G l a u b e n s k u r s Nr. 24 | 16. Juni 2013 | www.die-kirche.de Glaubenskurs Ethik der Evangelischen Wochenzeitung dieKirche Teil 33 Aus Glauben handeln V Leben in der Gesellschaft 5 Die pluralistische Gesellschaft Foto: Dietmar Silber Diskutiert wird heute: Zersplittert die pluralistische Gesellschaft nicht in ethische Grundorientierungen? Was hält darin die verschiedenen Bereiche wie Wirtschaft, Religion, Technik, Erziehung zusammen? Von Ulrich Körtner 4NSU-Prozess in München: Ein Anwalt fordert, das Kreuz im Gerichtssaal abzuhängen, weil es die weltanschauliche Neutralität der Bundesrepublik und die Religionsfreiheit eines Nebenklägers verletzte, der Muslim ist. Das Kreuz – eine Bedrohung für alle Nichtchristen oder ein Symbol für die die Wurzeln und Prägekräfte von Menschenwürde und Humanität, ohne die auch eine säkulare, pluralistische Gesellschaft nicht bestehen kann? Ulrich Körtner ist Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Wien. Foto: privat Pluralismus gehört zur Signatur unserer modernen Gesellschaft. Die Vielfalt der Lebensstile und kulturellen Einflüsse, der religiösen, weltanschaulichen und ethischen Überzeugungen macht das Leben nicht nur bunt, sondern auch kompliziert. Einerseits kann jeder nach seiner Façon selig oder glücklich werden. Andererseits ist ein Zusammenleben nicht möglich, wenn es nicht ein Mindestmaß an gemeinsamen Grundüberzeugungen gibt. Soll die pluralistische Gesellschaft nicht in eine Vielzahl von unverbunden nebeneinander bestehenden Subkulturen und Parallelwelten zerfallen, müssen Bindekräfte gestärkt werden, die den Zusammenhalt trotz bestehender Unterschiede und konfliktträchtiger Gegensätze fördern. Das Besondere am modernen Pluralismus ist zum einen, dass die weltanschauliche, religiöse und kulturelle „Vielspältigkeit“ kein übergeordnetes Einheitsprinzip kennt. Zum anderen konkurrieren die unterschiedlichen Lebensformen und Weltdeutungen beständig miteinander. Der Pluralismus ist in der Moderne radikal oder prinzipiell geworden. Er ist nicht nur ein beschreibbarer Zustand, sondern gilt auch als gesellschaftliches Ideal, das freilich nicht ohne Probleme ist. Solange sich Menschen aus dem Weg gehen können, muss der Pluralismus nicht zu Konflikten führen. Anders steht es jedoch, wenn Menschen miteinander leben, arbeiten und auskommen müssen. Ob in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Politik, ist es unter pluralistischen Vorzeichen weitaus schwieriger als in einigermaßen gleichförmigen Gesellschaften, sich auf Regeln des Zusammenlebens und gemeinsame Grundwerte zu verständigen. Berufung auf Werte dient oft dem Rechthaben Wo es keine gemeinsame religiöse oder weltanschauliche Basis gibt, bieten sich möglicherweise Moral und Ethik als gesellschaftliches Bindeglied an. Die Idee eines kulturund religionsübergreifenden Weltethos ist jedoch trügerisch. Sobald es darum geht, wie vermeintlich universale Regeln – wie das Tötungsverbot oder die Forderung, Gutes zu tun – im Einzelnen auszulegen sind, stößt man auf einen Plu- Basisinformation Der Begriff des Pluralismus wird heutzutage nicht nur in der Politikwissenschaft und in den Sozialwissenschaften verwendet, sondern ist auch in den öffentlichen Sprachgebrauch eingegangen. Er hat allgemein den Säkularisierungsbegriff als soziologische und ideengeschichtliche Deutungskategorie abgelöst und bezeichnet die unaufhebbare Vielfalt der Kulturen, Religionen und Weltanschauungen, aber auch der Ethiken sowie der wissenschaftlichen Methoden und Grundkonzepte, die zueinander in Konkurrenz stehen. ralismus an ethischen Orientierungen und Begründungen. Auch der Appell an moralische Grundwerte und die Beschwörung einer Wertegemeinschaft verfängt nicht. Wie schon der Soziologe Max Weber (1864–1920) schrieb, dient die Berufung auf Ethik und Werte häufig als Mittel des Rechthabens. Werte Für das Gespräch Fragen zum Einstieg: 1) Braucht eine Gesellschaft für den Zusammenhalt eine gemeinsame ethische Basis? 2) Wo liegen für Sie die Grenzen der Toleranz in Fragen der Moral, der Politik oder der Religion? 3) Wie viel Pluralismus verträgt Ihrer Meinung nach die Kirche? Buch zum Thema: Heinz Buschkowsky, „Neukölln ist überall“, 2012 verbinden nicht, sondern trennen, wenn man sich unter Berufung auf Werte von anderen abgrenzt und diese ausgrenzt. Eine pluralistische Gesellschaft kann freilich nicht bestehen, wenn es nicht zumindest einen Konsens über Regeln des Dialogs und der Konfliktregelung gibt. Sie braucht eine rechtsstaatliche und demokratische Ordnung, die von ihren Mitgliedern nicht nur akzeptiert, sondern auch aktiv gefördert wird. Das schließt die Achtung vor der Menschenwürde und den Menschenrechten ein. Nach einer vielzitierten Formulierung des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde lebt der „freiheitliche, säkularisierte“ – und das heißt eben pluralistisch verfasste – Staat „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Böckenförde unterstellt freilich noch eine Übereinstimmung in Fragen der Werte und der Moral, die stillschweigend aus der mehrheitlichen Zugehörigkeit der Bürge- rinnen und Bürger zum Christentum abgeleitet wird. Diese Annahme trifft so jedoch nicht mehr auf die multikulturelle und multireligiöse Situation der heutigen Gesellschaft zu, wie etwa die Diskussionen über eine deutsche Leitkultur zeigen oder darüber, ob der Islam inzwischen zu Deutschland gehört oder nicht. Das Christentum gehört zwar unbestritten zu den kulturellen Prägekräften in Geschichte und Gegenwart. Doch ist auch das Christentum alles andere als einheitlich. Denkt man an die Vielfalt der Konfessionen und den Pluralismus, der innerhalb der einzelnen Kirchen herrscht, muss man regelrecht von einem Pluralismus der Christentümer sprechen. In besonderer Weise ist Pluralismus ein Kennzeichen des Protestantismus. Man kann darin seine Schwäche, aber auch seine Stärke sehen. Zu seinen Stärken gehört das Modell einer Ökumene der Einheit in versöhnter Verschiedenheit, die in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi ihren Grund hat. Eine evangelische – nämlich evangeliumsgemäße – Ethik steht im Spannungsfeld zwischen der Freiheit des Glaubens und des Gewissens auf der einen und der Verbindlichkeit des Glaubens und der Nachfolge Christi auf der anderen Seite. Nach evangelischem Verständnis ist Glaube gleichbedeutend mit der Gewissheit der bedingungslosen Annahme des Menschen und der Unbedingtheit der göttlichen Liebe. Diese Gewissheit begründet jedoch keine unumstößlichen Urteile oder theologische Überbietungsansprüche, wenn es um Moral und Ethik geht. Die Kirche kann auch von anderen lernen. Gleichwohl müssen wir uns in der Kirche über die Verbindlichkeit des Glaubens für das individuelle Leben und die Gestaltung der Gesellschaft verständigen. Gerade weil der moderne Pluralismus prinzipiell ist, ist die Profilierung grundlegender Positionen eine zentrale theolo- Zur Weiterarbeit Verwandte Themen des Kurses: Menschsein und Ethik, Freiheit und Verantwortung, Ethos und Gewohnheit, Der Staat, Demokratie, Rechtsordnung und Ethik Bibeltexte: 1. Mose 11,1–9; Jeremia 29,1–7; 1. Korinther 9,19–23 Literatur: Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende, Gütersloh 1998; Ulrich H. J. Körtner, Vielfalt und Verbindlichkeit. Christliche Überlieferung in der pluralistischen Gesellschaft, Leipzig 2002; Michael Welker, Kirche im Pluralismus, 2. Aufl. München 2000 gische und kirchliche Herausforderung. Gemeint ist nicht kirchliche Bevormundung, sondern Ermutigung, öffentlich zu sagen, wofür man steht. Auch auf europäischer Ebene ist die protestantische Stimme zu stärken. Die eine protestantische Stimme gibt es allerdings nicht. Es ist schon viel gewonnen, wenn der Protestantismus nicht in lauter Einzelstimmen zerfällt, die unter Umständen sogar Missklänge erzeugen können, sondern wenn er seine Stimmen in einem vielstimmigen Chor vereint, dessen Musik durchaus komplex sein kann, aus der man aber doch ein gemeinsames Grundthema heraushören kann.< Möchten Sie diesen Artikel kommentieren? Schreiben Sie uns eine E-Mail: [email protected] Diskutieren Sie mit Professor Wolf Krötke auf Facebook: www. facebook.com/dieKirche Glaubenskurs bestellen Telefon: (030) 28 87 48-17 Fax: (030) 28 87 48 20 E-Mail: [email protected] Internet: www.die-kirche.de