
Betroffene im Rahmen audiotherapeutischer Intervention oder in Absehkursen aneignen. Die genannten Faktoren verdeutlichen, dass jede Kommunikation unter Einbeziehung des Lippenabsehens mit hoher Konzentration verbunden ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass die betroffenen Menschen unter diesen Kommunikationsbedingungen schneller ermüden (vgl. Lienhard 1992, 37).
3.5
Sprache und Kommunikation in ihrer sozialen Funktion
Sprache ist ein Konglomerat kultureller Symbole, die sich verbal, nonverbal und visuell
äußern kann. Unter Bezugnahme auf Hintermair und Voit (vgl. 1990, 1) vertrete ich die
Ansicht, dass Sprache ein fundamentales Wesensmerkmal der Menschen ist. Die grundlegende Bedeutung von Sprache liegt in ihrer kommunikativen Verwendung.
In meinen bisherigen Ausführungen habe ich konstituiert, dass Sprache ein Bindeglied
zwischen dem Individuum und der Gesellschaft darstellt. Der soziale, emotionale und
intellektuelle Austausch zwischen Personen findet weitgehend mittels Sprache statt.
Demnach werden zwischenmenschliche Beziehungen vorwiegend über Interaktionsprozesse aufgebaut und gestaltet. Voraussetzung für eine gelingende Interaktion ist eine
funktionierende Kommunikation. Des Weiteren vertrete ich den Standpunkt, dass der
Austausch von Gedanken mit anderen Menschen ein Grundbedürfnis von Individuen ist.
Ausgehend von diesen Überlegungen stellt sich für mich die Frage, inwiefern sich eine
plötzliche Ertaubung im Erwachsenenalter auf das Selbstverständnis und die subjektive
Handlungsfähigkeit eines Betroffenen auswirkt.
Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitstudie zu einer Rehabilitationsmaßnahme für
spätertaubte erwachsene Menschen in Rendsburg fanden Claußen und Schuck heraus,
dass sich die Mehrheit der hörgeschädigten Seminarteilnehmer seit der postlingualen
Taubheit sozial isoliert fühlt (vgl. Claußen 1991, 19). Hierbei wurden kommunikative
Einschränkungen als Ursache für die subjektiv wahrgenommene Exklusion benannt.
Ebbinghaus und Heßmann bekräftigen diesen Sachverhalt folgendermaßen:
„Eine Kommunikationsbehinderung entfaltet […] ihre eigenen sozialen Konsequenzen, da Sozialität unmittelbar an Kommunikation gebunden ist.“ (Ebbinghaus/Heßmann 1989, 238).
24
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
Tönnissen (1993, 27) offeriert ferner, dass die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft u.a.
über die Verwendung einer homogenen Sprache erreicht werden kann. Für die Kommunikation zwischen hörenden und ertaubten Personen konstatiere ich eine Inkongruenz
im Hinblick auf die Verwendung und das Verstehen eines gleichen Sprachcodes. Das
gemeinsame Verständigungsmittel ist jedoch die Voraussetzung für die Herstellung und
den Ausbau menschlicher Beziehungen. Unter Heranziehung der bisherigen Aussagen
besteht meiner Ansicht nach die Gefahr der subjektiven Handlungsunfähigkeit und eine
Bedrohung der sozialen Integration für postlingual ertaubte Erwachsene. Im Vergleich
dazu sind prälingual gehörlose Menschen in der Gebärdensprachgemeinschaft sozial
integriert. Als kulturelle Sprachgemeinschaft bietet sie ihren Mitgliedern mittels der
Gebärdensprache uneingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten und soziale Identität. Folglich sind prälingual gehörlose Menschen erst in einem Gespräch mit einer hörenden und gebärdensprachunkundigen Person kommunikationsbehindert.
Gemäß Miller (2001, 56) ist Kommunikation das basale Element des Sozialen. Dabei
stellt die Verständigung die Grundlage für soziale Prozesse und Handeln dar. Demnach
ist Sprache das wichtigste Medium, mit dem Menschen in Interaktion, also in das aufeinander bezogene Handeln zwischen zwei oder mehreren Personen, treten. Durch die
Hörschädigung werden die bisherigen Kommunikationsformen beeinträchtigt und eine
Neuorganisation der Interaktionsformen im betroffenen Person-Umwelt-System ist erforderlich (vgl. Claussen/Schuck 1991, 142).
3.6
Der Zusammenhang von Sprache und Interaktion auf die Identität eines
Individuums
Im vorigen Abschnitt habe ich herausgearbeitet, dass Sprache das basale Medium ist,
mit dem Individuen in Interaktion treten. Gemäß der Theorie des symbolischen Interaktionismus entwickelt sich die Identität eines Subjekts in der Interaktion (vgl. Georgogiannis 1985, 3). Dabei ist Sprache das Mittel, mit dem sich Identität ausdrückt bzw. erworben wird (vgl. Matthes 1996, 358). Folglich ist Sprache das wichtigste Instrument
des Individuums, um seine Einstellungen und Erwartungen zu kommunizieren und sich
damit in seinem Selbstverständnis darzustellen. Wolfgang Kraus formuliert in seiner
Studie „Das erzählte Selbst“:
„Was das Subjekt an Identitätsprojekten formuliert, wie es mit sich und anderen
verhandelt, all dies findet in Narrationen statt.“ (Kraus 2000, 168).
25
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
Infolgedessen ist der Begriff der „Identität“ mit dem der Sprache verbunden. In der
aktuellen Identitätsforschung werden die Narrationen nicht als individuelle Ausdrücke,
sondern als Produkte des sozialen Austausches verstanden. Keupp (2002, 209) betont,
dass Individuen sich in Interaktionen auf ein Sprachsystem zur Vermittlung und Verbindung von Ereignissen stützen und demzufolge in einem sozialen Akt involviert sind.
Demnach sind Narrationen in soziales Handeln eingebettet. Ferner wird davon ausgegangen, dass Individuen ihre Identität in einem lebenslangen Prozess konstruieren und
neue Interaktionserfahrungen das Selbstkonzept umformen (vgl. Keupp 2002, 189).
3.7
Resümee
Für meine weitere Untersuchung fasse ich zusammen: Spätertaubung ist eine Störung
der physiologischen Hörfähigkeit. Neben der fehlenden Möglichkeit der auditiven Perzeption ist der Mensch darüber hinaus von den bisherigen sprachlichen Kommunikationsmöglichkeiten mit der sozialen Umwelt abgeschnitten. Sprache und Kommunikation
sind zentrale Elemente der Alltagswelt, und ihr Verlust greift umfassend in die psychosoziale Lebenswelt der Betroffenen ein.
Unter kommunikationstheoretischen Gesichtspunkten sind postlingual ertaubte Erwachsene auf das visuelle Wahrnehmen einer gesendeten Nachricht angewiesen, indem sie
von den Lippen absehen. In einer akustisch orientierten Gesellschaft sind Menschen
jedoch nicht geschult, optische Eindrücke ausreichend zu erfassen und zu interpretieren.
Gleichzeitig sind dem Lippenabsehen vielfältige Grenzen gesetzt. Demnach stellt die
Spätertaubung eine Kommunikationsbehinderung dar, die sich zum einen auf die Zugehörigkeitsmöglichkeiten zur hörenden Gesellschaft auswirkt und zum anderen auf das
Selbstkonzept der Person.
Die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft wird über die Verwendung einer gemeinsamen
Sprache gesteuert. Für die Kommunikation zwischen hörenden und postlingual ertaubten Menschen konstatiere ich eine Inkongruenz im Hinblick auf die Verwendung und
das Verstehen einer gemeinsamen Sprache. Demzufolge ist davon auszugehen, dass für
spätertaubte Personen die Partizipationsmöglichkeiten zur hörenden Gesellschaft abnehmen. Ferner ist der Austausch von Gedanken mit anderen Menschen ein Grundbedürfnis des Menschen. Sprache ist das Medium, mit dem Individuen in Interaktion treten. In der Identitätsforschung wird davon ausgegangen, dass sich die Identität eines
Subjekts in der Interaktion entwickelt. Dabei ist Sprache das Mittel, mit dem sich Identität ausdrückt. Die Identität eines Subjekts besteht aus einem Netz von selbstbeschrei26
3 Kommunikationstheoretische Aspekte unter Berücksichtigung der Ertaubung im Erwachsenenalter
benden Narrationen und kann folglich in der Kommunikation verbalisiert werden (vgl.
Tesch-Römer 1990, 14).
In Bezug auf die vorliegende Thematik stelle ich fest: Sind Individuen in ihren bisherigen sprachlichen Möglichkeiten eingeschränkt, sind Auswirkungen auf die Interaktion
und demzufolge auch auf die Identität der betroffenen Person zu vermuten. Im folgenden Kapitel widme ich mich eingehender der theoretischen Betrachtung von Identität
und dem Prozess der Identitätsbildung.
27
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
4
Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
Zentraler Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist der Begriff der „Identität“ eines Menschen. Der Terminus „Identitätsarbeit“ steht dabei im Gegensatz zu klassischen psychologischen und soziologischen Definitionen von Identität. In diesem Kapitel soll zunächst eine für diese Studie gültige Definition von „Identität“ erarbeitet werden. Anschließend erfolgt ein kurzer Abriss klassischer Modelle der Identitätsentwicklung.
Darauf aufbauend werden die konzeptuellen Überlegungen zum prozessualen Modell
der „Identitätsarbeit“ skizziert, die für ein erweitertes Verständnis von Identität notwendig sind und den theoretischen Rahmen für den empirischen Teil der Arbeit bilden.
4.1
Allgemeine Begriffsdefinition von „Identität“
Eine eindeutige Definition des Konstruktes „Identität“ ist in der Wissenschaft nicht
vorhanden; zu unterschiedlich sind die Auffassungen darüber und entsprechend vielfältig sind die Begriffsbestimmungen. Im Hinblick auf die Lebenslage spätertaubter Menschen begrenze ich mich auf einzelne Aspekte, die mir in diesem Rahmen besonders
relevant erscheinen und zum weiteren Verständnis der vorliegenden Arbeit elementare
Aussagen enthalten.
Der Begriff der „Ich-Identität“ geht auf den Psychoanalytiker Erik Erikson zurück.
Ahrbeck (1997, 42) postuliert, dass der Begriff auch bei anderen Autoren genannt wurde, jedoch findet sich bei Erikson erstmals eine Begriffsentwicklung im Rahmen eines
elaborierten psychologischen Modells. Erikson offeriert in seiner Betrachtung:
„Das bewußte [sic] Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf
zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß [sic] auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen.
Was wir hier Ich-Identität nennen wollen, meint also mehr als die bloße Tatsache des Existierens, vermittelt durch persönliche Identität; es ist die Ich-Qualität
dieser Existenz.“ (Erikson 1973, 18).
In Anlehnung an Erikson verstehe ich unter Identität den Entwurf eines Individuums
von sich selbst, den sich die Person selbst und der Welt präsentiert. Meine anthropologische Grundannahme beruht dabei auf Luhmanns Verständnis eines selbstreferentiellen
Menschen, der die Fähigkeit besitzt, zu sich selbst Bezug zu nehmen. Gemäß Niklas
Luhmann (zit. n. Baum 2000, 163) ist ein Individuum in der Lage, über sich selbst, das
bedeutet über sein Denken, Träumen, Planen und Wünschen nachzudenken. Ich schließe mich dieser Sichtweise an und werde im empirischen Teil der Arbeit spätertaubte
28
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
Menschen zu ihrem Selbstverständnis befragen. Die folgenden Subjekttheorien zur Identität sind ausgewählte Modelle, die für meinen theoretischen Zugang bedeutsam sind
und für die Soziale Arbeit handlungsleitend wirken können. Es gibt hierzu vergleichbare Modelle, auf die ich an dieser Stelle kurz hinweise (vgl. Goffmann 1977; vgl. Siegert/Chapman 1987; vgl. Whitbourne/Weinstock 1982).
Haußer (1983, 3) konstatiert in seiner Definition, dass Identität immer etwas vom Individuum selbst konstruiertes ist. Folglich stellen Personen ihre subjektive Identität in
einem selbstreflexiven Prozess her, indem sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen über
sich selbst verarbeiten. Schlussfolgernd postuliert Haußer:
„Die Instanz, die über die Identität eines Menschen Auskunft zu geben vermag,
ist der betreffende Mensch, ist das Subjekt selbst.“ (Haußer 1983, 3).
Schließt man sich seinen Ausführungen an, so existiert Identität ursprünglich im Bewusstsein der Menschen und ist dementsprechend zu erforschen (vgl. Haußer 1983, 3).
Für die vorliegende Arbeit soll dieser Sachverhalt handlungsleitend sein, deswegen
erweitere ich meine theoretische Abhandlung um die subjektive Befragung von ausgewählten Personen. Dieser Zugang impliziert die Vorstellung einer narrativen Identitätskonstruktion unter Zuhilfenahme sprachlicher Strukturen. Kraus (2000, 171) und Keupp
(2002, 208) verweisen darauf, dass Subjekte ihr Erleben erzählend organisieren. Gemäß
Kraus (2000, 171) wird darunter die Art und Weise verstanden, in der das Subjekt
selbstrelevante Ereignisse auf der Lebenszeitachse aufeinander bezieht. Keupp (2002,
208) führt weiter aus, dass die narrativen Strukturen keine Eigenschöpfung des Individuums sind, „sondern im sozialen Kontext verankert und von ihm beeinflusst“. In diesem Zusammenhang verweise ich darauf, dass sich Individuen in sozialen Netzwerken
bewegen. Der Begriff der „subjektiven Identität“ soll folglich um den Begriff der „sozialen Identität“ als Kennzeichnung von sozialen Systemen ergänzt werden (vgl. Haußer
1987, 4).
In sozialen Netzwerken werden kulturelle Werte, Orientierungen und Einstellungen
entwickelt und vermittelt. Keupp (2002, 170) verwendet zur Beschreibung des Zugehörigkeitsgefühls eines Subjekts zu einer bestimmten Gruppe den Begriff der „kulturellen
Identität“. In den Sozialwissenschaften finden beide Begriffe ihre Anwendung und meines Erachtens können sie für die vorliegende Analyse eine ergänzende Funktion einnehmen. Abschließend betone ich, dass Identität immer ein Relationsbegriff ist (vgl.
Haußer 1987, 3). Das bedeutet, Identität bestimmt sich durch den Vergleich zu etwas
29
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
anderem. Die Frage lautet also nicht „Wie sehe ich mich?“, sondern „Wie sehe ich mich
im Vergleich zu anderen?“, „Wie sehe ich mich im Vergleich zu damals?“, „Wie hätte
mich mein Partner gern und wie hätte ich mich gern?“ etc. (Hintermair 2001, 110).
Durch diese Sichtweise wird deutlich, dass Identität dynamisch ist und sich ständig in
Bewegung befindet.
4.2
Klassische psychologische und soziologische Identitätstheorien
Für die Auseinandersetzung mit der Identitätsentwicklung sind vor allem zwei getrennte
klassische Forschungstraditionen bestimmend: zum einen die psychoanalytische Theorie, die mit den Namen E. Erikson verbunden ist, und zum anderen die soziologische
Sichtweise, die vor allem mit G.H. Mead und in seiner Fortführung L. Krappmann relevante Bezugsautoren darstellt. Während in der Psychologie Identität als Resultat der
menschlichen Entwicklung bezeichnet wird, versteht man in der Soziologie Identität als
Ergebnis einer gelungenen Interaktion (vgl. Kruse/Kiefer-Pahlke 1988, 37).
4.2.1
Kritische Reflexion der Entwicklungstheorie von E. Erikson
Erikson beschäftigte sich in Anlehnung an Freud mit den psychosozialen Aspekten der
einzelnen Entwicklungsphasen des Individuums von der Geburt bis zum hohen Erwachsenenalter. Im Gegensatz zu Mead nimmt er eine entwicklungspsychologische Perspektive auf die menschliche Identität ein und entwirft ein „Acht-Phasen-Modell der Identitätsbildung“ (vgl. Erikson 1973, 55ff.). Erikson unterstellt mit seinem Modell ein universelles menschliches Grundschema. Der epigenetische Phasenverlauf legt bestimmte
Thematiken in ihrer Abfolge im Lebenslauf fest, wobei einzelne Inhalte in bestimmten
Altersphasen dominieren und sich zu einer potentiellen Krise verdichten (vgl. Haußer
1998, 121). Beispielsweise postuliert Erikson die Jugendphase als Periode der Orientierung und Erprobung, in der das Individuum sein Identitätsprojekt formuliert und sich für
die spätere Erwachsenenphase vorbereitet. Das Erwachsenenalter ist anschließend die
Phase der Realisierung und Verteidigung der erarbeiteten Stabilität. Zur Vertiefung der
hier angedeuteten Entwicklungsthematiken verweise ich auf die entsprechende Literatur
(vgl. Ahrbeck 1997, 43ff.; vgl. Haußer 1995, 75ff.; vgl. Seidenstücker 1998, 47ff.).
Die verschiedenen zu absolvierenden Entwicklungsstufen und zu bewältigenden Krisen
sind für eine gelingende Identitätsentwicklung notwendig. Im Rahmen des Sozialisationsprozesses durchlaufen Individuen die einzelnen Entwicklungsphasen und entwerfen
ihre Ich-Identität indem sie auf die Erwartungen der Umwelt antworten (vgl. Krapp30
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
mann 1998, 67). Die Umwelt muss den Identitätsentwurf akzeptieren, in dem die Bedürfnisse des Heranwachsenden mit dem Paradigma der gesellschaftlichen Lebensführung zusammengefügt werden (vgl. Krappmann 1998, 67). Eine bedeutende Rolle hierbei nehmen die engeren Bezugspersonen im Sinne der psychosexuellen Theorie nach
Freud ein. Infolgedessen entsteht Identität an den Schnittstellen von persönlichen Entwürfen und sozialen Zuschreibungen. In diesem Zusammenhang konstatiert Georgogiannis:
„Im […] Prozess der Identitätsbildung ist der Heranwachsende ständig versucht, mit Hilfe der Anerkennung durch die Umwelt, weitere Fähigkeiten seines
Ichs herauszufinden und fügt die gesammelten Ich-Erfahrungen in der IchSynthese zu einem harmonischen Gesamtbild zusammen.“ (Georgogiannis 1985,
22).
Krappmann (1998, 67) ergänzt, dass die Anerkennung von der sozialen Umwelt leichter
zu erhalten ist, wenn die Ich-Synthese den akzeptierten Bildern von Persönlichkeit, den
vorstellbaren Lebenswegen und den üblichen Rollen entspricht. Folglich ist die IchIdentität eine Variante der Gruppen-Identität und stellt die Integration in die Gesellschaft dar. Weiterhin wird die soziale Definition von Identität deutlich, indem Erikson
unterstreicht, dass sich Heranwachsende für einen Platz in der Gesellschaft entscheiden
müssen, denn eine Identitätsbedrohung und Segmentierung entsteht, „wenn Jugendliche
nicht wagen, sich den sozialen Angeboten anzuvertrauen“, die ihnen einen Platz im
sozialen Leben versprechen (Krappmann 1998, 76). Ich schlussfolgere daraus, dass
Erikson von einer gelungenen Identitätsbildung ausgeht, sofern das Subjekt sich den
gegebenen gesellschaftlichen Strukturen anpasst und sich in diese einfügt.
Gemäß Erikson begleitet der Prozess der Identitätsbildung Individuen ein Leben lang.
Dennoch insistiert er, dass die Identitätsfindung in der Phase der Adoleszenz Vorrang
hat und nicht in das frühe Erwachsenenalter verlagert werden soll (vgl. Krappmann
1998, 74). Die zentrale Aufgabe des Jugendalters besteht daher in der Ausbildung einer
stabilen Identität. Eine stabile Ich-Identität manifestiert sich in der Integration der neuen
Erfahrungen mit den Erkenntnissen früherer Entwicklungsphasen, ohne das Gefühl von
persönlicher Kontinuität und Konsistenz zu verlieren (vgl. Frey/Haußer 1987, 7). Kontinuität („Ich bleibe über die Zeit hinweg dieselbe Person.“) und Konsistenz („Ich bin
in jeder Situation immer dieselbe Person.“) sind die zentralen Begrifflichkeiten der
Identitätstheorie von Erikson (Göser 2001, 14).
31
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
Die Identitätsfindung in der Adoleszenz strahlt auf die folgenden Entwicklungsphasen
aus. Infolgedessen ist die in der Jugend ausgebildete stabile Identität Voraussetzung, um
in späteren Lebenskrisen Ressourcen zur Bewältigung nutzen zu können. Gelingt die
Auseinandersetzung mit divergierenden Anforderungen und Erwartungen der sozialen
Umwelt nicht, kommt es zur Identitätsdiffusion. Erikson versteht darunter:
„eine Zersplitterung des Selbstbildes, […], einen Verlust der Mitte, ein Gefühl
von Verwirrung und in schweren Fällen die Furcht vor völliger Auflösung“
(Erikson zit. n. Krappmann 1998, 76).
Eriksons Modell unterscheidet sich von anderen Identitätsmodellen, indem es nicht nur
aufzeigt, welche Kompetenz ein Individuum in jeder Phase erringt, sondern auch, welche Fehlhaltung sich entwickeln kann (vgl. Krappmann 1998, 70). Einmal erfolgte Krisenlösungen sind nach seiner Theorie irreversibel. In einer potentiellen Krise schwanken Individuen zwischen den zwei Polen der betreffenden Thematik (vgl. Haußer 1998,
121). Diese Entwicklung soll hier nur angedeutet werden, um zu verdeutlichen, dass die
Identitätsbildung in normativen Krisen verläuft. Das Kriterium einer erfolgreichen Identitätsbildung ergibt sich nicht aus der „Heftigkeit der einzelnen Krise“, sondern durch
„die intensive Auseinandersetzung mit der Entwicklungsaufgabe“ (Krappmann 1998,
75). Haußer (1998, 121) expliziert in seiner Analyse, dass sich der Mensch während der
Krise mit beiden Polen der Thematik ambivalent identifiziert. Erst durch die eigene
Verarbeitung und Lösung der Krise erfolgen eine Festlegung und der Abschluss der
Entwicklungsphase. Die Bewältigung der einzelnen Entwicklungsaufgaben wird durch
das bereits erworbene Wissen und Können der früheren Entwicklungsstufen erleichtert.
Hintermair (2001, 111) postuliert zu Recht, dass Eriksons große Leistung in der Ausformulierung des entwicklungspsychologischen Gedankens bis ins hohe Erwachsenenalter zu sehen ist, der bei Mead zwar mitgedacht, aber nicht präzisiert wird.
Die Kritik an Eriksons Entwicklungstheorie bezieht sich vor allem auf die Vorstellung
eines kontinuierlichen Stufenmodells, dessen erfolgreiches Durchlaufen bis zur Adoleszenz eine stabile Identität für das spätere Erwachsenenleben sichert (vgl. Keupp 2002,
29). Erikson unterstellt, dass die ausgebildete „Kern-Identität" den Menschen eine erfolgreiche Lebensbewältigung ermöglichen würde ohne etwaige Rückfälle oder Neubestimmungen. Mit den heutigen empirisch gesicherten Erkenntnissen aus der Stressforschung sowie der Krisenbewältigungsforschung ist diese Irreversibilitätsannahme nicht
mehr haltbar (vgl. Haußer 1998, 124). In diesem Zusammenhang wird die Grenze des
Stufenmodells deutlich. Es werden keine expliziten Aussagen hinsichtlich des Selbst32
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
konzeptes im Erwachsenenalter getroffen. Stattdessen geht Erikson von einer weitgehend unbewusst ablaufenden Entwicklung aus (vgl. Ahrbeck 1997, 46). Eriksons Konstruktion der zeitlichen Kontinuität enthält keine Aussagen über die Beziehungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Bezug auf die Selbstkonzeption von
Individuen. Siegert und Chapman (1987, 144) setzen die Annahme dagegen, dass sich
Individuen auch im Hinblick auf das, „was sie in der Vergangenheit waren und was sie
in der Zukunft sein könnten“, definieren. Folgt man ihrer Argumentation, so ist für die
Identität von spätertaubten Personen anzunehmen, dass ihre gegenwartsbezogene Identitätsdefinition mit der vergangenen Entwicklung als hörende Person interagiert und ihre
zukünftige Identitätskonstruktion beeinflusst.
Eriksons Entwicklungstheorie folgt dem linearen Lebenslaufmodell in sozialstaatlichen
Arbeitsgesellschaften (vgl. Galuske 2002, 113). Der Wohlfahrtsstaat fördert und stabilisiert durch Bildung, Beratung und Betreuung Lebenswege innerhalb des biographischen
Normalitätsmusters. Indem Erikson die Jugendphase als Periode der Orientierung und
Erprobung für die spätere Erwachsenenphase betrachtet, folgt er den Eckpunkten des
staatlichen Lebensentwurfs (vgl. Galuske 2002, 114). Ich schließe mich Galuske an,
dass Eriksons Modell im Sinne des sozialstaatlich konstituierten Lebenslaufs immer
noch gewisse Gültigkeit besitzt. Gleichzeitig ist anzumerken, dass Erikson von einer
gesellschaftlichen Kontinuität ausgeht, die sich „in die […] subjektive Selbstfindung
verlässlich einbinden kann.“ (Keupp 2002, 30). Im Zuge von Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung können Eriksons Postulate den heutigen gesellschaftlichen
Bedingungen nicht mehr standhalten. Zeitgenössische Identitätstheorien zeigen auf,
dass sich Kohärenz und Kontinuität für Subjekte unter individualisierungstheoretischen
Gesichtspunkten als problematisch erweisen können (vgl. Ahbe 1998, 208). Die dargelegte gesellschaftsorientierte Kritik bedient sich vor allem den soziologischen Thesen
zur Risikogesellschaft von Ulrich Beck, der von einem immer schnelleren gesellschaftlichen Wandel ausgeht, welcher verschiedenste Anforderungen an das Subjekt stellt.
Zur Vertiefung seiner Analyse verweise ich auf die entsprechende Literatur (vgl. Beck,
1986; vgl. Keupp 2002). Einschränkend möchte ich bemerken, dass Erikson sein Modell unter völlig anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen entwickelte.
In der Psychoanalyse wird Identität als Syntheseleistung der Individuen verstanden,
divergierende Erwartungen in ihr Selbstkonzept zu integrieren. Identität ist in Eriksons
Konzeption das Ergebnis von Reflexionsprozessen des Subjekts. Dieser Sachverhalt ist
in der Wissenschaft nach wie vor aktuell und für den empirischen Teil dieser Arbeit
33
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
relevant, indem ich spätertaubte Menschen retrospektiv zu ihrem Selbstverständnis befrage.
Abschließend weise ich darauf hin, dass Erikson keine Aussagen über den Prozess der
Identitätsbildung trifft (vgl. Hintermair 1999, 15). Für den biographischen Zugang der
vorliegenden Arbeit ist dieser Sachverhalt entscheidend und muss mit anderen Theorien
untermauert werden.
4.2.2
Kritische Reflexion der Entwicklung des Selbst bei G.H. Mead und seiner
Fortführung durch L. Krappmann
Mead gilt als der Begründer der Theorie des symbolischen Interaktionismus. Ohne hier
näher auf diese Theorie eingehen zu können, beschränke ich mich nachfolgend auf die
Ausführungen zur Entwicklung des Selbst, die für die vorliegende Arbeit bedeutend
sind.
Im symbolischen Interaktionismus wird davon ausgegangen, dass sich Identität innerhalb gesellschaftlicher Beziehungen entwickelt. Die Grundannahme besteht darin, dass
Individuen untereinander in Interaktion stehen und durch die in der sozialen Interaktion
ablaufenden Prozesse ihre Identität erwerben (vgl. Georgogiannis 1985, 3). Folglich
entsteht Identität im Aushandlungsprozess des Einzelnen mit seiner gesellschaftlichen
Umwelt. Kohärenz und Kontinuität sind aus diesem Blickwinkel, analog zur Psychoanalyse, Kernfragen der Identitätsentwicklung (vgl. Keupp 2002, 97). Mead vertritt die
Ansicht, dass sich das Selbst eines Individuums formt, während es der Person gelingt,
ein reflexives Verhältnis zu sich auszubilden (vgl. Ahrbeck 1997, 34). Mit anderen
Worten: Indem es Individuen möglich ist, von sich selbst Abstand zu nehmen, sich aus
dieser Distanz heraus zu betrachten und über sich nachzudenken, entwickelt der betreffende Mensch sein Selbst (vgl. Ahrbeck 1997, 34). Dabei handelt es sich um eine kognitive Entwicklungsleistung des Individuums. Mead führt weiter aus, dass sich ein Bewusstsein von sich selbst nur in der sozialen Interaktion entfalten kann, so dass der
Mensch auf ein Gegenüber angewiesen ist. Mead offeriert in diesem Zusammenhang:
„Der Einzelne erfährt sich […] nur indirekt – aus der besonderen Sicht anderer
Mitglieder der gleichen gesellschaftlichen Gruppe oder aus der verallgemeinerten Sicht der gesellschaftlichen Gruppe als ganzer, zu der er gehört.“ (Mead zit.
n. Ahrbeck 1997, 34).
Meads Vorstellung von Identität besteht darin, dass sich Individuen nur in der Reaktion
der sozialen Umwelt auf ihr Verhalten selbst erkennen. Heranwachsende Personen er-
34
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
langen Identität, wenn sie für ihre soziale Umwelt verständlich handeln können. Dies ist
dem Individuum möglich, wenn es sein Handeln aus der Perspektive seines konkreten
Gegenübers sowie des gesellschaftlichen Zusammenhangs einschätzen und kontrollieren kann (vgl. Krappmann 1998, 79). Entscheidend sind dabei zunächst die wichtigsten
Bezugspersonen, anschließend die peer-group und letztlich die gesamte Gesellschaft im
Rahmen des menschlichen Sozialisationsprozesses. Nach Mead ist das basale Instrument zur Herstellung von Identität die Sprache. Sprache als System signifikanter Symbole ist das wichtigste Medium, mit dem Subjekte in Interaktion treten. Gleichzeitig
reflektieren Subjekte mit Hilfe von Sprache über ihre Erfahrungen und ihr Identitätsbewusstsein formt sich aus (vgl. Georgogiannis 1985, 6). Sprachliche Kompetenz ist eine
notwendige Bedingung für Reflexion und damit für die Entstehung von Identität. Ahrbeck analysiert Meads Annahme unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten
und kommt zu dem Schluss, dass
„[…] ein Kind erst dann ein Selbst ausbilden kann, wenn die Sprache bereits
entwickelt ist. Und umgekehrt: eine sich entwickelnde Sprache kann als Ausdruck der Entwicklung des Selbst angesehen werden.“ (Ahrbeck 1997, 35).
Insofern hat die menschliche Sprache in Meads Theorie eine unersetzbare Funktion für
die Ausbildung des Selbst. Gleichzeitig besteht in dieser Vorstellung das eigentliche
Problem in Meads Theorie: Einerseits stellen Subjekte mittels sprachlicher Reflexion
Identität über sein Verhalten her, andererseits wird Sprache selbst erst über soziale Interaktion erworben (vgl. Georgogiannis 1985, 7). Mead versucht das Problem der Diskrepanz zwischen sozialer Determination und individueller Freiheit aufzulösen, indem
er das Konstrukt Identität in „me“ und „I“ unterteilt (vgl. Georgogiannis 1985, 7). Das
„me“ kennzeichnet die Vorstellung von der Wahrnehmung der eigenen Person durch die
Umwelt. Das „I“ bezeichnet hingegen die aktive Reaktion des Subjekts auf eine, durch
Erwartungen definierte, soziale Interaktion (vgl. Ahrbeck 1997, 36).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Meads Begriff des „Selbst“ zum einen die
Sozialisation im Sinne einer universellen Rollenübernahme thematisiert, und zum anderen die Individuation als eine aktive Stellungnahme zu sozialen Erwartungen berücksichtigt (vgl. Ahrbeck 1997, 36). Infolgedessen unterliegen Subjekte der Aufgabe, die
Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und die Abgrenzung von dieser miteinander in
Einklang zu bringen.
35
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
Lothar Krappmann (1969, 134) kritisiert die Theorie des Selbst dahingehend, dass
nach seiner Ansicht nicht geklärt wird, worauf die Fähigkeit des „I“ beruht, die Erwartungen der Umwelt so zu interpretieren, dass es seine Einzigartigkeit in ihnen ausdrücken kann. Krappmanns Theorie knüpft an diesem Punkt an und führt aus, dass Identität
die Anerkennung der sozialen Umwelt braucht, jedoch die eigenen Bedürfnisse nicht
aufgegeben werden dürfen. Hier unterscheidet sich die interaktionistische Sichtweise
von der psychoanalytischen Theorie nach Erikson: Im interaktionistischen Sinn stellt
Ich-Identität eine individuelle Leistung der Balance zwischen den Erwartungen der
Umwelt und der Individualität des Individuums dar (vgl. Krappmann 1969, 72).
Krappmann gebraucht hierfür die Begriffe „soziale Identität“ und „persönliche Identität“. Identität ist erlangt, wenn das Subjekt fähig ist, die divergierenden Pole im Gleichgewicht zu halten. Da Menschen im Laufe ihres Lebens neue Interaktionserfahrungen
sammeln, müssen sie ihre Identität stets neu ausbalancieren. Folglich sind Individuen
ständig bestrebt zusätzliche Erfahrungen, aber auch Verletzungen in ihr Selbstkonzept
zu integrieren (vgl. Krappmann 1998, 81). Krappmann (1969, 12) erläutert, dass vor
allem im Medium der verbalen Kommunikation die Situationsinterpretation und die
Auseinandersetzung über gegenseitige Erwartungen zwischen den Interaktionspartnern
stattfinden. Sprache ist dabei das Hauptelement, sich in seiner Identität zu vermitteln
(vgl. Georgogiannis 1985, 28). Die dynamische Auffassung von Identität ist für den
Rahmen dieser Arbeit relevant, weil zu fragen bleibt, wie sich plötzliche Interaktionseinschränkungen auf die Identität von Personen auswirken.
Zusammenfassend halte ich fest, dass Identität ein Netz aus selbstbeschreibenden Propositionen ist und damit in der Kommunikation verbalisiert werden kann (vgl. Tesch
Römer 1990, 14). Dieser Sachverhalt besitzt in der vorliegenden Arbeit den Status einer
methodischen Prämisse: Indem ich den Überlegungen von Mead und Krappmann im
Hinblick auf die sprachliche und damit kommunikative Organisation von Identität folge,
kann ich Interviewverfahren, welche kommunikative Kompetenz voraussetzen, rechtfertigen.
Einschränkend hebe ich hervor, dass bei aller Betonung der Prozesshaftigkeit in der
psychoanalytischen Sichtweise durch Erikson sowie den interaktionistischen Ansätzen
nach Mead und Krappmann die biographische Perspektive verloren geht. Es fehlt weitgehend ein Modell, in dem berücksichtigt wird, welche Spuren die Interaktionsprozesse
in Individuen hinterlassen. Gerade dieser Sachverhalt ist bei Menschen mit spezifischen
36
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
Einschränkungen, wie z.B. spätertaubten Personen, von besonderer Bedeutung. Die
Frage, wie Menschen mit ihren individuellen Wahrnehmungsbedingungen und Interaktionsmöglichkeiten ihre Erfahrungen reflektieren, kann mit den klassischen Identitätstheorien nur ungenügend geklärt werden. Hierzu bedarf es eines erweiterten Verständnisses von Identität, welches ich im folgenden Abschnitt erarbeiten werde.
4.3
Das sozialpsychologische Modell der Identitätsarbeit
4.3.1
Grundlegendes Verständnis von Identität
Die basale Grundlage für ein erweitertes Verständnis von Identität und der Überarbeitung der klassischen Modelle liegt in den gesellschaftlichen Bedingungen der ausgehenden Moderne. Für Individuen gehört es heutzutage zu einer Schlüsselqualifikation,
sich in einer individualistischen und pluralistischen Gesellschaft mit Unübersichtlichkeiten, Orientierungsverlusten und Handlungsunsicherheiten zu bewegen, die unterschiedlichen Erwartungen und Aufgaben zu bewältigen und dabei handlungsfähig zu
bleiben (vgl. Hintermair 1999, 16). In Anlehnung an die klassischen Modelle der Identitätsentwicklung (vgl. Kapitel 4.2) beschäftigt sich die neuere Identitätsforschung mit
der Frage nach der inneren Kohärenz des Subjekts. Mit der Theorie zur Identitätsarbeit
wird aufgezeigt, in welcher Form Menschen für sich Kohärenz bilden (vgl. Keupp 2002,
12). Der Begriff „Identitätsarbeit“ umfasst den sozialpsychologischen Blickwinkel auf
die Entwicklung von Identität als einen offenen lebenslangen Prozess, dessen Aufgabe
darin besteht, fortlaufend neue Erfahrungen zu interpretieren und „eine stimmige Passung zwischen dem subjektiven «Innen» und dem gesellschaftlichen «Außen»“ zu schaffen (Keupp 2002, 28). In diesem Postulat äußert sich die Verbundenheit mit den interaktionistischen Ansätzen, indem herausgestellt wird, dass Identitätsentwicklung immer ein
Aushandlungsprozess des Individuums mit seiner sozialen Umwelt ist (vgl. Kapitel
4.2.2). Keupp (zit. n. Hintermair 1999, 23) weist darauf hin, dass die eminenten Voraussetzungen für ein stimmiges Identitätsgefühl „soziale Anerkennung“ und „Zugehörigkeit“ sind.
Die zentrale Prämisse für das Modell der Identitätsarbeit besteht in der Annahme, dass
Identität die Verknüpfungsarbeit lebensweltlicher Erfahrungen der Individuen darstellt.
Dabei ordnen Menschen ihre Erfahrungen nach der zeitlichen Perspektive, indem Vergangenes mit Gegenwärtigem und Zukünftigem verbunden wird. Des Weiteren werden
die Selbsterfahrungen unter lebensweltlichen- und biographischen Gesichtspunkten
verarbeitet. Dazu gehören z.B. Erfahrungen als Partner, als Berufstätiger oder ge37
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
schlechtsrollenbezogene Selbstthematisierungen. In dem Zusammenhang wird auch die
Verbindung der Teilidentitäten in den jeweiligen Lebensfeldern von Arbeit, Partnerschaft, sozialen Netzwerken und Kultur betrachtet, die widersprüchliche Schwerpunkte
enthalten können. Letztlich unterliegen Selbsterfahrungen auch inhaltlichen Ordnungen
nach Ähnlichkeit und Differenz (vgl. Keupp 2002, 190). Keupp (2002, 190) versteht
darunter eine Verknüpfung zwischen den Selbsterfahrungen, die bereits vorhandene
Erfahrungen bestätigen, die den früheren widersprechen oder die neu sind. Diese Prozesse sind durch Ambivalenzen, Widersprüche und Spannungen geprägt und das Ziel
einer Identitätsarbeit besteht nicht in der Auflösung der Differenzen, sondern in der
Bewältigung der Spannungen, indem die Ambivalenzen und Widersprüche in ein subjektiv lebbares Beziehungsverhältnis gebracht werden (vgl. Göser 2001, 68). Die anthropologische Grundannahme der Theorie besteht in einem konstruktivistischen Menschenbild, welches davon ausgeht, dass Individuen im Kontext ihrer spezifischen
Wahrnehmungs- und Lebensbedingungen ihr Leben auf der Basis ihrer alltäglichen
Erfahrungen mit Sinn füllen und dabei zu einer persönlichen Konstruktion ihrer Selbst
gelangen (vgl. Hintermair 1999, 21). Hintermair kommentiert, dass es in dieser Definition von Identität weniger um normative Vorgaben wie Kontinuität, Konsistenz oder
Gelingen geht, sondern vielmehr um die handelnden Tätigkeiten eines reflexiven Subjekts,
„das seine Einmaligkeit und Geschichtlichkeit durch ein fortlaufendes Vergleichen und konstruktives Anpassen persönlicher Erfahrungs- und Handlungsmuster im Kontext konkreter sozialer […] Bedingungen gestaltet und fortschreibt
[…]“ (Hintermair 1999, 21).
Anhand dieser Begriffserklärung von Identität kann im empirischen Teil der theoriegeleiteten Analyse dem Forschungsinteresse nachgegangen werden, inwiefern sich eine
plötzliche Ertaubung im Erwachsenenalter auf die Identitätsarbeit eines Betroffenen
auswirkt. Ferner richtet sich mit dieser Definition der Blick auf eine einzigartig ausgerichtete Lebenssicht der einzelnen Menschen und ihrer ebenso individuell entfalteten
Identität in der Vielfalt lebensweltlicher Erfahrungen. Folglich kann dieser Ansatz als
theoretisches Bezugssystem für eine „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ handlungsleitend sein.
4.3.2
Identitätsentwicklung als prozesshafte alltägliche Identitätsarbeit
In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Bausteine der alltäglichen Identitätsarbeit beleuchtet, die sich an die Ausführungen von Straus und Höfer (1998), Hin38
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
termair (1999) und Keupp (2002) anlehnen. Ergänzt wird die Perspektive um das übergreifende Prozessmodell von Haußer (1995), welches für die vorliegende Analyse zur
plötzlichen Ertaubung im Erwachsenenalter eminente Aussagen enthält.
4.3.2.1 Situationale Selbstthematisierungen
Situationale Selbstthematisierungen stellen die Basis der alltäglichen Identitätsarbeit
dar. Dahinter steht die Auffassung, dass Subjekte fortlaufend ihr Handeln und ihr Erleben im Hinblick auf dessen Bedeutungszusammenhang für sich selbst reflektieren und
folglich an ihrer Identität arbeiten (vgl. Hintermair 1999, 28). Gemäß Keupp (2002,
195) erfolgt das Nachdenken über lebensweltliche Erfahrungen als eine Verknüpfung
von retro- und prospektiver Zeitanalyse. Er konstatiert:
„In der alltäglichen Identitätsarbeit sind retrospektiver Prozess und prospektiver Prozess […] immer miteinander verbunden, es gibt keine Erinnerung, die
nicht auch in die Zukunft gerichtet wäre, und keinen Entwurf, der nicht vergangene Erfahrungen beinhalten würde.“ (Keupp 2002, 195).
Im Zentrum des retrospektiv-reflexiven Prozesses als verarbeitendem und bewertendem
Teil der Identitätsarbeit stehen situationale Selbstthematisierungen. Es wird davon ausgegangen, dass in jeder Interaktion die implizite Auseinandersetzung mit den Fragen
„Wer bin ich?“ und „Wer war ich in dieser Situation?“ erfolgt (vgl. Hintermair 1999,
28). Meiner Meinung nach wird in dieser Sichtweise die Nähe zu den Ansätzen von
Mead und Krappmann deutlich, die sich ebenfalls der Identitätsentwicklung in Interaktionen widmen. In Abgrenzung zu Mead gehen Straus und Höfer (1998, 273) jedoch
von kognitiven und affektiven Anteilen in einer identitätsrelevanten Erfahrung aus. Sie
unterscheiden folgende vier Arten der Selbstwahrnehmung:
-
kognitive Selbstwahrnehmung („Welches Bild hat eine Person von sich in der
jeweiligen Situation?“)
-
emotionale Selbstwahrnehmung („Wie hat sich die Person in der jeweiligen Situation gefühlt?“)
-
soziale Selbstwahrnehmung („Welche verbalen und nonverbalen Rückmeldungen hat ein Mensch zu seinem eigenen Verhalten oder zu seiner Person wahrgenommen?“)
-
produktorientierte Selbstwahrnehmung („Welche Leistungen hat der Mensch erbracht?“) (Straus/Höfer 1998, 273).
39
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
Keupp (2002, 192) fügt in seiner Betrachtung noch eine fünfte Ebene hinzu u.z. die
„körperliche Selbstwahrnehmung“. Die Ebene umfasst die Frage: „Wie hat sich die
Person in der jeweiligen Situation körperlich gefühlt?“. Im Folgenden beziehe ich diese
fünfte Perspektive in meine Analyse mit ein, da sie für die vorliegende Untersuchung
unter dem Blickwinkel einer ganzheitlichen Betrachtungsweise eminent ist. Straus und
Höfer (1998, 274) führen aus, dass die genannten Gesichtspunkte in jeder sozialen Interaktion enthalten sind und sich gegenseitig beeinflussen, ohne dass der Mensch dies
explizit beobachtet. Hintermair (1999, 30f.) betont in diesem Zusammenhang, dass
nicht alle Aspekte gleichrangig sind. Der emotionale Anteil nimmt eine weitaus größere
Rolle im Vergleich zu den anderen Aspekten ein, als dies in der kognitiv orientierten
Identitätsforschung angenommen wurde. Die Selbstwahrnehmungen kumulieren zu
einem Gesamteindruck und werden in der Biographie des Subjekts abgespeichert, wobei
ein Wechselverhältnis zwischen aktueller und früherer Selbstthematisierung besteht
(Keupp 2002, 195).
4.3.2.2 Bildung von Teilidentitäten
Gemäß Straus und Höfer (1998, 275) bleiben Individuen bei ihrer Selbstreflexion nicht
auf der situationalen Ebene stehen, sondern bündeln die einzelnen Selbstwahrnehmungen zu Identitätsperspektiven. Die Bündelung erfolgt unter kulturellen und narrativen
Gesichtspunkten. In Anlehnung an Straus und Höfer umschreibt Keupp (2002, 193)
Identitätsperspektiven als Erzählrahmen, indem der Blick auf die eigene Person unter
bestimmten Rollen, lebensphasischen Themen oder übergreifenden Sichtweisen fokussiert wird. Aktuelle subjektive Selbstthematisierungen vermischen sich mit früheren
Erfahrungen (z.B. „Früher bin ich gern ins Kino gegangen; seit der Ertaubung habe ich
daran keinen Spaß mehr.“) und die narrative Konstruktion ermöglicht die Sortierung
und Ordnung der identitätsrelevanten Ereignisse. Sie sind im Kontext der Biographie
der Individuen eingebunden und beschreiben die individuelle Erfahrungswelt der Menschen (vgl. Hintermair 1999, 39).
Selbstthematisierungen können unter mehreren Identitätsperspektiven abgespeichert
werden, beispielsweise unter der Perspektive „ich als spätertaubte Person“, „ich als berufstätige Person“ oder unter dem Aspekt „ich als Ehemann/Ehefrau“ (vgl. Hintermair
1999, 36). Es stellt sich nun die Frage, warum ein Subjekt bei der Ordnung der Selbstthematisierung diese und nicht eine andere Perspektive wählt. Hintermair (1999, 37)
postuliert, dass es sich bei der Perspektivenbildung um einen stark soziokulturell ge40
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
formten Prozess handelt. Keupp (2002, 193) schließt sich in seiner Analyse diesem Postulat an, indem er von „kulturspezifisch geprägten Identitätsperspektiven“ spricht.
Die Integration von individuumsspezifischen Erfahrungsmustern unter einem bestimmten Aspekt führt zur Ausbildung einer Teilidentität. Mit den Worten von Straus und
Höfer (1998, 281) sind Teilidentitäten das „Ergebnis der Integration der selbstbezogenen situationalen Erfahrungen unter bestimmten Perspektiven […].“. Am Beispiel der
„beruflichen Teilidentität“ soll ihre Entstehung verdeutlicht werden: Straus und Höfer
erläutern, dass die Verdichtung der situativen Selbsterfahrungen in Bezug auf den Erwerb einer beruflichen Identität zu der Typisierung der eigenen Person als „Berufstätiger“ führt (Straus/Höfer 1998, 281).
Ferner wird in der Identitätsforschung davon ausgegangen, dass Teilidentitäten die für
eine bestimmte Lebensphase gültigen „Standards“ enthalten. Unter dem Begriff „Standard“ verstehen die Autoren ein Set von Bedeutungen, die Personen entwerfen und die
definieren, wer man glaubt zu sein (vgl. Keupp 2002, 219). Am Beispiel der Teilidentität „ich als spätertaubte berufstätige Person“ sollen die einzelnen Standards kurz skizziert werden:
-
kognitive Standards („Wo sehe ich als spätertaubte Person meine beruflichen
Stärken und Schwächen?“)
-
emotionale Standards („Wo fühle ich mich aufgrund meines Selbstwertgefühls
sicher und habe Vertrauen in mein eigenes berufliches Handeln?“)
-
soziale Standards („Die von mir wahrgenommene Einschätzung der anderen zu
meinen beruflichen Fähigkeiten und Kompetenzen.“)
-
produktive Standards („Was glaube ich durch meine berufliche Tätigkeit bewirken oder herstellen zu können?“)
-
körperorientierte Standards („Welche körperlichen Fähigkeiten besitze ich für
meine beruflichen Anforderungen?“) (vgl. Keupp 2002, 219).
Straus und Höfer (1998, 282) insistieren, dass es sich bei der Bildung der Teilidentitäten
nicht um einen Vorgang handelt, der im Sinne der klassischen Definition des Identitätsbegriffs alle Wahrnehmungsmodalitäten zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenfügt. Vielmehr sind Ambivalenzen und divergierende Bewertungen vorstellbar, z.B.
wenn die Wahrnehmung des sozialen Standards viel besser ausfällt als die des emotionalen Standards (vgl. Keupp 2002, 219). Die einzelnen Selbsterfahrungen werden auf
verschiedenen Ebenen in Beziehung gesetzt. Zum einen werden sie anhand der zeitli41
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
chen Dimensionen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) sowie der biographischen
Etappe, in denen sie gemacht wurden, analysiert. Zum anderen werden die Erfahrungen
in Bezug auf ihre Konsistenz und Kohärenz in Beziehung gesetzt (vgl. Keupp 2002,
190). Infolgedessen besteht die Identitätsarbeit von Subjekten aus einer Kombination
von retro- und prospektiven Anteilen und in ihrer Verknüpfung wird die individuelle
Biographie in einer Mischung aus Kontinuität und Kohärenz sowie Flexibilität und Prozesshaftigkeit organisiert (vgl. Straus/Höfer 1998, 286).
Aus den bisherigen Ausführungen ist ersichtlich, dass sich Straus und Höfer, Keupp
sowie Hintermair in ihrem Verständnis von Kontinuität und Kohärenz in Abgrenzung
zu den klassischen Modellen nicht auf die mathematische Formel A=A reduzieren lassen. Vielmehr werden Ambiguitäten mitgedacht, die sich als Ergebnis aus unterschiedlichen subjektiven Festlegungen ergeben können. Folglich wird Subjekten eine aktive
Steuerungsleistung bezüglich ihrer Identitätsentwicklung zugestanden, die sich durch
ihre gesamte Biographie zieht. Hintermair ergänzt, dass die Teilidentitäten dazu beitragen, dass Menschen ein aktuelles und fortlaufend aktualisierendes Bild von sich selbst
formen, weil stets neue situative Selbsterfahrungen zu früheren Erfahrungen hinzukommen (vgl. Hintermair 1999, 38).
In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass ein kritisches Lebensereignis, wie z.B.
ein Hörverlust im Erwachsenenalter, verändernd oder auflösend auf eine Teilidentität
wirken kann oder entscheidend für den Aufbau einer neuen Teilidentität ist. Straus und
Höfer (1998) sowie Hintermair (1999) rekurrieren in ihren Überlegungen Haußers
„Kreismodell des Identitätsprozesses“ und verstehen Identität als „konfliktorientiertes
Regulationsmodell“ (vgl. Haußer 1995, 63). Mit seinem übergreifenden Prozessmodell
bietet Haußer elementare Aussagen in Bezug auf die Teilidentitäten bei einer plötzlichen Ertaubung im Erwachsenenalter und wird für die vorliegende Analyse herangezogen. Haußer geht davon aus, dass sich Identität durch die prozesshafte Verarbeitung von
Lebenserfahrungen bestimmt (vgl. Hintermair 1999, 64). Er formuliert selbst:
„Es geht um die laufende Wechselwirkung zwischen der bestehenden Identität
eines Menschen und neuen, diese bestätigenden oder verunsichernden Erfahrungen.“ (Haußer 1998, 131).
Seine zentralen Begrifflichkeiten sind „Assimilation“ und „Akkommodation“, welche
sich an Piagets Grundbegriffe der Intelligenzentwicklung des Kindes anlehnen (vgl.
www.arbeitsblaetter.stangltaller.at, 2004). Assimilationsprozesse umfassen die Integration neuer Erfahrungen in die bestehende subjektive Identität, ohne qualitative Verände42
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
rungen für die Struktur der Personen hervorzurufen. Haußer (1998, 132) definiert diesen
Verlauf als Identitätsstabilisierung. Im Gegensatz zur Assimilation finden Akkommodationsprozesse statt, wenn neue Erfahrungen nicht ohne weiteres in die bestehende Identitätsstruktur des Subjekts integriert werden können, sondern zu signifikanten Veränderungen, Ausdifferenzierungen oder Neuentwürfen in der Selbstkonstruktion führen.
Gemäß Haußer (1998, 132) handelt es sich dabei um eine Identitätsänderung. Eine identitätsrelevante Erfahrung, wie z.B. ein Hörverlust im Erwachsenenalter, erfordert von
betroffenen Menschen einen kognitiven, einen emotionalen sowie einen motivationalen
Anpassungsprozess (vgl. „Drei-Komponenten-Ansatz“ In: Haußer 1998, 133). Die kognitive Ebene spiegelt sich in der Identitätsstabilisierung oder Identitätsänderung wieder.
Dagegen bezieht sich die emotionale Ebene des Identitätsprozesses auf das Selbstwertgefühl der Personen. Haußer (1998, 132) konstatiert an dieser Stelle, dass eine neue
identitätsrelevante Erfahrung selbstwertdienlich oder selbstwertbedrohlich wirken kann.
Die motivationale Ebene umfasst die Handlungsseite des Identitätsprozesses und äußert
sich in bestätigendem Sinn durch neues informationssuchendes Verhalten oder in Abwehrmechanismen, die zu Distanz und vermeidendem Verhalten führen können.
Gemäß Hintermair (1999, 68) besteht das Ziel einer adäquaten Identitätsarbeit in einem
sich immer wieder ausbalancierenden Verhältnis, so dass ein inneres Gleichgewicht
hergestellt wird. Keupp (2002, 197) setzt dagegen, dass es weder um eine Widerspruchsfreiheit noch um eine Kongruenz geht, sondern um ein subjektiv empfundenes
Passungsverhältnis mit einem persönlich definierten Maß an Ambiguität. In diesem
Zusammenhang sind die Ressourcen entscheidend, die Individuen für ihre alltägliche
Identitätsarbeit mobilisieren und nutzen können und die ihnen bei kritischen Lebensereignissen als Bewältigungsressourcen zur Verfügung stehen. Keupp (2002, 203) führt
als Beispiel die sozialen Netzwerke an, die in Orientierungskrisen Rückhalt und emotionalen Halt bieten können. In der vorliegenden Analyse über die Identitätsarbeit von
postlingual ertaubten Erwachsenen soll nicht das ausbalancierte Gleichgewicht als Zielvorstellung betrachtet werden, sondern das subjektiv stimmige Passungsverhältnis einzelner Menschen.
4.3.2.3 Metaidentität
Die Frage nach einer Metaidentität bzw. einem Identitätskern wird in der Identitätsforschung in zunehmendem Maße diskutiert. Straus und Höfer (1998, 297) entwickelten
ihr Modell nur bis zur Ebene der Teilidentitäten, stellen jedoch in ihrer Analyse die für
43
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
sie bislang plausibelste Konstruktion von übergeordneten Identitätsbezügen vor. Keupp
(2002, 217ff.) beschäftigt sich in Anlehnung an Straus und Höfer ebenfalls mit der
Konzeption zu einer Metaidentität. Für Hintermair (1999, 49) ist eine Bündelung von
Teilidentitäten zu einem umfassenden Identitätskern vorstellbar, „auch wenn die Empirie bislang keine gesicherten Aussagen darüber treffen kann“. Helga Bilden (1998,
227ff.) nimmt im Gegensatz zu den anderen Autoren die radikalste Position ein. Sie
plädiert für die Anerkennung eines „dynamischen Systems vielfältiger Selbste“ (Bilden
1998, 227). Ohne hier näher auf ihren Ansatz eingehen zu können sei erwähnt, dass sie
sich in ihrer Argumentation gegen Identitätszwang und Einheitssehnsucht ausspricht
(vgl. Hintermair 1999, 49). Es ist davon auszugehen, dass kommende empirische Studien zur Identitätsentwicklung erschöpfendere Angaben hierzu enthalten. Ich schließe
mich in meiner Analyse den Ausführungen von Keupp an und werde im Folgenden die
einzelnen Bausteine einer Metaidentität erörtern.
Als einen ersten Baustein für die Konstruktion einer Metaidentität ist die Dominanz
einer Teilidentität vorstellbar (vgl. Keupp 2002, 217). Ein Beispiel hierfür wäre die
Vorherrschaft der Aussage: „Ich bin gehörlos.“, gegenüber der Aussage „Ich bin ein
Mann.“. Nach individuellem Erfahrungshintergrund des Individuums kann sich die Überlegenheit einer bestimmten Teilidentität im Laufe des Lebens auf andere Teilidentitäten verlagern.
Der nächste Baustein einer Metaidentität besteht im Identitätsgefühl einer Person.
Keupp (2002, 217) führt aus, dass die Verdichtung von biographischen Erfahrungen auf
der Ebene zunehmender Generalisierung der Selbstthematisierung und der Teilidentitäten zur Entstehung des Selbstwertgefühls führen. An anderer Stelle hebt er hervor, dass
situationale Selbsterfahrungen nicht nur im Rahmen einer Teilidentität geordnet werden, sondern zusätzlich in ihrem Kerngehalt im Identitätsgefühl abgespeichert werden
(vgl. Keupp 2002, 225). Analytisch betrachtet umfasst das Identitätsgefühl sowohl Bewertungen über die Qualität und die Art der Beziehung zu sich selbst (Selbstgefühl) als
auch Bewertungen bezüglich der eigenen Alltagsbewältigung (Kohärenzgefühl). Letztlich handelt es sich um ein aktives inneres Regulationsprinzip, welches übergeordnet ist
und dem die einzelnen Selbstthematisierungen unterliegen (vgl. Keupp 2002, 225).
Der subjektiv bewusste Teil des Identitätsgefühls wird narrativ zur Darstellung der eigenen Person gegenüber sich selbst und der sozialen Umwelt verdichtet. Keupp (2002,
229) wählt hierfür den Begriff der „biographischen Kernnarration“. Dies ist der letzte
Baustein für die Konstruktion einer Metaidentität. Unter biographischen Kernnarratio44
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
nen ist die Ideologie von sich selbst zu verstehen, die in dem Versuch mündet, sich und
seinem Leben einen Sinn zu geben und dies anderen mitzuteilen.
Alle drei Bausteine der Metaidentität verdichten sich zu dem Gefühl der subjektiven
Handlungsfähigkeit. Diese stellt gemäß Keupp (2002, 217) die Funktionalität der Identitätsarbeit für das Handeln einer Person dar.
4.3.2.4 Subjektive Handlungsfähigkeit als Ergebnis der prozesshaften alltäglichen
Identitätsarbeit
Die Auseinandersetzung des Subjekts mit den Fragen „Wer bin ich?“, „Wer war ich?“
und „Wer möchte ich sein?“ enthalten immer Vorstellungen über die eigene Gestaltbarkeit und Bewältigung des Alltagslebens (vgl. Keupp 2002, 235). Keupp bezeichnet die
subjektive Handlungsfähigkeit des Individuums als ein persönliches Gefühl über die
Verfügbarkeit und die Gestaltbarkeit des eigenen Lebens. Die Handlungsfähigkeit stellt
die „allgemeinste Rahmenqualität eines menschlichen Daseins“ dar (Keupp 2002, 236).
Sie steht immer in einem Wechselverhältnis mit der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit. Darunter versteht Keupp (2002, 240) den sozialen Spielraum, der durch Normen
und Werte definiert ist und innerhalb dessen Grenzen das Verhalten von Individuen als
erwartbar und normal gilt.
Überträgt man diese Thesen auf das bisher entwickelte Modell der Identitätsarbeit, wird
der eminente Stellenwert des subjektiven Kohärenzgefühls für das Erleben der Verfügbarkeit und Gestaltbarkeit der eigenen Lebensbedingungen deutlich. Für die Soziale
Arbeit mit spätertaubten Menschen hat das subjektive Gefühl von Handlungsfähigkeit
den Stellenwert eines Interventionskriteriums (vgl. Böhnisch 2001, 31f.). Für den empirischen Teil der vorliegenden Arbeit besteht das Forschungsinteresse darin, zu erfragen,
welche subjektiven Vorstellungen über die eigene Gestaltbarkeit und Bewältigung des
Alltagslebens in Folge der Ertaubung existieren.
4.3.3
Zusammenfassung
Zusammenfassend halte ich fest, dass Identität das Rahmenkonzept von Individuen darstellt, innerhalb dessen die Personen ihre lebensweltlichen Erfahrungen interpretieren.
Der Begriff „Identitätsarbeit“ umfasst die aktuelle sozialpsychologische Perspektive der
individuellen Identitätsentwicklung im Sinne eines lebenslangen, offenen Prozesses, in
dem „situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen“ geschaffen werden (Keupp 2002, 60). Individuen reflektieren ihre lebensweltlichen Erfah45
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
rungen fortlaufend im Hinblick auf ihren Bedeutungszusammenhang für sich selbst und
arbeiten folglich beständig an ihrer Identität.
Die einzelnen Bausteine der alltäglichen Identitätsarbeit sind die situationalen Selbstthematisierungen, die Bildung von Teilidentitäten und die Metaidentität. Die situativen
Selbstthematisierungen werden zu Identitätsperspektiven gebündelt. Die Integration von
individuumsspezifischen Erfahrungsmustern unter einer bestimmten Identitätsperspektive führt zur Ausbildung einer Teilidentität. Teilidentitäten fügen sich zu übergeordneten Identitätsbezügen zusammen und stellen den Identitätskern einer Person dar. Das
Beziehungsverhältnis von Teilidentitäten und Metaidentität ist durch Wechselseitigkeit
bestimmt, da die Metaidentität ebenfalls die Bildung und Neustrukturierung von Teilidentitäten beeinflusst. Die Metaidentität wirkt sich auf das subjektive Handeln der Individuen aus und beeinflusst die situationalen Selbstthematisierungen. Alle Strukturen
der Identitätsarbeit unterliegen einem fortlaufenden Veränderungsprozess und sind
mehr oder minder stabil. Die folgende Abbildung verdeutlicht das Beziehungsverhältnis
der Konstruktionen der alltäglichen Identitätsarbeit von Individuen.
Abb. 5: Konstruktionen der Identitätsarbeit (Keupp 2002, 218)
46
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
4.3.4
Identitätsentwürfe und Identitätsprojekte
Die Begriffe „Identitätsentwurf“ und „Identitätsprojekt“ symbolisieren die zeitliche
Strukturierung des Identitätskonstruktes und werden an dieser Stelle als die zwei letzten
zentralen Begrifflichkeiten des Modells der Identitätsarbeit eingeführt.
Keupp (2002, 195) postuliert, dass situationale Selbstthematisierungen auch immer einen prospektiv-reflexiven Charakter besitzen. Das bedeutet, Menschen entwerfen unter
den Fragestellungen „Wer möchte ich sein?“ und „Wohin möchte ich mich entwickeln?“ optionale „Selbste“, die im Kontext der Identitätsarbeit als Identitätsentwürfe
klassifiziert werden. Identitätsentwürfe sind individuelle Vorstellungen über mögliche
Identitäten, die sich aus der biographischen Bearbeitung aktueller Selbstbeschreibungen
ergeben (vgl. Drewes 1993, 83f.). Schlussfolgernd halte ich fest, dass es sich bei diesen
Skizzen um imaginäre Vorstellungen des Individuums handelt.
Gemäß Hintermair (1999, 47) können sich Entwürfe zu Identitätsprojekten verdichten.
Keupp (2002, 194) schließt an, dass sich die konkreten Identitätsprojekte aus den Identitätsentwürfen, „die Subjekte in ihren jeweiligen Teilidentitäten «mit sich führen»“ ergeben. Die Divergenz zwischen den beiden Begriffen besteht im inneren Beschlusscharakter des Identitätsprojekts. Projekte setzen einen subjektiven Reflexionsprozess mit
Blick auf vorhandene Ressourcen voraus, die für eine Realisierung erforderlich sind
(vgl. Keupp 2002, 194). Ich schlussfolgere daraus, dass sich Identitätsprojekte an den
existierenden Möglichkeiten orientieren. Sowohl die subjektiven Identitätsentwürfe als
auch die konkreten Identitätsprojekte werden durch Erfahrungen aus der Vergangenheit
beeinflusst. In diesem Zusammenhang erörtert Keupp:
„[…] man kann jedes aktuelle Projekt und erst recht jeden Entwurf auf seine
biographischen «Wurzeln» hin untersuchen und wird da auch immer plausible,
scheinbar kausale Verbindungen finden.“ (Keupp 2002, 195).
In Verbindung mit der vorliegenden Arbeit ergibt sich die Frage, wie sich ein Hörverlust im Erwachsenenalter auf die subjektiven Identitätsentwürfe und Identitätsprojekte
von Betroffenen auswirken kann. Diese Überlegung greife ich im empirischen Teil
meiner Analyse wieder auf.
4.3.5 Der Zusammenhang zwischen Identitätsarbeit und sozialen Netzwerken
Individuen leben mit einer sozialen Umwelt, d.h. Personen stehen mit anderen Menschen im Kontakt, zu denen sie soziale Beziehungen aufbauen und die ihr soziales
Netzwerk gestalten (vgl. Göser 2001, 53). Gemäß Keupp (2002, 169) braucht die Identi47
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
tätsarbeit von Personen soziale Netzwerke. Diese stellen dem Individuum materielle,
emotionale und soziale Ressourcen zur Bewältigung von Belastungssituationen zur Verfügung und reduzieren die Komplexität der sozialen Welt durch die Vermittlung von
Relevanzstrukturen (vgl. Keupp 2002, 153). Infolgedessen bieten soziale Netzwerke für
Subjekte ein Fundament an Ressourcen und verschaffen die Möglichkeit, aus der Vielzahl von Informationen und Lebensformen die elementaren herauszufiltern und durch
Ausschlusskriterien auf ein individuell verkraftbares Maß zu begrenzen (vgl. Keupp
2002, 154). Gleichzeitig gestaltet Identitätsarbeit soziale Netzwerke, indem Personen
Netzwerkbeziehungen herstellen und sich in Beziehung zu anderen Individuen setzen.
Daraus entwickeln sich soziale Identitäten. Sowohl die Relevanzstrukturen als auch die
Netzwerkbeziehungen sind narrativ verankert. Keupp (2002, 103) führt aus, dass die
Selbstnarration sich fortlaufend in einem sozialem Aushandlungsprozess befindet. In
diesem Zusammenhang ist die Verwendung einer homogenen Sprache signifikante Voraussetzung für die soziale Interaktion.
Aus den bisherigen Darlegungen entstehen folgende zentrale Fragen für die Identitätsarbeit von postlingual ertaubten Menschen:
-
Wie sind ihre sozialen Netzwerke und besonders ihre kommunikative Dimension beschaffen?,
-
Wie begegnen ihnen Menschen und wie vermitteln sich spätertaubte Personen
ihrer Umwelt? und
-
Wie definieren sie sich in diesen sozialen Netzwerken bzw. wie können sie sich
definieren?
4.3.6
Kulturelle Identität
Keupp (2002, 180) konstatiert, dass in den sozialen Netzwerken kulturelle Werte, Orientierungen und Einstellungen vermittelt werden, die für die Identitätsarbeit von Bedeutung sind. Folglich bilden soziale Netzwerke nicht nur Interaktionsgemeinschaften, sondern bieten auch kulturelle Orientierung. Diese werden von Individuen in kulturelle
Praktiken und Formen der alltäglichen Lebensführung umgesetzt. Es kann sich eine
kulturelle (Teil-)Identität ausformen, die sich aus dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer
bestimmten Gruppe entwickelt. Die kulturelle (Teil-)Identität kann zeitweise dominieren, aber auch wieder in den Hintergrund treten (vgl. Göser 2001, 88). Keupp legt dar,
48
4 Theoretische Grundlagen aus der Identitätsforschung
dass der Begriff der „kulturellen Identität“ vorwiegend von diskriminierenden Minderheiten aufgenommen wurde, welche
„im Rahmen ihrer Emanzipationsprozesse die ihnen […] negativ zugeschriebenen diskriminierenden Identitäten aufgegriffen und als Ausgangsbasis positiver
Identifikation genutzt haben.“ (Keupp 2002, 171).
Unter Bezugnahme auf Keupp betone ich, dass die Emanzipationsprozesse nicht auf
Abwehr von Diskriminierung oder auf Selbstaufwertung beruhen. Vielmehr geht es in
den sozialen Netzwerken, die sich auf kulturelle Identität gründen, um die Beschreibung
anderer, minoritärer Lebens- und Erfahrungszusammenhänge, die nicht nur als Abweichung von der Dominanzkultur, sondern auch als deren Bereicherung begriffen wird
(vgl. Keupp 2002, 171). Ein Beispiel für eine kulturelle Minderheit ist die Gehörlosenbzw. Gebärdensprachgemeinschaft. Zu ihr fühlen sich gehörlose Menschen zugehörig,
welche die Gebärdensprache als Interaktions- und Verständigungsmedium nutzen und
in der hörenden Gesellschaft kommunikative Einschränkungen erleben. Folglich versteht sich die Gebärdensprachgemeinschaft als kulturelle Sprachgemeinschaft, die entscheidend für die Identitätsarbeit von gehörlosen Personen ist. Lane führt aus, dass sich
die kulturelle Konzeption von gehörlosen Menschen auf folgende Fragenkomplexe
stützt:
„Wie sehen die jeweils miteinander verflochtenen Werte, Bräuche, Kunstformen,
Überlieferungen, Organisationen und Sprachstrukturen aus, welche die fragliche Kultur charakterisieren? Welchen Einfluss übt die materielle und soziale
Umgebung aus, in welche die Kultur eingebettet ist?“ (Lane 1994, 38).
Solche Fragen sind im Prinzip wertneutral. Sie unterstellen den Mitgliedern eines sozialen Netzwerkes zunächst keine Defizite, sondern bestimmen kulturelle Vielfalt. Spätertaubte Menschen sind physiologisch betrachtet gehörlos und erleben kommunikative
Einschränkungen in der hörenden Gesellschaft. Jedoch bestimmt die physiologische
Hörschädigung einer ertaubten Person nicht automatisch die Mitgliedschaft zur Gebärdensprachgemeinschaft und formt eine kulturelle (Teil-)Identität aus. Entscheidender als
das medizinische Kriterium ist die Identifikation mit der Gruppe hörgeschädigter Menschen. Meines Erachtens sind spätertaubte Menschen im Gegensatz zu prälingual gehörlosen Personen nicht eigens in Netzwerken organisiert.
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird u.a. der Frage nachgegangen, inwiefern die
Gebärdensprachgemeinschaft für spätertaubte Personen ein soziales Netzwerk darstellt,
in der sich eine kulturelle (Teil-)Identität ausbildet.
49
5 Kulturelles Konzept von Gehörlosigkeit
5
Kulturelles Konzept von Gehörlosigkeit
Im folgenden Kapitel stelle ich grundlegende Informationen zur Kultur gehörloser Menschen dar. In Anbetracht meines speziellen Blickwinkels auf eine Ertaubung im Erwachsenenalter möchte ich damit eine Basis an spezifischem Wissen schaffen, die für
den empirischen Teil der Analyse und für mögliche Anforderungen an die Soziale Arbeit mit spätertaubten Menschen relevante Aussagen enthält.
5.1
Definition von „Kultur“
In diesem Rahmen erscheint es mir notwendig zunächst eine einleitende, allgemeine
Begriffsdefinition für „Kultur“ zu skizzieren, die den besonderen Gesichtspunkt meiner
Arbeit widerspiegelt. Der Kulturbegriff umfasst die Gesamtheit der Lebensformen und
Wertvorstellungen einer Gruppe in einem historisch bzw. regional abgrenzbaren Raum.
Dazu zählen die Methoden und Institutionen des gesamten Lebens, Wert- und Normensysteme sowie Verhaltensmuster und Fertigkeiten, die Individuen im Zuge des Hineinwachsens in eine Gesellschaft übernehmen und dementsprechend zu einer soziokulturellen Persönlichkeit heranreifen (vgl. Brockhaus 2001b, 612). Dieser Prozess wird als
Enkulturation bezeichnet. Die Weitervermittlung und das Erlernen der Kultur erfolgt
mittels Sprache, ebenso wird Sprache im Kontext der jeweiligen Kultur erlernt. Folglich
sind Sprache und Kultur unlösbar miteinander verbunden (vgl. Matthes 1996, 361). Die
Grenzen zwischen verschiedenen Kulturgemeinschaften sind nicht immer eindeutig
bestimmbar. Ansatzpunkte zur Demarkation können die Verwendung eines homogenen
Sprachsystems, gleiche Lebensgewohnheiten, weltanschauliche Orientierungen, Sitten
und Bräuche sowie gleiche Verhaltensmuster sein (vgl. Brockhaus 2001a, 408).
Innerhalb kultureller Milieus kann es Variationen geben, die wiederum als „Subkultur“
bezeichnet werden. Darunter wird eine Kultur verstanden, die Teile der Verhaltensweisen von der Dominanzkultur besitzt, sich jedoch in spezifischen Verhaltensweisen oder
Normen von dieser unterscheidet bzw. abgrenzt (vgl. Brockhaus 2001c, 324). Ausgehend von dem dargestellten Kulturbegriff werde ich im Folgenden die Gebärdensprachgemeinschaft als Subkultur der hörenden Kulturgemeinschaft betrachten.
5.2
Die Gebärdensprachgemeinschaft als kulturelle Minderheit
Die Gebärdensprachgemeinschaft verfolgt seit vielen Jahren die Ziele einer selbstbestimmten Lebensgestaltung und einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe. In
Abgrenzung zur medizinisch defektorientierten Definition versteht sich die Gemein50
5 Kulturelles Konzept von Gehörlosigkeit
schaft als „kulturelle Minderheit“ bzw. als „sprachliche Minderheit“ (vgl. Leven 2003,
14). Hierbei besteht eine Auffassung von Gehörlosigkeit als menschliche Differenz und
Andersartigkeit, die nicht nur als Abweichung von der hörenden Dominanzkultur verstanden wird, sondern auch als deren Bereichung begriffen werden kann (vgl. Kapitel
4.3.6). Im Kontrast zum medizinischen Defizitmodell hat die soziokulturelle Sichtweise
weitere Aspekte der Subkultur im Blick, z.B. Kunst, Theater, Sitten und Bräuche sowie
Interaktionserfahrungen mittels einer gemeinsamen Sprache (vgl. Boys Braem 1995,
144). Boyes Braem (1995, 144) führt aus, dass es ein künstlerisches Leben mit eigener
Folklore, eigenen Geschichten und Witzen in Gebärdensprache gibt. Darüber hinaus
sind poetische und theatralische Formen der Gebärdensprache hoch entwickelt und
werden auf nationaler und internationaler Ebene präsentiert.
Die Zugehörigkeit zur Gebärdensprachgemeinschaft erfolgt primär durch die Identifikation der Mitglieder mit dem sozialen Netzwerk. In der amerikanischen Sprache gibt es
hierfür die Unterscheidung der Begriffe „Deaf“ und „deaf“ (Padden/Humphries 1991,
10, vgl. Albertini 1991, 99). Der Begriff „Deaf“ impliziert Gehörlosigkeit als Ausdruck
einer Minderheitskultur und der Begriff „deaf“ kennzeichnet den audiologischen Mangel an Hörfähigkeit. In der deutschen Sprache ist diese Unterteilung nicht gegeben.
Die öffentlichen Aktivitäten der Gebärdensprachgemeinschaft äußern sich in Vereinen
oder Verbänden, die Kristallisationspunkte für das soziale Netzwerk sind. Von zentraler
Bedeutung für die Sozialstruktur sind z.B. Sportvereine, Gehörlosenclubs sowie das
Netzwerk von Internaten, die als Interaktionsforen dienen und ein lebendiges Verbindungsglied bei der Weitergabe von Kultur und Sprache darstellen. Ebbinghaus und
Heßmann betonen in diesem Zusammenhang:
„Wenn Gehörlose davon sprechen, der Gehörlosenverein sei ihre Heimat, dann
verweisen sie damit auf die zentrale Bedeutung dieses Ortes für ihr Sozialleben.
[…] Es ist aber gewiß [sic] verfehlt, soziale Gemeinschaften über ihre Probleme
zu definieren und die Existenz von Gehörlosenvereinen auf den Wunsch zurückzuführen, Menschen mit vergleichbaren Problemen treffen zu wollen. Gehörlose
finden einander nicht deshalb so attraktiv, weil sie behindert sind, sondern weil
sie im Umgang miteinander nicht behindert sind!“ (Ebbinghaus/Heßmann 1989,
240).
Das Gefühl von Verbundenheit und Solidarität ist nicht auf nationale Grenzen beschränkt. Internationale Vereinigungen und Organisationen strukturieren ebenso das
Sozialleben. Aus meiner eigenen Erfahrung mit hörgeschädigten Menschen ist mir bekannt, dass internationale Kontakte auf einer Vielzahl von Kongressen, Tagungen und
51
5 Kulturelles Konzept von Gehörlosigkeit
Gebärdensprachfestivals gepflegt werden. Ereignisse dieser Art bieten die Möglichkeit
anderen gehörlosen Menschen zu begegnen und auf der Grundlage gemeinsamer Kommunikationsmittel soziale Beziehungen einzugehen, die durch Zugehörigkeit und soziale Anerkennung bestimmt sind. Unter Bezugnahme auf das Modell der Identitätsarbeit
konstatiere ich, dass diese situationalen Selbstthematisierungen sich zu einer Teilidentität als kulturell gehörlose Person verdichten können und demnach kulturspezifisch geprägte Identitätsperspektiven ausgebildet werden. Dabei ist die Beherrschung der Gebärdensprache das verbindende und Kultur kennzeichnende Merkmal für die Gemeinschaft. Als genuine Sprache ermöglicht sie prälingual gehörlosen Menschen uneingeschränkte Kommunikations- und Interaktionserfahrungen.
Ebbinghaus und Heßmann (1989, 242) erörtern, dass der kommunikative Gebrauch der
Gebärdensprache notwendige Bedingung für das Fortbestehen der kulturellen Minderheit als gesellschaftliche Einheit ist. Des Weiteren schweißt die Gebärdensprache ihre
Benutzer zu einer Kulturgemeinschaft zusammen, denn im Sinne des symbolischen
Interaktionismus werden in interaktiven Kontexten mittels Sprache die Kultur und das
Weltbild einer Sprachgemeinschaft vermittelt (vgl. Matthes 1996, 360). Damit ist die
Gebärdensprache ein zentrales Merkmal für die Gruppenidentität hörgeschädigter Personen. Gleichzeitig ist anzumerken, dass der Großteil prälingual hörgeschädigter Menschen in hörenden Familien sozialisiert ist. Demzufolge erlernen sie die allgemein gültigen gesellschaftlichen Praktiken der hörenden Kultur, auch wenn sie ihnen fremd und
undurchschaubar bleiben. Im Laufe ihres Lebens kann die Gebärdensprachgemeinschaft
zu einem sozialen Netzwerk werden, zu dem sich hörgeschädigte Menschen zugehörig
fühlen, so dass sie darin ihre kulturelle (Teil-)Identität ausformen.
In diesem Zusammenhang wird auch die besondere Konstitutionsbedingung der Gebärdensprachgemeinschaft sichtbar. Ebbinghaus und Heßmann (1989, 241) erörtern, dass
im Regelfall Individuen in ihre Sprachgemeinschaft hineingeboren werden und die entsprechenden kulturellen Praktiken erlernen. Das zentrale Instrument zur Aneignung des
Kulturgutes der Gemeinschaft stellt die Sprache dar. Im Falle von gehörlosen Menschen
ist diese Situation oftmals nicht gegeben. Ich schließe mich Ebbinghaus und Heßmann
(1989, 244) an, die erläutern, dass die Gebärdensprachgemeinschaft für Hörgeschädigte
die „soziale Heimat“ ausdrückt, bedeute weder ein Versagen noch dass sie „Welt und
Gesellschaft den Rücken gekehrt haben“.
52
5 Kulturelles Konzept von Gehörlosigkeit
Vielmehr stehen hörgeschädigte Menschen in einer ständigen Wechselbeziehung mit
hörenden Menschen. Albertini offeriert in seiner Analyse der amerikanischen Gebärdensprachgemeinschaft:
„Durch ihre Interpretation dieser Wechselbeziehungen entwickeln sie eine gemeinsame Ansicht darüber, was es bedeutet, in der amerikanischen Kultur hörgeschädigt zu sein.“ (Albertini 1991, 101).
Die kommunikative Kompetenz von gehörlosen Menschen beruht auf kulturgenerienden Merkmalen ihrer Gemeinschaft. Beispielsweise zählt dazu die körperliche Berührung des Kommunikationspartners. Der Körperkontakt dient u.a. der Erlangung von
Aufmerksamkeit oder als Einstieg in eine Kommunikationssituation und unterliegt speziellen Regeln. Der Gebrauch des Namens einer Person, wie es in der Lautsprache üblich ist, wird in der Interaktion zwischen gehörlosen Menschen selten verwendet (vgl.
Kyle 1990, 205). Ein weiteres Beispiel für eine kulturspezifische kommunikative Verhaltensweise zeigt sich, wenn sich eine Person während eines Gesprächs abwenden
möchte. Hierzu analysiert Kyle:
„[…] wenn die Aufmerksamkeit abgelenkt wird, muß [sic] der Gebärdende bestimmte Konventionen anwenden, um den Gesprächspartner nicht zu verletzen.
Dies geschieht oft durch das Gebärden von ‚WARTE’, oder der Arm des Zuschauers wird festgehalten, während man sich wegdreht. Wird dies versäumt,
wird der andere Gehörlose das Abwenden als schwerwiegende Beleidigung
empfinden […].“ (Kyle 1990, 206).
Die bisherigen Ausführungen haben immer wieder die zentrale Bedeutung der Gebärdensprache für die Kultur der gehörlosen Menschen herausgestellt, so dass ich im folgenden Abschnitt noch näher auf das visuelle Sprachsystem eingehen möchte.
5.3
Die Gebärdensprache als eigenständiges visuelles Sprachsystem
Sprache ist nicht abhängig von der Fähigkeit zu hören und zu reden. Vielmehr ist es
eine abstraktere Fähigkeit des menschlichen Gehirns, die entweder auf verbalem oder
auf visuellem Weg ihren Ausdruck findet (vgl. Lane 1994, 32). Gebärdensprachen als
visuelle Sprachen sind national begründet. Es lassen sich z.B. die amerikanische, die
schwedische oder die französische Gebärdensprache unterscheiden.
Aufgrund des Behindertengleichstellungsgesetzes vom 27. April 2002 haben hör- und
sprachbehinderte Menschen in Deutschland erstmalig das Recht mit Trägern der öffentlichen Gewalt in Deutscher Gebärdensprache (DGS) zu kommunizieren. Die Träger
sind verpflichtet auf Wunsch den Betroffenen eine Übersetzung durch einen Gebärden53
5 Kulturelles Konzept von Gehörlosigkeit
sprachdolmetscher sicher zu stellen und die notwendigen Aufwendungen zu tragen (vgl.
www.behindertenbeauftragter.de, 2005). Es handelt sich hierbei um einen einklagbaren
Rechtsanspruch für gehörlose Menschen. Seitdem ist die Deutsche Gebärdensprache
gesetzlich als eine eigenständige Sprache anerkannt. Das impliziert die Tatsache, dass
die DGS kein Abbild der Lautsprache darstellt, sondern sich durch eine eigene linguistische Struktur auszeichnet. Aufgrund ihrer räumlichen Anordnung kann die Gebärdensprache nur in der mündlichen Kommunikation Anwendung finden, da bisher keine
adäquate Gebrauchsschrift existiert (vgl. Werth/Sieprath 2002, 361).
Zentrales Klassifikationsmerkmal für die Gebärdensprachverwendung ist der Umgang
mit dem dreidimensionalen Gebärdenraum, der sich vor dem Oberkörper und dem Kopf
des Gebärdenden befindet (vgl. Leven 2003, 27). Gebärden bestehen aus einzelnen Elementen, u.z. aus Handform, Handstellung, dem Ausführungsort am Körper und der
Bewegungsrichtung. Sie werden durch die menschliche Mimik, durch das Mundbild
sowie die Mundgestik ergänzt. Die einzelnen Komponenten treten gleichzeitig auf und
sind durch ihre eigenständige Grammatik und Lexik gekennzeichnet (vgl. Lane 1994,
32). Neben der DGS können schwerhörige, gehörlose und spätertaubte Menschen auf
weitere manuelle Kommunikationssysteme zurückgreifen, die ich im Folgenden kurz
vorstellen werde.
5.4
Weitere Formen der manuellen Kommunikation
5.4.1
Lautsprachbegleitende Gebärden
Werden Sätze der gesprochenen Sprache Wort für Wort in Gebärden übersetzt, erhält
man lautsprachbegleitende Gebärden (LBG). Es besteht die Möglichkeit einzelne Wörter der Lautsprache, Wortteile in zusammengesetzten Wörtern sowie einzelne Morpheme durch ein manuelles Zeichen zu ersetzen. LBG orientiert sich an der Lautsprache
und stellt im Gegensatz zur DGS kein eigenständiges Sprachsystem dar. In Studien zur
Verwendung von LBG fand man heraus, dass die Visualisierung des einzelnen Lautsprachmorphems doppelt so lang an Zeit benötigt wie die entsprechende gesprochene
Sprache (vgl. Boyes Braem 1995, 158). Gemäß Boyes Braem (1995, 158) entsteht dadurch eine unnatürliche zwischenmenschliche Kommunikation. Meines Erachtens können lautsprachbegleitende Gebärden besonders hilfreich und unterstützend in der Kommunikation mit schwerhörigen und spätertaubten Personen sein, die vor allem auf das
Lippenabsehen angewiesen sind und mit Hilfe visueller Gebärden eine zusätzliche Informationsquelle zur Entschlüsselung einer Nachricht erhalten.
54
5 Kulturelles Konzept von Gehörlosigkeit
5.4.2
Das Fingeralphabet
Das Fingeralphabet ist eine Kommunikationsform, bei der einzelne Handformen die
einzelnen Buchstaben des Alphabets repräsentieren. Fingeralphabete sind national verschieden. Im Gegensatz zum deutschen Fingeralphabet ist das britische System zweihändig. Mit Hilfe des Fingeralphabets können Wörter der Lautsprache im Gebärdenraum buchstabiert werden. Es können sowohl einzelne Wörter als auch ganze Sätze
buchstabiert werden. Allerdings ist Kommunikation mittels des Fingeralphabets nicht
nur in der Produktion sondern auch für den Zuschauer über längere Zeit ermüdend.
Aus meiner eigenen Erfahrung ist mir bekannt, dass sich das Fingeralphabet besonders
zur Buchstabierung von Begriffen eignet, für die es keine Gebärden gibt sowie zur
Buchstabierung von Eigennamen, die zur Verständigung im Kommunikationsprozess
notwendig sind. Für spätertaubte Menschen ist das Fingeralphabet eine leicht erlernbare
Kommunikationshilfe, die ihnen dabei hilft Fremdwörter oder unbekannte Begriffe, die
nicht von den Lippen absehbar sind, zu erfassen (vgl. Becker 2003, 66). Meinen Beobachtungen zufolge wird es häufig auch von Angehörigen, Freunden und Interessierten
erlernt, die in ihrem sozialen Netzwerk mit hörgeschädigten Menschen interagieren.
5.5
Zusammenfassung
Zum Abschluss des Kapitels dürfte deutlich geworden sein, dass die Gebärdensprachgemeinschaft eine kulturelle Subkultur im Sinne der Kulturdefinition darstellt (vgl. Kapitel 5.2). Sie bietet ihren Mitgliedern soziale Anerkennung und Zugehörigkeit für die
Entwicklung einer kulturellen (Teil-)Identität. Ein wesentliches kulturkennzeichnendes
Merkmal ist die Benutzung einer homogenen Sprache. Als Sprachgemeinschaft verwenden gehörlose Menschen die Gebärdensprache als Kommunikations- und Interaktionsmedium. Sie stellt ein eigenes Sprachsystem, analog zur Lautsprache, dar und bietet
ihren Benutzern, innerhalb ihrer Gemeinschaft, uneingeschränkte lebensweltliche
Kommunikations- und Interaktionserfahrungen. Darüber hinaus gibt es noch weitere
manuelle Kommunikationssysteme für hörgeschädigte Menschen, wie lautsprachbegleitende Gebärden und das Fingeralphabet. Sie begründen sich auf die Lautsprache und
setzen Kenntnisse der lautsprachlichen Lexik und Grammatik voraus. Im empirischen
Teil der Arbeit werde ich der Frage nachgehen, inwiefern die Gebärdensprachgemeinschaft für das kulturelle Leben von postlingual ertaubten Personen ein soziales Netzwerk darstellt und welche manuellen Kommunikationssysteme die befragten Menschen
verwenden.
55
6 Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen
6
Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen
Das Thema dieser Analyse ist die Auseinandersetzung mit der Identitätsarbeit postlingual ertaubter Erwachsener in ihrer besonderen Lebenssituation. Damit wird ein zentraler Aspekt des Konstruktes „Identität“ markiert, indem betroffene Menschen zum Ausgangs- und Mittelpunkt der Untersuchung erhoben werden. Auf diesen Überlegungen
aufbauend wähle ich einen biographisch- und lebensweltorientierten sozialpädagogischen Bezugsrahmen, der als theoretische Reflexionsfolie für mögliche Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit mit spätertaubten Menschen genutzt werden kann.
Die metatheoretische Perspektive der nachfolgenden Handlungstheorien beruft sich auf
den Empowermentansatz als Grundhaltung für die Soziale Arbeit. Infolgedessen werde
ich einleitend diese übergeordnete Sichtweise skizzieren. Anschließend erläutere ich die
zentralen Sachverhalte der „Lebenswelttheorie“ von Hans Thiersch. In seinem Konzept
vom „gelingenderem Alltag“ folgt Thiersch der subjektiven Lebenswelt von Individuen
und befasst sich mit den dort vorfindbaren Verstehens- und Handlungsmustern. Darüber
hinaus bietet das „Biographiekonzept“ von Lothar Böhnisch relevante Thesen für eine
subjektorientierte Betrachtungsweise, indem er die individuelle Biographie der Menschen in den Mittelpunkt seiner Darstellung hebt.
Die genannten Handlungstheorien der Sozialen Arbeit scheinen mir besonders geeignet,
um die Verhältnisse in den Lebenswelten von spätertaubten Menschen zu beleuchten
und problematische Strukturen zu erkennen. Daraus ableitend können im Anschluss an
die empirische Studie Handlungsanforderungen für die Soziale Arbeit mit spätertaubten
Menschen herausgearbeitet und diskutiert werden.
6.1
Empowerment als Grundhaltung für die Soziale Arbeit
Empowerment wird als professionelle Haltung von Sozialpädagogen verstanden, nach
der sie lösungs- und ressourcenorientiert arbeiten und Vertrauen in die Stärken und Fähigkeiten des Individuums haben (vgl. Stark 1996, 117). Demnach bedeutet Empowerment, Ressourcen für ein gelingendes Lebensmanagement zur Verfügung zu stellen, auf
die Menschen, bei Bedarf zurückgreifen können, um Lebensstärke und Kompetenz zur
Selbstgestaltung der Lebenswelt zu gewinnen (vgl. Miller 2000, 23). Damit wendet sich
der Empowermentansatz von einer traditionellen, defizitärorientierten Perspektive ab,
die Adressaten vordergründig als Personen betrachtet, welche bestimmte Kompetenzen
nicht entwickelt haben. Vielmehr wird der einzelne Mensch in eine ganzheitliche
56
6 Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen
Wahrnehmung gerückt und die Soziale Arbeit setzt an den vorhandenen Fähigkeiten
und Stärken einer Person an, ohne Defizite oder mögliche Schwächen aus dem Blick zu
verlieren.
Pankofer (2000, 13) konstatiert, dass die Grundlage allen Empowermenthandelns in der
Anerkennung der Gleichberechtigung von professionell Tätigem und Adressat liegt, in
der Konstruktion einer symmetrischen Arbeitsbeziehung und dass ein Beziehungsmodus des partnerschaftlichen Aushandelns hergestellt wird. Die genannten Aspekte können unter drei verschiedenen Ebenen zusammengefasst werden:
-
Ziele, Normen und Werte: Dazu zählen u.a. Selbstbestimmung und Fähigkeitsorientierung.
-
Methoden, Techniken und Verfahren: Beispielhaft sei hier die Gemeinwesenarbeit oder Partizipationsprozesse hervorgehoben.
-
Eine Grundhaltung der therapeutischen, beratenden oder politischen Arbeit, indem kompensatorisch gearbeitet wird, um die Verantwortung für das Alltagshandeln an das Individuum zurückzugeben und eine professionelle Hilfe überflüssig zu machen (vgl. Pankofer 2000, 13).
Sowohl Thiersch als auch Böhnisch verweisen in ihren Handlungstheorien der Sozialen
Arbeit auf eine Ressourcenarbeit, die soziale und kulturelle Teilhabe ermöglicht und
Partizipationsprobleme mindert. Damit folgen sie dem Empowermentgedanken und
richten ihren Blick auf die Selbstgestaltungskräfte der einzelnen Individuen. Ausgehend
von diesen Überlegungen entwerfen sie ihre Leitlinien und Arbeitsprinzipien für professionelles sozialpädagogisches Handeln. Im folgenden Abschnitt werde ich die einzelnen
Handlungstheorien explizit vorstellen.
6.2
Das Konzept „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“
6.2.1
Traditionslinie der Theorie
Der Begriff „Lebenswelt“ entstammt ursprünglich aus den Bezugswissenschaften Philosophie und Soziologie. Hans Thiersch erhob den Begriff zum sozialpädagogischen
Rahmenkonzept in seiner „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“.
Die „Lebensweltorientierung“ ist eine mögliche Handlungstheorie zur Analyse und
Strukturierung heutiger Sozialer Arbeit und hat gesellschaftliche Umbrüche der Moderne sowie die Zunahme der Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen im
Blick. Analog zum Modell der Identitätsarbeit stützt sich Thiersch mit seinem Konzept
57
6 Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen
auf die Modernisierungstheorie von Ulrich Beck und rekonstruiert Lebenswirklichkeit
und Handlungsmuster unter dem Gesichtspunkt der Alltäglichkeit. Aufgrund des hermeneutisch-pragmatischen Zugangs sowie des interaktionistischen Rahmenkonzepts
wird eine kritische Distanz zur Alltagspraxis hergestellt, ohne die Perspektive des täglichen Lebens und des Handelns in der Alltagswelt abzuwerten (vgl. Grunwald/Thiersch
2004, 17). Im Sinne einer lebensweltlichen Definition des Empowermentansatzes steht
für Thiersch die „gelingende Mikropolitik des Alltags“ im Zentrum seiner Betrachtung
sowie die Fähigkeit des Subjekts, in den Strukturen und Beziehungen seines sozialen
Netzwerkes eine individuelle Lebensform zu verfolgen (Herriger 1997, 13).
Ich schließe mich in meinem theoretischen Blickwinkel auf die Identitätsarbeit von
spätertaubten Menschen der Betrachtungsweise von Thiersch an und stelle, die bereits
vorgefundene, vorinterpretierte, jedoch veränderbare Lebenswirklichkeit einzelner betroffener Menschen ins Zentrum meines theoretischen Zugangs. Ferner betrachte ich
den Menschen nicht abstrakt als Individuum, sondern im Sinne von Thiersch als ein
soziales Wesen, welches in gesellschaftliche Strukturen und soziale Netzwerke eingebettet ist.
6.2.2
Der Lebensweltansatz
Ausgangspunkt des Lebensweltansatzes ist der Alltag von Individuen. Thiersch (1986,
12) analysiert, dass Subjekte einen Alltag besitzen, der durch eine Vielfalt von Problemlagen charakterisiert ist. Im Alltag sind Menschen zuständig für die Bewältigung der
sich ihnen stellenden Aufgaben, wozu individuelle Kompetenzen und Ressourcen benötigt werden. Gemäß Thiersch (1986, 34) ist Alltag „ein Gemengelage aus Täuschung
und Wirklichkeit“ sowie aus gelingender Alltagsbewältigung und Scheitern. Er verwendet zur Beschreibung dessen den Begriff „pseudokonkreter Alltag“. Der Alltag ist durch
Alltäglichkeit strukturiert. Mit Alltäglichkeit beschreibt Thiersch die subjektive Auslegung der Wirklichkeit. Das bedeutet, Alltäglichkeit ist pragmatisch orientiert. Des Weiteren muss Alltäglichkeit immer als soziales Handeln verstanden werden, da Menschen
in gesellschaftliche Strukturen eingebettet sind (vgl. Engelke 1999, 331). Einerseits
bietet Alltäglichkeit Individuen Verlässlichkeit, Routine, Sicherheit und Identität, andererseits wird genau dies immer wieder verworfen, indem der einzelne Mensch neue
Ereignisse bewältigen muss, bei denen er nicht auf gewohnte Handlungsmuster zurückgreifen kann. Ein Beispiel dafür ist ein plötzlicher Hörverlust im Erwachsenenalter.
Demnach ist Alltäglichkeit auch eine dynamische und prozesshafte Gratwanderung, in
58
6 Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen
der es zur Weiter- und Neuentwicklung von Identität kommt (vgl. Thiersch 1986, 17).
Alltäglichkeit offenbart sich in den verschiedenen Alltagswelten. Als Alltagswelten
werden konkrete Lebensfelder bezeichnet, die nach Funktionen und Inhalten gegliedert
sind, wie z.B. Familie, Schule oder Arbeit (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, 20). In den
einzelnen Lebensfeldern machen Individuen verschiedene Erfahrungen, die in ihrem
Lebenslauf kumulieren. Infolgedessen beschäftigt sich das Konzept „Lebenswelt“ mit
der Rekonstruktion der konkreten Lebensverhältnisse sowie der Spannungen und Konflikte zwischen den einzelnen Lebensfeldern (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, 21). Die
„Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ bezieht sich auf die Bewältigungs- und Verarbeitungsformen von Problemen in der Lebenswelt der Adressaten, die zu einem „gelingenderem Alltag“ beitragen sollen. Das bedeutet, Hoffnungen auf Veränderungen müssen an den Erfahrungen und Gegebenheiten des Möglichen gebunden sein (vgl.
Thiersch 1986, 35). In seiner Analyse verwendet Thiersch die Begriffe „Lebensweltorientierung“ und „Alltagsorientierung“ synonym.
Ferner werden in dem Konzept die Spannungen von Gesellschaftsstrukturen und Bewältigungsmustern, z.B. in den Formen der Exklusion lebensweltlicher Erfahrungen, verfolgt. Dieser Aspekt besitzt für mich besondere Relevanz, wenn es aufgrund einer Ertaubung im Erwachsenenalter um Einschränkungen von Interaktionsräumen geht, die
bis zum subjektiven Gefühl der sozialen Isolation führen können. In dieser Spannung
zwischen subjektiven Möglichkeiten und gesellschaftlichen Strukturen geht die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ von den subjektiven Möglichkeiten aus (vgl.
Thiersch 2001, 470).
6.2.3
Leitlinien und Ziele der „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“
Thiersch betont im Sinne des Empowermentansatzes die Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit der Menschen, ihre Umwelt aktiv mitzugestalten. In diesem Zusammenhang hebt Thiersch hervor, dass die Soziale Arbeit den Eigensinn subjektiver Deutungen und Lebenswege der Adressaten anerkennen und akzeptieren muss (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, 24). Das impliziert eine sozialpädagogische Sichtweise auf den
Menschen als Subjekt seiner Verhältnisse und betont den Respekt vor der Unterschiedlichkeit lebensweltlicher Erfahrungen. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit besteht darin,
kritisch Bezug auf den Alltag der Klienten zu nehmen, (vgl. Selbst-) Täuschungen aufzudecken und Scheitern zu verhindern, allerdings immer unter der Achtung vor der Autonomie der persönlichen Lebenspraxis (vgl. Engelke 1999, 334). Das Ziel der sozial59
6 Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen
pädagogischen Intervention liegt in der Unterstützung bei der Konstitution eines „gelingenderen Alltags“, in dem die gestellten Aufgaben vom Subjekt, in der Spannung von
positiver Routine und der Integration von neuen Erfahrungen, bewältigt werden können.
Thiersch (1986, 42) unterstreicht in seinen Ausführungen, dass sowohl Wege der Provokation, Unterstützung und Veränderung im Alltag wie auch in den gesellschaftlichen
Bedingungen unverzichtbare Leitlinien der „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“
sind.
Die alltagsorientierte Soziale Arbeit folgt dem Prinzip der „Strukturierten Offenheit“
(Thiersch 1993, 11). Das bedeutet, lebensweltorientiertes Handeln verlangt situativ offenes agieren, in dem die Lösungen gemeinsam mit den Adressaten ausgehandelt werden. Dabei ist die Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der miteinander verhandelnden Partner notwendige Bedingung des Interventionsprozesses. Demzufolge insistiert Thiersch auf eine symmetrische Arbeitsbeziehung zwischen dem Sozialpädagogen
und dem Adressaten und folgt damit der Grundhaltung des Empowermentansatzes.
Strukturiertes pädagogisches Handeln orientiert sich an den drei Grundannahmen Ganzheitlichkeit, Offenheit und Allzuständigkeit, die für die Soziale Arbeit konstitutiv sind.
Folglich verlangt die „Lebensweltorientierung“ ein Handeln, welches am ganzheitlichen
Zusammenhang von Problemverständnis und Lösungsressourcen sowie an den in der
Lebenswelt verfügbaren Möglichkeiten orientiert ist (vgl. Thiersch 1993, 22).
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“
die Ressourcen in der Lebenswelt stützen muss, vor allem dort, wo sie nicht hinreichend
vorhanden sind und sie muss kompensatorisch und ergänzend neue Ressourcen aufbauen. Letztlich liegt das Ziel der Sozialen Arbeit darin, die Verantwortung für das Alltagshandeln an das Individuum zurückzugeben. Die Kompetenz der Lebensbewältigung
zielt darauf, in den Widersprüchen und Offenheiten der gesellschaftlichen Verhältnisse
zu innerer Kohärenz zu finden, also zu einer Sicherheit im Lebenskonzept (vgl. Grunwald/Thiersch 2004, 35).
6.3
Das „Biographiekonzept“ nach L. Böhnisch
Unter Bezugnahme auf Ulrich Beck legt Lothar Böhnisch (2001, 30) dar, dass mit der
Individualisierung und Pluralisierung der heutigen Lebensverhältnisse nicht mehr eine
selbstverständliche Anpassung an gesellschaftliche Normen im Zentrum steht, sondern
eine multiple Suche nach biographischer Handlungsfähigkeit den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit psychosozialen Problemen bildet.
60
6 Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen
Das „Biographiekonzept“ von Böhnisch bietet für die Soziale Arbeit eine theoretische
Perspektive, in der sich die Dimension der individuellen Betroffenheit umsetzen lässt.
Böhnisch (2001, 23) beschreibt, dass die biographische Perspektive nicht nur die Einzigartigkeit des jeweiligen Betroffenseins erfasst, sondern über die Anschlusskonzepte
Lebenslauf und Lebensalter, auf die gesellschaftlichen Bedingungskonstellationen individueller Lebensprobleme bezogen werden kann.
6.3.1
Das Zusammenspiel von Biographie und Lebenslauf
Das Konstrukt „Biographie“ weist auf ein biographisch handelndes und sich immer
wieder veränderbares Subjekt im Lebenslauf hin. Lebenslauf ist dabei ein objektiver
Tatbestand, der z.B. durch das Lebensalter oder die Herkunftsfamilie bestimmt ist.
Böhnisch (2001, 36) erörtert, dass Biographie und Lebenslauf miteinander verschränkt
sind. Die Individualisierung der Lebensverhältnisse hat eine zunehmende Biographisierung des Lebenslaufes mit sich gebracht. Trotzdem ist weiterhin eine Kernstruktur des
Lebenslaufes durch Bildung und Arbeit erkennbar, die dem biographischen Normalitätsentwurf entspricht. Für die Soziale Arbeit ist der biographische Zugang deshalb bedeutsam, weil Sozialpädagogen auf Adressaten in ihrer aktuellen individuellen Befindlichkeit treffen, die nicht in Richtung ihres herkunftsgesteuerten Lebenslaufes denken
und agieren (vgl. Böhnisch 2001, 36).
Das Zusammenspiel von Lebenslauf und Biographie bietet ein erkenntnisleitendes Bezugssystem für sozialpädagogische Analysen, indem das individuelle Handeln mit den
sozialen Bedingungsstrukturen verbunden werden kann. Eine weitere Perspektive in
diesem Rahmenkonzept nehmen die verschiedenen Lebensalter ein. Böhnisch (2001,
39) schildert, dass der Lebenslauf von Individuen durch die Lebensalter gegliedert ist,
hingegen die Biographie durch die selbstbezogene Erfahrung und Verknüpfung der
Lebensalter.
Diese Ausführungen sollen für die vorliegende Arbeit genügen, um das Verhältnis von
Biographie und Lebenslauf deutlich zu machen.
6.3.2
Grunddimensionen der biographischen Lebensbewältigung
Aus der Biographieperspektive steht in Lebensschwierigkeiten und bei kritischen Lebensereignissen immer der aktuelle Verlust der persönlichen Handlungsfähigkeit im
Vordergrund. Der sozialpädagogische Blickwinkel auf die biographische Lebensbewältigung ermöglicht, dass die subjektiven Betroffenheiten und Befindlichkeiten der Ad61
6 Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen
ressaten erkannt und ihr darauf bezogenes Bewältigungshandeln verstanden werden
(vgl. Böhnisch 2001, 31). Gemäß Böhnisch (2001, 35) ist das Paradigma der Lebensbewältigung mit dem Bedürfnis der Individuen nach sozialer Integration verbunden, in
dem es letztlich um die Balance zwischen beiden Dimensionen geht. Die Soziale Arbeit
erhält daraus ihren Handlungsansatz als „Hilfe zur Lebensbewältigung“. Lebensbewältigung meint in diesem Zusammenhang das Streben nach subjektiver Handlungsfähigkeit in Lebenssituationen, in denen das „psychosoziale Gleichgewicht“, gekennzeichnet
durch Selbstwert und soziale Anerkennung, gefährdet ist (Böhnisch 2001, 31). Böhnisch
(2001, 46) geht davon aus, dass Menschen folgende vier psychosoziale Dimensionen
aktivieren, um eine biographische Krise zu bewältigen:
-
Suche nach Wiedergewinnung des Selbstwerts,
-
Suche nach sozialem Rückhalt,
-
Suche nach Orientierung und
-
Streben nach Normalisierung und Handlungsfähigkeit.
Suche nach Wiedergewinnung des Selbstwerts
Ein kritisches Lebensereignis, wie z.B. ein Hörverlust im Erwachsenenalter, kann zur
Erfahrung des Selbstwertverlustes führen. Böhnisch (2001, 46) postuliert, dass einschneidende biographische Ereignisse nicht als selbstverständliches Schicksal begriffen
werden, sondern ein Betroffensein auslösen. Die betroffenen Menschen beziehen den
Zustand auf ihr Selbstsein verbunden mit Gefühlen der Hilflosigkeit und des Ausgesetztseins. Das Bewältigungsstreben der Individuen besteht in dieser Dimension, in der
Suche nach Wiedergewinnung des Selbstwerts, verbunden mit den sozialen Bezügen
der Anerkennung (vgl. Böhnisch 2001, 47).
Suche nach sozialem Rückhalt
Böhnisch (2001, 46) geht davon aus, dass in einer biographischen Krise die Erfahrung
des fehlenden sozialen Rückhalts „angesichts personal nicht mehr überschaubarer biographischer Risikosituationen“ gemacht wird. Für ein stimmiges Identitätsgefühl benötigen Individuen jedoch soziale Anerkennung und Zugehörigkeit. In diesem Zusammenhang sind die soziale Einbindung und der soziale Rückhalt für jede Person notwendig (vgl. Kapitel 4.3.5). Dafür suchen sich Menschen Milieus, in denen sie sich geborgen und anerkannt fühlen.
62
6 Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen
Böhnisch definiert „Milieu“ als:
„[…] ein sozialwissenschaftliches Konstrukt, in dem die besondere Bedeutung
persönlich überschaubar, sozialräumlicher Gegenseitigkeits- und Bindungsstrukturen – als Rückhalte für soziale Orientierung und soziales Handeln – auf
den Begriff gebracht ist.“ (Böhnisch 2001, 59).
Die Beziehungen im Milieu beeinflussen nicht nur die Lebensbewältigung, sondern
auch das Bewältigungsverhalten bei Belastungen und einschneidenden Lebensereignissen. In der vorliegenden Arbeit interessiert mich, welche Erfahrungen spätertaubte Personen in ihren Milieustrukturen erlebten und erleben.
Suche nach Orientierung
Anhand der Dimension des sozialen Rückhalts ist bereits die Verknüpfung von personaler Befindlichkeit und gesellschaftlichen Umständen herausgearbeitet worden. Die enge
Verbindung der beiden Zustände wird in der Dimension der sozialen Orientierung ebenfalls deutlich. Böhnisch (2001, 63) postuliert, dass Menschen in einer hocharbeitsteiligen Gesellschaft nur als soziale Wesen existieren können. Das bedeutet, Individuen sind
auf die Gesellschaft angewiesen. Infolgedessen hängt das Vermögen eines Individuums
mit sich selbst zurechtzukommen davon ab, wie sich der betreffende Mensch in der
Gesellschaft zurechtfindet. Gemäß Böhnisch lösen biographische Krisen soziale Orientierungslosigkeit aus. In diesem Zusammenhang stellt das subjektive Streben nach neuer
Orientierung die Bewältigung lebensweltlich erfahrbarer Probleme der sozialen Integration dar.
Streben nach Normalisierung und Handlungsfähigkeit
Böhnisch (2001, 46) gibt als vierte Dimension der Lebensbewältigung das Streben nach
Normalisierung an, welches Subjekte in einer biographischen Krise unternehmen. Damit versuchen Menschen aus ihrer Handlungsunfähigkeit herauszukommen. Das Streben nach Handlungsfähigkeit ist die fachliche Begründung für eine sozialpädagogische
Intervention und dessen Legitimation. Böhnisch (2001, 31) nimmt den Versuch vor, das
Bewältigungshandeln zu strukturieren und lehnt sich dabei an das aus der Stressforschung stammende Coping-Modell an. Er befasst sich vor allem mit der bestimmten
Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit aus der aktuellen biographischen Befindlichkeit heraus. Den psychosozialen Grunddimensionen ordnet Böhnisch im Anschluss
63
6 Darstellung von Handlungstheorien für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen
seiner Analyse entsprechende sozialpädagogische Arbeits- und Interventionsprinzipien
zu, die ich im Folgenden in Auszügen vorstellen werde.
6.3.3 Arbeitsprinzipien einer biographisch orientierten Sozialen Arbeit
Ein Grundprinzip der biographisch orientierten sozialpädagogischen Intervention zeigt
sich darin, dass Sozialpädagogen über professionelle Beziehungen nicht nur Helfende,
sondern auch Vermittelnde sind (vgl. Böhnisch 2001, 287). Im Sinne des Empowermentansatzes bieten sie nicht nur direkte soziale Hilfe, sondern auch Zugänge zu sozialen
Ressourcen für die Aktivierung und Stärkung von Selbsthilfeaktivitäten. In ihrer personenbezogenen Tätigkeit agieren Sozialpädagogen immer mit bestimmten Menschenbildern und Definitionen von „Normalität“, die von den Adressaten gespürt bzw. erkannt
werden. Folglich ist die „biographische Reflexivität“ ein weiteres Grundprinzip sozialpädagogischer Intervention (Böhnisch 2001, 288). An dieser Stelle lässt sich eine Nähe
zur „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ feststellen, in der die Selbstreflexion von
Sozialpädagogen als eine zentrale Schlüsselqualifikation und Handlungskompetenz
ebenfalls hervorgehoben wird (vgl. Kapitel 6.2.3). In diesem Zusammenhang wird ein
weiteres Arbeitsprinzip deutlich, welches Böhnisch mit dem Begriff des „Pädagogischen Bezugs“ umschreibt (Böhnisch 2001, 288). Aufgrund der interaktiven Dimension
in der biographischen Intervention spielt die Persönlichkeit des Sozialpädagogen immer
eine eingreifende Rolle, die über die berufliche Rollenfunktion hinausgeht. Böhnisch
(2001, 288) insistiert, dass sich Sozialpädagogen ihres „Pädagogischen Bezugs“ in ihrem Handeln bewusst sein müssen.
Letztlich beinhaltet das „Biographiekonzept“ noch das Prinzip der Aktivierung der Adressaten. Unter dem Stichwort „Empowerment“ fasst Böhnisch (2001, 289) die Befähigung des Adressaten einen eigenen Beitrag zur Problemlösung zu finden. Er bezieht
sich damit auf die Bedeutung der Selbstwertkomponente in Bewältigungskonstellationen. Sozialpädagogische Interventionen versuchen den Selbstwert wieder zu aktivieren.
Böhnisch markiert, dass der Empowermentansatz das beste Prinzip darstellt, um die
biographische Interventionsperspektive zu entfalten.
6.4
Zusammenfassung
Zusammenfassend für dieses Kapitel kann festgehalten werden, dass Subjekttheorien
der Sozialen Arbeit die individuelle Lebensgeschichte von Subjekten als Determinante
für das Belastungserleben betrachten. Der Zugang von Thiersch erfolgt über die einzel
64
7 Zusammenfassung des theoretischen Zugangs und Ableitung der empirischen Fragestellung
nen Lebenswelten von Personen. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung steht ein „gelingenderer Alltag“ für den betroffenen Menschen. Das „Biographiekonzept“ von Böhnisch kann die Einzigartigkeit des jeweiligen Betroffenseins erfassen und darauf aufbauend Personen in ihrem Streben nach psychosozialer Handlungsfähigkeit unterstützen. Mit Hilfe des Empowermentansatzes erhält die Soziale Arbeit eine theoretisch fundierte professionelle Grundhaltung für ihre Interventionen. Daraus ableitend können im
Anschluss an die empirische Studie Handlungsanforderungen für die Soziale Arbeit mit
spätertaubten Menschen herausgearbeitet und diskutiert werden.
7
Zusammenfassung des theoretischen Zugangs und Ableitung der empirischen Fragestellung
In meiner bisherigen theoriegeleiteten Analyse habe ich dargelegt, dass eine Spätertaubung im Erwachsenenalter eine Hörbehinderung darstellt, die sich auch auf die zwischenmenschliche Kommunikation auswirkt und damit grundlegende menschliche Erlebnis- und Erfahrungsbereiche betrifft. Kommunikation ist ein Grundbedürfnis der
Menschen und stellt das basale Element sozialen Handelns dar. In der Interaktion von
Individuen mit der sozialen Umwelt konstituiert sich subjektive Identität. Dabei ist die
Sprache das Medium, in dem sich Interaktion vollzieht. Gleichzeitig ist Sprache das
Mittel, mit dem sich Identität ausdrückt bzw. erworben wird. Folglich wirken sich
kommunikative Einschränkungen auf die lebensweltlichen Interaktionserfahrungen und
damit auf die Zugehörigkeit zur Gesellschaft sowie auf das Selbstkonzept von Personen
aus.
Der Begriff „Identität“ ist der zentrale Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Die klassischen Modelle der Identitätsforschung, das psychoanalytische Modell von Erikson und
das soziologische Modell von Mead, bieten signifikante Zugänge für meine Untersuchung und fließen folglich in die Analyse ein. Ich übernehme für die empirische Studie
die Definition der Ich-Identität von Erikson. Eriksons Betrachtung der Identitätsbildung
in den verschiedenen Zeiträumen der Entwicklungsphasen von Menschen, ermöglicht,
die Identität der Personen in der Erwachsenenphase zu beleuchten. Die interaktionistischen Sichtweisen von Mead und Krappmann hingegen stellen die sozialen Beziehungen in den Mittelpunkt ihres Modells und legen dar, dass Identität ein Netz aus selbstbeschreibenden Propositionen ist und damit in der Kommunikation verbalisiert werden
kann. Einschränkend möchte ich hinzufügen, dass die klassischen Ansätze unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen keine hinreichende Erklärung zum Konstrukt „I65
7 Zusammenfassung des theoretischen Zugangs und Ableitung der empirischen Fragestellung
dentität“ bieten. Infolgedessen habe ich für meine Untersuchung das sozialpsychologische Konzept der Identitätsarbeit rekurriert. In diesem Modell wird davon ausgegangen,
dass Identität eine Verknüpfungsarbeit lebensweltlicher Erfahrungen der Subjekte ist
und einen lebenslangen, offenen Prozess darstellt. Ausgehend von den bisherigen Überlegungen werde ich im empirischen Teil der Analyse der Frage nachgehen: „Inwiefern
wirkt sich eine plötzliche Ertaubung im Erwachsenenalter auf die Identitätsarbeit eines
Betroffenen aus?“.
Identitätsarbeit benötigt soziale Netzwerke, die Ressourcen zur Bewältigung von Belastungssituationen zur Verfügung stellen. Innerhalb der sozialen Netzwerke werden kulturelle Werte und Orientierungen vermittelt. Aufgrund des Zugehörigkeitsgefühls von
Individuen zu ihrem sozialen Netzwerk bildet sich eine kulturelle (Teil-)Identität aus.
Ein kulturelles Netzwerk stellt die Gebärdensprachgemeinschaft dar. Im kulturellen
Konzept von Gehörlosigkeit grenzen sich hörgeschädigte Menschen bewusst von einer
medizinisch defektorientierten Definition von Gehörlosigkeit ab. In diesem Zusammenhang besteht mein Forschungsinteresse darin, der Frage nachzugehen, inwiefern die
Gebärdensprachgemeinschaft ein soziales Netzwerk und eine kulturelle (Teil-)Identität
für spätertaubte Menschen darstellt.
Meine Überlegungen beziehen sich darauf, dass spätertaubte Erwachsene mit prälingual
gehörlosen Menschen die Tatsache des vollständigen Hörverlustes und folglich visuelle
Perzeptionsbedingungen teilen. Darüber hinaus sind beiden Gruppen Kommunikationsbeeinträchtigungen mit der hörenden Gemeinschaft bekannt. Meine Vermutung liegt
darin, dass spätertaubte Menschen in der Gebärdensprachgemeinschaft ein soziales
Netzwerk finden können. Allerdings besteht ein entscheidendes Hindernis darin, dass
gehörlose Menschen untereinander die Gebärdensprache verwenden, welche spätertaubte Menschen in der Regel nicht beherrschen.
Im Anschluss an die empirische Studie werde ich auf der Grundlage der „Lebenswelttheorie“ von Thiersch und dem „Biographiekonzept“ von Böhnisch mögliche Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit mit spätertaubten Menschen ausarbeiten.
66
8 Operationalisierung der allgemeinen Fragestellung
8
Operationalisierung der allgemeinen Fragestellung
8.1
Grundlegende Entscheidung bezüglich der benutzten Methoden
Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen besteht in der Annahme, dass das Selbstkonzept von Subjekten in Form sprachlicher Äußerungen gekleidet ist. Folglich lässt es sich
kommunizieren und ein empirischer Zugang zum Konstrukt „Identität“ erscheint möglich. Die Problematik besteht für mich darin, dass zwar jede Person eine Identität hat,
aber die Kommunizierbarkeit dessen nicht ebenso selbstverständlich erscheint. Nach
meiner Ansicht müssen die befragten Personen über ein hohes Maß an Selbstreflexivität
verfügen, um Auskunft über ihr Selbstverständnis geben zu können.
Die vorliegende Untersuchung stellt eine Studie im Rahmen der qualitativen Sozialforschung dar, in der die theoretische Beschäftigung mit dem Konstrukt „Identität“ um das
subjektiv biographische Selbstverständnis ergänzt wird. Hintermair (2001, 109) hebt
hervor, dass Identität die subjektive Konstruktion über die eigene Person ist. Folglich
kann nur der betreffende Mensch selbst über seine Identität Auskunft geben. In Anlehnung an dieses Postulat werte ich in der nachfolgenden empirischen Studie biographische Interviews aus. Damit der befragte Mensch mit seiner Artikulationsfähigkeit im
Zentrum steht, ist mein sozialwissenschaftliches Erhebungsinstrument weniger standardisiert (Atteslander 2000, 144; vgl. Diekmann 1999, 444; vgl. Schaffer 2002, 87).
Im Sinne des Modells der Identitätsarbeit erhebe ich eine situationale Auseinandersetzung der Person mit sich selbst in einer Verknüpfung aus retro- und prospektiven Anteilen. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die Befragung einen punktuellen Eindruck von den Identitätskonstruktionen spätertaubter Menschen offenbart. Demzufolge
stellen die ausgewählten Interviews eine qualitative Querschnittsuntersuchung zum
momentanen Selbstverständnis der Untersuchungspersonen dar.
8.2
Kriterien für die Wahl einer spezifischen Interviewform
Aus der Vielzahl der Möglichkeiten habe ich mich für das teilstandardisierte biographische Interview entschieden, welches auch als leitfadengestütztes Interview bezeichnet
wird. Zu dieser Wahl haben folgende Gründe beigetragen:
1) Gemäß Schaffer (2002, 87) werden teilstandardisierte Interviews vor allem in
der empirischen Forschung eingesetzt, wenn noch wenig über ein Forschungsfeld bekannt ist oder es um komplexe Themen, wie die individuelle Verarbeitung kritischer Lebensereignisse, geht. Beide Sachverhalte sind für mein Unter-
67
8 Operationalisierung der allgemeinen Fragestellung
suchungsthema gegeben. Schaffer (2002, 89) postuliert weiter, dass teilstandardisierte Interviewformen immer dann eine unersetzliche Bedingung sind, wenn
in einem Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit keine oder nur wenige empirisch gesicherte Erkenntnisse vorliegen, um einen vollstandardisierten Fragebogens zu
konstruieren. Infolgedessen ist die empirische Methode des Interviews für den
Rahmen dieser Arbeit ein geeignetes sozialwissenschaftliches Instrument, um
Erkenntnisse für die Soziale Arbeit zu gewinnen.
2) Mein Forschungsinteresse bezieht sich auf die subjektive Alltagswahrnehmung
der betreffenden Person. Ein Leitfadeninterview bietet die Möglichkeit, die subjektiven Aussagen des Befragten in den Mittelpunkt zu stellen und auf individuelle Aspekte und Prioritäten einzugehen. Damit ist die Grundlage für eine „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ gemäß Thiersch geschaffen.
Des Weiteren bietet ein Leitfaden die Basis, um Identität anhand von Identitätsvariablen zu erheben und die Vergleichbarkeit der einzelnen Interviews zu gewährleisten.
3) Das letzte Kriterium der Entscheidung für ein biographisches Interview ist mit
dem zweiten Punkt verwandt. Gemäß Böhnisch stellt die Biographie eines Subjekts die subjektive Deutung des Lebenslaufes dar (vgl. Kapitel 6.3.1). Im Rahmen der vorliegenden Analyse können aus der biographischen Perspektive mögliche Handlungsanforderungen für die Soziale Arbeit mit spätertaubten Erwachsenen diskutiert werden.
8.3
Inhaltliche Struktur des Interviewleitfadens
Ausgehend von der Fragestellung: „Inwiefern wirkt sich eine plötzliche Ertaubung im
Erwachsenenalter auf die Identitätsarbeit eines Betroffenen aus?“ wird in den Interviews die subjektive Identität der betreffenden Personen in Bezug auf ihre Position in
der Gesellschaft und ihre zentralen Interaktionsfelder erhoben. Dabei stellt sich für mich
die Frage, in welcher Form die theoretischen Erörterungen zum Konstrukt „Identität“
bei der Konkretisierung der allgemeinen Fragestellungen mit einbezogen werden können und eine Richtlinie für die inhaltliche Struktur des Leitfadens bieten. Um den genannten Überlegungen Rechnung zu tragen, wähle ich in Anlehnung an Keupp Identitätsvariablen, die gesellschaftliche Lebenswelten darstellen (vgl. Keupp 2002, 7). Sie
verdeutlichen die inhaltliche Strukturierung der allgemeinen Fragestellungen. Damit
lege ich einerseits ausgewählte Aspekte des Identitätsbegriffes dar, andererseits erhalte
68
8 Operationalisierung der allgemeinen Fragestellung
ich eine Vergleichbarkeit der einzelnen Interviews unter Zuhilfenahme eines generalisierten Analyserasters. Hierzu messe ich Identität anhand der Lebensfelder Arbeit, Partnerschaft, soziale Netzwerke und Kultur. Ich vertrete die Ansicht, dass die genannten
Lebensfelder ein strukturiertes Hilfsmittel für die Untersuchung darstellen und einen
signifikanten Ausschnitt der Identitätsräume Erwachsener bilden.
In Bezug auf die Sozialisation im Erwachsenenalter ist davon auszugehen, dass die berufliche Arbeit und die Partnerschaft einen zentralen Stellenwert im Leben von Menschen einnehmen. Ich schließe mich Leonhardt (1999, 167) an, die postuliert, dass über
die berufliche Tätigkeit soziale Kontakte, Anerkennung, gesellschaftliche Partizipation
und soziale Identität hergestellt wird. Insofern ist zu fragen, wie sich die Ertaubung auf
die berufliche Situation von betroffenen Personen auswirkte. Ferner stellt sich die Frage: „Inwiefern hat sich die Ertaubung auf die Partnerschaft und die Familie der spätertaubten Person ausgewirkt?“. Ein weiteres Lebensfeld für Individuum bildet ihr soziales
Netzwerk. Soziale Netzwerke sind notwendige Bedingungsfaktoren für die Identitätsarbeit und ich werde den Fragen nachgehen: „Inwiefern haben sich die sozialen Netzwerke von postlingual ertaubten Menschen verändert?“, „Wie begegnen ihnen Menschen
und wie vermitteln sich Spätertaubte ihrer Umwelt?“, „Wie definieren sie sich in ihren
sozialen Netzwerken bzw. wie können sie sich definieren?“ und „Inwiefern stellt die
Gebärdensprachgemeinschaft ein soziales Netzwerk und eine kulturelle (Teil-) Identität
für spätertaubte Menschen dar?“. Im Zusammenhang mit dem kulturellen Netzwerk von
spätertaubten Menschen stellen sich für mich außerdem die Fragen: „Welche manuellen
Kommunikationsmittel benutzen spätertaubte Menschen?“ und „Inwiefern besteht für
spätertaubte Personen eine Motivation die Gebärdensprache zu lernen und sich der Gebärdensprachgemeinschaft anzuschließen?“.
Die bisherigen Fragestellungen beziehen sich vorwiegend auf den retrospektiven Prozess der Identitätsarbeit. In meiner Analyse des Modells zur Identitätsarbeit habe ich
dargelegt, dass situationale Selbstthematisierungen auch immer einen prospektiven Anteil haben. Folglich werde ich im empirischen Teil abschließend der Frage nachgehen,
wohin sich die betreffenden Personen entwickeln möchten.
Der Leitfaden (siehe Anhang) ist durch offene Fragen zum Forschungsthema strukturiert, so dass die Befragten ausführlich und in ihren eigenen Worten antworten können.
Biographische Interviews beginnen mit einer erzählgenerierenden Eingangsfrage, welche sich auf ein bestimmtes Lebensereignis bzw. einen bestimmten Zeitpunkt der Bio69
8 Operationalisierung der allgemeinen Fragestellung
graphie bezieht (vgl. Friebertshäuser/Prengel 2003, 387). Meine Eingangsfrage bezieht
sich auf die Anfänge der Hörminderung der betreffenden Menschen. Ausgehend von
diesem Lebensereignis sind die folgenden Fragen nach den genannten Lebensfeldern
Arbeit, Partnerschaft, soziale Netzwerke und Kultur strukturiert. Die Abrundung des
Leitfadens erfolgt durch allgemeine Fragen zur Nutzung von speziellen Kommunikationssystemen und durch die Erhebung von sozialdemographischen Daten. Im Sinne eines biographischen Interviews biete ich den befragten Personen damit die Möglichkeit,
sich emotional zurückzuziehen. Gleichzeitig stellen die Abschlussfragen die Abrundung
der Erzählsituation dar.
Eine eminente Voraussetzung für leitfadengestützte biographische Interviews ist die
sprachliche Kompetenz der Befragten. Im folgenden Abschnitt gehe ich näher auf die
kommunikativen Kriterien für meine empirische Untersuchung ein.
8.4
Kommunikative Kriterien für die Durchführung der Interviews
Gemäß Schaffer (2002, 107) ist das „Prinzip der Kommunikativität“ ein signifikantes
methodologisches Prinzip qualitativer Interviews. Demnach muss sich der Interviewer
an die sprachlichen Fähigkeiten der befragten Personen orientieren. An dieser Stelle
möchte ich betonen, dass die empirische Sozialforschung immer von einer persönlichen
Interviewsituation ausgeht. Für den Personenkreis von spätertaubten Menschen konstatiere ich, dass ihre kommunikative Kompetenz in verbalen Interaktionssituationen beeinträchtigt ist. Ein persönliches „Face-to-face“ Interview weist die Gefahr auf, dass
Informationen auf der Sachebene missverständlich perzipiert werden. In Kapitel 3.4
habe ich ausführlich dargelegt, dass die visuell wahrnehmbaren Signale beim Lippenabsehen nicht so leistungsfähig sein können wie Sprachlaute oder dauerhafte Schriftzeichen (vgl. Leven 2003, 28). Infolge des beträchtlichen kommunikativen Störungspotentials wähle ich für die Durchführung meiner Interviews die Schriftform.
Die schriftliche Umsetzung eines Interviews enthält Vor- und Nachteile, auf die im folgenden Abschnitt hingewiesen werden soll.
8.5
Möglichkeiten und Grenzen von schriftlichen Befragungen
Das vorliegende Untersuchungsthema erfordert von der befragten Person Reflexionsvermögen hinsichtlich der eigenen Person. Ein schriftlicher Leitfaden gestattet Zeit zum
Überlegen und zur reflexiven Beantwortung. Mit der schriftlichen Befragung fallen die
Einflüsse äußerer Interviewermerkmale weg. Diese umfassen das Geschlecht, die Klei
70
9 Durchführung der Untersuchung
dung und das Alter des Interviewers (vgl. Diekmann 1999, 399). Ein weiterer Vorteil
der schriftlichen Befragung ist finanzieller Art. Innerhalb kurzer Zeit kann mit wenig
Personalaufwand und geringen Kosten eine Vielzahl von Personen erreicht werden (vgl.
Diekmann 1999, 439). Dieser Aspekt ist für mein Untersuchungsthema insofern relevant, als es eine hohe Bereitschaft voraussetzt, gegenüber einer nicht bekannten Interviewerin zum eigenen Fühlen und Handeln Auskunft zu geben. In meiner Vorbereitung
vermutete ich, dass die Anwerbung von bereitwilligen Interviewpartnern einen hohen
Zeitaufwand erfordert.
Ferner ist zu bedenken, dass die schriftliche Kommunikation einer stärkeren Planung,
Überarbeitung und Revision unterliegt. Ein schriftlicher Leitfaden erfordert vom Interviewer die Fähigkeit sich bei der Frageformulierung auf den Leser einzustellen. Demgegenüber verlangen offene Fragen nach Motiven und Begründungen erhebliche Formulierungsfähigkeiten von der Untersuchungsperson (vgl. Diekmann 1999, 439). Atteslander (2000, 147) weist darauf hin, dass eine schriftliche Interviewsituation zu Erkenntnisverfälschungen führen kann, indem andere Personen die Antwort des Befragten
beeinflussen. Des Weiteren müssen die formulierten Fragen verständlich sein, weil der
Interviewer persönlich nicht anwesend ist, um Rückfragen zu beantworten. Im Rahmen
dieser Arbeit wurde das Internet als Kommunikationsmedium genutzt, um Rückfragen
zu ermöglichen und die Grenzen einer schriftlichen Befragung einzuengen.
9
Durchführung der Untersuchung
Aus meiner persönlichen Erfahrung ist mir bekannt, dass hörgeschädigte Menschen das
Internet als Kommunikations- und Informationsmedium nutzen. Nach meiner Meinung
ermöglicht es eine vorwiegend barrierefreie Kommunikation für spätertaubte Personen.
Darüber hinaus bietet das Internet für die vorliegende Studie die Möglichkeit, in kurzer
Zeit Rückfragen sowohl zum Verständnis des Interviewleitfadens zu stellen als auch
bezüglich der Aussagen der befragten Person. Demnach ist die Offenheit eines biographischen Interviews im Sinne der qualitativen Sozialforschung gewährleistet. Aus diesen Gründen entschied ich mich dafür, die betreffenden Personen per E-Mail zu interviewen.
9.1
Anwerbung der Interviewteilnehmer
Im Rahmen meiner Literaturrecherche zum Untersuchungsthema fand ich eine Webseite
im Internet, die speziell für spätertaubte Menschen eingerichtet wurde (vgl.
71
9 Durchführung der Untersuchung
www.spaetertaubt.de, 2005). Die Webseite enthält u.a. das Kontaktforum „Einstürzende
Tonwelten“, welches die Möglichkeit bietet sich mit spätertaubten Menschen auszutauschen, Fragen zu verschiedenen Themengebieten zu stellen sowie Informationen weiterzuleiten. In diesem Forum stellte ich mein Anliegen und das Thema meiner Diplomarbeit vor und fragte nach interessierten Interviewpartnern. Meine Intention bestand
darin, spätertaubte Personen zu finden, die Interesse an der vorliegenden Thematik besitzen und auf dieser Basis die Bereitschaft zu einem entsprechenden Interview haben.
9.2
Durchführung der Interviews
Es nahmen mehrere Personen über E-Mail Kontakt zu mir auf, die sich durch meinen
Beitrag im Internet-Forum angesprochen fühlten und bereit waren mir ein Interview zu
geben. Nach einer kurzen Absprache bezüglich des Hörstatus und des Zeitpunktes der
Ertaubung konnte ich vier Personen interviewen. Bei den befragten Personen handelt es
sich um eine Frau und drei Männer im Alter von 34 bis 53 Jahren. Alle Interviewpartner
sind regelmäßige und kompetente Internetbenutzer, so dass eine barrierefreie Kommunikation möglich erschien. Nach einer erneuten Rücksprache über den Verlauf der Untersuchung, versendete ich das Begleit- und Einführungsschreiben mit dem Leitfaden.
Die Interviewpartner ergänzten diesen und schickten ihn per E-Mail an mich zurück.
9.3
Durchführung der Nachgespräche
Das Interview ist eine Form intensiver Kommunikation zwischen dem Forscher und der
befragten Person, in der Nachfragen und Erklärungen möglich sind und subjektive Bedeutungsebenen transparent werden (vgl. Drewes, 1993, 86). Im Anschluss an die
Rücksendung des Leitfadens ergaben sich aus den Interviews einzelne Nachgespräche.
Diese bezogen sich auf Rückfragen zum Verständnis einzelner Interviewaussagen und
wurden von mir als Anhang zum einzelnen Interviewleitfaden aufbereitet. Des Weiteren
kamen Rückfragen von Seiten der Teilnehmer, die sich sowohl auf die inhaltliche Strukturierung meines Leitfadens als auch auf meine persönliche Intention am Forschungsthema bezogen. Die Fragen wurden jeweils per E-Mail beantwortet und stellten den
Abschluss der Interviewsituation dar.
Im folgenden Kapitel präsentiere ich die Ergebnisse aus den einzelnen Interviews.
72
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
10
Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Zunächst werde ich meine Erfahrungen mit der gewählten empirischen Methode auswerten. Dieser Zugang erscheint mir sinnvoll und notwendig, da in der qualitativen
Sozialforschung üblicherweise keine schriftlichen Interviews durchgeführt werden.
Anschließend stelle ich meine vier Interviewpartner in ihrer besonderen Lebenssituation
vor. Abschließend werte ich die Ergebnisse aus den biographischen Interviews aus. Ich
verzichte an dieser Stelle darauf, die ausführlichen Interviews in die fortlaufende Arbeit
einzufügen, sondern weise darauf hin, dass sich die vollständigen Interviews in meinem
Besitz befinden und bei mir einsehbar sind.
10.1
Auswertung der empirischen Methode
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass jeder Interviewteilnehmer über die sprachliche
Kompetenz zur Erzählung verfügte und folglich die Voraussetzung für ein biographisches Interview gegeben war. Gemäß meiner Vermutung war die Anwerbung bereitwilliger Interviewteilnehmer zeitintensiv und die schriftliche Form stellte eine erhebliche
Arbeitserleichterung für mich dar (vgl. Kapitel 8.5). Das schriftliche Interview erwies
sich als sinnvoll, weil die befragten Personen für das abstrakte Forschungsthema Zeit
zum Reflektieren benötigten und ein schriftlicher Leitfaden dieser Bedingung gerecht
werden konnte. Ferner wurde unter Zuhilfenahme eines schriftlichen Leitfadens die
spezielle Artikulationsfähigkeit der betreffenden Person berücksichtigt, da die Taubheit
in der schriftlichen Kommunikation nicht relevant ist. Damit konnte ich dem methodischen „Prinzip der Kommunikativität“ Folge leisten, welches ein zentrales Kriterium in
Interviewsituationen darstellt (vgl. Kapitel 8.4).
Des Weiteren gehört in der qualitativen Sozialforschung das „Prinzip der Offenheit“
zum Methodeninstrumentarium. Gemäß Schaffer kann sich im Forschungsverlauf herausstellen, dass wichtige Fragestellungen fehlen oder differenziert werden müssen (vgl.
Schaffer 2002, 107). Darüber hinaus verlangt die schriftliche Kommunikation eine stärkere Überarbeitung und Revision, in Bezug auf die Verständlichkeit der Fragen und auf
mögliche Rückfragen zu Aussagen der Interviewteilnehmer. In der vorliegenden Studie
konnten für diese Sachverhalte die Nachgespräche genutzt werden, in denen ich u.a. ein
Feedback zu meinem Leitfaden erhielt, so dass ich strukturelle Veränderungen einzelner
Fragestellungen vornahm, die verständlicher waren. Hierbei handelte es sich jeweils um
Unklarheiten bezüglich des Zeitpunktes in der ersten und der fünften Frage.
73
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Aufgrund der Rückfragen von Seiten der Interviewteilnehmer zu meiner persönlichen
Intention am Forschungsthema ergaben sich im Anschluss an das Leitfadeninterview
fachlich anregende Nachgespräche, die weitere signifikante Aspekte zu meiner Thematik enthielten. Nach meiner Erfahrung stellte der Interviewleitfaden eine Vertrauensbasis her, auf dessen Grundlage spätere persönliche Äußerungen der befragten Person
möglich waren. In dem Zusammenhang erschien es mir hilfreich, dass ich mein eigenes
Interesse an dem Thema formulierte und meinen persönlichen Hintergrund offen legte.
Ferner machte ich die Erfahrung, dass die individuellen Lebensgeschichten eine Reaktionsbildung bei mir auslösten, die meinen Fallzugang beeinflussten. In dem Zusammenhang habe ich mir vor der Auswertung der Interviews die Frage gestellt: „Welche Emotionen und Gedanken habe ich aufgrund der Aussagen meiner Interviewteilnehmer?“.
Die Selbstreflexion ermöglichte mir emotional Abstand zu den individuellen Lebensgeschichten zu gewinnen und auf der Basis einer professionellen Empathie die Auswertung der Interviews durchzuführen.
Einschränkend möchte ich festhalten, dass ein schriftliches Interview keine vergleichbare Erzählsituation, entsprechend einem persönlichen Interview, auslösen konnte. Meiner
Meinung nach wurde der Leitfaden eher als empirischer Fragebogen verstanden, den es
auszufüllen galt. Die Erzählsituation analog zu einem „Face-to-face“ Interview ergab
sich erst in den Nachgesprächen aufgrund der geschaffenen Vertrauensbasis.
Schlussfolgernd halte ich fest, dass ein schriftliches Leitfadeninterview die geeignete
Form für den speziellen Personenkreis der postlingual ertaubten Menschen im Hinblick
auf ihre individuellen Kommunikationsmöglichkeiten darstellte. Darüber hinaus erwies
es sich als vorteilhaft, dass alle Interviewpartner kompetente Internetbenutzer sind und
dieses elektronische Medium für private und öffentliche Zwecke nutzen.
10.2
Vorstellung der Interviewpartner
Eine kurze Vorstellung der von mir interviewten Personen soll dazu dienen, die individuellen Lebensläufe verständlich werden zu lassen. Aus Datenschutzgründen habe ich
die Namen der Interviewpartner geändert.
10.2.1 Frau P.
Frau P. ist 52 Jahre, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Sie studierte Soziologie,
Geschichte und Politikwissenschaften. Als sie Mitte 20 war, wurde von einem Betriebs-
74
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
arzt bei einer Einstellungsuntersuchung eine geringe Hörminderung diagnostiziert. Diese betraf beide Ohren. Sie berichtet:
„Dabei ging es um das Verstehen von Flüstern aus einer Entfernung von ca. 4
Metern. Ich habe diesen Zustand aber nicht als Hörminderung wahrgenommen.“ (P.).
Ihre Hörfähigkeit nahm im Laufe der Jahre stetig ab und führte zu Einschränkungen in
Kommunikationssituationen. Frau P. gibt an, dass sie Gesprächspartner, die sehr leise
sprachen, nicht mehr verstehen konnte. Auch diesen Zustand empfand sie nicht als eine
Hörminderung. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes, im Jahr 1986, erlitt Frau P. einen
kurzzeitigen Hörsturz. Anschließend begann eine sukzessive Innenohrschwerhörigkeit.
Im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit, für die sie 1987 persönliche Interviews
führen sollte, wurde ihr bewusst, dass ihre Hörfähigkeit spürbar reduziert war. Daraufhin erhielt sie im Alter von 35 Jahren zum ersten Mal zwei Hörgeräte, die sie nach eigener Angabe nur für ihre beruflichen Zwecke benutzte. Sieben Jahre später ertaubte Frau
P. auf dem linken Ohr vollständig. Frau P. arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Landesgeschäftsführerin eines gemeinnützigen Vereins der Kinder- und Jugendhilfe. Im März
1997 ertaubte Frau P. auch auf ihrem rechten Ohr und ist seitdem audiologisch betrachtet gehörlos. Nach ihrer Rehabilitationsmaßnahme im „Rehabilitationszentrum für hörgeschädigte Erwachsene“ in Rendsburg entschloss sich Frau P. 1998 für die medizinische Versorgung mit einem Cochlea Implantat (vgl. Kapitel 2.2.1.2). Anschließend bildete sie sich zur Audiotherapeutin für hörgeschädigte Menschen weiter und ist seitdem
beruflich selbstständig tätig.
10.2.2 Herr A.
Herr A. ist 44 Jahre und ledig. Er war Mitte 20, als Angehörige und Freunde zum ersten
Mal den Verdacht ihm gegenüber äußerten, dass er schlecht höre. Er selbst sagt dazu:
„Ich wurde […] darauf hingewiesen, daß [sic] ich die Stereoanlage und den
Fernseher zu laut einstellen würde. Da war ich Mitte 20 und die Möglichkeit einer Hörminderung war mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst bzw. ich hätte nicht
gedacht, daß [sic] das der Grund sein könnte.“ (A.).
Am Ende seines Studiums musste Herr A. im Hörsaal einen vorderen Platz einnehmen,
um den Aussagen des Dozenten folgen zu können. Es war ihm jedoch nicht möglich
Fragen von Kommilitonen aus den hinteren Reihen zu verstehen, obwohl sie in Richtung des Dozenten und damit in seine Hörrichtung sprachen. Daraufhin sah sich Herr A.
75
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
genötigt einen Hals-Nasen-Ohrenarzt aufzusuchen. Dieser diagnostizierte eine Schallempfindungsschwerhörigkeit und Herr A. erhielt zwei Hörgeräte. Mit 34 Jahren ertaubte er auf beiden Ohren. Die medizinische Versorgung mit einem CI ist bei ihm nicht
möglich, weil die Hörnerven zerstört sind und demnach der Übertragungsweg der Nervenimpulse vom Ohr zum Gehirn geschädigt ist (vgl. Kapitel 2.2.1.3). Zusätzlich hat
Herr A. von Geburt an eine starke Sehbehinderung. Er arbeitet als Referent im öffentlichen Dienst des Bundes.
10.2.3 Herr C.
Herr C. ist 34 Jahre und verheiratet. Mit 19 Jahren war Herr C. wegen Tinnitus in ärztlicher Behandlung und in diesem Zusammenhang wurde eine einseitige Hörminderung
diagnostiziert. Er selbst äußert, dass sich seine Hörprobleme zu dieser Zeit vor allem auf
die z.T. starken Tinnitusgeräusche bezogen. Die Leistungsminderung des Ohrs war für
ihn eher medizinisch messbar als persönlich erlebbar. Dieser Zustand blieb über Jahre
stabil. Die Verschlechterung der Hörleistung setzte im Jahr 2000 plötzlich ein, so dass
Herr C. auf einem Ohr ertaubte und auf dem anderen Ohr mit einem Hörgerät versorgt
wurde. In dieser Zeit empfand er das Hören als sehr anstrengend. Herr C. berichtet:
„Das Problem war, dass meine Situation nicht eindeutig war. Es gab Tage, an
denen ich gut hörte und kaum Probleme mit der Kommunikation hatte. Dann
wieder waren die Probleme so massiv, dass ich kaum etwas verstanden habe und
entsprechend reagierte. Insofern stellt die Ertaubung eine ‚Klärung’ dieses
merkwürdigen, unangenehmen Zustands dar […].“ (C.).
Herr C. trägt kein Cochlea Implantat. Er ist beruflich als wissenschaftlicher Mitarbeiter
und Doktorand an einer deutschen Universität tätig.
10.2.4 Herr M.
Herr M. ist 53 Jahre, verheiratet und hat zwei Kinder. Seinen ersten Hörverlust erlitt er
im Alter von 47 Jahren. Herr M. und seine Frau besuchten ihren gemeinsamen Sohn.
Während des Besuches erlitt Herr M. eine plötzliche Schwindelattacke und fiel zu Boden. Anschließend stellte er eine Veränderung beim Hören fest. Eine ärztliche Versorgung war notwendig und bei den Untersuchungen im Krankenhaus wurde ihm bewusst,
dass er auf einem Ohr nicht mehr hörte. Audiologische Tests bestätigten den vollständigen Hörverlust des rechten Ohrs. Bis zu seinem zweiten Hörverlust arbeitete Herr M.
als Pharmakant.
76
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Im Jahr 2003 wurde Herr M. während einer Autofahrt erneut schwindlig. Er beschreibt
die Situation folgendermaßen:
„Da ich während der Fahrt immer Radio anhatte wegen Staumeldung usw. fiel
mir bei der Schwindelattacke sofort mein Hörverlust linkerseits auf. Deshalb verließ ich das Auto und machte eine andere Autofahrerin auf mich aufmerksam. Ich
sagte ihr, daß [sic] ich einen Notarzt brauche. Sie antwortete, aber ich sah nur
die Lippenbewegung. […] als ich sah, daß [sic] sie zum Handy griff, legte ich
mich hin und wartete auf den Krankenwagen. Ich hörte nichts mehr.“ (M.).
Seitdem ist Herr M. beidseitig ertaubt. Er trägt kein Cochlea Implantat. Aufgrund des
beidseitigen Hörverlustes und der folgenden Arbeitsunfähigkeit wurde Herr M. im Alter
von 51 Jahren berentet.
10.3
Auswertung der Interviews
10.3.1 Die Auswirkungen der Ertaubung auf die berufliche Situation
In Kapitel 8.3 habe ich beschrieben, dass die Erwerbsarbeit ein zentrales Lebensfeld in
der Sozialisation von erwachsenen Menschen darstellt. Die Erwerbsarbeit wird als ökonomisches, soziales und psychisches Fundament der Erwachsenenrolle betrachtet (vgl.
Galuske 2002, 35). Thiersch führt aus, dass die Berufsarbeit ein zentrales Medium für
soziale Integration, Anerkennung und Zugehörigkeit ist (vgl. Thiersch 2001, 783). Folglich ist die Erwerbsarbeit auch ein zentrales Merkmal für die Identitätsarbeit eines Individuums.
Alle Interviewpartner waren bis zum Zeitpunkt der vollständigen Ertaubung beruflich
tätig. Herr A. und Herr C. arbeiten weiterhin an ihren früheren Arbeitsstellen. Frau P.
und Herr M. verloren nach der Ertaubung ihren Arbeitsplatz. Im retrospektiven Reflexionsprozess legen sie dar, dass sie sich unter ihren damaligen Bedingungen nicht für den
Erhalt ihrer Arbeitsplätze einsetzen konnten. Beispielsweise sagt Herr M.:
„Anders machen würde ich vielleicht die Auseinandersetzungen mit der Arbeitswelt. Wahrscheinlich hätte ich doch irgendwo ein Plätzchen gefunden, wenn
ich die entsprechenden Kenntnisse gehabt hätte, wie das zu bewerkstelligen ist.“
(M.).
In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass sich die betreffenden Personen
zum damaligen Zeitpunkt in einer akuten Verlustsituation befanden und die psychosozialen Auswirkungen der Ertaubung eine subjektive Betroffenheit auslösten und den Verlust ihrer Handlungsfähigkeit. Böhnisch erläutert, dass in biographischen Krisen die
Erfahrung des Selbstwertverlustes gemacht wird, verknüpft mit dem Gefühl der Hilflo-
77
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
sigkeit (vgl. Kapitel 6.3.2). Das subjektive Bewältigungsstreben des Individuums bezieht sich auf die Wiederherstellung des Selbstwerts verbunden mit dem Gefühl der
Anerkennung. Das Bewältigungsstreben von Frau P. zeigt sich in ihrer beruflichen Weiterbildung zur Audiotherapeutin. Sie berichtet selbst:
„Meine jetzige berufliche Tätigkeit spielt eine große Rolle, weil ich hier meine
Kreativität entfalten kann, mich selbst entscheiden kann, ob ich etwas mache oder nicht. […] Ich fühle mich frei und anerkannt bei der Arbeit. Vor allem bin
ich selbstbestimmt. Daher auch meine Entscheidung: lieber einen neuen Beruf
anfangen und wenig […] Geld verdienen, als das Angebot zur Frühberentung
annehmen.“ (P.).
Obwohl die Erfahrungen im Berufsleben individuell verschieden sind, trat in den Interviews ein Aspekt immer wieder in den Vordergrund u.z. die kommunikative Situation
am Arbeitsplatz. Grundsätzlich berichten die Interviewpartner von Erschwernissen in
der Kommunikation. Unter Bezugnahme auf Schulz von Thun habe ich dargelegt, dass
eine Spätertaubung eine elementare Beeinträchtigung in der zwischenmenschlichen
Kommunikation auf allen vier Ebenen nach sich zieht (vgl. Kapitel 3.3). Herr A. und
Herr C. schildern, dass ihre Kommunikation am Arbeitsplatz in Folge des Hörverlustes
ausschließlich schriftlich mittels Papier oder E-Mail stattfindet. Dabei veränderte sich
der Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten qualitativ durch die kommunikativen Einschränkungen. Herr A. und Herr C. betonen, dass die zwanglosen Unterhaltungen ersatzlos wegfielen. Herr A. stellt dazu fest:
„Sodann gibt es keine zwanglose Unterhaltung (small Talk, Büroschwätzchen)
mehr. Belangloses wird nicht aufgeschrieben, weil es eben belanglos ist. […]
Ohne diese soziale Kommunikation aber gehört man nicht wirklich dazu.“ (A.).
Herr C. machte ähnliche Erfahrungen an seinem Arbeitsplatz und berichtet:
„Schwieriger ist der ‚small Talk’ mit Kollegen über letztlich belanglose Dinge,
die aber gerade so etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl entstehen lassen. Hier
stehe ich schon ab und an außen vor […].“ (C.).
In Kapitel 3.5 habe ich erläutert, dass der Austausch von Gedanken ein Grundbedürfnis
des Menschen ist. Zwanglose Unterhaltungen strukturieren zwischenmenschliche Beziehungen und formen das Zugehörigkeitsgefühl einer Person. Fallen Kommunikationssituationen dieser Art ersatzlos weg, ist die soziale Integration einer Person gefährdet.
Die Auswirkungen der kommunikativen Beeinträchtigung auf das Zugehörigkeitsgefühl
zeigen sich an einem weiteren Interviewbeispiel. Herr A. berichtet, dass er an dienstlichen Großveranstaltungen nicht mehr teilnimmt, da er nur physisch anwesend wäre,
78
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
ohne die Möglichkeit zu besitzen, am fachlichen Gespräch aktiv teilzuhaben. In diesem
Zusammenhang verweise ich auf die Grenze des Lippenabsehens, die sich in Versammlungen aufgrund des schnellen Sprecher- oder Themenwechsels offenbart (vgl. Kapitel
3.4). Herr C. berichtet ebenfalls von den kommunikativen Einschränkungen bei sozialen
Aktivitäten, wie Weihnachtsfeiern und Betriebsausflügen. Er versucht der Exklusion
entgegenzuwirken und erzählt:
„Ich versuche darauf zu achten, mich nicht selbst auszuschließen und wenn
möglich, an entsprechenden, sozialen Aktivitäten […] teilzunehmen. Dort suche
ich dann den Kontakt vor allem mit jenen, von denen ich weiß, dass sie sich auf
meine Kommunikationsbedürfnisse einstellen. Ich hoffe dann, diesen Kreis zu
erweitern. Das klappt nicht immer, aber doch recht regelmäßig.“ (C.).
In der Aussage von Herrn C. zeigt sich noch ein zentraler Aspekt in der Kommunikation
am Arbeitsplatz, u.z. dass das individuelle Bewältigungshandeln jeder Person durch die
Bereitschaft der sozialen Umwelt, sich auf die veränderten Perzeptionsbedingungen der
ertaubten Person einzustellen, beeinflusst wird. Hierzu berichtet Herr M. von der Zeit,
als er auf einem Ohr ertaubt war:
„[…] wenn ich gerufen wurde, wußte [sic] ich nie wo ich hin muß [sic]. Rücksichtslosigkeit der Normalhörenden, ansprechen auf der tauben Seite, Geräusche machen während des Gespräches usw. […] setzten mich natürlich immer
unter Streß [sic]. Das Zugehörigkeitsgefühl nahm immer mehr ab, da immer
mehr nur noch die notwendigsten Dinge mit mir besprochen wurden und alle
außerbetrieblichen Aktivitäten der Kollegen ohne mich besprochen und durchgeführt wurden. Zum Teil wurden Infos nur noch ins Schichtbuch geschrieben.“
(M.).
Anhand dieses Beispiels wird einerseits ersichtlich, dass sich die Verständigung zwischen Herrn M. und seinen Kollegen auf die unbedingt notwendigen Informationen
reduzierte und sich die Gewichtung der Kommunikation in Richtung Sachebene verschoben hat (vgl. Kapitel 3.3). Andererseits wirkten sich die Unkenntnis der Kollegen
über die Kommunikationsbedingungen sowie die fehlende Bereitschaft sich auf visuelle
Signale umzustellen, auf das subjektive Zugehörigkeitsgefühl von Herrn M. aus und
verstärkten ein Gefühl der sozialen Isolation. Einzig Herr C. machte als Wissenschaftler
in der Zusammenarbeit mit Kollegen andere Erfahrungen. Er sagt:
„Wissenschaftler sind es gewohnt, sich nicht unbedingt in ihrer Muttersprache
auszudrücken, weil sie aus verschiedenen Ländern kommen. Insofern ist mein
‚visuelles Kommunikationsbedürfnis’ ‚nur’ eine weitere von vielen Sprachen.“
(C.).
79
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Im Beispiel von Frau P. zeigt sich ebenfalls, dass sich die Zusammenarbeit mit Kollegen auf das Zugehörigkeitsgefühl einer Person auswirkt. Frau P war Landesgeschäftsführerin eines gemeinnützigen Vereins der Kinder- und Jugendhilfe und erhielt nach der
Ertaubung vom Vorstand das Verbot zu arbeiten. Damit wurde die gemeinsame Zusammenarbeit beendet und ein Zugehörigkeitsgefühl zu ihren Kollegen gab es nicht
mehr, weil sie ausgeschlossen wurde. Keupp (2002, 129) legt in diesem Zusammenhang
dar, dass Erwerbsarbeit nicht nur zentrale Erfahrungen von Anerkennung, sondern auch
von Selbstverwirklichung bietet. Ich habe bereits an anderer Stelle erwähnt, dass sich
Frau P. nach der Ertaubung beruflich neu orientierte. Die derzeitige Arbeit als Audiotherapeutin für hörgeschädigte Menschen gibt ihr Anerkennung. Sie berichtet selbst:
Ich fühle mich frei und anerkannt bei der Arbeit. Vor allem bin ich selbstbestimmt. Daher auch meine Entscheidung: lieber einen neuen Beruf anfangen und
wenig […] Geld verdienen, als das Angebot zur Frühberentung annehmen.“
(P.).
In ihrer alltäglichen Identitätsarbeit gestaltet Frau P. ihr Arbeitsverhältnis in eine Richtung, die ihr Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Handlungsfähigkeit verschafft. Ferner wird im Modell der Identitätsarbeit davon ausgegangen, dass z.B. berufliche Teilidentitäten die für eine bestimmte Lebensphase gültigen „Standards“ enthalten
(vgl. Kapitel 4.3.2.2). Unter dem Begriff „Standard“ verstehen die Autoren ein Set von
Bedeutungen, die Personen entwerfen und die definieren, wer man glaubt zu sein.
Frau P. trifft bezüglich des sozialen Standards ihrer beruflichen Teilidentität folgende
Aussage:
„Im beruflichen Bereich und in der politischen Arbeit werde ich sicher als stark
und selbstbewusst und fachlich kompetent wahrgenommen.“ (P.).
Die berufliche Teilidentität von Herrn C. drückt sich vor allem durch den emotionalen
Standard aus. In seinem persönlichen Bewältigungsstreben beendete er trotz bzw. mit
der Taubheit seine Promotion. Er selbst schildert, dass sich dieser Umstand positiv auf
sein Selbstwertgefühl auswirkte. Die soziale Position eines Menschen in der Gesellschaft wird u.a. durch die Teilhabe an Erwerbsarbeit und dem damit verbundenem Einkommen bestimmt (vgl. Keupp 2002, 129). An dieser Stelle verweise ich erneut auf das
Beispiel von Frau P., die äußerte, dass sie lieber eine neue berufliche Tätigkeit begann,
anstatt das Angebot zur Frühberentung anzunehmen. Mit ihrer Aussage hebt Frau P. die
Bedeutung der Erwerbsbiographie für das persönliche Selbstverständnis hervor. Keupp
(2002, 129) postuliert, dass es die spezifische Form von sozialer Zugehörigkeit und
80
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Einbindung ist, die über die Arbeit vermittelt wird. In diesem Zusammenhang stellt sich
Herr M. die Frage:
„Ich habe verstanden, daß [sic] es schwierig ist in meinem Beruf weiterzuarbeiten […]. Da die Firma aber offensichtlich kein Interesse mehr an mir hatte, frage ich mich schon, was das soll. Denn ich bin doch ‚nur’ ertaubt (vgl. und nicht
verblödet).“ (M.).
Anhand dieser Aussage wird deutlich, dass die Abwesenheit von Erwerbsarbeit einen
Verlust an persönlichem Sinn und sozialer Einbindung ausdrückt, die sich in psychosozialer Belastung äußert. Die berufliche Identität ist für Herrn M. aufgrund der Berentung weggefallen. Angesichts einer zunehmenden Verknappung von Arbeit ist es für
Herrn M. ausgeschlossen, „noch einmal einen meiner Behinderung entsprechenden
Arbeitsplatz zu finden“ (M.). Auch für Herrn A. ist eine berufliche Neuorientierung
nicht möglich. Er berichtet selbst:
„Eine berufliche Um- oder Neuorientierung kommt aus Alters- und Gesundheitsgründen nicht in Betracht. Berufliche Wünsche oder Ziele habe ich keine
mehr, nach zweimaliger Beförderung ist für mich der Endpunkt der Karriere erreicht. Führungspositionen können von mir auf Grund der Ertaubung nicht ausgeübt werden. Ohne Telephon [sic], Besprechungen und Dienstreisen sind die
nicht zu bewältigen. Es hat deshalb keinen Sinn, hier noch Ehrgeiz zu entwickeln. Ich bin beruflich zufrieden, aber die Erfüllung, die mir diese Arbeit einmal bereitet hat, ist nicht mehr gegeben.“ (A.).
Herr A. verweist in diesem Zitat auf die Einschränkungen der kommunikativen Kompetenz und die daraus resultierende Relativierung seiner beruflichen Ziele. Für die Identitätsarbeit von Herrn C. ergaben sich ähnliche Auswirkungen auf seine Arbeitsorientierung. In Bezug auf seine beruflichen Ziele sagt er:
„Meine beruflichen Ziele habe ich relativiert: Langfristige Planungen bringen
nichts […]. Um nach ‚ganz oben’ zu kommen, benötigt man ‚Vitamin B’ (Beziehungen, Protegierung etc.). Als Spätertaubter ist es schwieriger, dies ‚anzusammeln’. Das heißt nicht, dass ich es nicht versuche.“ (C.).
Herr C. weist mit seiner Aussage noch auf einen weiteren Sachverhalt des Berufslebens
hin u.z. auf die „Destandardisierung der Erwerbsbiographie“ (Keupp 2002, 128). Die
normale Berufsbiographie als Grundlage einer festen Berufsidentität ist in der heutigen
Gesellschaft kaum noch gegeben. Identitätstheoretisch zeigen sich immer mehr nicht
lineare Prozessverläufe, in denen die Arbeitsidentität durch mittelfristige Projekte umschrieben wird (vgl. 2002, 128).
81
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Herr C. erläutert in diesem Zusammenhang:
„Bezogen auf Zukunftspläne hat sich eine gewisse Gelassenheit breit gemacht,
da man die Erfahrung machen musste, dass die besten Pläne nur so lange etwas
taugen, bis es zum nächsten drastischen Einschnitt kommt. Die Hoffnung auf eine Dauerstelle teile ich natürlich auch, sehe sie aber als eher gering an. Hier
werden meiner Meinung nach die schon vorhandenen Probleme der ‚Wissenschaftslandschaft’ in Deutschland durch meine Ertaubung noch verschärft.“
(C.).
Thiersch (2004, 33) insistiert in Bezug auf die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse,
dass die Perspektivität in der heutigen Gesellschaft schwierig geworden ist, weil die
Gegenwart angesichts der Offenheit von Zukunft ein eigenständiges Gewicht gewinnt.
Ausgehend von den gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne stellt sich die berufliche Identität von spätertaubten Menschen in nicht linearen Prozessverläufen dar.
Zusammenfassend halte ich fest, dass für die Erwerbsarbeit einer spätertaubten Person
oftmals nicht das Ausmaß des Hörverlustes, sondern die Intensität der mit einer bestimmten Tätigkeit verbundenen Kommunikation entscheidend ist. Die Erwerbsarbeit
als zentrales Lebensfeld der Identitätsarbeit formt das Selbstverständnis eines Menschen. In den einzelnen Interviews zeigte sich, dass aufgrund der Ertaubung die Zusammenarbeit mit Kollegen und Vorgesetzten in fast allen Fällen beeinträchtigt wurde.
Die Gründe hierfür sind individuell verschieden und heben letztlich doch einen zentralen Aspekt hervor u.z. dass die Erwerbsarbeit für die Identitätsarbeit eines Individuums
die zentralen Erfahrungen von Anerkennung und Zugehörigkeit vermittelt. Infolgedessen stellt die Abwesenheit von Arbeit einen Verlust an persönlichem Sinn und sozialer
Einbindung dar. Im Zuge der derzeitigen Arbeitsmarktsituation, die einhergeht mit der
Verknappung von Arbeitsplätzen, bleibt die Erwerbsarbeit trotzdem zentrales Merkmal
der Normalbiographie eines Individuums. Keupp (2002, 129) legt dar, dass gerade mit
und wegen der Verknappung von Arbeit ihre Bedeutung für die Identitätsentwicklung
einer Person wächst. Letztlich ist die Identitätsarbeit der Interviewpartner, sofern dies
Umwelteinflüsse zuließen, durch die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse geprägt, in denen die Möglichkeiten von Selbstverwirklichung und Handlungsfähigkeit erweitert
werden können. Beispielsweise wurde Herr A. im Rahmen der beruflichen Rehabilitation mit einem Computer ausgestattet und im Umgang damit geschult. Folglich war es für
ihn möglich auf elektronischem Weg mit Kollegen aus anderen Abteilungen und Mitarbeitern aus anderen Behörden per E-Mail zu kommunizieren und seine Handlungsfä-
82
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
higkeit zu erweitern. Frau A. konnte sich durch ihre berufliche Neuorientierung zur
Audiotherapeutin selbst verwirklichen.
10.3.2 Die Auswirkungen der Ertaubung auf die Partnerschaft und Familie
Es ist davon auszugehen, dass eine Hörschädigung nicht nur das Individuum, sondern
auch die Rahmenbedingungen des mikrosozialen Umfeldes betrifft. Partnerschaft und
Familie gehören zu den zentralen Kategorien des Erwachsenenalters und stellen einen
signifikanten Ausschnitt der Lebenswelt erwachsener Menschen dar. Die identitätsrelevante Erfahrung des Hörverlustes und die daraus resultierenden Kommunikationserfordernisse führen zu einer Veränderung der partnerschaftlichen Beziehung (vgl. Jones
1991, 187). Demnach ist eine Neuorganisation der Interaktionsformen im betroffenen
Person-Umwelt-System erforderlich. Unter Bezugnahme des Modells von Haußer zur
prozesshaften Verarbeitung von Lebenserfahrungen ist davon auszugehen, dass die interne Kongruenz einer Lebensgemeinschaft durch neuerliche wechselseitige Anpassungsprozesse wieder hergestellt werden muss, um ein subjektiv empfundenes Passungsverhältnis unter den veränderten Kommunikationsbedingungen zu erreichen (vgl.
Kapitel 4.3.2.2). Herr C., Herr M. und Frau P. lebten bereits vor der Ertaubung in einer
ehelichen Lebensgemeinschaft. Herr C. und seine Frau integrierten die kommunikativen
Beeinträchtigungen der Ertaubung in ihre Partnerschaft folgendermaßen:
„In der alltäglichen Situation wird versucht eine Arbeitsteilung zu etablieren.
Jene Dinge, die unbedingt die Fähigkeit zu hören voraussetzen, werden vom hörenden Partner erledigt (Telefonate etc.). Was ohne Hören geht, versucht der ertaubte Partner zu erledigen (Briefe schreiben, Informationen sammeln soweit
das über das Internet geht etc.).“ (C.).
In ihrer gemeinsamen Kommunikation und Interaktion konnten sich Herr C. und seine
Partnerin den veränderten Perzeptionsbedingungen anpassen und verwenden hauptsächlich lautsprachbegleitende Gebärden. Auch die Familie von Frau P. veränderte ihre
Kommunikationstechniken. Die Kinder erlernten das Fingeralphabet und Frau P. berichtet, dass ihre Söhne sehr viel deutlicher als andere Menschen artikulieren. Herr M.
schildert, dass sich seine Frau schnell an die veränderte Situation anpassen konnte. Ich
schlussfolgere daraus, dass die interviewten Personen, gemäß dem dargestellten Regulationsmodell von Haußer, emotionale und soziale Ressourcen für ihre alltägliche Identitätsarbeit mobilisierten, um die identitätsrelevante Erfahrung des Hörverlustes zu bewältigen.
83
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Herr A. ist ledig und in seiner Auseinandersetzung mit dem Hörverlust zeigt sich besonders die emotionale Ebene des Identitätsprozesses. Die emotionale Ebene bezieht
sich auf das Selbstwertgefühl der Person. In diesem Zusammenhang berichtet Herr A.
von seinem Leben ohne Partnerschaft:
„In einem Punkt hat mein Selbstwertgefühl […] gelitten, und hier mußte [sic]
ich mein Lebensziel der Realität anpassen: Ich habe den Gedanken an eine
Partnerschaft bzw. Familie aufgegeben. Ich habe niemanden kennengelernt, der
sich ein Leben mit mir zugetraut hätte. Die Befürchtung, eines Tages mehr pflegende Angehörige als Partnerin zu sein, war wohl doch größer als die stärkste
Zuneigung. Und Sätze wie ‚Ein Leben mit dir würde mich überfordern’ machen
nicht dickfelliger, sondern dünnhäutiger. Es hat immer lange gedauert, bis ich
so etwas überwunden habe und heute tue ich mir das nicht mehr an. Und das
nagt schon am Selbstwertgefühl.“ (A.).
Unter Bezugnahme des Modells der Identitätsarbeit lässt sich festhalten, dass das
Selbstwertgefühl durch die Verdichtung von biographischen Erfahrungen auf der Ebene
zunehmender Generalisierung der Selbstthematisierung entsteht (vgl. Kapitel 4.3.2.3).
Die motivationale Ebene des Anpassungsprozesses einer identitätsrelevanten Erfahrung
umfasst die Handlungsseite der Identitätsarbeit und äußert sich in bestätigendem Sinn
durch neues informationssuchendes Verhalten oder in Abwehmechanismen, die zu Distanz und vermeidendem Verhalten führen können. Die motivationale Ebene wurde in
den Interviews u.a. durch die gemeinsamen Aktivitäten in der Partnerschaft hervorgehoben. Beispielsweise erzählt Herr M.:
„Freizeit verplane ich mehr oder weniger. Und weil ich nicht´s mehr mit der
Akustik am Hut habe, möchte ich noch viel sehen. Jeder Urlaub ist in dieser
Richtung angelegt. Wir haben einen kleinen Wohnwagen und sind dadurch natürlich für uns selbst unterwegs. Probleme am Flugzeugschalter usw. kenne ich
daher nicht. Wenn ich mal mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin,
ist das schon anstrengend genug.“ (M.).
Folglich konnten Herr M. und seine Frau eine Bewältigungsstrategie für sich finden, in
der die Taubheit für ihre Freizeitaktivitäten nicht relevant ist und Herr M. sich in seiner
Handlungskompetenz nicht durch mögliche kommunikative Störungen eingeschränkt
fühlt. Frau P. berichtet bezüglich ihrer Freizeitaktivitäten seit dem Hörverlust:
„Inzwischen […] ist es so, dass ich […] bei kulturellen Dingen das eine oder
andere ausprobiere, hin und wieder Frust und hin und wieder Freude erlebe.“
(P.).
Aus dieser Aussage lese ich heraus, dass die motivationale Ebene der Identitätsarbeit
von Frau P. durch neues, informationssuchendes Verhalten geprägt ist und sich den
84
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
veränderten akustischen Wahrnehmungsbedingungen anpasst. Herr C. verhält sich ähnlich und berichtet, dass er seine Kinobesuche an die Hörminderung angepasst hat und
seit der Ertaubung Filme mit Untertitel anschaut. Herr C. lebt in einer Großstadt und
kann nach eigener Aussage zwischen dem reichhaltigen kulturellen Angebot an Originalfilmen mit Untertitel wählen.
Werner Richtberg (1991, 83) hebt in seiner Analyse zu den Auswirkungen einer Spätertaubung auf das Familiensystem noch einen weiteren Aspekt hervor. Die Partner oder
Familienangehörigen nehmen vor dem Hintergrund von konfliktbelasteten Differenzerlebnissen zur eigenen früheren Normalität in beruflichen und privaten Lebenswelten
oftmals eine stützende und helfende Rolle ein, um die kommunikativen Defizite auszugleichen. Herr M. sagt dazu folgendes:
„Telefonate mit Behörden erledigt meine Gattin. Bei Arztbesuchen ist auch meine Frau meistens dabei, aber da ist es so das [sic] mit meiner Frau über mich
geredet wird, weil sich niemand die Zeit nimmt mit mir langsam zu sprechen.“
(M.).
Aus dem Streben nach Normalisierung und Handlungsfähigkeit heraus, nutzt Herr M.
seitdem ein Buch für Kommunikationssituationen, in dem Ärzte oder andere "öffentliche" Personen ihre Mitteilungen stichpunktartig für ihn notieren können.
Damit stellt Herr M. einerseits seine subjektive Handlungskompetenz wiederher, andererseits versucht er durch die wiedererlangte Selbständigkeit seine Frau in ihrer „Dolmetscherrolle“ zu entlasten. Die Entlastung seiner Frau ist für Herrn M. in der Partnerschaft sehr wichtig und fördert die Konstruktion eines positiven Selbstwertgefühls.
Hierzu berichtet er:
„Ich sorge dafür, das [sic] sie sich auch Freiraum für sich läßt [sic] und sich
nicht zu sehr in meine ‚Pflege’ vertieft. z.B. Bringe ich ihr aus der Bibliothek
Bücher mit, die sie dann auch liest. Dazu hat sie sich früher nie die Zeit genommen. Es gibt mir ein gutes Selbstwertgefühl für meine Frau etwas Gutes zu tun.
Auch kleine Dienste für die Familie bewirken Gutes in mir.“ (M.).
Frau P. beschreibt in ihrem persönlichen Erleben ein ähnliches Bewältigungshandeln:
„Ich habe von Anfang an darauf geachtet, so viel wie möglich selber zu machen
(vgl. bin zum Arzt hingefahren zum Termin vereinbaren statt anrufen zu lassen).
Alles was anfangs über meinen Kopf hinweg geschah, hat mich sehr wütend gemacht, ich war immer selbständig [sic], beruflich in leitender Position.“ (P.).
Diese Bewältigungsstrategie zeigte Frau P. auch im Umgang mit ihren Kindern, die
damals 10 und 12 Jahre alt waren. Sie erzählt, dass es ihr wichtig war, den Kontakt mit
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10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
den Schulen zu halten und Gespräche mit den Lehrern zu führen, trotz der erschwerten
Kommunikation und obwohl sie zunächst für schulische Belange, wie Vokabeln abhören und Elternabende, ausfiel. Inzwischen besitzt Frau P. ein CI und kann nahezu alle
Aufgaben des Alltags selbstständig erledigen.
Zusammenfassend halte ich fest, dass eine partnerschaftliche Beziehung nur positiv an
die Veränderungen durch die Hörminderung angepasst werden kann, wenn beide Partner dies wünschen. Als Tutorin für hörgeschädigte Menschen betont Jesley Jones (1991,
187), dass die Bereitschaft visuelle Kommunikationstechniken zu erlernen und den
Partner während der biographischen Krise zu unterstützen, voraussetzt, dass beide Partner schon vor der Ertaubung eine gute Kommunikation führten. Für die alltägliche Identitätsarbeit benötigen Menschen vor allem emotionale und soziale Ressourcen, um die
biographische Krise des Hörverlustes zu bewältigen. In diesem Zusammenhang sind die
soziale Einbindung und der soziale Rückhalt einer Person für ein stimmiges Identitätsgefühl entscheidend (vgl. Kapitel 6.3.2). Abschließend möchte ich dazu auf ein Zitat
von Herrn M. verweisen:
„Bewährt hat sich meine Familie, vor allem meine Frau. Ohne diese Erkenntnis
wäre ich schon längst den Bach runtergegangen.“ (M.).
10.3.3 Die Auswirkungen der Ertaubung auf die sozialen Netzwerke
Jedes Individuum lebt mit einer sozialen Umwelt, d.h. Personen stehen mit anderen
Menschen im Kontakt, zu denen soziale Beziehungen aufgebaut werden und die das
soziale Netzwerk der Person gestalten. Gemäß Keupp braucht die Identitätsarbeit einer
Person soziale Netzwerke (vgl. Kapitel 4.3.5). In meiner sozialpsychologischen Betrachtung zur Identitätsarbeit habe ich dargelegt, dass die sozialen Netzwerke u.a. ein
Fundament an Ressourcen zur Bewältigung von Belastungssituationen zur Verfügung
stellen. Das Ziel der Identitätsarbeit besteht in einem Passungsverhältnis zwischen der
Person und ihrer sozialen Umwelt. Die sozialen Netzwerke meiner Interviewpartner
waren bis zur Ertaubung durch Kontakte mit hörenden Menschen strukturiert. Frau P.
gibt an, dass sie bis zum Zeitpunkt der Ertaubung keine anderen spätertaubten Menschen kannte. Sie sagt:
„Durch die Ertaubung habe ich natürlich mehr Nähe zu GL [Gehörlosen] und
Ertaubten bekommen - das war früher für mich nicht denkbar - nicht aus irgendeiner Absicht, sondern weil es keinen Anlass gegeben hätte.“ (P.).
86
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Aus den Biographien der anderen Interviewteilnehmer lese ich ähnliche Erkenntnisse
heraus. Im Gegensatz zu prälingual hörgeschädigten Menschen haben spätertaubte
Menschen i.d.R. keinen Bekanntenkreis von anderen hörgeschädigten Personen, mit
denen eine uneingeschränkte Kommunikation möglich wäre (vgl. Fengler 1990, 51).
Die persönlichen Erfahrungen meiner Interviewteilnehmer unterstreichen diese Annahme. Für Herrn M. haben sich seit der Ertaubung signifikante Veränderungen in seinem
sozialen Netzwerk ergeben. Er berichtet über die kommunikative Situation:
„Zum Teil wird nur noch mit meiner Frau geredet, in der Annahme, das [sic] sie
mir später alles erzählt. Dem ist aber nicht immer so. Ich werde eigentlich nie
persönlich angesprochen. Und ich habe auch nicht mehr die Nerven dazu, ständig an alle in der Runde zu appellieren: sprecht bitte langsam usw..“ (M.).
In diesem Zusammenhang habe ich in Kapitel 4.3.5 erörtert, dass die Verwendung eines
homogenen Sprachsystems signifikante Voraussetzung für die soziale Interaktion ist. In
Bezug auf eine Hörschädigung kann von einer Inkongruenz der Kommunikationsbedingungen ausgegangen werden, die eine spätertaubte Person in Gruppengesprächen mit
dem Lippenabsehen nicht ausgleichen kann (vgl. Kapitel 3.4). Für eine gelingende
Kommunikation sind die Interaktionspartner in den sozialen Netzwerken aufgefordert,
ihre Kommunikationstechniken den visuellen Bedingungen der spätertaubten Person
anzugleichen. Das setzt eine Bereitschaft von Seiten der Interaktionspartner voraus.
Hierzu berichtet Herr C. aus seiner persönlichen Erfahrung:
„Zum Thema Freundschaften und Zugehörigkeit kann ich sagen, dass die Quantität der Freundschaften abgenommen hat, weil einige nicht bereit waren, sich
auf die veränderten Kommunikationsbedürfnisse einzustellen. Dafür hat sich die
Intensität und Qualität der verbliebenen Freundschaften verstärkt.“ (C.).
Frau P. hat ähnliche Erlebnisse in ihrem sozialen Netzwerk gesammelt und schildert:
„Private Kontakte, die nicht per Fax, E-Mail, Besuche etc. realisiert werden
konnten, weil diese Leute meine Situation nicht verstanden, habe ich abgebrochen. Allerdings haben auch viele liebe Menschen ein Fax oder E-Mail angeschafft um mit mir zu kommunizieren.“ (P.).
Nachdem Herr A. seine Freunde über den Hörverlust informierte, veränderten sich seine
sozialen Kontakte folgendermaßen:
„Bei manchen endete der Kontakt sofort, weil sie schlicht nicht mit der neuen Situation umgehen konnten und auf meinen Brief geschwiegen haben. Andere bekundeten zwar, weiterhin mit mir in Kontakt bleiben zu wollen, brachten aber
letztlich nicht die nötige Kraft dafür auf. Die Zeit zwischen den Treffen wurde
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10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
üblicherweise per Telephon [sic] überbrückt, und das ging nun nicht mehr. Zum
Briefschreiben fehlte andererseits der Antrieb, eine Briefkultur haben wir nicht
mehr, und 1994/95 war das Internet noch nicht selbstverständlich. Der Kontakt
war auch hier trotz anfänglich guten Willens schnell eingeschlafen.“ (A.).
Im Sinne des Modells der Identitätsarbeit kumulieren die verschiedenen Selbstwahrnehmungen des Individuums zu einem situationalen Gesamteindruck und werden in der
Biographie der Person abgespeichert. Dabei wirken sich die gemachten Erfahrungen auf
die Zugehörigkeit und das Identitätsgefühl von sozialer Anerkennung aus (vgl. Kapitel
4.3.2.3). Im Zusammenhang mit seinen kognitiven und emotionalen Selbstwahrnehmungen berichtet Herr M.:
„Ich meine, ich gehöre nicht dazu. Mein Freund (Musiker) ist sehr auf Akustik
angewiesen, für ihn ist eine Welt zusammengebrochen, als er von meiner Ertaubung erfuhr. […] Unsere langjährige Freundin hat sich auch ziemlich zurückgezogen. Die Kontakte beschränken sich nur noch auf Geburtstagsbesuche und die
werden freundlicherweise nach den eigentlichen Geburtstagsfeiern gelegt, das
[sic] ich also auch mal was sagen kann und vor allem auch was verstehe. Ich
denke, ich werde als ‚Krüppel’ (vor allem von meinem Musikerfreund) angesehen, den man meiden muß [sic], weil der ja sowieso nichts versteht. Nach der
Devise: ‚Warum soll ich mich mit dem abgeben, wenn es schwierig ist mit ihm zu
kommunizieren’." (M.).
Die sozialen Selbstwahrnehmungen von Herrn C. beziehen sich auf folgende Erfahrungen in seinem sozialen Netzwerk:
„Wichtig ist meiner Erfahrung nach, dass man Rücksicht aufeinander nimmt.
Das beruht aber auf Gegenseitigkeit. Die Freunde stellen sich auf die geänderte
Kommunikationstechnik ein. Diese ist aber durchaus auch anstrengend für sie,
so dass im Laufe eines Abends auch mal ‚Pausen’ in der Kommunikation mit mir
nötig sind. Meine Freunde versuchen mich so normal wie möglich zu behandeln.
Da ist irgendwie kein ‚Mitleid’ spürbar im Sinne von ‚Der Arme!’, sondern eher
ein gewisser Pragmatismus: ‚Der hört nix! Wie verständige ich mich mit
ihm?’.“ (C.).
Diese Erfahrungen beeinflussen sein persönliches Gefühl von sozialer Anerkennung
und Zugehörigkeit, so dass Herr C. selbst sagt:
„Ich habe nicht das Gefühl von meinen Freunden irgendwie ausgeschlossen zu
werden oder nicht dazu zu gehören.“ (C.).
In Kapitel 4.3.1 habe ich erörtert, dass Identitätsarbeit die Verknüpfung lebensweltlicher
Erfahrungen eines Individuums beschreibt. Dabei werden die situationalen Selbstthematisierungen u.a. entlang biographischer Etappen geordnet. Folglich beeinflusst die Sozialisation des Erwachsenenalters ebenso die Identitätsarbeit eines Menschen wie ein
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10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
identitätsrelevantes Lebensereignis und kann sich auf die Strukturierung von sozialen
Beziehungen auswirken. In diesem Zusammenhang berichtet Herr A. aus seinem Freundeskreis:
„Hinzu kommt, daß [sic] man sich wegen der unterschiedlichen Lebensentwürfe
auseinanderlebte [sic]. Sie hatten geheiratet, die meisten von ihnen haben Kinder, etliche ein Haus gebaut. Das gibt es alles nicht in meinem Leben. Es fehlte
letztlich an einer ausreichenden Zahl von Gemeinsamkeiten.“ (A.).
Anhand dieser Aussage wird noch ein weiterer Aspekt von Identität deutlich, den ich in
Kapitel 4.1 beschrieben habe, u.z. dass Identität immer ein Relationsbegriff ist. Haußer
postuliert in seiner Analyse, dass sich Identität durch den Vergleich zu etwas anderem
bestimmt. Indem sich Herr A. mit seinen Freunden vergleicht, geht er der Identitätsfrage
nach: „Wie sehe ich mich im Vergleich zu den anderen?“.
Aufgrund der Erlebnisse mit dem früheren sozialen Netzwerk haben sich in den Biographien meiner Interviewpartner nach der Ertaubung neue Kontakte und Freundschaften
ergeben. Folglich gestaltet die Identitätsarbeit von Individuen auch soziale Netzwerke,
indem Personen Netzwerkbeziehungen herstellen und sich in Beziehung zu anderen
Individuen setzen (vgl. Kapitel 4.3.5). Frau P. berichtet von ihren neuen Kontakten seit
der Ertaubung:
„[…] es haben sich viele neue Beziehungen mit anderen Hörgeschädigten ergeben. Es gibt einen sehr kleinen Kreis intellektueller /akademischer bzw. künstlerischer Hörgeschädigter […], die ich als meinen Freundeskreis bezeichnen würde, dem ich mich zugehörig fühle.“ (P.).
Herr A., der wegen einer zusätzlichen Sehbehinderung in seiner Kommunikation und
Mobilität eingeschränkt ist, pflegt seine sozialen Kontakte vorwiegend über das Internet. Nachdem Herr A. in seiner beruflichen Tätigkeit mit einem Computer und Internetanschluss ausgestattet wurde, beschreibt er seine Erfahrungen folgendermaßen:
„Hin und wieder surfte ich dann in der Mittagspause durch das Netz und sah,
was es so alles an Seiten und Diskussionsforen für Behinderte gibt. Ich habe
mich dann auch privat damit ausgestattet und merkte sehr schnell, dass [sic]
dies für Behinderte ein nicht zu unterschätzendes Medium ist. […] Ich vermeide
weitgehend Veranstaltungen, bei denen ich mir meine Ausgrenzung selbst vorführe, pflege meine […] Internet-Kontakte, bei denen sie [Taubheit] kaum eine
Rolle spielt. Andere Betroffene und überhaupt Menschen mit gleichen Interessen
findet man nur über das Internet, vor allem, wenn Kommunikation und Mobilität
so eingeschränkt sind wie bei mir.“ (A.).
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10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
In der heutigen Technologiegesellschaft ist das Internet ein zentrales Informations- und
Kommunikationssystem. Die Bedeutung des Internets für das soziale Netzwerk hebt
Herr C. hervor, indem er sagt:
„[…] E-Mail, Chat- und Talkprogramme: Dies ist die wesentliche Kommunikationsform am Arbeitsplatz und die häufigste für die Kommunikation mit
Freunden.“ (C.).
Göser (2001, 78) stellt in ihrer empirischen Studie zu den Auswirkungen des Internets
auf die Identitätsarbeit von hörgeschädigten Menschen fest, dass die Mehrzahl der aktiven Internetbenutzer neue Kontakte bei der Benutzung eines „Chat-rooms“ knüpfen und
Beziehungen aufbauen. In diesem Rahmen spielt die Hörminderung für die zwischenmenschliche Kommunikation eine untergeordnete Rolle und es kann davon ausgegangen werden, dass spätertaubte Menschen bei der Nutzung des Internets in ihrer kommunikativen Kompetenz nicht beeinträchtigt sind. Ferner hebt Göser (2001, 83) hervor,
dass sich die sozialen Netzwerke einer hörgeschädigten Person durch das Internet verändern. Die Homogenität der sozialen Netzwerke in Bezug auf Neigungs- und Interessenlage nimmt zu, weil gezielt Personen mit gleichem Fokus gesucht werden können,
wie z.B. andere betroffene spätertaubte Personen (vgl. Göser 2001, 83). An dieser Stelle
verweise ich nochmals auf die Aussage von Herrn A., der feststellt:
„Für Spätertaubte gibt es nämlich im Unterschied zu Gehörlosen und Schwerhörigen keine Vereine. Andere Betroffene und überhaupt Menschen mit gleichen
Interessen findet man dann nur über das Internet.“ (A.).
Die Bedeutung des Internets für die sozialen Beziehungen und Netzwerke von spätertaubten Personen wurde in jedem Interview deutlich hervorgehoben. Gemäß Göser
(2001, 84) kann davon ausgegangen werden, dass die Transformation der „Face-toface“ Kommunikationssituation zu neuen situationalen Selbstthematisierungen innerhalb der Identitätsarbeit führt, die auf Anerkennung und sozialer Zugehörigkeit beruhen.
Infolgedessen wirkt sich die virtuelle Kommunikation auf die Selbstnarration eines Individuums aus und beeinflusst wiederum die Metaidentität der betreffenden Person. In
allen Interviews wurde die signifikante Bedeutung des Internets für die Aufrechterhaltung und Neustrukturierung der sozialen Netzwerke der befragten Person hervorgehoben. Auf dieser Grundlage ergeben sich weitere Fragen im Zusammenhang mit der Identitätsarbeit von spätertaubten Menschen, die Anregungen für kommende Untersuchungen bilden können.
90
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
10.3.4 Die Auswirkungen der Ertaubung auf die kulturelle Zugehörigkeit
Soziale Netzwerke stellen nicht nur Interaktionsgemeinschaften dar, sondern vermitteln
auch kulturelle Werte, Orientierungen und Einstellungen. In Kapitel 4.3.6 habe ich erörtert, dass sich aus dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Gruppe eine kulturelle (Teil-)Identität ausformt. Im Rahmen der vorliegenden empirischen Untersuchung
bin ich der Frage nachgegangen, ob sich spätertaubte Menschen eher der hörenden Kultur oder der Gehörlosenkultur zugehörig fühlen. In diesem Zusammenhang interessierte
es mich, inwiefern die Gebärdensprachgemeinschaft ein eminentes soziales Netzwerk
für spätertaubte Menschen darstellt, in der sie ihre kulturelle (Teil-)Identität formen.
Herr A. stellt fest, dass er sich eindeutig der hörenden Kultur zugehörig fühlt und benennt dabei die Sprache als signifikantes Kriterium für seine Identifikation. Er sagt
selbst:
„Das liegt vor allem daran, daß [sic] ich stark von meiner Sprache geprägt bin,
als Spätertaubter bin ich hörend aufgewachsen und als Absolvent eines geisteswissenschaftlichen Studiums bin ich schriftkompetent. Die Laut- und Schriftsprache ist das Medium, in dem ich mich ausdrücke und in dem ich meinen Beruf ausübe.“ (A.).
Unter Bezug auf Ebbinghaus und Heßmann habe ich in Kapitel 5.2 darauf hingewiesen,
dass die Sprache das zentrale Instrument zur Aneignung des Kulturgutes der Gemeinschaft ist. Gleichzeitig wird Sprache im Kontext von Kultur erlernt. Für Herrn C., Herrn
M. und Frau P. war die Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit schwierig zu beantworten. Hierzu äußert sich Frau P. folgendermaßen:
„Zugehörigkeitsgefühl ist für mich sehr schwierig. Genau genommen fühle ich
mich fast nirgends zugehörig. Kulturell gehöre ich auf jeden Fall in die hörende
Kultur, falls man das überhaupt so sagen kann, vielleicht genauer: in die
Schwerhörigen-Kultur. Aber ich habe auch gute Kontakte zu GL [Gehörlosen].“
(P.).
Trotz der kommunikativen Einschränkungen durch den Hörverlust und der möglichen
Exklusion aus der hörenden Kulturgemeinschaft, besitzt die hörende Gesellschaft für
jeden Interviewpartner einen zentralen Stellenwert. Hierzu berichtet Herr C.:
„Der hörenden Kultur fühle ich mich eigentlich noch zugehörig, weil sie mich
geprägt hat und ich die meiste Zeit Kontakte zu Hörenden habe. Auf der anderen
Seite kann nicht geleugnet werden, dass sich manchmal ein Gefühl der Ausgeschlossenheit einstellt. Dies ist in meinen Augen aber oft eher ein praktisches
Problem.“ (C.).
91
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Frau P. hebt ebenfalls die Bedeutung der Kontakte mit hörenden Menschen hervor und
schildert:
„Für mich ist der Kontakt mit Hörenden - sowohl privat als auch fachlich beruflich aus vielen Gründen wichtig. Hörende erzählen mir vieles oder weisen
mich auf interessante Dinge (Filme, Ausstellungen...) hin.“ (P.).
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit bin ich davon ausgegangen, dass die Gebärdensprachgemeinschaft möglicherweise ein soziales Netzwerk für eine ertaubte Person
darstellt und eine kulturelle Identität bietet. Diese Vermutung konnte in den Interviews
nicht bestätigt werden. Herr C. beschreibt:
„Der Gehörlosengemeinschaft fühle ich mich nicht zugehörig. Das liegt zum einen daran, dass die DGS für mich nicht die Muttersprache ist. Zum anderen habe ich den Eindruck gewonnen, dass in der GL-Gemeinschaft [GehörlosenGemeinschaft] Taubheit anders wahrgenommen wird. Für mich ist Taubheit eine Behinderung mit der ich so gut wie möglich zu leben versuche. Dies wird, wie
ich erfahren musste, in der GL-Gemeinschaft zum Teil anders gesehen.“ (C.).
In ihrem persönlichen Erleben berichtet Frau P. bezüglich ihres Zugehörigkeitsgefühls
zur Gebärdensprachgemeinschaft:
„Es ist […] nicht denkbar, mich in die GL-Kultur [Gehörlosenkultur] zu begeben (als Gast ja, aber nicht mit meiner Identität!), weil ich denke, dass ich dort
mindestens ebenso Außenseiterin wäre wie in der hörenden Welt, wo ich immerhin steuernd Einfluss nehmen kann.“ (P.).
Sowohl Herr C. als auch Frau P. verweisen darauf, dass es für prälingual gehörlose
Menschen schwierig ist, die anthropologische Bedeutung des Hörens zu erfassen und
die daraus entstehenden psychosozialen Auswirkungen der Verlustsituation sowie die
kommunikativen Einschränkungen spätertaubter Menschen nachzuvollziehen (vgl. Kapitel 2.2.3). In diesem Zusammenhang sagt Frau P.:
„Die Probleme Spätertaubter verstehen zu können, ist für GL [Gehörlose] genau so schwierig wie für Hörende.“ (P.).
Herr C. berichtet aus seinen persönlichen Erfahrungen in der Gebärdensprachgemeinschaft folgendes:
„Hinzu kommt, dass ich die Kontakte zu Gehörlosen als wenig hilfreich empfunden habe […]. Auf meine konkreten Probleme nach der Ertaubung konnte oder
wollte man nicht eingehen. Ich will nicht sagen, dass dies für alle Gehörlosen
gilt, es hat sich nur seit dem kein weiterer Kontakt mehr ergeben.“ (C.).
92
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
In Kapitel 5.2 habe ich dargelegt, dass die Gebärdensprachgemeinschaft als kulturelle
Sprachgemeinschaft die Deutsche Gebärdensprache als Kommunikations- und Interaktionsmedium verwendet. Die Beherrschung der Gebärdensprache stellt das verbindende
und Kultur kennzeichnende Merkmal für die Gemeinschaft dar, über die sich die Mitglieder mit ihrer sozialen Gruppe identifizieren. In meiner Analyse interessierte mich,
inwiefern für spätertaubte Menschen eine Motivation darin besteht, die Gebärdensprache zu erlernen. In diesem Zusammenhang stellt Frau P. fest:
„Ich habe mich mit DGS beschäftigt, weil ich schon früher viel mit Sprachen zu
tun hatte (Erstausbildung als Übersetzerin) und für mich ist DGS eine schöne
und interessante Fremdsprache. Ich glaube, dass es relativ schwer für Ertaubte
ist, DGS zu lernen, wenn sie die Erklärungen nicht akustisch verstehen können.“
(P.).
Herr C. hat sich ebenfalls persönlich mit der Gebärdensprache beschäftigt und zählt
grundsätzliche Hindernisse auf, die sich für ihn bei der Erlernung und Verwendung von
DGS als Kommunikationsmittel ergeben:
„1. Wenn man ertaubt, stellt sich das Problem, eine neue Kommunikationsform
zu finden praktisch von gestern auf heute. Das Erlernen der DGS dauert
jedoch eine gewisse Zeit.
2. Es fehlt an entsprechenden Kursen und Kurskonzepten. Die, die ich erlebt
habe, verfehlten meine Bedürfnisse und die meines Partners, der die Kurse
mit mir zusammen besucht hat. Außerdem dauert es seine Zeit, bis man ein
Niveau erreicht hat, das man für die Kommunikation nutzen kann. Intensivkurse wären besser, sind jedoch schwierig mit den Erfordernissen des Arbeitslebens in Einklang zu bringen. Außerdem stellt sich die Frage der Kostenübernahme.
3. Es genügt für Spätertaubte ja nicht, dass sie selbst die DGS können. Auch
das Umfeld (Familie, Freunde, Kollegen) muss gewillt und in der Lage
sein, sich zumindest Grundkenntnisse beizubringen.“ (C.).
Für Herrn A. besteht ein anderes praktisches Problem bei der Aneignung der DG Infolge seiner Sehbehinderung ist es ihm nicht möglich die visuelle Sprache zu erlernen, so
dass die Gebärdensprachgemeinschaft nie ein soziales Netzwerk für ihn darstellen wird.
Er selbst sagt:
„Bei meinen Schnupperbesuchen im hiesigen Gehörlosenverein fiel mir jedoch
auf, daß [sic] man ohne die Gebärdensprache dort nicht als zugehörig angesehen wird. Und da ich diese Sprache wegen der Sehbehinderung nicht lernen
kann, bleibt mir diese Welt letztlich verschlossen.“ (A.).
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10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Herr M. weist in seiner Aussage, vergleichbar zu Herrn C., auf einen zentralen Sachverhalt bei der Erlernung der DGS hin:
„Um mich herum sind keine gebärdenden Leute und ich kenne auch keine. Eine
neue komplette Sprache zu erlernen, die zu dem viel Übung erfordert und auch
eine gewisse Beweglichkeit […] voraus setzt, ist auch nicht leicht in unserem Alter und ungeeignet, weil es meine Familie ebenso erlernen müßte [sic]. Welcher
Hörende macht das schon, wenn es noch anders geht.“ (M.).
Das soziale Netzwerk der spätertaubten Interviewteilnehmer ist u.a. durch ihr hörendes
Familiensystem strukturiert. Die Benutzung der DGS als Kommunikations- und Interaktionsmedium setzt voraus, dass die hörenden Personen im sozialen Umfeld ebenso die
DGS als Kommunikationsmittel verwenden. Herr M. schildert in seiner Aussage, dass
keine Motivation für ihn besteht die DGS zu erlernen, weil andere manuelle Kommunikationssysteme zur Verständigung genutzt werden können. In diesem Zusammenhang
stellte mir Frau P. in unserem Nachgespräch folgende Frage:
„Mich würde mal interessieren, warum Sie sich auf DGS ausschließlich beziehen und nicht nach LBG fragen. Die meisten Spätertaubten ohne CI, die ich
kenne (und das sind schon einige) benutzen LBG.“ (P.).
Lautsprachbegleitende Gebärden scheinen für die Kommunikation spätertaubter Menschen einen signifikant höheren Stellenwert zu besitzen, als die DG LBG bietet spätertaubten Personen, die vor allem auf das Lippenabsehen angewiesen sind, eine zusätzliche Informationsquelle zur Entschlüsselung einer gesendeten Nachricht (vgl. Kapitel
5.4.1). Vorteilhaft bei der Erlernung von lautsprachbegleitenden Gebärden sind Kenntnisse der deutschen Grammatik, welche postlingual ertaubte Menschen aufgrund ihrer
Lautsprach- und Schriftkompetenz besitzen. Folglich sind lautsprachbegleitende Gebärden für eine spätertaubte Person und ihr hörendes Familiensystem leichter zu erlernen
als die DGS.
Zusammenfassend halte ich fest, dass die Tatsache der physiologischen Hörschädigung
eine ertaubte Person nicht automatisch zum Mitglied der Gebärdensprachgemeinschaft
macht. Entscheidender als das medizinische Kriterium sind die Identifikation mit der
Gruppe und die gebärdensprachliche Kompetenz (vgl. Kapitel 5.2). In ihrem persönlichen Erleben beschreiben die Interviewpartner, dass sie sich eher der hörenden Gemeinschaft als der Gebärdensprachgemeinschaft zugehörig fühlen. Ein zentraler Aspekt stellt
in diesem Zusammenhang ihre eigene Sozialisation in der hörenden Kultur und Laut-
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10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
sprachgemeinschaft dar. Die Deutsche Gebärdensprache, als Kultur kennzeichnendes
Merkmal der Gebärdensprachgemeinschaft, ist eine Fremdsprache, deren Erlernung für
die Interviewpartner mit erheblichen Hindernissen verbunden ist. Infolgedessen konnte
in den Interviews nicht nachgewiesen werden, dass die befragten Personen eine kulturelle (Teil-)Identität als hörgeschädigte Person im Sinne des kulturellen Konzepts von
Gehörlosigkeit entwickelten. Letztlich haben die Interviews aufgezeigt, dass die Frage
nach der kulturellen (Teil-)Identität aufgrund der individuellen Exklusionserfahrungen,
sowohl in der hörenden Gesellschaft als auch in der Gebärdensprachgemeinschaft, nicht
eindeutig zu bestimmen war.
Die zentrale Prämisse für das Modell der Identitätsarbeit besteht in der Annahme, dass
Identität die Verknüpfungsarbeit lebensweltlicher Erfahrungen des Individuums darstellt. In dem Zusammenhang wird auch die Verbindung der Teilidentitäten in den jeweiligen Lebensfeldern von Arbeit, Partnerschaft, sozialen Netzwerken und Kultur betrachtet (vgl. Kapitel 4.3.1). Die einzelnen Identitätsvariablen, die gesellschaftliche Lebenswelten darstellen, zeigten eine narrative Verdichtung von situationalen Selbstthematisierungen und Teilidentitäten der alltäglichen Identitätsarbeit auf. In diesem Kontext wurde immer wieder der Zusammenhang zwischen kommunikativer Kompetenz
und subjektiver Handlungsfähigkeit hervorgehoben.
Aufbauend auf diesen Überlegungen und den Ergebnissen aus den individuellen Interviews werde ich mich im abschließenden Kapitel meiner empirischen Auswertung mit
der Verknüpfung der Teilidentitäten meiner Interviewpartner zu einer Metaidentität
beschäftigen. Dabei beziehe ich den prospektiven Anteil der Identitätsarbeit meiner
Interviewpartner in die Auswertung mit ein.
10.3.5 Verknüpfung der Teilidentitäten zu einer Metaidentität
Einleitend möchte ich kurz an die drei Bausteine der Metaidentität erinnern, die für die
Konstruktion eines übergeordneten Identitätsbezuges relevant sind. Es handelt sich dabei um die Dominanz einer Teilidentität, um das Identitätsgefühl und die biographische
Kernnarration des Individuums (vgl. Kapitel 4.3.2.3). Im Modell der Identitätsarbeit
wird davon ausgegangen, dass sich die Identität eines Subjekts in der Interaktion entwickelt. Gemäß Krappmann und Mead ist Sprache das basale Medium, mit dem Individuen in Interaktion treten (vgl. Kapitel 4.2.2). Anhand eines Alltagsbeispiels von Herrn M.
möchte ich eine situationale Selbsterfahrung seiner Lebenswelt skizzieren, die seine
95
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
biographische Kernnarration widerspiegelt. Herr M. berichtet von einer Einkaufsituation folgendes:
„Einkaufen ist nicht nur ein akustisches, sondern auch ein nervliches Problem.
Es ist schon schwierig, wenn man am Wurststand beispielsweise 100g Wurst bestellt, falls man überhaupt mitbekommt, das [sic] man dran ist. (vgl. denn mindestens 3 Verkäuferinnen reden ständig irgendetwas) und dann die Rückfragen
der Verkäuferin nicht versteht. Schnell entsteht der Eindruck, man läuft ja nicht
ganz rund. Normalhörende können nicht verstehen, das [sic] man zwar ‚richtig’
sprechen kann aber nicht verstehen. Man steht also in der Welt doch alleine da,
weil die Vorstellungskraft nicht ausreicht sich in meine Probleme reinzuversetzen [sic].“ (M.).
Die kommunikative Kompetenz von Herrn M. ist in dem Beispiel eingeschränkt und die
Grenze des Lippenabsehens als visuelles Kommunikationsmedium wird hervorgehoben.
In Kapitel 3.3 habe ich erörtert, dass die beim Sprechen entstehenden Mundbilder individuell geprägt sind und sich je nach Sprecher unterscheiden. Darüber hinaus verhindern seitliches Wegdrehen des Kopfes, schnelles Sprechtempo oder ein abgedunkelter
Raum jegliches Verstehen. Neben der erhöhten Konzentration kommt die kommunikative Unsicherheit hinzu, ob die Nachricht richtig verstanden wurde.
Ferner sind anhand dieser situationalen Selbsterfahrung die einzelnen Arten der Selbstwahrnehmung deutlich geworden. Beispielsweise lässt sich die soziale Selbstwahrnehmung von Herrn M. in seiner Aussage: „Schnell entsteht der Eindruck, man läuft ja
nicht ganz rund.“ wieder finden. Aktuelle subjektive Selbstthematisierungen vermischen sich mit früheren Erfahrungen und die narrative Konstruktion ermöglicht die Sortierung und Ordnung der identitätsrelevanten Ereignisse. Sie sind im Kontext der Biographie eines Subjekts eingebunden und beschreiben die individuelle Erfahrungswelt
der Person (vgl. Kapitel 4.3.2.2). Herr M. hat Situationen dieser Art schon mehrmals
erlebt und meidet sie aus diesem Grund. Situationale Selbsterfahrungen werden in ihrem Kerngehalt im Identitätsgefühl abgespeichert und Herr M. äußert sich bezüglich des
Stellenwertes der Taubheit in seinem Leben folgendermaßen:
„Die Taubheit spielt die Hauptrolle, insofern ich weiß, das [sic] ich nie wieder
besser hören werde. Ich versuche damit klar zu kommen, weil ich tagtäglich damit konfrontiert bin.“ (M.).
Analytisch betrachtet umfasst das Identitätsgefühl auch Bewertungen bezüglich der
eigenen Alltagsbewältigung, die in biographischen Kernnarrationen münden.
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10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
In der narrativen Verdichtung seines Selbstverständnisses schreibt Herr M.:
„Unzufriedenheit kommt immer dann, wenn man das Gefühl hat zu nichts mehr
gut zu sein. Ich würde gerne mal Billard spielen oder mal ein Bier trinken gehen, aber alleine ‚traue’ ich mich nicht. Angst vor Mißverständnissen [sic] in
der Öffentlichkeit bewegt mich häufig dazu nur bekannte Wege zu beschreiten
(dies ist symbolisch gemeint).“ (M.).
Anhand dieser Aussage zeigt sich, dass sich die früheren Selbstthematisierungen auf das
Selbstverständnis von Herrn M. auswirken und seine individuellen Erfahrungsmuster
beeinflussen. Für ein stimmiges Identitätsgefühl benötigen Individuen soziale Anerkennung und Zugehörigkeit. Herr M. findet in seiner Familie die Bewältigungsressource,
welche ihm sozialen Rückhalt bietet. Er selbst berichtet:
„Bewährt hat sich meine Familie, vor allem meine Frau. Ohne diese Erkenntnis
wäre ich schon längst den Bach runtergegangen.“ (M.).
Die Selbstreflexion von Herrn A. stützt sich auf folgende lebensweltliche Erfahrungen,
die in seinem Selbstkonzept kumulieren:
„Bei einem gelassenen und selbstsicheren Auftritt mit dem sofortigen Hinweis
auf die Gehörlosigkeit und die Bitte, Fragen und Bemerkungen aufzuschreiben,
verkrampft die Situation gar nicht erst. Es läuft dann wirklich reibungslos, egal
wo: Bahnhof, Einkauf, Buchhandlung, Arzt... Wenn ich diese Brücke baue, gibt
es so gut wie keine Probleme und gelegentliche Mißverständnisse [sic] oder
Nachfragen (vgl. es ist nicht jede Handschrift gleich gut zu lesen) werden dann
genauso behandelt wie das akustische Mißverständnis [sic] eines Hörenden. Allerdings muss ICH dafür sorgen, daß [sic] das so ist.“ (A.).
Die Selbstkundgabe in Interaktionsprozessen erleichtert Herrn A. die Kommunikationssituation. Dennoch ist es für Herrn A. wichtig, dass die Taubheit Teil seiner Identität
bleibt und nicht zur Konstruktion von übergeordneten Identitätsbezügen führt. Die Relevanz der Taubheit in seiner Lebenswelt beschreibt er folgendermaßen:
„Sie ist eine Tatsache, der ich nicht entgehen kann. Verdrängen läßt [sic] sie
sich nicht, nicht mal eine Minute. Egal ob ich aus dem Haus gehe, den Fernseher einschalte, ein Buch lese… ich werde ständig mit dieser Tatsache konfrontiert. Ich muß [sic] deshalb aufpassen, daß [sic] sie nicht zum dominierenden
Faktor in meinem Leben wird, also nicht mehr Raum einnimmt, als unbedingt
notwendig […]. Dadurch vermeide ich, daß [sic] die Taubheit trotz der psychischen Belastung, die sie unbestreitbar ist, zu Depressionen führt.“ (A.).
Herr A. stellt in der Selbstnarration fest, dass er mit seiner Person durchaus zufrieden
ist. In Folge des kritischen Lebensereignisses hat sich vor allem seine Religiosität als
97
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
identitätsrelevante Instanz herauskristallisiert, die seine Identitätsarbeit steuert. In seinem persönlichen Erleben beschreibt er:
„Was mir am meisten dabei geholfen hat, dieses Leben anzunehmen, ist der
Glaube. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht und sehe das auch bei anderen,
daß [sic] der Glaube das Floß ist, das noch trägt, wenn alle anderen Rettungsboote längst leckgeschlagen sind und ich bin meinen Eltern auch sehr dankbar
dafür, daß [sic] sie mich im Glauben erzogen haben.“ (A.).
In diesem Zusammenhang verweise ich auf eine empirische Studie zu Lebenskrisen und
Glaubensaneignung von Dirk Klute, in der er postuliert, dass ein kritisches Lebensereignis, die Relevanz des Glaubens für die Identität verändern kann (vgl. Klute 1999,
120). Gleichzeitig kann sich auch eine Änderung der Identitätsrelevanz des Glaubens
auf die biographische Krise auswirken. Klute (1999, 120) führt weiter aus, dass eine
Wechselwirkung zwischen Identitätsarbeit und Religiosität nur auftritt, wenn die Identitätsrelevanz des Glaubens schon gegeben ist, wie das Beispiel von Herrn A. zeigt.
Unter Bezugnahme auf Keupp habe ich in dieser Arbeit geschildert, dass der retrospektive Anteil in den situationalen Selbstthematisierungen immer um einen prospektiven
Anteil in der Identitätsarbeit ergänzt wird (vgl. Kapitel 4.3.2.1). Identitätsprojekte setzen einen subjektiven Reflexionsprozess mit Blick auf vorhandene Ressourcen voraus,
die für eine Realisierung erforderlich sind (vgl. Kapitel 4.3.4). Das Identitätsprojekt von
Herrn A. ist darauf ausgerichtet, seine Handlungsfähigkeit zu behalten. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass die Sehbehinderung von Herrn A. auf eine fortschreitende Erkrankung seiner Netzhaut zurückzuführen ist, welche in den meisten Fällen zur Erblindung führt. Herr A. berichtet:
„Da ich nicht weiß, was mich erwartet, sind meine Pläne für die Zukunft recht
bescheiden. Ich wünsche mir, noch so lange wie möglich arbeiten zu können,
weiß aber heute schon, daß [sic] das nicht bis zur Pensionsgrenze gehen wird.
Bei der Kombination von Hör- und Sehbehinderung ist alles viel anstrengender,
man muß [sic] sich dauernd konzentrieren; für ein ganzes Arbeitsleben reicht
das nicht. Und dann hoffe ich, daß [sic] ich noch so lange wie möglich ein selbständiges [sic] Leben führen kann, auch nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben.“ (A.).
Ich habe an anderer Stelle dargelegt, dass für Herrn A. die sozialen Kontakte im Internet
einen wichtigen Stellenwert in seiner Lebenswelt einnehmen (vgl. Kapitel 10.3.3). Auf
dieser Basis kann er uneingeschränkt kommunizieren. Des Weiteren arbeitet Herr A. bei
der Webseite für Spätertaubte mit, in dessen Forum ich meine Interviewanfrage veröffentlichte.
98
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Herr A. erläutert:
„Für die Seite habe ich mittlerweile zwei Beiträge verfaßt [sic], weitere sind in
Arbeit. Dort würde ich mich gerne auf Dauer engagieren. Für Spätertaubte gibt
es nämlich im Unterschied zu Gehörlosen und Schwerhörigen keine Vereine.“
(A.).
Anhand dieses Beispiels wird ersichtlich, dass Herr A. unter der Fragestellung: „Wohin
möchte ich mich entwickeln?“ ein optionales Selbst entwirft, welches im Kontext der
Identitätsarbeit als Identitätsentwurf klassifiziert wird. Dieser Identitätsentwurf bezieht
sich auf die zeitliche Strukturierung des Identitätskonstruktes von Herrn A. und formt
sich aus der biographischen Bearbeitung seiner aktuellen Selbstbeschreibung (vgl. Kapitel 4.3.4).
Für Herrn C. ist es ebenfalls wichtig, sich für spätertaubte Menschen zu engagieren.
Herr C. hebt in seinen Aussagen hervor, dass er nach der Ertaubung keine Informationen über eventuelle Rehabilitationsmaßnahmen o.ä. erhielt und sich aus diesem Grund
bei der Erstellung der Webseite für spätertaubte Menschen engagierte. Herr C. sagt
selbst:
„Das Problem war, dass es damals praktisch keine Informationen für Spätertaubte gab, was übrigens einer der Gründe ist, warum ich mich an der Erstellung der Website ‚Einstürzende Tonwelten’ [Internetforum der Webseite] beteiligt habe. Der behandelnde Ohrenarzt wusste z.B. nichts von den Rehabilitationsangeboten in […] Rendsburg. Ich vermute, dass mir vieles, was ich mir zusammen mit Freunden, Familie und Partner an Kommunikationstaktiken etc. erarbeitet habe, dort vermittelt worden wäre.“ (C.).
An anderer Stelle hebt Herr C. hervor:
„Ich habe durch die Beschäftigung mit dem Projekt ‚Einstürzende Tonwelten’
gemerkt, dass gerade auch in meiner ‚Verarbeitung’ der Ertaubung noch nicht
alles ‚fertig’ ist - wird es das jemals? Momentan betrifft dies aber eher praktische Fragen, wie man das Leben als Spätertaubter noch besser organisieren
kann.“ (C.).
Im Sinne des Modells der Identitätsarbeit ist davon auszugehen, dass Herr C. seine lebensweltlichen Erfahrungen unter der Identitätsperspektive „ich als spätertaubte Person“ abgespeichert hat. Die Integration von individuumsspezifischen Erfahrungsmustern unter einer bestimmten Perspektive führt zur Ausbildung einer Teilidentität. Ich
konstatiere, dass die Selbstaussage „Ich bin spätertaubt.“ eine ernstzunehmende Teilidentität mit dem Charakter einer Metaidentität darstellt, in der sowohl das Identitätsgefühl als auch die biographische Kernnarration eine zentrale Bedeutung haben. Inwiefern
99
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
diese Teilidentität gegenüber anderen Teilidentitäten dominiert, konnte im Beispiel von
Herrn C. nicht festgestellt werden. Die subjektive Handlungsfähigkeit als Ergebnis der
alltäglichen Identitätsarbeit ist für Herrn C. durch einen pragmatischen Umgang mit
seiner Taubheit gekennzeichnet. Er beschreibt sein Bewältigungsstreben folgendermaßen:
„Taubheit ist Teil meiner Biographie […]. Ich versuche, die Trauer und/oder
Wut über die Ertaubung nicht mein Leben bestimmen zu lassen. Stattdessen bemühe ich mich, möglichst offen und pragmatisch mit Taubheit und den daraus
resultierenden Problemen umzugehen. Das gelingt nicht immer, aber immer öfter. Ich bin zu einem gewissen Maße auch stolz auf das was ich trotz oder mit
meiner Taubheit erreicht habe.“ (C.).
Anhand der Ausführungen von Herrn C. lassen sich seine subjektiven Vorstellungen
über die eigene Gestaltbarkeit und Bewältigung seines Alltagslebens erkennen, die
durch sein persönliches Kohärenzgefühl gestärkt werden.
Die Identitätsentwürfe und Identitätsprojekte von Herrn C. beziehen sich vorwiegend
auf seine berufliche Teilidentität. Unter den Bedingungen der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ist es Herrn C. wichtig, mittelfristig einen Vertrag als Wissenschaftler zu
erhalten. In seinem persönlichen Erleben beschreibt er:
„Ich habe ja geschrieben, dass ich momentan Postdoc bin. Da ist es üblich, das
[sic] man sich von einer befristeten Stelle zur nächsten hangelt und hofft, irgendwann vielleicht doch mal eine Dauerstelle zu bekommen. Da geht es Hörenden nicht
anders als Spätertaubten. Die Hoffnung auf eine Dauerstelle teile ich natürlich
auch, sehe sie aber als eher gering an. Hier werden meiner Meinung nach die schon
vorhandenen Probleme der ‚Wissenschaftslandschaft’ in Deutschland durch meine
Ertaubung noch verschärft. […] Meine konkreten Pläne für die Zukunft? Die Frage
der beruflichen Zukunft für die nächsten 2 oder 3 Jahre klären.“ (C.).
Frau P. hat ihr konkretes berufliches Identitätsprojekt mittlerweile in die Praxis umsetzen können und arbeitet als Audiotherapeutin mit hörgeschädigten Menschen.
Im Gegensatz zu Herrn C. bezeichnet sich Frau P. nicht als spätertaubt. Sie begründet
ihr Selbstverständnis folgendermaßen:
„[…] Mit CI bin ich ganz schön weit davon entfernt, taub zu sein. Diese Beurteilung
maße ich mir an, weil ich weiß, wie es ist, ohne jedes Hilfsmittel taub zu sein.“ (P.).
Im Sinne des Regulationsmodells nach Haußer konnte Frau P. die identitätsrelevante
Erfahrung des Hörverlustes in ein subjektiv empfundenes Passungsverhältnis mit einem
subjektiv definierten Maß an Ambiguität bringen.
100
10 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
Hierzu berichtet sie ferner:
„Ich habe einen Verlust bewältigt und gelernt, anderen Menschen bei der Bewältigung eines derartigen Verlustes zu helfen. Ich habe auch gelernt, Dinge bei anderen
Menschen zu akzeptieren, die ich nicht verstehen oder nachvollziehen kann. In den
meisten Fällen finde ich Mittel und Wege, die Barrieren, die mir die Taubheit auferlegen, zu umgehen.“ (P.).
In diesem Zusammenhang verweist Frau P. auf eine identitätsrelevante Selbsterfahrung,
die sie in Folge der Ertaubung sammelte:
„Bewährt hat sich auf jeden Fall, mich auf mich selbst zu verlassen, auf meine
Kraft zu vertrauen.“ (P.).
10.4
Zusammenfassung
Das Modell der Identitätsarbeit bietet die Bausteine, um ein Bild davon zu entwerfen
welche Erfahrungen spätertaubte Menschen in ihren Lebenswelten gemacht haben, welche Erlebnisse die Biographie sowie die aktuelle Situation kennzeichnen und welche
Optionen und Hindernisse sich daraus für die Weiterentwicklung in der Zukunft ergeben. Die in den Interviews zum Ausdruck gebrachten Teilidentitäten der Personen sortieren sich entlang ihrer Hörminderung.
Zusammenfassend stelle ich fest, dass für die Erwerbsarbeit einer spätertaubten Person
oftmals nicht das Ausmaß des Hörverlustes, sondern die Intensität der mit einer bestimmten Tätigkeit verbundenen Kommunikation entscheidend ist. In den einzelnen
Interviews zeigte sich, dass aufgrund der Ertaubung die Zusammenarbeit mit Kollegen
und Vorgesetzten in fast allen Fällen beeinträchtigt wurde. Die Gründe hierfür waren
individuell verschieden und hoben letztlich doch einen zentralen Aspekt hervor, u.z.
dass die Erwerbsarbeit für die Identitätsarbeit eines Individuums die zentralen Erfahrungen von Anerkennung und Zugehörigkeit vermittelt.
Des Weiteren wurden in den Partnerschaften und Familiensystemen der Interviewpartner Assimilationsprozesse deutlich, die sich aus den veränderten Kommunikationsbedingungen ergaben. Unter Zuhilfenahme des Modells der Identitätsarbeit konnte aufgezeigt werden, dass Menschen vor allem emotionale und soziale Ressourcen benötigen,
um die biographische Krise eines Hörverlustes zu bewältigen. Dabei sind die soziale
Einbindung und der soziale Rückhalt einer Person für ein stimmiges Identitätsgefühl
entscheidend. In diesem Kontext wurde auch die Bedeutung der sozialen Netzwerke
hervorgehoben, welche sich im Zuge der Ertaubung bewährten oder veränderten und
entscheidend in der Identitätsarbeit der betreffenden Person waren. In allen Interviews
101
11 Diskussion von Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit
kristallisierte sich die signifikante Bedeutung des Internets für die Aufrechterhaltung
und Neustrukturierung der sozialen Netzwerke heraus. Meine anfängliche Vermutung,
dass die Gebärdensprachgemeinschaft bei der Formung einer kulturellen (Teil-)Identität
relevant ist, wurde von meinen Interviewpartnern nicht bestätigt. In ihrem persönlichen
Erleben beschreiben die befragten Personen, dass sie sich eher der hörenden Gemeinschaft als der Gebärdensprachgemeinschaft zugehörig fühlen.
Abschließend stelle ich fest, dass sich jeder Interviewpartner intensiv mit seiner Hörminderung auseinandergesetzt hat und sein Streben in der Wiederherstellung bzw. Erweiterung seiner Handlungskompetenz zu sehen ist. All diese Prozesse sind durch Ambivalenzen, Widersprüche und Spannungen geprägt und das Ziel der Identitätsarbeit
besteht nicht in der Auflösung der Differenzen, sondern in der Bewältigung der Spannungen, indem sie in ein subjektiv lebbares Beziehungsverhältnis gebracht werden (vgl.
Kapitel 4.3.1). Ich möchte die Auswertung der Interviews zur Identitätsarbeit spätertaubter erwachsener Menschen mit einem Zitat von Frau P. beenden, die retrospektiv
auf ihre Ertaubung zurückblickt und postuliert:
„Ich denke, alles was im Leben passiert, bedarf einer Re-aktion! [sic] Das Gehör zu verlieren ist wahrlich keine schöne Erfahrung und wenn man in der Verlustkrise steckt ist das eine schlimme Sache […], aber im Großen Ganzen - zumal wenn man in einem medizinisch und gesundheitspolitisch recht fortgeschrittenen Land lebt - durchaus zu bewältigen […]. Ich stelle damit den Schmerz
nicht in Abrede, denke aber einfach, dass es hilfreicher ist, den Menschen Hinweise auf ihre eigenen Ressourcen zu geben, ihnen Wege aufzuzeigen […].“ (P.).
11
Diskussion von Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit
Im folgenden Kapitel werde ich anhand der „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“
von Thiersch und dem Biographiekonzept von Böhnisch mögliche Handlungsanforderungen herausarbeiten, die sich für die Soziale Arbeit mit postlingual ertaubten Menschen ergeben. Die Handlungstheorien orientieren sich an der Grundhaltung des Empowermentansatzes (vgl. Kapitel 6.1). Die genannten Rahmenkonzepte greifen ineinander
über und nehmen in der vorliegenden Arbeit eine sich ergänzende Funktion ein.
Ziel dieser Arbeit ist es, Denkanstöße für die Soziale Arbeit anzuregen, welche sich aus
den einzelnen Biographien der Interviewpartner formen und die entlang der Prämisse
eines „gelingenderen“ Alltags strukturiert sind. Zwischen der Auswertung der individuellen Biographien und der Formulierung globaler Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit mit spätertaubten Menschen entsteht ein Spannungsverhältnis, welches nicht
aufgelöst werden kann und soll. Stattdessen besteht die Intention der vorliegenden Ar102
11 Diskussion von Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit
beit darin, erste empirische Erkenntnisse für die Soziale Arbeit aufzubereiten, die Anregungen für einen methodisch strukturierten Reflexionsprozess bieten und eine lebensweltorientierte hermeneutische Sensibilität für spätertaubte Menschen fördern sollen.
11.1
Lebenswelt und Alltag als Rahmenkonzept und Handlungsmuster
Das Konzept „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ zielt auf eine theoretisch fundierte
Bestimmung über die Rahmenbedingungen, die pädagogische Orientierung und den Ort
der pädagogischen Intervention Sozialer Arbeit unter den gesellschaftlichen Bedingungen von Individualisierung und Pluralisierung der Lebenslagen (vgl. Kapitel 6.2.1). Der
Blick auf den Alltag des Adressaten als Ort sozialpädagogischer Intervention ermöglicht den Fokus auf die individuellen Lebenswelten mit ihren Selbstverständlichkeiten,
Selbstinterpretationen und Relevanzstrukturen zu setzen (vgl. Sickendiek 1999, 147).
Thiersch insistiert, dass sich Sozialpädagogen in die Lebenswelt des Betroffenen begeben müssen, um Probleme dort aufzugreifen, wo sie sich zeigen (vgl. Kapitel 6.2.2).
Dabei nutzt die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ jene Ressourcen, die in der Alltagswelt gegeben sind und baut ergänzend neue Ressourcen auf.
Die individuelle Alltagswelt der spätertaubten Interviewpartner ist durch eine Gratwanderung zwischen Selbstständigkeit und Hilfestellung geprägt. Kommunikative Einschränkungen in verbalen Interaktionsprozessen erfordern Hilfestellungen von Seiten
der hörenden Umwelt. Gleichzeitig muss die Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit der betreffenden Person gewahrt bleiben. Meiner Ansicht nach besteht die Anforderung der „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ darin, die Handlungskompetenz
des ertaubten Menschen soweit zu stärken und zu fördern, dass ein selbstbestimmtes
Leben möglich ist, in dem eine bedürfnisorientierte Kommunikation seine Berücksichtigung findet. Zur Verdeutlichung dessen verweise ich rückblickend auf die selbstreferentielle Aussage von Herrn A. zu seinem Selbstverständnis:
„Ich habe nie versucht, meine Behinderungen zu kaschieren, sondern weise auf
sie hin, wenn es notwendig ist. Ich kann auch im Bedarfsfalle andere um Hilfe
bitten, […] oder für mich telephonieren lassen. Ich denke deshalb, daß [sic] ich
von anderen durchaus ernst genommen werde und habe nicht das Gefühl, anders oder gar schlechter als Hörende behandelt zu werden.“ (A.).
Letztlich sollte das Ziel alltagsorientierter Sozialer Arbeit darin liegen, eine authentische Lebensperspektive zu entwickeln, in welcher die spätertaubte Person ihre Hörschädigung in ihr Selbstkonzept integrieren kann. Das Rahmenkonzept der „Lebens-
103
11 Diskussion von Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit
weltorientierung“ stützt sich auf die Erkenntnis, dass sozialpädagogische Interventionen
nicht ohne Wert- und Zielvorstellungen auskommen (vgl. Kapitel 6.2.3). Demnach besteht die Anforderung an die Soziale Arbeit, ein reflexives Bewusstsein ihres eigenen
normativen Handelns auf der Grundlage theoriegeleiteter Strukturierung zu entwickeln.
Hierzu müssen Sozialpädagogen in der Arbeit mit spätertaubten Personen ihr persönliches Menschenbild, ihre Wert- und Normvorstellungen selbstreferentiell betrachten
können, weil diese Grundsätze die berufliche Identität und das berufliche Selbstverständnis formen. Aus der lebensweltorientierten Perspektive ergibt sich meiner Meinung nach die anthropologische Grundhaltung, dass der Mensch ein soziales Wesen
darstellt, welches in soziale Netzwerke eingebettet ist.
Im Zusammenhang mit einer Ertaubung im Erwachsenenalter ist zu beachten, dass die
kommunikativen Einschränkungen des Hörverlustes Auswirkungen auf das mikrosoziale Umfeld des betreffenden Menschen haben. Folglich muss die „Lebensweltorientierte
Soziale Arbeit“ ihren Blickwinkel auf die sozialen Netzwerke der ertaubten Person richten. Beispielsweise kann in der „Netzwerkbezogenen Beratung“ erarbeitet werden, welche Unterstützungsressourcen im sozialem Umfeld zur Verfügung stehen, wo die Grenzen für partnerschaftliche Hilfestellungen liegen und das Familiensystem überlastet ist
(vgl. Sickendiek 1999, 185). In diesem Zusammenhang verweise ich auf das Beispiel
von Herrn M., der bezüglich seiner Partnerschaft folgendes sagte:
„[…] Ich habe mir ein Buch zu gelegt, in dem die Ärzte oder andere ‚öffentliche’
Personen mir stichpunktartig einschreiben was sie mir zu sagen haben bzw. gesagt hatten […]. Das funktionierte schon einige mal [sic] gut und ich brauch
dann auch meine Frau mit meinen Arztbesuchen nicht zu belasten.“ (M.).
Die Wiederherstellung der Handlungskompetenz im Rahmen der Identitätsarbeit von
Herrn M. entlastet auch seine Partnerschaft. Sofern diese Prozesse vom betroffenen
Subjekt nicht selbst initiiert werden können, ist die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ aufgefordert, unterstützend zu intervenieren. Ferner braucht es für eine alltagsorientierte Soziale Arbeit die sozialpädagogische Fähigkeit, sich den gegebenen Verhältnissen der Lebenswelt des Adressaten auszusetzen und die gegebenen Verhältnisse zu
verstehen (vgl. Kapitel 6.2.3). Für die Soziale Arbeit mit postlingual ertaubten Menschen sind u.a. Kenntnisse der Kommunikationstheorie notwendige Bedingung, um
Problemlagen des Alltags einer spätertaubten Person zu erfassen und daraus gemeinsam
mit dem betroffenen Menschen Bewältigungs- und Verarbeitungsformen zu entwickeln,
die einen „gelingenderen Alltag“ ermöglichen. Die Interviewpartner haben hervorgeho-
104
11 Diskussion von Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit
ben, dass sie in ihren Lebenswelten immer wieder die Erfahrung machen, dass hörende
Menschen ihre kommunikativen Einschränkungen nicht nachvollziehen können. Die
vorhandenen Kenntnisse der Laut- und Schriftsprache verschleiern für hörende Menschen die Kommunikationseinschränkungen der Interviewpartner in verbalen Interaktionsprozessen. Am Beispiel von Herrn M. wurde deutlich, dass die Unkenntnis seiner
Arbeitskollegen im Umgang mit seiner einseitigen Ertaubung zu emotionalen Stresssituationen führte. Zur Verdeutlichung dessen verweise ich rückblickend auf das persönliche Erleben seiner beruflichen Situation:
„[…] Rücksichtslosigkeit der Normalhörenden, ansprechen auf der tauben Seite,
Geräusche machen während des Gespräches usw. […] setzten mich natürlich
immer unter Streß [sic].“ (M.).
Die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ kann im Rahmen der beruflichen Rehabilitation in Konfliktlagen dieser Art vermitteln und aufklärend intervenieren. Beispielsweise
kann die Arbeitsplatzbegleitung in diesem Fall eine hilfreiche Interventionsmaßnahme
darstellen. Dabei verzichtet das Konzept „Lebensweltorientierung“ auf eine Vorgabe
von Interventionszielen und rekurriert stattdessen eine prozessuale Dimension, die sich
an der Lebenslage der Adressaten orientiert und mit dem Begriff „strukturierte Offenheit“ umschrieben wird (vgl. Kapitel 6.2.3). Das erfordert die sozialpädagogische Fähigkeit, gemeinsame Aushandlungsprozesse mit dem Adressaten initiieren zu können,
auf der Basis einer symmetrischen Arbeitsbeziehung zwischen gleichwertigen und
gleichberechtigten miteinander agierenden Partnern. Ich vertrete die Ansicht, dass diese
theoretische Handlungsanforderung mit dem beruflichen Alltagshandeln in einem paradoxen Verhältnis steht. Es ist davon auszugehen, dass die professionell Tätigen einen
unaufhebbaren Wissensvorsprung haben, der die Gefahr beinhaltet, dass Adressaten
zum „passiven Objekt der Anwendung theoretischen abstrakten Wissens“ gemacht
werden, ohne dass eine Rückkoppelung an die konkrete Problemlage in der Lebenswelt
des Adressaten erfolgt (Sickendiek 1999, 157). Aus diesem Spannungsverhältnis heraus
sehe ich die notwendige Grundvoraussetzung für Professionalität in der Reflexion der
eigenen sozialpädagogischen Tätigkeit.
Des Weiteren hat die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ mit spätertaubten Menschen die Aufgabe, stellvertretende Lebensdeutungen zu entwickeln, die im Sinne des
Empowermentansatzes einen „verständigungsorientierten biographischen Dialog“
inszenieren (Miller/Pankofer 2000, 16). Bezüglich der Identitätsarbeit spätertaubter
Menschen kann davon ausgegangen werden, dass dieser Prozess retrospektiv auf die
105
11 Diskussion von Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit
Aufarbeitung des bisherigen Lebensweges und die biographische Krise sowie prospektiv auf die persönlichen Identitätsentwürfe und Identitätsprojekte in Folge des Hörverlustes ausgerichtet ist. Dabei orientiert sich die Soziale Arbeit an der Erschließung von
individuellen Ressourcen zur Unterstützung der Selbstorganisation der betreffenden
Person. In den Interviews wurde sowohl von Herrn C. als auch von Herrn A. betont,
dass sie nach der Ertaubung keine Informationen über Rehabilitationsmöglichkeiten
erhielten, die für den Trauerprozess notwendig gewesen wären und die Wiederherstellung der Handlungskompetenz unterstützt hätten. Die Beispiele weisen darauf hin, dass
hier Vernetzungsarbeit zwischen behandelnden Ärzten und der Sozialen Arbeit erfolgen
muss, so dass ein Verbundsystem mit niedrigschwelligen Angeboten entsteht.
Aus meiner persönlichen Erfahrung in der Arbeit mit hörgeschädigten Menschen ist mir
bekannt, dass es eigene Sozialdienste für hörgeschädigte Personen gibt. Ausgehend von
den allgemeinen Aufgaben und Zielen psychosozialer Beratung ist hier ein differenziertes Angebot gegeben, welches sich an den kommunikativen Möglichkeiten hörgeschädigter Menschen orientiert und die psychosozialen Folgen von Gehörlosigkeit berücksichtigt (vgl. Dommaschk-Rump 1995, 199). Die Beratung am Arbeitsplatz stellt einen
Schwerpunkt des speziellen sozialpädagogischen Betätigungsfeldes dar.
Die individuellen Biographien der befragten Personen haben die Spannweite der Auswirkungen eines Hörverlustes auf die berufliche Tätigkeit von postlingual ertaubten
Menschen aufgezeigt. Dabei wurde in den Interviews die Erwerbsarbeit als ein zentrales
Merkmal für die Identitätsarbeit hervorgehoben, weil über die berufliche Tätigkeit soziale Anerkennung und Integration erlangt werden. Folglich ist eine zentrale Anforderung
an die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“, mangelnde Informationen über Möglichkeiten und Grenzen in der Kommunikation mit spätertaubten Menschen auszugleichen
und eine Schnittstelle zwischen der hörenden Arbeitswelt und der hörgeschädigten Person zu bilden. Dabei erscheint es mir hilfreich, den hörenden Arbeitgeber und die Kollegen über manuelle Kommunikationstechniken zu informieren und beratend zur Seite
zu stehen.
In diesem Zusammenhang stellt sich eine weitere Anforderung an die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ mit spätertaubten Menschen, denn die Grundprämisse des
Rahmenkonzeptes besteht in dem Postulat der „sozialen Gerechtigkeit“. Thiersch (2004,
22) insistiert, dass eine Ausgrenzung besonderer Zielgruppen unter dieser Prämisse
nicht erfolgen darf. Teilhabeprobleme durch Exklusionserfahrungen können sich für
spätertaubte Menschen sowohl in der beruflichen Lebenswelt als auch in der kulturellen
106
11 Diskussion von Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit
Alltagswelt im Kontext von hörender Kultur und Gehörlosenkultur ergeben. Ich erinnere an dieser Stelle an das Beispiel von Herrn A., der von seinen Exklusionserfahrungen
in der Gebärdensprachgemeinschaft berichtete:
„Bei meinen Schnupperbesuchen im hiesigen Gehörlosenverein fiel mir jedoch
auf, da [sic] man ohne die Gebärdensprache dort nicht als zugehörig angesehen
wird. Und da ich diese Sprache wegen der Sehbehinderung nicht lernen kann,
bleibt mir diese Welt letztlich verschlossen.“ (A.).
Im Gegensatz zu Herrn A. sammelte Frau P. folgende Erfahrungen:
„Was die Gl-Gemeinschaft [Gehörlosen-Gemeinschaft] betrifft, ich glaube, da
gibt es sehr unterschiedliche Erfahrungen. Jeder Versuch von mir, mich mit Gebärden (egal ob DGS oder LBG) zu verständigen, jede ‚Handreichung’ wurde
stets von GL [Gehörlosen] mit Interesse aufgenommen.“ (P.).
Darüber hinaus berichteten die Interviewpartner von Exklusionserfahrungen in der hörenden Kultur, die sich aufgrund der eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten
ergeben. Letztlich spiegeln diese unterschiedlichen lebensweltlichen Erfahrungen wieder, dass Inklusion und Exklusion keine gegebenen Phänomene sind. Sie unterliegen
subjektiven und sozialen Deutungen, welche durch die Interviewaussagen narrativ verdichtet wurden (vgl. Miller 2001, 103). In Anlehnung an Miller vertrete ich die Ansicht,
dass die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ die Aufgabe hat dort zu unterstützen,
wo Teilhabe gewollt ist und sich die Exklusion für die Person als subjektive Belastung
darstellt, egal ob es sich um die hörende oder die Gehörlosenkultur handelt. Weiterhin
bin ich der Meinung, dass die „Lebensweltorientierte Soziale Arbeit“ Aufklärungsarbeit
leisten muss, um spätertaubten Menschen nach dem Hörverlust die verschiedenen Möglichkeiten aufzuzeigen, die von den unterschiedlichsten Kommunikationstechniken bis
hin zum kulturellen Konzept von Gehörlosigkeit reichen. In diesem Kontext ist die Soziale Arbeit aufgefordert, ihr Selbstverständnis hinsichtlich einer interdisziplinären
Auseinandersetzung zu reflektieren, denn die medizinische Sichtweise auf die Dysfunktion des menschlichen Hörorgans erscheint für den Personenkreis der ertaubten Menschen unzureichend.
11.2
Biographie und Lebenslauf als Rahmenkonzept und Handlungsmuster
Das „Biographiekonzept“ von Böhnisch bietet einen ergänzenden Blickwinkel zur „Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit“ gemäß Thiersch. Aus diesem Grund werden im
107
11 Diskussion von Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit
Folgenden die Aspekte des Konzeptes aufgegriffen, die eine erweiterte Perspektive auf
die Soziale Arbeit mit postlingual ertaubten Menschen enthalten.
Das „Biographiekonzept“ bietet die Möglichkeit, die Dimension der individuellen Betroffenheit von postlingual ertaubten Menschen zu thematisieren. Mit dem Modell der
Identitätsarbeit als Bezugssystem können alle denkbaren Lebensmuster und Bewältigungsstrategien der betreffenden Person abgebildet werden. Über die Anschlusskonzepte Lebenslauf und Lebensalter werden die gesellschaftlichen Bedingungskonstellationen
individueller Lebensprobleme berücksichtigt (vgl. Kapitel 6.3). In der vorliegenden
Arbeit wurden spätertaubte Menschen befragt, die im Erwachsenenalter ihr Gehör verloren haben. Demnach muss die Soziale Arbeit die Dimension des Erwachsenenalters
als metatheoretische Perspektive in ihrer Analyse und ihrem pädagogischen Handeln
berücksichtigen. Im Zusammenspiel von Biographie und Lebensalter sind besonders die
Entwicklungsprozesse des Erwachsenenalters einzubeziehen. Beispielsweise sagte Frau
P. im Interview folgendes:
„Die Frage nach dem Lebenssinn stellt sich für mich jetzt häufiger als früher, ob
dies Folge der Ertaubung oder des Lebensalters ist, weiß ich nicht. Ich vermute
mal beides.“ (P.).
An diesem biographischen Beispiel werden das Zusammenspiel von Lebensalter, der
Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und das Erreichen eines bestimmten Grades an
psychischer Reife deutlich, welche das Erwachsenenalter umfassen (vgl. Whitbourne
1982, 26). In der zeitlichen Perspektive des Erwachsenenalters nimmt die potentielle
Zukunft ab und wird in Vergangenheit „übersetzt“ (vgl. Siegert/Chapman 1987, 145).
Die zeitliche Dimension der Identitätsentwicklung ist durch die Interaktion von vergangenen Identitätsdefinitionen und gegenwartsbezogenen Identitätsprojekten gekennzeichnet. Folglich muss das Rahmenkonzept für die Soziale Arbeit unter biographischen
und lebenslaufbezogenen Gesichtspunkten das individuelle Handeln einer spätertaubten
Person mit den sozialen Bedingungsstrukturen verknüpfen. Zu den Bedingungsfaktoren
der Moderne gehört, dass die Gegenwart angesichts der Offenheit von Zukunft ein eigenständiges Gewicht erlangt. Beispielsweise schilderte Herr C. die Offenheit in seiner
beruflichen Lebenswelt folgendermaßen:
„Ich habe ja geschrieben, dass ich momentan Postdoc bin. Da ist es üblich, das
[sic] man sich von einer befristeten Stelle zur nächsten hangelt und hofft, irgendwann vielleicht doch mal eine Dauerstelle zu bekommen. Die Hoffnung auf
eine Dauerstelle […] sehe ich eher als gering an. Hier werden meiner Meinung
nach die schon vorhandenen Probleme der ‚Wissenschaftslandschaft’ in
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11 Diskussion von Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit
Deutschland durch meine Ertaubung noch verschärft. Konkret läuft mein aktueller Vertrag Ende dieses Jahres aus und momentan bemühe ich mich schon darum, wie es danach weiter gehen könnte.“ (C.).
In diesem Zusammenhang verweise ich auf die grundlegende Bedeutung von Arbeit als
eine zentrale Kategorie des Lebenslaufes, die von den Interviewpartnern immer wieder
thematisiert wurde. In der Auswertung der biographischen Interviews wurde aufgezeigt,
dass die Erwerbsarbeit zentrale Erfahrungen von Anerkennung und sozialer Integration
sowie Selbstverwirklichung bietet (vgl. Kapitel 10.3.1). Der Verlust eines Arbeitsplatzes oder die strukturelle Veränderung der Bedingungen am Arbeitsplatz müssen von der
Sozialen Arbeit unter der Dimension der individuellen Betroffenheit betrachtet werden,
so dass die biographische Lebensbewältigung verstanden werden kann. Böhnisch legt in
seinem Konzept dar, dass die Soziale Arbeit ihren Handlungsansatz als „Hilfe zur Lebensbewältigung“ aus dem Streben des Subjekts nach sozialer Integration erhält (vgl.
Kapitel 6.3.2). Die Soziale Arbeit mit spätertaubten Menschen ist aufgefordert nach den
Ressourcen zu suchen, die dem betreffenden Menschen für ein gelingendes Lebensmanagement zur Verfügung stehen. Beispielsweise ist die Familie eine zentrale Ressource
im Leben von Herrn M., die ihm sozialen Rückhalt bietet. In diesem Zusammenhang ist
die Aktivierung des Selbstwerts eine signifikante Komponente der biographischen Interventionsperspektive, denn in Folge der Ertaubung kann es zu einem Selbstwertverlust
kommen (vgl. Kapitel 6.3.2).
Das zentrale Medium der Sozialen Arbeit ist die Kommunikation mit dem Adressaten
mittels Sprache. Infolgedessen besteht für die sozialpädagogische Intervention die Notwendigkeit, eine Bandbreite an verschiedenen Kommunikationstechniken zu beherrschen, die den kommunikativen Möglichkeiten der spätertaubten Person entsprechen.
Dazu gehört auch, dass die räumlichen Lichtverhältnisse der Kommunikationssituation
angepasst werden. Die Biographien der Interviewteilnehmer haben gezeigt, dass die
Kommunikationsstile individuell verschieden sind und der Bedarf jeder einzelnen Person unterschiedlich ausfallen kann. Beispielsweise verwendet Herr A. aufgrund seiner
Sehbehinderung keine lautsprachbegleitenden Gebärden, sondern äußert sich vorwiegend in schriftlicher Form. Frau P. hingegen kann sehr gut von den Lippen absehen und
die Verwendung des Cochlea Implantats unterstützt ihre akustische Wahrnehmung.
Dem gegenüber stellt das Absehen für Herrn C. keine adäquate Kommunikationsmöglichkeit dar, so dass er vorwiegend lautsprachbegleitende Gebärden verwendet bzw. in
schriftlicher Form kommuniziert.
109
12 Fazit und Ausblick
Die Soziale Arbeit ist aufgefordert, den individuellen Bedürfnissen im Sinne einer gelingenden Kommunikation gerecht zu werden. Dazu zählt unter kommunikationspsychologischen Gesichtspunkten auch die Fähigkeit des „aktiven Zuhörens“, d.h. Sozialpädagogen müssen sich in die Gefühls- und Gedankenwelt der postlingual ertaubten
Person empathisch einfühlen können (vgl. Schulz von Thun 2001, 57). Letztlich geht es
darum sensibel zu werden, wie sich der betroffene Mensch im Spannungsfeld mehr oder
minder kommunikativ erlebter Einschränkungen sein Leben einrichten kann. Nur unter
diesen Voraussetzungen kann Hilfe zur Lebensbewältigung in biographischen Kontexten geleistet werden.
12
Fazit und Ausblick
In der vorliegenden Arbeit habe ich die Identitätsarbeit von spätertaubten Erwachsenen
mit dem speziellen Blickwinkel auf ihre kulturelle Zugehörigkeit im Kontext der Gebärdensprachgemeinschaft und der hörenden Gesellschaft untersucht.
Zu Beginn definierte ich den Begriff „Spätertaubung“ unter medizinischen Gesichtspunkten, um darauf aufbauend die kommunikativen Einschränkungen des Hörverlustes
im Erwachsenenalter zu analysieren. Anschließend erläuterte ich, dass Individuen in der
Interaktion ihre Identität mittels Sprache konstituieren und narrativ darstellen. Folglich
wirken sich Kommunikationseinschränkungen auf die Interaktionsmöglichkeiten und
damit auf die Identität einer Person aus.
Hieran angeschlossen erörterte ich die theoretischen Grundlagen der Identitätsforschung
mit den klassischen Modellen aus der Psychoanalyse und der Soziologie. Es wurde aufgezeigt, dass die Ansätze zentrale Aspekte des Konstruktes „Identität“ umfassen und
signifikante Zugänge für meine empirische Untersuchung bieten. Für die biographische
Perspektive auf die Identität einer Person rekurrierte ich das sozialpsychologische Modell der Identitätsarbeit, welches die Grundlage für die qualitativen Interviews darstellte. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in diesem Modell Identitätsentwicklung als
offener, lebenslanger Prozess verstanden wird, in dem fortlaufend neue lebensweltliche
Erfahrungen interpretiert werden und identitätsrelevante Erfahrungen zu Assimilationsoder Akkommodationsprozessen führen.
Im Anschluss habe ich die Bedeutung der sozialen Netzwerke für die Identitätsarbeit
einer Person geschildert. Dabei wurde sichtbar, dass in den sozialen Netzwerken kulturelle Werte und Orientierungen vermittelt werden, die zur Ausformung einer kulturellen
(Teil-)Identität beitragen können. Ein kulturelles Netzwerk für gehörlose Menschen
110
12 Fazit und Ausblick
stellt die Gebärdensprachgemeinschaft dar. In diesem Kontext stellte ich das kulturelle
Konzept von Gehörlosigkeit vor. Meine Überlegungen bezogen sich darauf, dass spätertaubte Erwachsene mit prälingual gehörlosen Menschen die Tatsache des vollständigen
Hörverlustes und daher visuelle Perzeptionsbedingungen teilen. Darüber hinaus sind
beiden Gruppen Kommunikationsbeeinträchtigungen mit der hörenden Gemeinschaft
bekannt. In diesem Zusammenhang bestand mein empirisches Forschungsinteresse in
der Frage, zu welchen kulturellen Netzwerken sich spätertaubte Menschen im Zuge
ihrer Identitätsarbeit zugehörig fühlen und inwiefern die Gebärdensprachgemeinschaft
ein soziales Netzwerk für postlingual ertaubte Erwachsene darstellt.
Für die biographischen Interviews mit spätertaubten Erwachsenen wählte ich lebensweltliche Identitätsvariablen, die meine inhaltliche Strukturierung der allgemeinen Fragestellung verdeutlichen sollten. Hierzu habe ich Identität anhand der Lebensfelder Arbeit, Partnerschaft und Familie, soziale Netzwerke sowie Kultur gemessen. In den Interviews kristallisierte sich heraus, dass sich die zum Ausdruck gebrachten Teilidentitäten der Interviewpartner entlang ihrer Hörminderung sortieren. In diesem Kontext wurde die Bedeutung der sozialen Netzwerke hervorgehoben, welche sich im Zuge der Ertaubung bewährten oder veränderten und entscheidend für die Identitätsarbeit der
betreffenden Personen waren. Meine anfängliche Vermutung, dass die Gebärdensprachgemeinschaft bei der Formung einer kulturellen (Teil-)Identität relevant sei, wurde von
meinen Interviewpartnern nicht bestätigt. In ihrem subjektiven Erleben beschrieben die
befragten Personen, dass sie sich eher der hörenden Gemeinschaft als der Gebärdensprachgemeinschaft zugehörig fühlen.
Die persönlichen Entwicklungswege der Interviewteilnehmer haben aufgezeigt, dass sie
von ihrem Lebensalter, ihrem sozialen Kontext, ihrer kulturellen Interessenslage und
ihrer beruflichen Situation Einzelschicksale darstellen. Dabei konstruieren die subjektiven lebensweltlichen Erfahrungen ihre Identität, so dass die befragten Personen mit dem
Hörverlust ihr Leben bewältigen können. Mit den einzelnen Elementen des Modells der
Identitätsarbeit bestand grundsätzlich die Möglichkeit, alle denkbaren Lebensmuster
abzubilden.
Zum Abschluss der Arbeit wurden auf der Grundlage eines biographisch- und lebensweltorientierten sozialpädagogischen Bezugsrahmens, welcher als theoretische Reflexionsfolie diente, mögliche Handlungsanforderungen an die Soziale Arbeit mit spätertaubten Menschen ausgearbeitet und diskutiert. Die biographischen Interviews sollten
111
12 Fazit und Ausblick
einen Denkrahmen für die Soziale Arbeit liefern, wie man sich die Beweglichkeit von
Identitätsprozessen vorstellen kann und auf welche Aspekte die Soziale Arbeit als ein
professionelles, ressourcenorientiertes Unterstützungssystem zu achten hat.
In den Interviews kam immer wieder der Wunsch der befragten Personen zum Ausdruck, die Öffentlichkeit über die besonderen Lebensbedingungen spätertaubter Erwachsener zu informieren. Ich hoffe, dass ich mit dieser Arbeit einen kleinen Beitrag
dazu leisten konnte, die vielfältigen Zusammenhänge eines Hörverlustes im Erwachsenenalter aufzuzeigen, welche die persönliche Identität des betroffenen Menschen verändern. Abschließend möchte ich ein Gedicht von Sibylle Gurtner zitieren (zit. n. Hintermair 2001, 113), welche sich literarisch mit ihrer Identität als hörgeschädigte Person
auseinandersetzt:
nie
bin ich
dieselbe,
endgültig
fest gefügt.
ich
fühle mich wachsen
offen
für die Schönheit
um mich
und
mir.
schon morgen
bin ich eine andere:
ich hat keinen ort.
ich ist unterwegs
ein leben lang.
112
Abkürzungsverzeichnis
Abb. Abbildung
Bd.Band
bzw. beziehungsweise
ca. cirka
CI Cochlea Implantat
DGS Deutsche Gebärdensprache
d.h. das heißt
ebd. ebenda
etc.et cetera
f.ff. folgende (Seiten)
Hg. Herausgeber
LBG lautsprachbegleitende Gebärden
i.d.R. in der Regel
o.ä. oder ähnliches
u.a. unter anderem
u.z. und zwar
usw. und so weiter
vgl. vergleiche
z.B. zum Beispiel
zit. n. zitiert nach
z.T. zum Teil
113
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