Mein Ziel: Abitur Ethik

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Klaus Goergen, Hanns Frericks
Mein Ziel:
Abitur Ethik
mündliches und
schriftliches Abitur
Musterkapitel „Pluralismus und
Grundkonsens“
Hanns Frericks ist ehem. Ethik- und Philosophielehrer und Fachleiter für Ethik am Stuttgarter Seminar für Didaktik und Lehrerbildung; Klaus Goergen ist Ethik- und Philosophielehrer und Fachleiter für Ethik am Seminar in
Weingarten. Beide haben in Baden-Württemberg viele Jahre in Lehrplankommissionen für das Fach Ethik und
an Lehrbüchern mitgearbeitet.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Die
öffentliche Zugänglichmachung eines für den Unterrichtsgebrauch an Schulen bestimmten Werkes ist stets nur
mit Einwilligung des Berechtigten zulässig.
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8044-1587-4
PDF: 978-3-8044-5587-0
© 2014 by C. Bange Verlag GmbH, 96142 Hollfeld
Herstellung: Karin Schmid, Baldham
Druck und Weiterverarbeitung: Finidr s.r.o., Český Těšín
Zur Arbeit mit diesem Buch
Liebe Schülerinnen und Schüler,
was Sie in diesem Buch finden, wird Sie auf das Abitur in Ethik vorbereiten – sei es auf
eine schriftliche oder eine mündliche Prüfung. Vielleicht werden Sie nicht alle Kapitel durcharbeiten, aber Sie finden zu allen Themen, die für eine Abiturprüfung von Bedeutung sein können – von der Gerechtigkeit über die Bioethik bis zur Anthropologie –,
ein Kapitel. In jedem Unterricht werden Schwerpunkte gesetzt, die neun Kapitel dieses
Buchs sollen alle denkbaren Schwerpunkte abdecken.
Sie orientieren sich an den Themen der Lehr- und Bildungspläne in allen Bundesländern
und besonders an den „Einheitlichen Prüfungsanforderungen im Abitur“ (EPA), die bundesweite Geltung haben.
Das Buch ist zur kompakten Wiederholung dessen gedacht, was Sie im Unterricht
Schritt für Schritt erarbeitet haben. Im Idealfall werden Sie in den Kapiteln, die Sie für
Ihre persönliche Abiturprüfung benötigen, nichts grundsätzlich Neues finden. Aber hier
ist das abiturrelevante Wissen zu jedem Thema in konzentrierter, verständlicher Form
und auf aktuellem Stand zusammengefasst, und deshalb eignet sich das Buch besonders
gut zur Prüfungsvorbereitung. Die „Fragen zur Wiederholung“ am Ende jedes Unterkapitels weisen nochmals auf das Wichtigste hin und sollen Ihnen das Lernen zusätzlich
erleichtern.
Natürlich können Sie die einzelnen Kapitel auch während Ihrer Jahre in der Oberstufe
zur Vorbereitung auf Klausuren, für Referate, Präsentationen oder Hausarbeiten nutzen –
oder einfach als zusätzliche Lernhilfe neben Ihrem Unterricht.
Neben der Gliederung des Inhaltsverzeichnisses eignet sich auch das Personen- und Themenverzeichnis am Ende des Buchs zum schnellen Auffinden von Sichtweisen und Sachverhalten. In diesem Sinn können Sie das Buch auch als Nachschlagewerk verwenden.
Wir wünschen Ihnen mit diesem Buch viel Erfolg im Ethikunterricht
Hanns Frericks und Klaus Goergen
Inhalt
A Freiheit und Determinismus
1
2
3
4
5
6
7
8
9
B
Moralbegründungen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
C
Freiheitsbegriffe
Wandel der Freiheit
Freiheit und Institutionen
Die Diskussion um die Willensfreiheit
Befürworter der Willensfreiheit
Kritiker der Willensfreiheit
Willensfreiheit und Hirnforschung
Schwache und starke Freiheitsbegriffe
Freiheit und Verantwortung
Arten der Begründung von Moral
Antike Tugendethik
Moderne Varianten antiker Tugendethik
Kontraktualismus
Utilitarismus
Die Ethik Kants
Diskursethik
Gefühlsethiken
Postmoderne Begründungskritik und postmoderne Moral
6
7
9
11
12
14
20
26
30
31
35
35
41
48
54
59
67
77
82
90
Gerechtigkeit
94
1
2
3
4
5
6
95
100
114
117
120
123
Gerechtigkeitsbegriffe und -formeln
Theorien gerechter Verteilung
Maßstäbe gerechter Verteilung
Gleichheit und Gerechtigkeit – der Egalitarismusstreit
Recht und Moral
Strafgerechtigkeit
D Religion – Religionskritik
1
2
3
4
5
6
Dimensionen des Religiösen
Funktionen von Religion
Religiosität – Motive und Ursachen
Religiöse Moral
Geschichte der Religions- und Kirchenkritik
Fundamentale Religionskritik
129
129
136
139
141
145
150
G Pluralismus und Grundkonsens
1
1
Erscheinungsbild, Geschichte und Begriff des Pluralismus
2
Pluralismuskritik
3
Pluralismus, nicht Relativismus
4
Grundkonsens
Erscheinungsbild, Geschichte und
Begriff des Pluralismus
Leben in einer pluralistischen Welt: Was heißt das? Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Weltanschauung, unterschiedlicher Kulturen, sozialer Schichten, Berufe und Interessen leben in Deutschland, in den
Staaten dieser Welt zusammen und begegnen sich weltweit: beruflich, medial, touristisch. Eine bunte Vielfalt gilt auch für die jeweils vertretenen Wertvorstellungen: In
dem, was wir für wichtig und richtig halten, unterscheiden wir uns individuell, gruppenorientiert, kulturell und religiös. Die Unterschiede lassen sich beobachten in der Kleidung und im Essverhalten, im familiären Verhalten, in der Einschätzung und Wertschätzung der Geschlechter, im Freizeitverhalten, in der Lebensplanung und -zielsetzung bis
hin zu moralischen Fragen. Hier sind offensichtlich etwa der Gleichheitsgrundsatz strittig, der Umgang mit Kindern, die Bedeutung und Einschätzung religiöser Forderungen,
der Umgang mit Fremden, die Anerkennung sexueller Vorlieben, der Schwangerschaftsabbruch, die Haltung zur Sterbehilfe; strittig sind Fragen der Tierhaltung, der Biotechnologie, der Gentechnik, des Verhältnisses von Ökonomie und Ökologie, der Berechtigung
von Kriegen und – last not least – der sozialen Gerechtigkeit.
Historisch hat sich die pluralistische Gesellschaft aus relativ einheitlichen Strukturen
entwickelt: Noch im Absolutismus, nach dem Dreißigjährigen Krieg galt in Europa „cuius
regio, eius religio“ – die Religion des jeweiligen Herrschers ist die Religion der Untertanen.
Die Religionsfreiheit des aufgeklärten Absolutismus im 18. Jahrhundert war einer der
ersten Schritte zu einer pluralistischen Gesellschaft: Frühkapitalismus und Aufklärung,
Französische Revolution und Industrialisierung unter kapitalistischen Vorzeichen, die Entwicklung bürgerlicher Demokratien und – unter dem Druck der Arbeiterbewegung –
des Sozialstaates führten zu pluralistischen Gesellschaften, die Globalisierung öffnete
noch einmal den europäisch orientierten Horizont mit einem neuen Schub an Pluralität.
Was den Pluralismusbegriff angeht, lassen sich empirische und normative Seiten unterscheiden: Empirisch ist eine religiöse und weltanschauliche Pluralität zu beobachten,
216
2
Pluralismuskritik
eine Pluralität von Wertvorstellungen, ein kultureller und sozialer, ein politischer Pluralismus. Normativ sind zwei Merkmale kennzeichnend:
Jene Vielfalt findet Anerkennung und gilt als Wert. Jede Gruppierung ist idealtypisch gleichberechtigt, hat das Recht auf freie Entfaltung. Aus der Konkurrenz der
einzelnen Gruppen resultieren politisch in einem geregelten Gegen- und Miteinander
jeweils Mehrheiten, die, auf Zeit gewählt, entscheiden und herrschen; sie sind ihren
Interessen, ihren Wählern und Wahlprogrammen verpflichtet, nicht aber einem allen
politischen Auseinandersetzungen voranliegenden und allen gleichermaßen gerecht
werdenden Gemeinwohl.
Die Basis bildet das zweite normative Moment: ein Grundkonsens. Er ist in zwei
Hinsichten gesichert: einmal durch formale Verfahren bei der Konfliktregelung, Entscheidungsfindung und Kontrolle politischer Herrschaft, zum zweiten inhaltlich in
der Verpflichtung auf ein Minimum an Werten, die von allen anerkannt sein müssen.
2
Pluralismuskritik
Kritisiert wird der Pluralismus von zwei Seiten: Die konservative Sicht wirft ihm zu viel
Pluralität vor, die sozialkritische Sicht macht – verkürzt gesagt – den gegenteiligen Vorwurf, es bestehe nicht wirklich eine Pluralität.
Im Erleben des Einzelnen, so die konservative Sicht, komme es leicht zu Überforderungen, zu Ängsten, Depressionen, Resignation, zu Verunsicherung, Desorientierung
bis hin zur personalen Desintegration. Auf politischer Ebene nehme der Staat wichtige,
allgemeine, öffentliche Interessen nur unzureichend wahr, sofern sie nicht von mächtigen Interessenvertretern angemeldet seien. Im Pluralismus drohe eine „Herrschaft der
Verbände“ (Theodor Eschenburg) statt der notwendigen Herrschaft des Gemeinwohls.
Aktuell formuliert: Es bestehe die Gefahr der Auflösung des Sozialstaates unter den globalen Konkurrenzbedingungen des internationalen Kapitalismus; dies führe zur Unterversorgung der öffentlichen Sektoren und sozialstaatlichen Aufgabenfelder, z. B. des
Gesundheitssystems, der Renten- und Arbeitslosenversicherungen, des öffentlichen Verkehrs (Bahn, Post).
Die sozialkritische Sicht setzt anders an: In den Verbänden vollziehe sich die Willensbildung nur sehr bedingt wirklich demokratisch, die Mitglieder hätten kaum echte
Partizipationschancen. Ähnlich in der Politik: Engste Ausschüsse von Parteien oder Koalitionen träfen Beschlüsse, weit entfernt von der Parteibasis. Der Hauptpunkt der Kritik
zielt auf das unterschiedliche Gewicht der sozialen Gruppen im Pluralismus, ihre Durchsetzungschancen seien völlig unterschiedlich; sozial unterprivilegierte Schichten seien
im Grunde völlig ausgeschlossen von jeder Partizipation: „Pluralismus“ sei ein ideologischer Begriff, der die Durchsetzungsmacht der in Wirklichkeit nach wie vor gegebenen kapitalistischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse verschleiere, die inzwischen
global in internationalen Konzernen noch einmal gesteigert seien. Diese internationalen
Kapitalinteressen dominierten inzwischen auch die Politik.
217
G
Pluralismus und Grundkonsens
Beide Seiten kommen im Resultat in einigen Punkten überein:
Es sei generell eine ideologische These, dass das Allgemeinwohl sich im Interessenausgleich unterschiedlicher Strömungen und Gruppierungen realisiere, die unangemessene Übertragung der marktwirtschaftlichen Ideologie in der Tradition von Adam
Smith auf den Bereich der Politik.
Der Staat vernachlässige seine Aufgabe in der Realisierung des Gemeinwohls.
Dem privaten Reichtum in den Händen einer Minderheit stehe die öffentliche Armut
gegenüber.
3
Pluralismus, nicht Relativismus
Probleme interkultureller Begegnungen
Gesellschaften und Kulturen unterscheiden sich in vielfältiger Hinsicht: Begrüßungsküsse und -umarmungen sind z. B. vielen Nordamerikanern auch heute eher peinlich;
der deutsche und der britische Humor sind völlig verschieden; die Beachtung des Titels
oder der Berufsbezeichnung bei Anreden ist in Österreich noch üblicher als bei uns;
Tischmanieren sind sozial wie kulturell unterschiedlich; der Respekt vor älteren Menschen ist in orientalischen Kulturen stärker ausgeprägt als bei uns; Mädchen und Frauen
ist in vielen Kulturen ein Blickkontakt mit männlichen Passanten nicht gestattet; Pünktlichkeit wird nicht überall hochgeschätzt; unterschiedlich gewichtet und unterschiedlich verstanden werden Scham und Ehre; die asiatische Höflichkeit in der Vermeidung
von Absagen, in der Umgehung eines klaren „Nein“, die Verhaltensmuster, das „Gesicht
zu wahren“ oder den anderen nicht „das Gesicht verlieren zu lassen“, sind komplex und
uns fremd – eine unendliche Liste.
Zu Problemen oder Konflikten kommt es immer, wenn man von der jeweils gegebenen
Andersartigkeit nicht weiß, Missverständnisse und Fehlurteile sind die Folge. Zu Problemen kommt es, wenn die Unterschiede tief in die kulturell vermittelte und individuell
verinnerlichte Identität eines Menschen eingreifen: Unverständnis, Irritation, Empörung
sind die Folgen. Zu Problemen kommt es, wenn die Unterschiede über soziale Normen
hinaus moralische Grundsätze oder Werte betreffen, z. B. den Gleichheitsgrundsatz
im Umgang mit Minderheiten, Angehörigen anderer Ethnien oder Religionen, im Umgang mit Mädchen und Frauen. Exemplarisch stehen nicht nur sogenannte Ehrenmorde,
Zwangsheiraten oder Genitalverstümmelungen, die Probleme beginnen bei dem Antrag
auf Befreiung vom Sportunterricht für muslimische Schülerinnen, bei starren Auflagen
und Verboten, das Freizeitverhalten von Mädchen betreffend, bei Kleidervorschriften.
Reaktionen sind statt eines offenen Dialogs häufig die wechselseitige Abschottung und
Ausgrenzung, Abwehrreaktionen, Diskriminierungen. Eine mögliche Reaktion als Resultat auch eines Dialogs ist der Relativismus.
218
3
Pluralismus, nicht Relativismus
Ausgangspunkt ist die im Pluralismus verstärkt erlebte Differenz auch in ethischen Fragen; sie verstärkt eine weit verbreitete Haltung des Subjektivismus: die Annahme, in moralischen Fragen gebe es häufig keinen Konsens, hier könne letztlich nur jeder für sich
entscheiden, was er für richtig halte. In der Konfrontation mit anderen Kulturen, konfrontiert zumal mit dem Vorwurf mangelnder Toleranz oder des Eurozentrismus 292, resultiert
daraus der ethische Relativismus:
Es meint dies erstens die Annahme, ein Universalanspruch von Moral lasse sich nicht
überzeugend begründen.
Daraus ziehen zweitens viele die Konsequenz, der Geltungsanspruch einer jeden Moral sei auf die Kultur begrenzt, die sie hervorgebracht habe, mit der sie verbunden sei.
Drittens verknüpfen viele damit die Überzeugung, auch ein diskursiver, wertender Vergleich unterschiedlicher Moralvorstellungen sei nicht möglich: Die kulturspezifischen
Moralkonzepte beanspruchten vielmehr alle dieselbe Achtung, die gleiche Gültigkeit.
Einige Philosophen vertreten den Relativismus ernsthaft. Hintergrund ist häufig – über
die skeptische Einschätzung eines universalen Geltungsanspruchs von Moral,
eines universal orientierten Begründungsdiskurses, gar einer Letztbegründung von
Moral hinaus – eine kritische Diagnose moderner multikultureller und pluralistischer
Gesellschaften; beklagt werden etwa
die Anonymität und Beziehungslosigkeit der Menschen in modernen Großstädten,
die Entsolidarisierung in der Gesellschaft,
das Beharren auf Rechten und die Vernachlässigung von Pflichten,
der radikale Individualismus und Egoismus, von einem liberalen Gesellschaftsmodell
gefördert,
die verschärften Wertekonflikte in der globalisierten Welt, die zu Irritationen und
einer Orientierungskrise führen können.
Relativistische Konsequenzen zieht daraus der Kommunitarismus (z. B. Alasdair MacIntyre, Charles Taylor, Avishai Margalit, Michael Walzer): Ihm geht es um die Stärkung der Kommunen, die Alltagsmoral vor Ort soll praktisch und tatkräftig entwickelt
und gefestigt werden, eine universale Orientierung erscheint dagegen zweitrangig, die
Diskussion um einen universalen Geltungsanspruch von Moral drittrangig. Es geht um
konkrete Praxis vor Ort.
Welche Argumente gibt es für den Relativismus?
Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit moralischer Vorstellungen ist eine Tatsache (Divergenzthese).
Plausibel ist der Grundsatz, zunächst einmal keiner Kultur den Anspruch auf Anerkennung zu verweigern.
292 Die Annahme, Europa sei gleichsam das Zentrum der Welt, und das, was hier gelte, müsse überall gelten.
219
G
Pluralismus und Grundkonsens
Die kulturelle Vielfalt und erhebliche Unterschiedlichkeit von Kulturen in der Geschichte der Menschheit legt die Annahme nahe, die Kultur präge den Menschen
wesentlich; die Vielfalt von Kulturen zeige die Unterschiedlichkeit der Möglichkeiten, Mensch zu sein. Nach Universalien, kulturübergreifenden Merkmalen, zu fragen,
führe nicht zum Kern, zu einem wesentlichen Verständnis des Menschen, sondern
nur zu sehr abstrakten, inhaltsarmen oder wenig relevanten Aussagen. Es ist dies das
Argument des Kulturessenzialismus.
Die Kommunitaristen gehen davon aus, dass Menschen nicht aus vernünftiger Einsicht autonom handeln, sondern weil sie in einer moralischen Gemeinschaft leben
und die Regeln dieser Gemeinschaft kennen und befolgen; sie tun dies, weil sie so
sozialisiert, d. h. von der Gemeinschaft erzogen und geprägt wurden; positive und
negative Sanktionen (Lob und Tadel, Belohnungen und Bestrafungen) sichern dieses
Verhalten ab. Persönliches Glücksstreben und moralische Anforderungen der Gemeinschaft geraten daher nicht in Widerspruch zueinander – wenn die moralische
Situation erfolgreich verlaufen ist.
Welche Argumente lassen sich gegen den Relativismus formulieren?
Die Kommunitaristen beschreiben den gelungenen Prozess moralischer Sozialisation des Individuums; es ist dies die Antwort auf die Frage: Wie kann man kulturell
erklären, dass Menschen sich normorientiert und auch moralisch verhalten? Eine
ganz andere Frage aber und auf ganz anderer Ebene angesiedelt ist die ethische:
Wie und mit welchem Anspruch lässt sich eine moralische Forderung begründen? Die Erklärung menschlichen Verhaltens interessiert die Humanwissenschaften, die Begründung moralischen Verhaltens interessiert die Ethik.
Der Kulturessenzialismus verabsolutiert die Bedeutung der Kulturdimension;
Anthropologie geht aber über die Kulturanthropologie hinaus. Man kann empirisch
sinnvoll nach Universalien fragen, und man kann sinnvoll einen philosophischen
Diskurs über das Wesen des Menschen führen, der die Dimension der praktischen
Vernunft, der Ethik und Moral selbstverständlich einschließt.
Streng betrachtet, ist der Relativismus logisch inkonsistent – und dies nach zwei
Seiten: Die Gleich-Gültigkeit kulturspezifischer Moralkonzepte impliziert einerseits
eine allgemeine Toleranz als universalen (!) Wert. Der Relativismus, konsequent zu
Ende gedacht, erkennt andererseits auch jegliches lokales Brauchtum an, letztlich
jede willkürliche Privatmoral – und hebt damit Moral und ihren Geltungsanspruch
überhaupt und sich selbst als eine ethische Position auf.
4
Die Ethik des Pluralismus
Die Pluralismuskritik trifft – mehr oder weniger – die Realität: Kritisch zu fragen ist in der
Tat nach der empirischen Umsetzung der ethischen Werte und Grundsätze des Pluralismus. Das bedeutet zugleich: Der Pluralismus ist eine politische Konstruktion und
Aufgabe, eine permanente Herausforderung für die pluralistische Gesellschaft und den
Einzelnen.
220
4
Die Ethik des Pluralismus
„Im Pluralismus der Interessen, Wertvorstellungen und Lebenspläne kommt der Reichtum der menschlichen Selbstverwirklichung zum Ausdruck. […] Unter Anerkennung
der Menschen als selbstverantwortlicher Personen und mündiger Bürger erhält keine
Institution oder Instanz das Recht, die Menschen zu bestimmten Formen zu zwingen.“ 293
Dies setzt historisch die Befreiung, die Emanzipation des Individuums aus den Zwängen
vorindustrieller und industriegesellschaftlicher Lebensformen (Stände, Klassen, Schichten, Geschlechterrollen) voraus. An die Stelle dieser gesellschaftlichen Zwänge ist mit
der individuellen Freiheit zugleich der freilich paradoxe „Zwang zur Selbstherstellung, Selbstgestaltung, Selbstinszenierung nicht nur der eigenen Biografie, sondern
auch ihrer moralischen, sozialen und politischen Bindungen“ getreten. Zugleich gibt es
weiterhin anonyme Anforderungen auch unter sozialstaatlichen Vorgaben, die „Anforderungen der Erwerbsarbeit und sozialen Sicherungen“. Sie zwingen dazu, „ein eigenes
Leben aufzubauen und zu führen, bei Strafe ökonomischer Benachteiligungen“. 294 Dies
ist in der Tat konkrete Autonomie.
Individuelle Freiheit lässt sich ohne rechtliche Gleichheit nicht sinnvoll denken; sie
muss durch Ansätze sozialer Gleichheit ergänzt werden; Chancengleichheit ist
sozialpolitisch die Minimalforderung. 295 Damit ist zunächst die Achtung des anderen in
seinen Überzeugungen gemeint, das gleiche Teilnahmerecht aller an der politischen Willensbildung; das, was ich an Rechten und Rücksichten für mich beanspruche, gestehe
ich anderen in gleicher Weise zu – es gilt der Grundsatz der Gegenseitigkeit. Gleichheit
meint darüber hinaus aber zumindest auch die gleiche Chance zum Zugang zu sozial
herausgehobenen Positionen. Konkret: Die individuelle Freiheit zur Bildung erfordert
nicht nur den gleichen Zugang zu allen Bildungseinrichtungen für jeden (Rechtsgleichheit), sondern auch Unterstützung für jene, die unter ungünstigen Bedingungen antreten
(Chancengleichheit) (vgl. Kapitel C, S. 100 ff.).
Die gleiche Freiheit gleichberechtigter und chancengleich um gesellschaftliche Positionen und politische Entscheidungen konkurrierender Individuen erfordert Regelungen
der Entscheidungsfindung und Konfliktlösung, die den moralischen Ansprüchen von
Autonomie und Gleichheit entsprechen. Das Urbild der demokratischen Regelungen gewaltfreier Meinungsbildung, Konfliktregelung und Entscheidung ist der rationale Diskurs – im Gericht, bei außergerichtlichen Einigungen, schiedsrichterlichen Verfahren,
bei der Aussprache in parlamentarischen Fachausschüssen, in der Konfliktmediation.
Stets geht es um ein argumentationsorientiertes Gespräch, seinerseits durch eine Vielzahl moralischer Voraussetzungen gekennzeichnet (Gleichheitsgrundsatz, Wahrhaftigkeit, Begründungspflicht, Anerkennung des besseren Arguments, auch die Bereitschaft
zum Perspektivenwechsel etc., vgl. Kapitel B, S. 77 ff.).
293 Höffe, O.: Pluralismus und Toleranz: zur Legitimation der Moderne. In: Ders.: Den Staat braucht selbst
ein Volk von Teufeln. Stuttgart 1988. S. 111.
294 Beck, U.: Die feindlose Demokratie. Stuttgart 1995. S. 31.
295 Anderenfalls, um Anatol France zu variieren, hätte jeder die Freiheit und das Recht, unter Brücken zu
schlafen.
221
G
Pluralismus und Grundkonsens
„Pluralismus und Toleranz betrachten dasselbe Phänomen aus unterschiedlicher Perspektive. Während der Pluralismus die Vielfalt gleichberechtigter Gruppen hervorhebt, betont
die Toleranz das Gelten- und Gewährenlassen der Freiheit anderer, besser noch: die Achtung der anderen Anschauung und Handlungsweise in ihrer freien Andersheit.“296
Zumindest die passive Toleranz, die bloße Duldung des Andersartigen, ist – schon allein aufgrund der Einsicht in die allgemeine Kontingenz und potenzielle Fehlerhaftigkeit
von Meinungen, Standpunkten, Urteilen – „eine allgemeingültige Haltung des zivilisierten
Umgangs der Menschen miteinander […]. Die Kern- und Tiefendimension der Toleranz
ist damit aber noch nicht erreicht. Ihre stärkere Form, die freie Anerkennung des
anderen und Andersartigen, gründet letztlich in der Würde und Freiheit jeder menschlichen Person.“ 297 Als freie und ebenbürtige Person hat sie „das Recht, ihre eigenen Überzeugungen zu bilden und ihnen gemäß […] zu leben“. 298 Noch einmal begründend angesetzt: „Da ohne die gegenseitige Anerkennung ein gleichberechtigtes Zusammenleben
selbstverantwortlicher Personen nicht möglich ist, ist die Toleranz eine Grundbedingung der Gerechtigkeit 299 menschlichen Zusammenlebens in Freiheit und als Gerechtigkeitsbedingung ein Anspruch, der niemandem verweigert werden darf.“ 300 Toleranz ist
symmetrischer Respekt zwischen Gleichberechtigten als Personen.
Die Konsequenzen: „Wer tolerant ist, […] bemüht sich um ein Miteinander auf der
Grundlage von Ebenbürtigkeit und Verständigung, wozu das Zuhörenkönnen, die Fähigkeit, auf den anderen einzugehen und ihn ernst zu nehmen, gehören, ferner die Bereitschaft, sich durch neue Situationen und neue Informationen belehren zu lassen. Vollendet wird die Toleranz in der Bereitschaft und Fähigkeit, sich in die Anschauungen und
Lebensweisen des anderen einzufühlen.“ 301
Pluralismus ist nicht Relativismus: Die Forderung der Toleranz ist begrenzt. Dies impliziert schon der Begriff der Toleranz, denn er ist durch eine paradoxe Struktur gekennzeichnet: Duldung dessen, was uns fremd ist, womit wir nicht übereinstimmen, was
wir für falsch halten, Duldung des Falschen. Rainer Forst (* 1964) bestimmt den Begriff
der Toleranz genauer durch drei Komponenten:
Die „Ablehnungskomponente“, d. h. die tolerierten Überzeugungen oder Praktiken
werden als falsch angesehen; „ohne diese Komponente lägen entweder Indifferenz
oder Bejahung vor“. 302
296 Höffe, O.: A. a. O. (s. Anm. 293) S. 113 f.
297 Ebd. S. 114 f.
298 Ebd. S. 121.
299 Höffe spricht von Gerechtigkeit da, wo wir – schärfer – von Gleichheit gesprochen haben.
300 Ebd. S. 115.
301 Ebd. S. 121.
302 Forst, R.: Die Ambivalenz der Toleranz. Vom schwierigen Balanceakt zwischen Gleichheit und Differenz.
In: Universitas, 746/2008. S. 811.
222
4
Die Ethik des Pluralismus
Die positive „Akzeptanzkomponente“: Sie nennt die Gründe dafür, die falschen
Überzeugungen oder Praktiken zu tolerieren.
Die „Zurückweisungskomponente“: Sie nennt die Gründe für die Grenzen der
Toleranz; hier vor allem wird kontrovers diskutiert, „denn ein jeder Akt der Grenzziehung gegenüber denen, die als intolerabel […] erscheinen, wird aus deren Sicht
als ein Akt der Intoleranz gesehen, als willkürliche Grenzziehung“. 303
Auf der Grundlage dieses Kernkonzepts von Toleranz lassen sich zwei zentrale Vorstellungen unterscheiden, wichtig bis in die gegenwärtigen Diskussionen: die traditionelle,
vertikale „Erlaubnis-Konzeption“ und die demokratische, horizontale „Respekt-Konzeption“ 304:
Traditionell gibt „eine Autorität […] Minderheiten die Erlaubnis, ihren als ‚abweichend‘ gekennzeichneten Überzeugungen gemäß zu leben, solange sie nicht die
Vorherrschaft der Autorität in Frage stellen“. Es ist dies die Strategie der „Disziplinierung durch Freiheitsgewährung: Die Autorität herrscht, indem sie erlaubt,
nicht indem sie verbietet“ 305. Herbert Marcuses Essay „Repressive Toleranz“ 306 zielt
auf dieses Toleranz-Konzept in der Demokratie. In der Kruzifix-Debatte gestanden
die Vertreter der Erlaubniskonzeption Minderheiten zwar das Recht auf Einspruch zu,
nicht aber das Recht, die christliche Mehrheit daran zu hindern, ihre Symbole in den
Klassenzimmern öffentlicher Schulen anzubringen.
In der „Respekt-Konzeption“ sind die Bürger selbst „zugleich Tolerierende und
Tolerierte, und zwar als dem Recht zugleich Unterworfene und es Autorisierende“. Sie
erkennen einander den „Status als gleichberechtigte Bürger (und historisch erst
spät: Bürgerinnen) [zu …], der besagt, dass die allen gemeinsame Grundstruktur des
politischen und sozialen Lebens allein auf solchen Normen beruhen darf, die alle
Bürger gleichermaßen akzeptieren können“. 307
Hilfreich ist hier der Rückgriff auf den Begriff der Gerechtigkeit: „Gerechtigkeit“ ist
konnotiert mit Gleichheit, Rechtsansprüchen, Unparteilichkeit, Symmetrie, Proportionalität, Schuldigkeit und Verantwortlichkeit. Referenz der Gerechtigkeit ist nicht
die psychologisch-subjektive Kategorie der „Selbstverwirklichung“, sondern die empirisch-rechtliche Kategorie des „Status“; daraus ergibt sich, dass Gerechtigkeitsforderungen auf soziale Diskriminierungen im Bereich Arbeit, Lohn, Bildung, Wohnung,
kulturelle und politische Teilhabe, soziale Integration etc. zielen. Gerechtigkeit ist damit geeignet als normative Orientierung in transkulturellen Gesellschaften, die nicht
auf Zugehörigkeit und kultureller Identifikation beruhen. Gerecht soll der andere
„ohne Ansehen der Person“ behandelt werden – als Gleicher unter Gleichen. Gerecht
soll er in seinen sozialen und materiellen Ansprüchen behandelt werden; seine persönlichen Überzeugungen hingegen, seine Neigungen, Bedürfnisse begründen keine
Gerechtigkeitsforderungen – außer der Garantie ihrer freien Entfaltung – im Rahmen
303 Ebd. S. 812.
304 Ebd. S. 813 f.
305 Ebd.
306 Z. B. in: Wolff/Moore/Marcuse: Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt/M. 1966. S. 93 – 128.
307 Forst, R.: A. a. O. (s. Anm. 302) S. 814.
223
G
Pluralismus und Grundkonsens
der Gesetze. Es geht mithin weniger um „Anerkennung“ im „interkulturellen Dialog“,
wie häufig gefordert wird, als um Gerechtigkeit in der transkulturellen Gesellschaft.
Die Migranten in Deutschland sollen gerecht behandelt werden, d. h. sie sollen in ihren gesamten sozialen Bezügen gesehen werden. Moralisch gefordert ist, die Einwanderer in Bezug auf Arbeit, Bildung, Wohnung und kulturelle und politische Teilhabe
als Gleichberechtigte zu betrachten.
Daraus lässt sich zugleich der Ansatz auf die zentrale Frage der Grenzen der Toleranz
und ihre Berechtigung gewinnen:
Otfried Höffe (* 1943) setzt in der Tiefenschicht, in der Begründung der Toleranz
an: „Wo es zum Schutz der Freiheit und Menschenwürde notwendig wird, geht die
Toleranz in Anklage, Kritik und Protest über. Als Kriterium für die Grenze der Toleranz kann die Forderung gelten, keinem eine Einschränkung seiner Freiheit zuzumuten, die nicht allen anderen ebenso zugemutet wird. In diesem Kriterium gleicher
Freiheit, das vor allem in den Menschenrechten ausbuchstabiert wird, besteht das
höchste Prinzip der Gerechtigkeit. Das Maß der Toleranz liegt also in der Freiheit
und Gerechtigkeit, näherhin in den Menschenrechten.“ 308
Einen im Resultat ähnlichen Ansatz hat Rainer Forst entwickelt. 309 Er schlägt vor,
die möglichen normativen Konflikte aufzuteilen, und greift auf die Unterscheidung
zurück, die ursprünglich von Jürgen Habermas stammt, die Unterscheidung von
Ethik und Moral: „Warum ist es gut für mich, x zu tun?“ ist eine ethische Frage; „warum ist man kategorisch verpflichtet, x zu tun?“ ist eine moralische Frage. Seine ethische Identität findet jeder Mensch in dem, was er für ein gutes, gelungenes Leben
hält; und jeder erhebt Anspruch auf Realisierung eines guten und glücklichen Lebens. Diesen Anspruch müssen alle anderen anerkennen. Hier greift die Toleranz als
moralische Verpflichtung zur wechselseitigen Anerkennung des Selbstverwirklichungsanspruchs eines jeden. 310 Dies meint, den anderen in seiner Anders- und
Eigenheit anzuerkennen. Anders sieht es auf moralischer Ebene aus: Moralische
Normen beanspruchen allgemeine Geltung, ihre Verletzung ist nicht tolerabel, hier
liegt die Grenze der Toleranz. Umgekehrt kann von uns auch nicht die Anerkennung und Einhaltung einer Norm gefordert werden, die nicht wechselseitig gilt und
nicht allgemeine Geltung beanspruchen kann. Forst schlägt als Test vor zu fragen,
warum wir einer Regel nicht zustimmen. Ebenso lässt sich wiederum fragen, ob man
ernsthaft fordert, dass die Regel, der man sich selbst verpflichtet hat, für alle gelten
soll. Konkret: Auch wenn ich es für moralisch geboten halte, kein Fleisch zu essen,
werde ich es nicht für jeden fordern. Fleischverzehr ist also zu tolerieren.
308 Höffe, O.: A. a. O. (s. Anm. 293) S. 121 f.
309 Forst, R.: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs.
Frankfurt/M. 2003.
310 Für Forst bedeutet das, dass bestimmte ethische Konzeptionen andere Entwürfe anerkennen müssen, in
der Konsequenz, dass wir sie nur dulden müssen, sofern ihre Träger andere Konzepte ebenfalls zulassen.
224
5
5
Grundkonsens
Grundkonsens
Der Pluralismus bedarf zu seiner theoretischen Fundierung und seiner praktischen
Sicherung und Kontrolle eines normativen Grundkonsenses, der in seinen moralischen/ethischen Bausteinen elementar schon angelegt ist, aber darüber hinaus noch
weiter, grundsätzlich und allgemein, zu begründen und konkreter zu entfalten ist:
Moralische Werte, Grundsätze, Normen lassen sich in ihrem universalen Anspruch
sehr unterschiedlich begründen:
Pragmatisch aus der Anonymität menschlicher Beziehungen in modernen Massengesellschaften jenseits gruppenspezifisch orientierter, kulturspezifischer Identitäten: Menschen unterschiedlichster Herkunft und Orientierung müssen miteinander
auskommen.
Pragmatisch aus der Notwendigkeit der Angleichung und Weiterentwicklung von
Verhaltensstandards im Kontext der Globalisierung. Der Zusammenbruch des globalen Finanz- und Kapitalmarkts ist nur zu verhindern, wenn sich alle an global geltende Beschränkungen halten; eine globale Umweltzerstörung ist nur zu verhindern,
wenn es international verpflichtende Umweltschutzauflagen gibt.
Pragmatisch im Blick auf das Faktum der Menschenrechte, das 193 Staaten (2013)
in der UN-Charta anerkannt und unterzeichnet haben; Nichtmitglieder sind vor allem
Staaten, die (mehrheitlich) nicht anerkannt sind, z. B. der Kosovo.
Argumentativ empirisch als sehr allgemeine, „dünne“ Moral, Minimalmoral, die
mehr oder weniger überall Anerkennung findet (Michael Walzer).
Argumentativ als Minimalmoral, orientiert jeweils an den elementaren Interessen eines jeden Einzelnen, in einer rationalen Abwägung und Reflexion einsichtig
zu begründen, letztlich kontraktualistisch (Norbert Hoerster): Es gibt danach einen
Kernbestand moralischer Normen, von deren Einhaltung jedermann mehr profitiert
als von ihrer Verletzung. „Weil für jeden der Vorteil des Schutzes stärker wirkt als der
Nachteil des Verbots, ist die Moralnorm in ihrer Gesamtwirkung für jeden und damit
intersubjektiv begründet.“ 311
Argumentativ im ethischen Diskurs (Jürgen Habermas u. a., vgl. Kapitel B, S. 77 ff.).
Argumentativ in Orientierung an der philosophischen Tradition: tugendethisch
(Aristoteles), kontraktualistisch (Hobbes, Locke), utilitaristisch (Bentham, Mill),
deontologisch (Kant), gefühlsethisch (Schopenhauer) (vgl. Kapitel B).
Die genannten ethischen Bausteine des Pluralismus setzen als allgemeines Fundament
das Konzept der Menschenwürde voraus. Was ist damit gemeint?
„Die Menschenwürde besteht darin, dass der Mensch als geistig-sittliches Wesen von
Natur aus darauf angelegt ist, in Selbstbewusstsein und Freiheit sich selbst zu bestimmen, sich zu gestalten und sich in die Umwelt auszuwirken.“ 312 Damit verknüpft sind
unbedingt geltende Ansprüche und Verbote: z. B. auf Achtung und Anerkennung, auf
311 Hoerster, N.: Was ist Moral? Eine philosophische Einführung. Stuttgart 2008. S. 61.
312 BVerwG, B. v. 31.2.1976 – IWB 49/75.
225
G
Pluralismus und Grundkonsens
Unantastbarkeit, das Instrumentalisierungs- und Verdinglichungsverbot, das Verbot der
Missachtung der Intimsphäre, der Verletzung der Ehre bis hin zum Verbot, einen Menschen materiell nur mehr vegetieren zu lassen.
Wie lässt sich dieses Verständnis von Menschenwürde begründen? Ausgangspunkt und
Zentrum ist eine elementare menschliche Selbsterfahrung: Wir erleben uns als Wesen,
die frei denken, wollen, planen, wählen, entscheiden und handeln können, wir erleben
uns als Wesen, die überdies sich zu sich selbst in ihren Absichten, Entscheidungen und
Handlungen verhalten können. Wir erleben uns als Wesen, die über diese elementare
Freiheit nicht nur als Möglichkeit verfügen, sondern darüber hinaus auch ständig genötigt sind, davon Gebrauch zu machen, wir müssen uns ständig mit Gründen für diese
oder jene Option, für diese oder jene Handlung entscheiden. Mit Gründen bedeutet: In
dieser Erfahrung von Freiheit ist immer auch schon der Bezug auf andere Menschen
mitgegeben, die uns im Blick auf ihre naturale Freiheit grundsätzlich gleichgestellt sind;
dieser Bezug nötigt uns, einander als freie Subjekte unseres Wollens und Handelns, in
dieser Hinsicht also als gleich und gleichwertig anzuerkennen. Diesen Sachverhalt
nennt Immanuel Kant (1724 – 1804) die menschliche Würde, die einem jeden Mitglied der menschlichen Gattung zukommt, durch die sich der Mensch von anderen Lebewesen prinzipiell unterscheidet.
Die Anerkennung der Menschenwürde ist die Anerkennung der menschlichen Willensfreiheit. Kant versteht darunter nicht so sehr die Fähigkeit, dieses oder jenes tun zu
können, sondern die Fähigkeit, sich zu sich selbst verhalten zu können, und das meint
wiederum vor allem die Fähigkeit, unabhängig von gegebenen Trieb- oder Neigungsstrukturen handeln zu können, die Fähigkeit zu moralischem Handeln, das meint, etwas zu tun oder zu lassen, weil es ethisch oder moralisch richtig ist und sich als solches
rational auch ausweisen lässt. Die Würde des Menschen besteht nach Kant in seiner Moralität, seiner sittlichen Autonomie. „Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben
fähig ist, [ist] dasjenige, was allein Würde hat.“ 313 Daraus folgt nach Kant: „Der Mensch
kann von keinem Menschen […] bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als
Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde.“ 314
Um Missverständnisse zu vermeiden: Es ist dies von Kant nicht etwa individuell gemeint:
Die in der Moralität zentrierte Würde kommt dem Menschen als Gattungswesen zu, sie
kommt jedem Menschen bis zu seinem Tod zu – ganz unabhängig von seinem Verhalten
oder seinem körperlichen oder geistigen Zustand, seiner individuellen oder situativen
Befindlichkeit. Eine andere Frage ist allerdings, ab wann ein Mensch diese Würde besitzt, ab wann ihm damit auch ein unbedingter Schutzanspruch zusteht: mit der Zeugung, der Verschmelzung also von Ei- und Samenzelle, mit der Nidation (Einnistung des
befruchteten Eis in die Gebärmutterschleimhaut), mit der Entwicklung des Gehirns …
(vgl. dazu Kapitel F, S. 190 ff., 195).
313 Kant, I.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. BA 77.
314 Kant, I.: Metaphysik der Sitten. Tugendlehre. § 38. A 140.
226
5
Grundkonsens
Die Konkretisierung und Entfaltung der Menschenwürde sind die Menschenrechte. Sie
lassen sich durchaus unterschiedlich begründen:
aus dem Begriff der Menschenwürde (Kant, Apel, Höffe, Forst);
als Ausdruck von Grundbedürfnissen (Tugendhat, Galtung);
kontraktualistisch als universelle Minimalmoral (Hoerster);
juristisch als Konkretisierung der Menschenwürde.
„Als persönliche Freiheitsrechte, politische Mitwirkungsrechte sowie Sozial- und
Kulturrechte sind die Menschenrechte Bedingungen und Ausdruck der gegenseitigen
Anerkennung von grundsätzlich gleichberechtigten Personen. Daher bezeichnen sie Ansprüche, die jedem Menschen als solchem zukommen.“ 315 Jeder Staat ist ihnen daher
verpflichtet, schuldet sie seinen Bürgern.
Die Menschenrechte können gleichwohl von einem Staat gewährleistet oder missachtet
werden, wichtig ist ihre konkrete rechtliche Sicherung, sonst bleiben sie nur gut begründete Postulate, ohnmächtig gegenüber der staatlichen Realität. „Werden die Menschenrechte dagegen von einer positiven Rechtsordnung und dem sie tragenden Staat institutional garantiert […], dann erhalten sie den positivrechtlichen Status von Grundrechten
oder von fundamentalen Staatszielbestimmungen, an die alle staatlichen Gewalten gebunden sind und deren Anerkennung vor den Gerichten eingeklagt werden kann.“ 316
Innerstaatlich geht der Grundkonsens über die Anerkennung der Menschenwürde
und Menschenrechte, der Grundrechte des Grundgesetzes, hinaus: Der Minimalkonsens
erfordert die Anerkennung des geltenden Rechts insgesamt.
International gelten als Grundkonsens die UN-Charta und der UN-Pakt I und II (1966)
zur Konkretisierung der Menschenrechte, die zusätzlichen Übereinkommen zur Beseitigung der Rassendiskriminierung (1965), der Diskriminierung der Frau (1979), gegen
Folter (1984), über die Rechte des Kindes (1989) und zum Schutz von Wanderarbeitnehmern (1990). Zu denken ist ferner an den Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte, den Internationalen Strafgerichtshof, zu denken ist an internationale Abkommen
und Codices zu Umwelt- und Arbeitsfragen, an die Helsinki-Erklärung medizinischer
Forscher u. Ä.
Hinzu kommen die Ziele universal orientierter Institutionen, z. B. Greenpeace, Amnesty
International u. a.
315 Höffe, O.: A. a. O. (s. Anm. 293) S. 112.
316 Ders.: Minimalstaat oder Sozialrechte? In: Ebd. S. 92.
227
G
Pluralismus und Grundkonsens
Allerdings haben nicht alle Staaten die internationalen Abkommen unterschrieben. Der
Universalanspruch der Moral ist eher eine regulative Idee, den ethischen Diskurs darüber gilt es zu führen, eine universal anerkannte Moral ist das Ziel: universal geltende
Grundsätze und Normen im Umgang miteinander, im Umgang mit Tieren, im Umgang
mit den Lebensbedingungen, den Ressourcen und Schönheiten, die die Natur uns bietet.
317 318 319
Pluralismus und Grundkonsens: Problemaufriss
Historischer Wandel 317
Vertikal/Diachron
Horizontal/Synchron
Fakt: Pluralismus als Multikulturalität 318
Konsequenz
Toleranzgebot
Zuwanderung 319
Eingrenzung
Toleranzgrenzen
Definition eines
Grundkonsens
Konsequenz
Problem:
mögliche Widersprüche
zu den Menschenrechten
zum Grundgesetz
zum Rechtsstaat
317 19. – 21. Jh.: Industrialisierung in mehreren Wellen: Auflösung und Ablösung traditioneller Strukturen:
Berufe, Familienstrukturen, gesellschaftliche Normen
318 Pluralität von Wert- und Normvorstellungen: kulturell = moralisch, sozial, Lebenskonzepte, Selbst- und
Weltverständnis
319 Migrationswellen seit der Industrialisierung: Polen im 19. Jh., Südeuropäer im 20. Jh., Muslime im 20. Jh.,
Afrikaner im 20./21. Jh., weltweite Migration mit der Globalisierung im 21. Jh.
228
5
Grundkonsens
Fragen zur Wiederholung:
1. Zum Pluralismusbegriff: Was sind die zentralen Merkmale?
2. Eine Pluralismuskritik wird von zwei unterschiedlichen Seiten formuliert.
Welche Vorwürfe werden aus konservativer Sicht gemacht? Welche Vorwürfe
werden aus sozialkritischer Sicht gemacht?
3. Welche Gemeinsamkeiten weisen die beiden pluralismuskritischen
Sichtweisen auf?
4. Nennen Sie drei Beispiele interkultureller Differenzen, die zu Problemen oder
Konflikten führen können.
5. Nennen Sie mögliche Reaktionen auf interkulturell bedingte Konflikte.
6. Was meint „ethischer Relativismus“?
7. Was ist häufig der Hintergrund des ethischen Relativismus?
8. Welche Argumente lassen sich für den Relativismus anführen?
9. Was spricht argumentativ gegen den ethischen Relativismus?
10. Nennen und erläutern Sie die ethischen Bausteine des Pluralismus.
11. Warum sind sie idealtypisch zu verstehen?
12. Was meint „Toleranz“?
13. Inwiefern ist der Begriff der Toleranz durch eine paradoxe Struktur
gekennzeichnet?
14. Das begriffliche Konzept der Toleranz weist drei Komponenten auf.
15. Welche zwei zentralen Vorstellungen von Toleranz lassen sich unterscheiden?
16. Wie lassen sich berechtigterweise die Grenzen der Toleranz bestimmen?
17. Was meint „Grundkonsens“ des Pluralismus?
18. Wie lässt sich ein Universalanspruch von Moral begründen?
19. Was meint der Begriff „Menschenwürde“?
20. Was sind die Menschenrechte?
21. Wie lassen sie sich begründen?
22. Was meint die Forderung eines Grundkonsenses einer globalisierten Welt?
229
Personen- und Themenverzeichnis
Fromm, Erich
Ethik und Anthropologie
265
Gabriel, Markus
Wahrheit und Erkenntnis 309 f.
Gehlen, Arnold
Ethik und Anthropologie 250 ff.
Freiheit 11
Gilligan, Carol
Moralbegründung 88
Goffman, Erving
Ethik und Anthropologie 270 f.
Habermas, Jürgen
Angewandte Ethik 198 f..
Freiheit 19 f., 31
Moralbegründung 77 ff.
Religion und Religionskritik 135 f.
Wahrheit und Erkenntnis 312
Hare, Richard M.
Moralbegründung 62, 64
Hartmann, Nicolai
Moralbegründung 87
Hegel, Gottfried Wilhelm Friedrich
Freiheit 22
Gerechtigkeit 124
Herder, Johann Gottfried
Ethik und Anthropologie 239 f.
Hobbes, Thomas
Ethik und Anthropologie
230 f., 238, 240
Freiheit 7, 14
Gerechtigkeit 125 f.
Moralbegründung 37, 55 ff.
Höffe, Otfried
Glück und Moral 179
Moralbegründung 81
Pluralismus und Grundkonsens 221 ff.
Hoerster, Norbert
Angewandte Ethik 200 f.
d’Holbach, Paul-Henri Thiry
Ethik und Anthropologie 238
316
Honneth, Axel
Moralbegründung 88 f.
Humboldt, Wilhelm von
Wahrheit und Erkenntnis 299 f.
Hume, David
Freiheit 7, 23, 32
Moralbegründung 48, 57 f, 82, 85
Religion und Religionskritik 145, 151 ff.
Wahrheit und Erkenntnis 290 ff.
Hutcheson, Francis
Moralbegründung 87
Jonas, Hans
Angewandte Ethik 181 ff., 185 f.
Kant, Immanuel
Ethik und Anthropologie
242 ff., 246
Freiheit 8, 15 f., 31
Gerechtigkeit 124 ff.
Glück und Moral 177
Moralbegründung 37, 67 ff., 77, 81
Pluralismus und Grundkonsens 226
Religion und Religionskritik 153 f.
Wahrheit und Erkenntnis 295 ff.
Kersting, Wolfgang
Gerechtigkeit 112 f.
Kohlberg, Lawrence
Ethik und Anthropologie 268
Küppers, Bernd-Olaf
Angewandte Ethik 186 f.
La Mettrie, Julien Offray de
Ethik und Anthropologie 238, 249
Leibniz, Gottfried Wilhelm
Religion und Religionskritik 148 f.
Lévinas, Emmanuel
Moralbegründung 91
Liszt, Franz von
Gerechtigkeit 125
Personen- und Themenverzeichnis
Locke, John
Ethik und Anthropologie 230
Wahrheit und Erkenntnis 289
Lyotard, Jean-François
Moralbegründung 81
MacIntyre, Alasdair
Moralbegründung 50
Pluralismus und Grundkonsens 219
Margalit, Avishai
Moralbegründung 50
Pluralismus und Grundkonsens 219
Marx, Karl
Gerechtigkeit 99
Religion und Religionskritik 155 f.
Maslow, Abraham
Glück und Moral 171 f.
McLuhan, Marshal
Angewandte Ethik 210
Mieth, Dietmar
Angewandte Ethik 196 f.
Mill, John Stuart
Moralbegründung 62 ff.
Mirandola, Giovanni Pico della
Freiheit 14
Nagel, Thomas
Gerechtigkeit 103
Nietzsche, Friedrich
Ethik und Anthropologie 232
Freiheit 24
Glück und Moral 175 f.
Moralbegründung 91
Religion und Religionskritik 156 ff.
Nozick, Robert
Gerechtigkeit 111
Nussbaum, Martha C.
Glück und Moral 171
Moralbegründung 51 f.
Parsons, Talcott
Ethik und Anthropologie
Piaget, Jean
Ethik und Anthropologie
Platon
Freiheit 13
Moralbegründung 41 f.
Wahrheit und Erkenntnis
Plessner, Helmuth
Ethik und Anthropologie
Popper, Karl R.
Wahrheit und Erkenntnis
Protagoras
Ethik und Anthropologie
269 f.
267 f.
282 f.
248 f., 253
281, 305 f.
233, 240
Rawls, John
Gerechtigkeit 105 f.
Rogers, Carl Ransom
Ethik und Anthropologie 265
Rorty, Richard
Moralbegründung 88
Roth, Gerhard
Freiheit 27
Rousseau, Jean-Jacques
Ethik und Anthropologie
239 f., 274
Freiheit 8
Gerechtigkeit 102
Moralbegründung 57, 87
Sandel, Michael J.
Angewandte Ethik 197 f.
Sartre, Jean-Paul
Ethik und Anthropologie 246 f.
Freiheit 18
Sass, Hans-Martin
Angewandte Ethik 200
Scheler, Max
Ethik und Anthropologie 247 f., 253
Moralbegründung 87
317
Personen- und Themenverzeichnis
Schmid, Wilhelm
Glück und Moral 171
Moralbegründung 53
Schopenhauer, Arthur
Ethik und Anthropologie 232, 273
Freiheit 8
Glück und Moral 170 f.
Moralbegründung 81, 86
Seneca
Glück und Moral 176
Sidgewick, Henry
Moralbegründung 62
Singer, Peter
Moralbegründung 62
Singer, Wolf
Freiheit 29
Sloterdijk, Peter
Angewandte Ethik 194, 212
Smith, Adam
Gerechtigkeit 109 f.
Moralbegründung 85, 87
Sokrates
Ethik und Anthropologie 233 f., 240
Glück und Moral 176
Moralbegründung 41
Spaemann, Robert
Angewandte Ethik 175 f.
Spinoza, Baruch
Freiheit 14, 21
Stirner, Max
Glück und Moral 175
Religion und Religionskritik 155
318
Strauß, David Friedrich
Religion und Religionskritik
154
Taylor, Charles
Religion und Religionskritik 134
Pluralismus und Grundkonsens 219
Thomas von Aquin
Religion und Religionskritik 146
Wahrheit und Erkenntnis 283 f.
Tugendhat, Ernst
Ethik und Anthropologie 252 f.
Gerechtigkeit 107 f.
Moralbegründung 58 f., 81
Religion und Religionskritik 163 f.
Walzer, Michael
Gerechtigkeit 111 f.
Moralbegründung 50 f.
Pluralismus und Grundkonsens 219
Weber, Max
Angewandte Ethik 184 f.
Whorf, Benjamin Lee
Wahrheit und Erkenntnis 300 f.
Williams, Bernard
Moralbegründung 52
Zenon
Moralbegründung 47
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