Ars moriendi zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge PROF. DR. MED. DR. PHIL. JOCHEN VOLLMANN Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Medizinische Fakultät Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Gliederung Historisches zur Patientenselbstbestimmung Selbstbestimmungsfähigkeit: Grenzen eines Konzepts Selbstbestimmung und Selbstbesinnung Selbstbestimmung versus Fürsorge? Diskussion 2 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Der sachunverständige Patient „…weil ich auf eine derartige Einwilligung gerade vom moralischen Standpunkt aus kein Gewicht gelegt habe und nie legen würde. Wäre es mir um eine formale Deckung zu thun gewesen, so hätte ich mir die Einwilligung gewiss beschafft, denn es ist nichts leichter, als sachunverständige Personen durch freundliche Ueberredung zu jeder gewünschten Einwilligung zu bringen...“ A. Neisser, 1900 3 4 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Richtlinien zum Informed Consent in der medizinischen Forschung als Folge von Missbrauch Anweisung des Königlich-Preußischen Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten (1900) Rundschreiben des Reichsministers des Innern (1931) Nürnberger Kodex (1947) 5 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Moderne Medizinethik Gegen ärztlichen Paternalismus Prinzip der Patientenselbstbestimmung (autonomy) US-amerikanischen Bioethik Aufklärung und Einwilligung (informed consent) 6 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Patientenselbstbestimmung Arzt-Patient-Beziehung Medizinethik-Lehre Betreuungsrecht (BGB) – Zwangsbehandlungen (BVerfG) Patient als Kunde (Ökonomisierung) Aufklärung und Einwilligung (informed consent) 7 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Konzeption Patientenselbstbestimmung Einwilligung nach Aufklärung (Informed Consent) Information Einwilligungsfähigkeit Selbstbestimmungsfähigkeit Verständnis von Störung und Behandlung Urteilsvermögen Freiwilligkeit Krankheitseinsicht Behandlungseinsicht 8 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Probanden mit Einschränkung Diagnose: Schizophrenie Depression Angina Kontrollgruppe (N = 75) (N = 92) (N = 82) (N = 249) Dimension N % N % N % N % V und/oder E 34 45.3 17 18.5 10 12.2 6 2.4 V und/oder U 29 38.7 11 12.0 6 7.3 10 4.0 E und/oder U 30 40.0 17 18.5 4 4.9 5 2.0 V, E und/oder U 39 52.0 22 23.9 10 12.2 10 4.0 (V = Verständnis, E = Einsicht, U = Urteilsvermögen) (Grisso und Appelbaum 1995) 9 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Einschränkung der Selbstbestimmungsfähigkeit Innere Medizin (Akutaufnahme) 40% (Raymond et al. 2004) Psychiatrie 49% (Cairns et al. 2005) Demenz 76% (Warner et al. 2008) 10 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Klinische Einschätzung vs. MacCAT-T % eingeschränkt 100 80 Demenz Depression Schizophrenie 60 40 20 0 klinische Einschätzung MacCAT-T (verbundene Dimensionen) 11 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Problem: Selbstbestimmungsfähigkeit Diagnose Selbstbestimmungsfähigkeit Normatives Konzept Hohe kognitive Anforderungen Diskrepanz: formale vs. klinische Prüfung Ethisches Paradox 12 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Problem: Selbstbestimmungsfähigkeit Pädiatrie Psychiatrie Neurologie Intensivmedizin Notfallmedizin Onkologie Geriatrie Palliativmedizin 13 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Ethische Fragen am Lebensende Patientenselbstbestimmung Selbstbestimmtes Sterben Vorausbestimmtes Sterben Planbares Sterben „to be in control“ 14 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Ethische Fragen am Lebensende Patientenselbstbestimmung Möglichkeiten der Selbstbestimmung nutzen: Behandlungsverzicht Behandlungsabbruch Ärztlich assistierte Selbsttötung Patientenverfügungen Vorsorgevollmachten Betreuungsverfügungen Advance care planning 15 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Ethische Fragen am Lebensende Selbstbestimmung und Selbstbesinnung Erkennen der Grenzen von Selbstbestimmungsmöglichkeiten (Planung, Kontrolle) Akzeptieren dieser Grenzen Einlassen, Loslassen, Geschehenlassen Vergänglichkeit Leiblicher und seelischer Prozess Werte, Sinn, Religion 16 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Ethische Fragen am Lebensende Selbstbestimmung und Selbstbesinnung Erweiterung des Verständnisses von Selbstbestimmung am Lebensende (relationale Autonomie) Interaktion, Dialog Abhängigkeit, Angewiesensein Hilfe annehmen Vertrauen Fürsorge 17 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Ethische Fragen am Lebensende Fürsorge Keine Fremdbestimmung Keinen neuen Paternalismus Keine gesetzlichen Verbote (Einschränkung von Selbstbestimmungsrechten) 18 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Ethische Fragen am Lebensende Fürsorge als professionelle Haltung und Angebot Arzt-Patient-Beziehung der Hilfe und Fürsorge Professionelle Identität, Ausbildung, Berufsausübung Problem: Ethische Prioritätensetzung Problem: Wertepluralismus 19 Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Ethische Fragen am Lebensende Fürsorge und gesellschaftliche Rahmenbedingungen Prioritätensetzungen Kurative – palliative Medizin Naturwissenschaftliche – Beziehungs-Medizin Biomedizinische Forschung - Versorgungsmedizin Medizin, Pflege und Versorgung Professions- versus Marktmodell Akzeptanz von Grenzen von Kontrolle, Machbarkeit, Wachstum 20