Die Zukunft der Medizin braucht sauberes Wissen Univ. Prof. Dr. Gerald Gartlehner, MPH Cochrane Österreich Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie Zuverlässige Evidenz. Informierte Entscheidungen. Bessere Gesundheit. Donau-Universität Krems Tonsillektomien in Vermont Morrisville, Vermont: Morrisville, Vermont: 60 % aller Kinder unter 15 60 % aller Kinder unter 15 Jahren Jahren Waterbury, Vermont: 15 % aller Kinder unter 15 Jahren Tonsillektomien in Deutschland Blutkonserven in Österreich Rate an Blutkonserven bei Hüftendoprothesen schwankt zwischen 7% und 56% Gombortz et al. The second Austrian benchmark study for blood use in elective surgery. Transfusion 2014 , Oct;54:2646-57 Evidenzbasierte Medizin Evidenz-basierte Medizin ist die Integration des besten verfügbaren Wissens in die tägliche klinische Praxis Wirksamkeit medizinischer Therapien Wirksam Wahrscheinlich wirksam Wirksam mit starken Nebenwirkungen Wahrscheinlich nicht wirksam Wahrscheinlich mehr Schaden als Nutzen Unklar ob wirksam Wirksamkeit von 3000 medizinischen Behandlungen, basierend auf Resultaten von randomisierten kontrollierten Studien http://clinicalevidence.bmj.com/x/set/static/cms/efficacy-categorisations.html Zwei Hürden • Flut an neuem wissenschaftlichen Wissen • Einflussnahme der medizinischen Industrie auf dieses Wissen Informations-Flut Täglich werden ca. 8000 medizinische Artikel publiziert 2.5 m 1980 war es 1 pro Tag Informations-Flut Escitalopram Duloxetine Fluoxetine Fluvoxamine Desvenlafaxine Levomilnacipran Citalopram Mirtazapine Bupropion Nefazodone Vortioxetine Paroxetine Venlafaxine Trazodone Placebo Sertraline Wissen geht verloren Klinische Praxis 50% Lang, E.S., P.C. Wyer, and R.B. Haynes, Knowledge translation: closing the evidence-topractice gap. Annals of emergency medicine, 2007. 49(3): p. 355-363. Ärztliche Fortbildung Abhängig vom Fach werden zwischen 14% (Angiologie) und 67% (Rheumatolgie) der ärztlichen Fortbildungen in Österreich von der Industrie gesponsert Wild et al., Sponsoring österreichischer Ärztefortbildung. Rapid Assessment 07a 2015. Ludwig Boltzmann Institut für HTA Ausgaben der Industrie (USA) Forschung: 29,9 Mrd US $ Werbung und Sponsoring: 57,7 Mrd US $ Gagnon M, Lexchin J. PLoS Med. 2008; 5 (1) Citalopram (Seropram ®) Escitalopram (Lexapro®, Cipralex ®) Umsatz Mrd. USD 2,80 2,30 Citalopram (Cipramil) 1,80 Escitalopram (Cipralex) 1,30 0,80 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Jahr www.nytimes.com/packages/pdf/politics/20090831MEDICARE/20090831_MEDICARE.pdf Marketing Strategie: Escitalopram • Rekrutierung von Meinungsbildnern (Key Opinion Leaders) um Zugang zu Ärzteschaft zu bekommen • Rekrutierung und Schulung von 2000 Psychiatern und 1000 zusätzlichen ÄrztInnen als „Consultants“ • Vorträge von Meinungsbildnern und Consultants bei Konferenzen und Veranstaltungen (mit vorgefertigten PPSlides) Marketing Strategie: Escitalopram • Ghost Writer verfassen 20-24 Manuskripte für klinische Journals; Rekrutierung von Meinungsbildnern und Consultants als Autoren • Sponsoring von Konferenzen und „Lunch and Learns“ • Sponsoring von Fachgesellschaften (American Psychiatric Association) Marketing Strategie: Escitalopram Opinion Leader: 936.000 US$ (2004: 720.000 US$) Kosten für Vorträge: 57 Mio US$ (2004: 43.9 Mio US$) Ghost-Writer: 910.000 US$ (2004: 700.000 US$) Lunch and Learns: 46,8 Mio US$ (2004: 36 Mio US$) Gesamt: 171 Mio US$ (2004: 131 Mio US$) an Marketingkosten für 1 Jahr in einem Land 2,30 1,80 1,30 0,80 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Mrd. USD 2,80 Jahr Citalopram (Cipramil) Escitalopram (Cipralex) Return on Investment MeinungsbildnerInnen: 1: 3,66 PharmareferentInnen : 1 : 1,96 “Discussion groups led by doctors provide the best return on investment for A-rated physicians" Wall Street Journal: www.wsj.com/articles/SB112138815452186385 PatientInnen Gesundheitskompetenz der ÖsterreicherInnen WHO. Gesundheitskompetenz – Die Fakten. 2016 http://oepgk.at/_wissenscenter/die-fakten-gesundheitskompetenz/ 90 Prozent der österreichischen Frauen überschätzten den Nutzen von Mammografie oder konnten diesen nicht einschätzen. Gigerenzer et al. Public knowledge of benefits of breast and prostate cancer screening in Europe. J Nat. Cancer Inst. 2009; 101:1216-1220 1995 „The British Pill Scare“ Das U.K. Committee on Safety of Medicines warnt im Oktober 1995, dass die Pille der 3. Generation zu einer Verdoppelung von lebensgefährlichen Thrombosen führt. Medien Medien greifen das Thema auf und berichten ausführlich über die Gesundheitsgefahr Die Folgen • Viele Frauen sind besorgt und setzen die Pille ab • Ca. 13.000 zusätzliche Schwangerschaftsabbrüche als Folge ungewollter Schwangerschaften • Geschätzte Kosten: 4-6 Millionen British Pounds Furedi A. The public health implications of the 1995 ‘pill scare’. Hum Reprod Update. 1999;5:621–6. Die Zahlen • Risiko für Thrombosen bei Pille der 2. Generation: 1:7000 • Risiko für Thrombosen bei Pille der 3. Generation: 2:7000 • Relative Erhöhung um 100% aber in absoluten Zahlen eine sehr geringe Risikoerhöhung (+1 pro 7000) Woher nimmt Österreich die Gesundheitsinformation? Quelle: INTEGRAL April 2012, repräsentative Online- & Telefon-Umfrage (n=500 bzw 411) Internet und Medien • Enorme Flut an Gesundheitsinformation (3.270.000.000 Google Resultate für „Health“) • Vertrauenswürdigkeit der Information für Laien nur schwer beurteilbar • Medien werden von der Industrie instrumentalisiert Medizin Transparent (www.medizin-transparent.at) Medienberichte über Medizin in Österreich • 11% der Artikel entsprachen tatsächlicher Evidenzlage • 59% stark über/untertrieben 29,7% leicht verzerrt 11% ok 59,3% stark verzerrt Kerschner, Wipplinger, Klerings, Gartlehner (2015) ZEFQ 109:4-5, 341-349 Woher nimmt Österreich die Gesundheitsinformation? Quelle: INTEGRAL April 2012, repräsentative Online- & Telefon-Umfrage (n=500 bzw 411) Wie ethisch und ehrlich sind ÄrztInnen? • 55% geben an im letzten Jahr Patienten gegenüber bewusst zu positiv in Bezug auf die Prognose gewesen zu sein • 33% finden, dass medizinische Fehler nicht immer offen gelegt werden sollen • 40% finden, dass Interessenskonflikte nicht offen gelegt werden müssen Iezzoni et al. Survey Shows That At Least Some Physicians Are Not Always Open Or Honest With Patients . Health Affairs 2012; 31: 383-391 • Prüfungsbogen mit 20 einfachen mathematischen Aufgaben mit zu wenig Zeit • Für jede korrekte Antwort gab es 1 US$ • Probanden erhielten nach Ablauf der Zeit die Lösungen und mussten sich selbst bewerten • Prüfungsbogen wurde geschreddert • Probanden gaben an, wie viele Aufgaben korrekt gelöst waren und erhielten dafür Bezahlung Gino et al. Contagion and Differentiation in Unethical Behavior. Psychological Science 2009; 20: 393-398 Ergebnisse • 20 von 40.000 Probanden haben schwer betrogen • 28.000 (70%) haben zum eigenen Vorteil ein bisschen gemogelt Scott Reuben, MD Soziale Normen • Beobachtetes Verhalten und dessen Konsequenzen beeinflussen eigenes Verhalten • Das Verhalten der Peers hat starken Einfluss auf eigenes ethisches/unethisches Verhalten • Das moralische Selbstbild bleibt unbeschadet, wenn Peers ähnliches Verhalten zeigen • Selbsttäuschung kann eine wesentliche Rolle spielen Die Mehrheit ist bereit Interessenskonflikte einzugehen Interessenskonflikte More on Left More on Right Interessenskonflikte More on Left 0 cents More on Right 5 cents Interessenskonflikte More on Left 0 cents More on Right 5 cents Interessenskonflikte So far you´ve gained: 270 cents More on Left 0 cents More on Right 5 cents Interessenskonflikte Physician Payments Sunshine Act • Wurde 2010 in den USA gesetzlich verankert • Verpflichtet Industrie, Zahlungen an ÄrztInnen offen zu legen • Datenbank ist suchbar: http://cms.gov/openpayments/ Österreichische Lösung Sauberes Wissen Zugang zur Cochrane Library für die Gesamtbevölkerung www.gesundheitsinformation.de Norwegian Knowledge Center • Stellt der norwegischen Bevölkerung Gesundheitsinformation in der Landessprache zur Verfügung • 160 MitarbeiterInnen, ca. 30 Mio Euro pro Jahr • 2015 gab in Österreich die öffentliche Hand 188 Mio Euro an Steuergeldern für Werbung und „Information“ aus Im 19. Jahrhundert war sauberes Wasser ein wesentlicher Meilenstein zur Verbesserung der Gesundheit – im 21. Jahrhundert ist es sauberes, objektives Wissen. Sir Muir Gray Vielen Dank! [email protected]