bücher - Christ in der Gegenwart

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BÜCHER DER GEGENWART
FRÜHJAHR 2016
Von Ludger Schwienhorst-Schönberger
A
braham begegnet uns sowohl im
Alten als auch im Neuen Testament. Auch der Koran weiß viele
Geschichten von Abraham zu erzählen.
Ist es möglich, dass sich Judentum, Christentum und Islam mit Bezugnahme auf
Abraham über grundlegende Fragen ihres
Glaubens verständigen? Gibt es eine „abrahamische Ökumene“? Dieser Frage geht
der Neutestamentler Hubert Frankemölle
nach. Der Autor bringt reiche Erfahrungen
aus seinem langjährigen Engagement im
christlich-jüdischen Dialog mit. Er ist kein
Islamwissenschaftler, hat sich aber intensiv
mit dem Islam und dem Koran und seiner
Auslegung befasst. Eine christlich geprägte
theologisch-exegetische Sicht auf den Koran
hat durchaus ihren Reiz und kann gegenüber einer rein religionswissenschaftlichen
Perspektive einen Mehrwert bringen.
Es steht die Frage im Raum, ob sich der
Islam mit einer historisch-kritischen Sicht
auf den Koran anfreunden kann. Als kundiger Exeget weiß der Autor um die Probleme
und Herausforderungen, die sich mit der
Anwendung dieser Methode auch innerhalb
von Kirche und Theologie gestellt haben
und stellen. Er kommt zu der Erkenntnis,
dass die im interreligiösen Dialog oft geforderte „abrahamische Ökumene“ nicht möglich sei. Wie gelangt er zu diesem Ergebnis?
Die andere Geschichte im Koran
Zunächst erläutert Frankemölle, dass Abraham nur als eine literarisch gedeutete Figur
existiert. In der Bibel und im Koran werden
unterschiedliche Geschichten von Abraham
erzählt. Die Frage, welche von ihnen nun die
„wahre“ Geschichte sei, erübrigt sich, da uns
außerhalb dieser Geschichten Abraham gar
nicht zugänglich ist. Eine Geschichte Abrahams außerhalb der überlieferten Geschichten gibt es nicht. Es mag durchaus sein, dass
Abraham gelebt hat. Für das Selbstverständnis von Judentum, Christentum und Islam
ist aber nur der in je unterschiedlicher Weise
erzählte und gedeutete Abraham von Bedeutung. Die Erzählungen und Deutungen
hängen historisch miteinander zusammen,
lassen sich aber nicht auf eine Erzählung
zurückführen. Dabei sind die Verbindungen zwischen Judentum und Christentum
von qualitativ anderer Art als die zwischen
Christentum und Islam. Das Neue Testament bezieht sich auf den Abraham des
Alten Testaments und schreibt ihn fort. Er
ist für jüdische wie nichtjüdische Christusanhänger eine Identifikationsfigur. Der Koran dagegen erzählt eine andere Geschichte.
Dabei schöpft er aus mündlicher Tradition.
Für Mohammed wird Abraham (Ibrahim) zu
einer Figur der Abgrenzung. Nach Sure 3,68
war Abraham weder Jude noch Christ, sondern Anhänger des unverfälschten monotheistischen Glaubens. Er ist der erste Muslim,
der alle muslimischen Pflichten erfüllte.
Demnach stehen Juden und Christen nicht
in der Tradition der Religion Abrahams.
Frankemölle stellt sämtliche Erzählungen
über Abraham aus der Bibel und dem Koran
vor und legt sie im Rahmen der in akademischen Kreisen anerkannten literaturwissenschaftlichen Methoden aus. Seine Ausle-
Abraham in Geschichten
Inwieweit eignet sich eine literarische Figur in
Bibel und Koran für die Verständigung von Judentum,
Christentum und Islam?
gungen sind auch für Laien sehr verständlich
geschrieben. Immer wieder erklärt er die zugrunde liegenden Methoden. Mit der historisch-kritischen Koranexegese unterscheidet
er ältere und jüngere Texte im Koran. Er weiß
aber auch, dass diese sogenannte diachrone
Perspektive, also die zeitliche Betrachtung
der Entwicklungsgeschichte, für die Aufnahme und Wirkung der Texte in der Glaubensgemeinschaft wenig austrägt. So gesehen
hat auch im Koran die kanonische Exegese,
die sich verbindlich am Gesamtzusammenhang des Schlusstextes orientiert und diesen
auslegt, das letzte Wort.
Aufgrund des textorientierten Zugangs
ist das von Frankemölle erzielte Ergebnis
gut nachvollziehbar: „Für Mohammed ist
‚Abraham‘ nicht der jüdisch-christlich geglaubte Abraham, sondern der muslimische
‚Ibrahim‘.“ Der Autor sieht damit die These
des Islamwissenschaftlers Friedmann Eißler
bestätigt: „Die Bezugnahme der drei großen
religiösen Traditionen auf Abraham ist offensichtlich so unterschiedlich, dass die Behauptung einer grundlegenden Gemeinsamkeit entweder nur Hülle ohne Inhalt ist oder
aber im Namen einer gemeinsamen Symbolfigur einer eigenen, neuen Konstruktion
jenseits dessen bedarf, was in der jeweiligen
Glaubensgemeinschaft in Geltung steht“.
Mit dem von Frankemölle gewählten
Zugang zum Thema steht die grundlegende
Frage nach dem Verhältnis von Text und
Offenbarung im Raum. Auch in christlichen
Kreisen ist oft die Ansicht anzutreffen, die
Bibel sei das Wort Gottes. Theologisch korrekt muss es jedoch heißen, dass die Bibel
das Wort Gottes bezeugt. In diesem Sinne ist
das Christentum keine Buchreligion. Gott
offenbart sich selbst, und diese Selbstmitteilung Gottes wird in der Bibel bezeugt. Das
Zeugnis der Bibel bedarf der Interpretation.
Deshalb gehört die Auslegung der Bibel zum
Selbstverständnis des Christentums, und
zwar von seinen geschichtlichen Anfängen
an und nicht erst seit der Aufklärung, wie
immer wieder behauptet wird. In diesem Zusammenhang finden sich auch bei Frankemölle leider einige unklare Aussagen. Es war
keineswegs so, dass die katholische Kirche
erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil
„jegliches wortwörtliche Verständnis der biblischen Texte ab(lehnte)“, wie Frankemölle
behauptet. In der gesamten Geschichte der
christlichen Theologie war man sich darüber
im Klaren, dass nicht alles, was in der Bibel
steht, in einem wörtlichen Sinn zu verstehen
ist. Als ein Beispiel von vielen sei eine Aussage des Theologen Hugo von Sankt Viktor
aus dem 12. Jahrhundert zitiert: „Es ist notwendig, dass wir einerseits in gewisser Weise
dem Buchstaben folgen, … andererseits aber
auch ihm in gewisser Weise nicht folgen, damit wir nicht zu der Ansicht gelangen, das
Urteil über die Wahrheit hänge gänzlich
vom Buchstaben ab. Nicht der Schriftkundige, ‚sondern der Geistige urteilt über alles‘
(1 Kor 2,15).“
EDITORIAL
Abendland – christlich
I
st Religion Kultur? Wenn nicht – was
denn sonst? Wenn es nicht eine Religion ist, ist es die Glaubenslosigkeit,
die wesentlich über das kulturelle Leben
einer Zivilisation bestimmt. Ohne Kultur
gibt es keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft, keinen Staat. Insofern sind sämtliche Debatten darüber, ob sich Religion
aus der öffentlichen Sache, der res publica, also der Republik, herauszuhalten
habe, absurd. Es gibt keine religionsfreie
Zone, nirgendwo. Wo es nicht die Religion ist, bestimmt der Atheismus – ob
ausdrücklich oder insgeheim – das Geschehen. Auch er ist nicht Privatsache,
sondern öffentlich wirksam.
Wo das eine verdunstet, verschwindet, dringt ein anderes hinein. So war es
mit den Religionen der Antike, die sich
zusehends als unglaubwürdig und unplausibel erwiesen und der aufgeklärteren Religion Christentum Platz machen
mussten, die größere Überzeugungskraft
hatte. Das Abendland wurde von da an
kulturell-geistig eben nicht mehr durch
hellenistische, römische, germanische,
keltische oder sonstige Kulte bestimmt,
sondern durch eine christliche Dynamik.
Das Christentum hat das Heidentum
kulturell abgelöst.
Wird sich der christliche Glaube
aber so weiterentwickeln, dass er auch
in Zukunft die abendländische Kultur
prägt? Oder werden andere Geisteskräfte
mehr Plausibilität verbuchen? Der Islam?
Thront am Ende über allem der Säkularismus? Es ist eine offene Frage. Das
Geistesleben, die Literatur jedenfalls,
belegt (noch), dass man am Christentum
so leicht dann doch nicht vorbeikommt,
selbst wenn wider alle Realität – ebenfalls
absurd – behauptet wird, das christliche
Abendland gebe es überhaupt nicht und
habe es nie gegeben.
rö.
Leider hat sich auch in der Theologie
das Klischee eingenistet, dass erst mit der
Aufklärung oder in der katholischen Kirche sogar erst mit dem jüngsten Konzil ein
fundamentalistisches Verständnis der Bibel
überwunden worden sei. Diese häufig anzutreffende Ansicht ist schlichtweg falsch.
Beim christlich-islamischen Dialog geht es
nicht nur um das Thema „Religion vor oder
nach der Aufklärung“, sondern es geht um
das Offenbarungsverständnis selbst. Wie
steht es um das Verhältnis von Text und
Offenbarung im Islam? Gewöhnlich wird
von einem grundlegenden Unterschied
zwischen dem christlichen und dem islamischen Offenbarungsverständnis gesprochen: Die Bibel bezeugt die Offenbarung
Gottes, der Koran ist die Offenbarung Gottes. Wenn das wirklich so ist, dann liegt hier
eine bedeutende Differenz vor.
„Abrahamische Ökumene“?
Da nach Frankemölle die unterschiedlichen
literarischen Bezeugungen Abrahams letztlich nicht aufeinander rückführbar sind,
kann es für ihn keine „abrahamische Ökumene“ geben. In der Argumentation von
Frankemölle ist diese Position logisch. Eine
solche Ökumene könnte es nur dann geben,
wenn die textlichen Bezeugungen Abrahams
in den jeweiligen Religionen radikal relativiert würden. Wäre das für den Islam möglich? Gäbe es (noch) ein Judentum und ein
Christentum, wenn sie die literarischen Ausdrucksgestalten ihrer Glaubenstraditionen
radikal relativieren würden? Wäre das nicht
der Abraham, der weder Bibel noch Koran
besaß, sondern Gott glaubte und sich auf den
Weg fortschreitender Erkenntnis machte, wie
die Kirchenväter betonen? Gegen Ende des
Buches deutet der Autor diesen Gedanken
an: „Meine These, dass historisch-literarisch
der in Bibel und Koran vorgestellte Abraham
nicht als Urgestalt der Ökumene zwischen
Juden, Christen und Muslimen genannt
werden kann, besagt nicht, dass mittels der
Metapher oder des Symbols ‚Abraham‘ aufgrund der interreligiösen Entwicklung vor
allem der letzten ca. siebzig Jahre ‚Abraham‘
in transformierter und abstrahierter Gestalt
nicht einen gemeinsamen Weg von Juden,
Christen und Muslimen zu einem friedlichen
Miteinander und zum Frieden in der Welt
andeuten und eröffnen kann.“
Das Buch behandelt viele Fragen, die uns
im Dialog der Religionen auf den Nägeln
brennen: die Frage der Gewalt, die Bedeutung der Aufklärung, die historisch-kritische Exegese, das Offenbarungsverständnis.
Es eignet sich hervorragend als Grundlage
für den Dialog in Gemeinden und jüdischchristlich-islamischen Gesprächskreisen,
weil es ganz konkret von Texten in Bibel
und Koran ausgeht, diese miteinander vergleicht und über den Vergleich nachdenkt,
die Texte also verstehenswissenschaftlich –
hermeneutisch – reflektiert auslegt und miteinander ins Gespräch bringt. Ein wichtiges
Buch zur rechten Zeit!
Hubert Frankemölle
Vater im Glauben?
Abraham / Ibrahim in Tora, Neuem Testament
und Koran (Verlag Herder, Freiburg 2016,
520 S., 34,99 €)
226 Gesellschaft
Nr. 21 / 2016 BÜCHER CIG
Was ist das „Abendland“?
Wahrheit in Freiheit
T
oleranz. Angesichts der Flüchtlingsströme ein aktuelles Schlagwort. Intuitiv meint man, genau zu wissen, was damit
gemeint ist. Doch soll man seine Bedeutung
erklären, wird es schwierig, eine passende
Umschreibung zu finden.
Kardinal Karl Lehmann nähert sich dem
Begriff zunächst in historischer Betrachtung. Blitzlichtartig erhellt er Sichtweisen
verschiedener Personen sowie Phasen in
der Entwicklung des Toleranzverständnisses.
Dabei wird deutlich, dass es keineswegs immer mit positiven Vorstellungen verbunden
und ohne Widersprüche war. Augustinus
etwa bewertete tolerantia zwar einerseits als
fundamentale Grundtugend, die ein friedfertiges Leben der Gemeinde garantieren
soll, sah andererseits aber Zwangsbekehrung
als gerechtfertigt an. Thomas von Aquin
ging mit Ketzern ähnlich hart ins Gericht,
brachte jedoch neu den Gedanken des irrenden Gewissens ein, das zu respektieren ist.
Wer voller Überzeugung ist, etwas Gutes zu
tun, kann nicht sündigen. Nikolaus von Kues
schließlich sah in den vielen verschiedenen
religiösen Ausdrucksformen Entfaltungen
der einen wirklichen Wahrheit. Eine andere
kritische Dimension zeigt sich beispielsweise
bei Nietzsche, der Toleranz als ein Zeichen
der Schwäche des Geistes und des Charakters beurteilte, eine Unfähigkeit, sich für ein
klares Ja oder Nein zu entscheiden.
Das Ringen um die Religionsfreiheit war
ein sehr langer Weg. Die Problematik liegt
im Wahrheits- und Absolutheitsanspruch
des Christentums – und auch der anderen
monotheistischen Religionen. Wenn der eigene Glaube wahr ist, wie verhält man sich
dann gegenüber einem anderen, „falschen“
Glauben? Weder indifferente Gleichgültigkeit ist die Lösung noch die Verneinung der
Freiheit und Würde des anderen. Denn dies
bedeutete für Christen einen Widerspruch
zu den Evangelien. Als im Zweiten Vatikanischen Konzil anderen Religionen ein Licht
der Wahrheit zuerkannt wurde, ging man
auf dem Weg der Toleranz einen großen
Schritt nach vorne.
Der Toleranzdiskurs entzündete sich
zwar an der Frage der Religionsfreiheit,
mittlerweile aber hat er sich auch in den
gesellschaftlichen und politischen Raum
ausgeweitet. Toleranz steht auch hier im
Spannungsfeld von Wahrheit und (Gewissens-)Freiheit. Außerdem gibt es eine falsche „Toleranz, die zum Selbstmord führt“,
und zwar wenn sie Leuten entgegengebracht
wird, „die ihrerseits von Toleranz nichts halten“. Angesichts heutiger Bedrohung durch
fundamentalistische Strömungen, ist das
eine sehr wichtige Einschränkung.
Das Buch bietet keine konkreten Handlungsanweisungen für aktuelle gesellschaftspolitische Fragen. Dem Autor geht es um
eine „Grundsatz-Besinnung“, die dazu befähigen soll, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Lehmanns Ausführungen sind knapp
und dicht, mit vielen Hinweisen auf Literatur zur Vertiefung. Die Texte gehen auf drei
Gast-Vorlesungen und eine Seminarsitzung
an der Universität Düsseldorf zurück. Daher
verlangt das Buch einen sehr aufmerksamen
Leser.
Dorothea Röser
Karl Lehmann
Toleranz und Religionsfreiheit
Geschichte und Gegenwart in Europa (Verlag Herder, Freiburg 2015, 144 S., 19,99 €)
Entzaubert – verzaubert
D
er Mensch glaubt an Gott, weil es absurd, unvernünftig ist? Nein. Eher: weil
es plausibel, vernünftig ist. Und das mit den
Befunden der Naturwissenschaften. Solche
aus Kosmologie und Evolutionsbiologie
zählt der Heidelberger Theologe Norbert
Scholl auf, was über die Hälfte seines Buches
ausmacht. Er beschreibt, warum die Deutungen von Sein und Zeit trotzdem nicht die
letzten jener Fragen, die unserem Verstand
möglich sind, beantworten. Etwa: welcher
Anfang „vor“ dem Anfang lag und welchen
Raum und welche Zeit es in der physikalischen Singularität des „Nullpunkts“ ohne
Raum und ohne Zeit „gab“. Das sprengt jedwede Anschauung, ebenso wie die Theorie,
dass es niemals einen Anfang gab, weil alles
„ewig“ schon „da“ war und „da“ sein wird,
wenn auch nicht als Materie, nicht einmal als
Energie, sondern als …? Mit jeder Entzauberung beginnt die nächste Verzauberung des
grundlegend Mysteriösen. Das schließt die
Gottesahnung nicht aus, sondern nährt sie,
wie der Autor nahelegt. Bleibt uns schlussendlich doch nur übrig, in allem eine Art
„geistiges Prinzip“ anzunehmen? Woher
aber kommt dieses, was begründet „Gott“?
Schließlich: Was bedeutet das alles für
den christlichen Glauben? Darauf geht
Scholl im letzten Drittel ein, eher kursorisch
und selektiv, indem er auf die Begrenztheit
des hellenistisch inkulturierten und entspre-
chend philosophisch in Dogmen gefassten
Glaubens- und Gottes„wissens“ verweist.
Die Lehre von der Dreifaltigkeit / Dreieinigkeit könnte als kommunikative Dynamik
des Göttlichen transparent gemacht werden,
schlägt Scholl vor, wobei er jenseits der spekulativen Begrifflichkeit vom Gott(essohn)
Christus den Menschen(sohn) Jesus, die
Bedeutung der Inkarnation, betont.
Da liegen allerdings auch Grenzen. Die
Sicht auf den vorbildlichen Menschen und
Propheten Jesus produziert selber die Gefahr,
ihn auf eine sozial-moralische Gestalt zu verengen, ihn zu einem „Werte“-Protagonisten
zu stilisieren. Die Frage nach dem Ersten und
Letzten, dem Ewigen und dem Nichts, also
nach dem Göttlichen, geht als Glaubensfrage
darin jedoch nicht auf. Das wird in den Bemerkungen übers Beten deutlich, das über
die Plausibilitäten und Bedrängnisse des
Diesseits hinaus ausgreift. Das Jenseitige,
Transzendente lässt den denkenden, ahnenden Menschen nicht los. Das zeichnet das
Buch – trotz mancher „Schnelldurchgänge“ –
anregend nach.
Johannes Röser
Norbert Scholl
Glauben im Zweifel
Der moderne Mensch und Gott (Lambert
Schneider Verlag in der Wissenschaftlichen
Buchgesellschaft, Darmstadt 2016,
224 S., 19,95 €)
A
nlässlich der Verleihung des KarlJaspers-Preises 2015 bekannte Hans
Maier: „Ich hätte meine Wissenschafts- und
Lebensthemen wohl nicht in friedlichen und
ruhigen Zeiten gefunden.“ Tatsächlich war
der Weg des einstigen bayerischen Kultusministers und Präsidenten des Zentralkomitees
der deutschen Katholiken, der aus einfachen
Verhältnissen stammt, keineswegs vorgezeichnet. Vielmehr musste die Mutter den
Stipendiaten in der Freiburger Verwandtschaft sogar gegen den Verdacht verteidigen,
eine gescheiterte Existenz zu sein.
Dass es vor allem das „Katholische“ war,
das den Historiker und Politologen zeitlebens bewegte, sich mit einem durch den NSTotalitarismus geschärften Wertebewusstsein dem Spannungsverhältnis von Religion
und Gesellschaft zu widmen, davon gibt der
Band „Christentum und Gegenwart“, der
anlässlich Maiers 85. Geburtstags zusammengestellt wurde, auf beeindruckende
Weise Auskunft.
Ein Schwerpunkt des Buches gilt den
christlichen Wurzeln europäischer Identität – der Frage nach dem, was das Abendland konstituiert. Wurde dem führenden
katholischen Intellektuellen für diesen
Ansatz früher nicht selten Kritik und Ab-
lehnung entgegengebracht, inspirieren
seine Forschungen heute junge Muslime,
Möglichkeiten für einen europäischen Islam auszuloten. „Braucht Rom eine Regierung?“ Auch das fragt der einstige GuardiniLehrstuhlinhaber. Dem ältesten „Global
Player“ der Welt, der katholischen Kirche
und ihrer Zentrale im Vatikan, bescheinigt
Maier dabei ein Zurückbleiben hinter den
eigenen Möglichkeiten. „Man stelle sich ein
profanes Kabinett vor, in dem Abstimmung
und Koordination der freien Initiative der
einzelnen Ressorts unterliegen.“
Schließlich kommt auch der Künstler,
der den Gesang der Gemeinde jeden Sonntag als Organist begleitet, zu Wort: „Von
der Schönheit des Christentums“ lautet ein
Aufsatz. Darin zitiert der Autor ein Gedicht
von Gerald Manley Hopkins (1844–1889):
„Ehre sei Gott für gesprenkelte Dinge“. In
der Kunst, der gesprenkelten Schönheit des
Glaubens auf die Spur zu kommen, hat Hans
Maier es weit gebracht.
Thomas Brose
Hans Maier
Christentum und Gegenwart
Gesammelte Abhandlungen. Hg. von Ulrich
Ruh (Verlag Herder, Freiburg 2016,
488 S., 39,99 €)
Die Vernunft der Bibel
W
elchen Beitrag haben das Alte und das
Neue Testament geleistet, um Menschen aufzuklären? Mit dieser spannenden
Frage, deren Tragweite weit über das Biblische hinausgeht, befasst sich der Neutestamentler Gerhard Lohfink. Sein umfangreicher Band versammelt zwanzig Vorträge, die
er bei der Münchner Integrierten Gemeinde
gehalten hat. Der Verfasser will zeigen, dass
und wie der Glaube der christlich-jüdischen
Tradition die Vernunft sucht und braucht. So
geschieht etwa in den Schöpfungsgeschichten
des Alten Testaments Entmythologisierung –
und damit Aufklärung –, wenn die Gestirne,
die im Umfeld Israels als Götter angesehen
wurden, bloß funktionalistisch als „Lampen“,
als große Leuchte für die Sonne und kleine
Leuchte für den Mond, bezeichnet werden.
Andere Beiträge befassen sich mit der Kraft
des Christusglaubens der ersten Christen, den
sie als „Erleuchtung“ (Cyprian von Karthago)
beschrieben haben, ein Begriff, den die europäische Aufklärung übernommen hat.
Der Autor argumentiert historisch orientiert. Er erinnert an die Erkenntnisse von Bibelwissenschaft und Theologie, die angesichts
der Glaubenserosion im gesellschaftlichen
Bewusstsein verschwinden. Eine notwendige
wie klug aufbereitete Anregung – nicht nur
für christliche Leser.
Jürgen Springer
Gerhard Lohfink
Im Ringen um die Vernunft
Reden über Israel, die Kirche und die Europäische Aufklärung (Verlag Herder,
Freiburg 2016, 560 S., 29,99 €)
Keine Vergeltung
V
erzeihen und Vergeben sind konstituierende, bisweilen auch moralisch überhöhte Begriffe im Christentum. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler beleuchtet das Thema
im Kontext von Schuld angenehm sachlich.
Verzeihen sei zunächst nichts anderes als der
Verzicht auf Vergeltung. In ihren Augen ist
das dennoch eine Art menschliches Wunder.
Es sei nicht logisch, nicht gerecht und nicht
ökonomisch im Sinne eines Schuldausgleichs.
Unter welchen Bedingungen kann Verzeihen
geschehen? Heißt Verzeihen automatisch
auch Verstehen, Lieben, Vergessen?
Bei der differenzierten Beschäftigung
streift Flaßpöhler große Philosophen und
Schriftsteller wie Derrida, Nietzsche, Arendt
oder Dostojewski. Themen wie Schuld, freier
Wille oder das Böse werden behandelt. Die
Autorin driftet jedoch niemals in eine Fach-
diskussion ab. Dies liegt auch daran, dass sie
nicht nur vier Betroffene (ein Opfer, einen
Täter, zwei Holocaust-Überlebende) zu Wort
kommen lässt, sondern auch Einblicke in
ihren persönlichen Umgang mit Verzeihen
gewährt – Svenja Flaßpöhler wurde als Vierzehnjährige von ihrer Mutter verlassen. Das
Buch geht in feinen Nuancen einen eigenen
Weg – jenseits einer theologischen oder psychologischen Betrachtung. Eine wohltuendrationale, gleichzeitig menschlich-warme
Inspiration für einen individuellen Umgang
mit dem Verzeihen.
Elena Griepentrog
Svenja Flaßpöhler
Verzeihen
Vom Umgang mit Schuld (Deutsche
Verlags-Anstalt, München 2016,
223 S., 17,99 €)
CIG BÜCHER Nr. 21 / 2016
Jesusgeschichte 227
Der Ermittler und seine Bilder
Mit dem Schriftsteller Emanuelle
Carrère und seinem Lukas auf
Spurensuche nach dem Jesus aus
Fleisch und Blut.
Von Christian Heidrich
W
ir feiern Ostern, Christi Himmelfahrt
und Pfingsten, weil wir einer Nachricht vertrauen, die vor 2000 Jahren in einem eher obskuren Winkel des römischen
Imperiums ihren Ausgang nahm. Ist das
nicht verrückt, nicht staunenswert? Auch
Emmanuel Carrère, 1957 in Paris geboren,
erfolgreicher Schriftsteller, Drehbuchautor
und Filmproduzent, staunt – und ist entsetzt. Darüber hat er ein Buch geschrieben,
das ursprünglich „Lukas’ Ermittlung“ heißen sollte und schließlich den frommen
Titel „Das Reich Gottes“ erhielt. Beides
passt, auch wenn man sich von Carrères
Frömmigkeit nicht allzu viel versprechen
sollte. Anfang der neunziger Jahre hatte er,
wie er freimütig und vielleicht etwas zu ausführlich beschreibt, eine „christliche Phase“.
In dieser Zeit kommentierte er penibel alle
Verse des Johannesevangeliums, achtzehn
dicke Hefte habe er so vollgeschrieben.
Doch das ist aufgehobene Vergangenheit,
fast nicht mehr wahr. Seine heutige Selbstbeschreibung: „ein Ungläubiger. Ein Agnostiker – nicht mal gläubig genug, um Atheist
zu sein … Es geht mir ziemlich gut damit.“
Emmanuel Carrère ist ein mit allen Wassern der (post)modernen Schreibstrategien
gewaschener Intellektueller. Wer in seine
früheren Veröffentlichungen hineinschaut,
merkt schnell, dass seine Auseinandersetzungen mit fremden Schicksalen, mit
Mehrfachmördern, Tsunami-Opfern oder
russischen Skandalautoren letztlich immer
in eine Selbstbefragung münden. Welches
Ich spricht hier eigentlich?, fragt sich dann
der Leser. Was ist wahr, was erdacht? Hält
man ein Sachbuch oder einen Roman in
den Händen? Wer diesen Autor liest, muss
aufpassen, kann seine discretio, seinen Unterscheidungssinn, gut gebrauchen. Der
Lohn der Lektüren freilich ist ein außerordentlicher.
Jetzt widmet der „gelassene Agnostiker“
Hunderte von Seiten einer verblüffenden
Spurensuche, bei der Jesus und noch mehr
Paulus und der Evangelist Lukas die Haupt-
rolle spielen. Das weist darauf hin, dass
etwas von der christlichen Weltsicht, von
ihrer Energie, lebendig geblieben ist. Carrère ist das natürlich bewusst, auch wenn
er nicht sicher ist, wie seine Motive genau
zu bestimmen wären. Er möchte die Texte
des Neuen Testaments noch einmal genauer
anschauen, möchte den „zentralen, mysteriösen Fragen“ nachgehen. Etiketten à la „Romanautor“ oder „Historiker“ scheinen ihm
zweitrangig, am ehesten sagt ihm „Ermittler“ zu. Und ja, es ist eine Ermittlung, die
sich der ersten nachchristlichen Jahrzehnte
annimmt, der Jahre 50 bis 90, als noch niemand ahnen konnte, dass sie später nach
einem jüdischen Wanderprediger benannt
werden würden.
Die Eingangstür, die Carrère wählt, ist
Lukas, der Evangelist, der auch der Verfasser der Apostelgeschichte ist. Diese Wahl ist
erstaunlich, denn über den Menschen Lukas
wissen wir faktisch nichts. Davon ist zumindest die kritische Bibelwissenschaft überzeugt. Sie ist auch sehr skeptisch gegenüber
der kirchlichen Tradition, die den Evangelisten mit dem „Arzt Lukas“ (Kol 4,4) identifiziert, der bei Paulus als Einziger in dessen
römischer Haft ausharrt (2 Tim 4,11). Der
Schriftsteller Lukas lebte „in einer anderen“
Zeit, so lautet das exegetische Argument.
Zudem scheint er die Paulusbriefe nicht zu
kennen.
Wie eine Gemäldegalerie
Carrère, der „Ermittler“, hält dagegen
und beruft sich vor allem auf den mehrfachen Perspektivenwechsel in der Apostelgeschichte, auf die dort vorkommenden
„Wir“-Berichte. „Ich war dabei“, flüstert
Lukas seinen Lesern zu. Davon ist zumindest Carrère überzeugt, auch wenn er im
Laufe seiner Ausführungen immer wieder darauf hinweist, dass es ihm nicht um
Historisches im strengen Sinne des Wortes
geht, um Nachvollziehbares vielmehr, um
Plausibles. Und so ist sein Werk auch eine
lang gesponnene Erzählung, in der tatsächlich Nachvollziehbares geboten wird. Ein so
„fiktiver“ wie „möglicher“ Bericht, der auf
den Leser wie eine kostbare Gemäldegalerie
wirkt, deren Bilder von all dem träumen,
was die Bibelwissenschaftler aussparen müssen, weil ihnen die Quellen fehlen. Carrère
muss sich um Belegbares nicht kümmern. Er
vertieft sich in die Schriften des Lukas und
in die Paulusbriefe, punktet gleichzeitig mit
schriftstellerischer Phantasie und Eleganz.
Lukas, der Evangelist mit dem besten
Griechisch, könnte Paulus, so der Ermittlungsansatz, im Hafen von Troas begegnet
sein. Er ist einer jener „gottesfürchtigen
Heiden“, die von dem jüdischen Glauben
und seiner Ethik angezogen waren, für die
ein Synagogenbesuch nichts Ungewöhnliches darstellte. In der Synagoge hört er die
Predigt des durchreisenden Paulus von dem
gekreuzigten Messias, von dem Erlöser am
Kreuz. Für die meisten Juden ist das ein
schrecklicher, ein blasphemischer Gedanke,
nicht aber für den frommen Heiden Lukas,
der sich mit der Botschaft des Mannes aus
Tarsus anzufreunden vermag, zugleich mit
dem Mann selbst. Vielleicht kommt ihm
zupass – und das ist eines der zahllosen
„Vielleicht“ in diesem Buch –, dass er Arzt
ist und sich um einen „fiebergeschüttelten
und schmerzgepeinigten“ Paulus zu kümmern hat? Wie auch immer: Lukas, so Carrère, folgt von nun an Paulus’ Spuren, wird
zu seinem zeitweiligen Begleiter und ist
schließlich auch in Jerusalem dabei, als der
Völkerapostel eine Kollekte seiner Gemeinden an die „Mutterkirche“ abliefert und
sich zugleich bemüht, von Jakobus, dem
„Herrenbruder“, und anderen Urgesteinen
ein Einverständnis für seine „gesetzesfreie“
Heidenmission zu erlangen. Für Paulus endet die Geschichte in einem Desaster. Er
wird aus zwielichtigen Gründen verhaftet,
schließlich nach Rom überstellt, wo sich
seine Spur verliert.
Für Lukas aber beginnt, so Carrères
grandioser Einfall, eine „Ermittlung“ ganz
eigener Art. Hatte er bisher nur den „paulinischen Christus“ kennengelernt, einen
Christus, der als himmlischer Erlöser
verkündigt wird, aber als ein Mensch aus
Fleisch und Blut kaum greifbar ist, so macht
er sich jetzt auf die Suche nach dem historischen Jesus. Er befragt die noch lebenden
Zeitzeugen, ist begierig, von Worten und
Taten des Nazareners zu hören, die ersten
Quellen zu sichten. Das letzte Abendmahl
zum Beispiel. Wo hat es überhaupt stattgefunden? Bisher, so phantasiert Carrère, habe
sich Lukas den Ort als eine Art Olymp zwischen Himmel und Erde vorgestellt. Hier, in
Jerusalem, wird ihm plötzlich bewusst, dass
es „fünfundzwanzig Jahre zuvor in einem
wirklichen Raum eines wirklichen Hauses
und im Beisein von wirklichen Menschen“
stattgefunden hatte. Das klingt banal, ist
auch banal, und doch könnten solche Gedanken der Antrieb gewesen sein nachzuschauen, wie es „wirklich“ gewesen ist. Wer
das auffällige „Vorwort“ des Lukasevangeliums liest, wird genau darauf verwiesen.
Nun ist Carrère alles andere als naiv. Er hat
sich in die exegetische Literatur eingearbeitet, fragt beispielsweise nach dem Ursprung
des lukanischen „Sonderguts“, nach den
Stücken also, die nur im Lukasevangelium
zu finden sind. Das „Magnificat“ gehört
dazu, das Gleichnis vom verlorenen Sohn,
die Zachäus-Erzählung und andere ausgesprochen liebenswürdige Verse. Aus dem
„Gewirr von Hypothesen“ scheint Carrère
die Aussage, Lukas „hat es frei erfunden“,
am wahrscheinlichsten. Das mag sich, so
der Autor, wie ein „Sakrileg“ anhören, aber
als Schriftsteller schaue er genau auf das
Handwerk eines Schreibenden, und dass
Lukas „viel erfunden hat, scheint mir auf
der Hand zu liegen“.
Kleine Wunder
Nein, nach vielen Seiten einer unterhaltsamen und geistreichen Erzählung aus dem
urchristlichen Milieu, nach kapitalen Seitenblicken auf Nero oder Seneca, entlässt
uns Emmanuel Carrère nicht mit seinen
nüchternen Erkenntnissen zur „Quellenkritik“. Er ist zwar „nicht länger Christ“,
das heißt aber nicht, dass ihn die christliche „Umwertung aller Werte“ in Ruhe lässt,
dass sie ihm gleichgültig ist. Da wäre zum
Beispiel diese Fußwaschung, von der nur
im Johannesevangelium die Rede ist. Liegt
hier nicht ein „Sakrament“ vor, eine „Glückseligkeit“? Und so endet das Buch mit einer Einkehrzeit in einer der von Jean Vanier begründeten Arche-Gemeinschaften.
Mit etwa vierzig Personen, zu denen auch
Schwerbehinderte gehören, nimmt Carrère
an einer Zeremonie der Fußwaschung teil.
„Das ist das Christentum, sage ich mir.“
Es ist eines der kleinen Wunder dieses so
reichen Buches, dass auch diese Szene den
Leser nachdenklich macht.
Emmanuel Carrère
Das Reich Gottes
Aus dem Französischen von Claudia Hamm
(Matthes & Seitz, Berlin 2016,
524 S., 24,90 €)
Zum »Jahr der Barmherzigkeit«
Habt Mut!
Jetzt die Welt
und die Kirche verändern
geb. m. SU, ISBN 978-3-7022-3508-6
144 Seiten, € 14.95
N
EU
Soeben erschienen – und gleich
»Religiöses Buch des Monats«
Erwin Kräutler /
Josef Bruckmoser
Raniero Cantalamessa
DAS ANTLITZ DER BARMHERZIGKEIT
Erwin Kräutler benennt sieben
Kategorien für ein Leben, das
vor dem eigenen Gewissen und
vor der Mitwelt bestehen kann.
In seinem Plädoyer stützt er
sich auf die Bibel, auf seine
Erfahrung als Seelsorger
in Amazonien und auf
Papst Franziskus.
P. Cantalamessa, offizieller Prediger des Päpstlichen
Hauses, lotet in diesem ebenso berührenden wie qualifizierten, biblisch fundierten Buch aus, was Barmherzigkeit bedeutet – für den Einzelnen und die Kirche.
192 S., geb., ISBN 978-3-7346-1079-0, EUR (D) 19,95
In jeder guten Buchhandlung oder direkt bei:
www.tyrolia-verlag.at
VERLAG NEUE STADT
Münchener Str. 2, D-85667 Oberpframmern, Tel. 08093 2091
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228 Kirchengeschichte
Nr. 21 / 2016 BÜCHER CIG
Da der „Ketzer“, dort der „Antichrist“
Annäherungen an Luthers Reformation: wie beiderseitige Ängste
und Feindbilder eine
Verständigung blockierten.
D
er Unterschied zwischen einem Heiligen und einem Ketzer ist nur ein gradueller, vor allem aber ist er eine Frage der
Perspektive. So banal diese Einsicht klingt,
so sehr setzt sie doch den notwendigen
Abstand zu der im Zentrum des Interesses
stehenden Person voraus. Die sogenannte
Luther-Dekade, die sich ihrem Höhe- und
Endpunkt im Herbst 2017 nähert, macht
einen objektiven Abstand zum Reformator
aus Wittenberg sicherlich nicht leichter. Um
so erfreulicher ist es, dass Volker Reinhardts
Buch „Luther, der Ketzer“ sich als „gleichberechtigte Simultanerzählung“ versteht,
in der Wahrnehmungen und Argumente
gegenübergestellt und nicht gegeneinander
aufgerechnet werden.
Dieser Versuch, ein und dasselbe Ereignis – die Reformation – von beiden Standpunkten aus zu betrachten, ist geglückt. Das
Ergebnis ernüchtert indes: Denn nach über
300 Seiten eines spannend erzählten Lebens
in unruhigen Zeiten hat sich die Erkenntnis
Bahn gebrochen, dass es seit dem ominösen Thesenanschlag im Herbst 1517 niemals
wirklich eine Chance auf Versöhnung zwischen zwei Positionen gab, die sich gegenseitig verteufelten. Der Teufel ist allgegenwärtig in Luthers Erwiderungen auf alles,
was aus Rom kam und in Wittenberger Per-
spektive als Werk des „Antichrist“ galt. Aber
auch die Kurie und manche ihrer Legaten
bemühten den Fürsten der Finsternis, um
ihr Luther-Bild zu illustrieren. Interessant
dabei, dass gelegentlich von „den Lutheranern und ihrem Mahommed“ die Rede war
und die sich neu formierende Glaubensgemeinschaft als „Synagoge“ bezeichnet
wurde. Reinhardt zeigt überzeugend, wie
die Entfremdung zwischen „Rom“ und den
Anhängern der neuen Lehre auf der Unfähigkeit beruhte, mit dem Fremden umzugehen, das eben schlechterdings nur „vom
Teufel“ kommen konnte.
In der Wahrnehmung des jeweils Fremden überlagerten sich indes vom Anbeginn
des Konflikts an zwei völlig verschiedene
Ebenen. Ja sie vermischten sich: hier die
theologische Auseinandersetzung um die
Willensfreiheit, die Luther aus einem tiefen anthropologischen Pessimismus heraus
bestritt – dort die „nationalen“ Stereotypen
vom geschliffenen italienischen Humanisten einerseits und dem schlichten Mönch
aus dem unzivilisierten Germanien andererseits, der kaum des Lateinischen mächtig war. Dabei wird aus Volker Reinhardts
Darstellung deutlich, wie die lutherische
Seite ganz bewusst das Bild des einfachen,
aber authentischen Mannes gegenüber der
triumphierenden und mit allen Wassern gewaschenen römischen Kirche bediente und
die Klaviatur der „Öffentlichkeitsarbeit“ bestens beherrschte.
Vor diesem Hintergrund erscheint ein
Mann wie Gasparo Contarini wie eine tra-
Das Lesebuch
zum Katholikentag
gische Gestalt: Der Gesandte, den Papst
Paul III. für die Regensburger Religionsgespräche ausgewählt hatte, stand den spirituali nahe, einer italienischen Reformbewegung, die mit Luthers Theologie viel
gemeinsam hatte – außer der Verneinung
des freien Willens, auf der Luther allerdings
ebenso starr beharrte, wie Rom auf dem Primat des Papstes bestand. So musste Contarinis Mission scheitern, weil beide Positionen
plötzlich zum Kernbestand der jeweiligen
Theologie erklärt wurden, was sie keinesfalls waren und sind. Nicht nur an diesem
Beispiel zeigt sich, wie erhellend Reinhardts
Bestreben ist, „zu beobachten, wie auf beiden Seiten Ängste und Heilserwartungen,
Loyalitäten und Feindbilder, politische und
gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen,
Denkstile und Glaubensweisen zu der subjektiven Überzeugung führen, objektiv auf
der richtigen Seite zu stehen.“
Anders nähert sich Ulrich Köpf dem
Reformator und seiner Zeit. Der Verfasser
orientiert sich vornehmlich an den theologischen Positionen und bringt grundsätzliche
Fragen der Forschung zur Sprache, etwa diejenige, ob Luther eher als Mensch des Mittelalters oder der anbrechenden Neuzeit zu
bewerten sei. Köpfs Studie ist eng an der
Biografie Luthers ausgerichtet, aber trotz
seines Bestrebens, den Reformator „vor
dem Hintergrund seiner Zeit“ zu betrachten, kommen gegenüber den theologischen
und theologiegeschichtlichen Aspekten die
politischen und kulturgeschichtlichen Parameter der frühen Neuzeit zu kurz.
Mit besonderem Gewinn liest man indes die beiden Kapitel über Luthers Verhältnis zu den Juden, das als eine Geschichte
der enttäuschten Hoffnungen erzählt
wird. Wenn Köpf allerdings manche holzschnittartige Äußerung des Wittenbergers
mit dem „grobianischen Stil seiner Zeit“ erklärt, möchte man die ironisch-geschliffene
Rede eines Erasmus von Rotterdam ebenso
dagegenhalten wie die feinsinnigen Differenzierungen eines Contarini. Dass Köpf
gelegentlich von „Martin“ spricht und all
die, welche dessen Überzeugungen nicht
teilen, als die „Altgläubigen“ bezeichnet,
lässt bisweilen die notwendige Distanz
vermissen. Diese ist indes umso notwendiger, als hinter dem theologischen Streit
um Sakramente, päpstlichen Primat und
freien Willen eben ein kultureller und national aufgeladener Konflikt steht, der Luther durchaus bekannt war. In einer seiner
späten Tischreden äußerte er selbstbewusst:
„Ich bin der neue Arminius, der Deutschland von der neuen Tyrannei Roms befreit
und Rom verwüstet.“ Clemens Klünemann
Volker Reinhardt
Luther, der Ketzer
Rom und die Reformation (Verlag
C. H. Beck, München 2016, 352 S.
mit 24 Abb., 24,95 €)
Ulrich Köpf
Martin Luther
Der Reformator und sein Werk (Reclam
Verlag, Ditzingen 2015, 254 S., 22,95 €)
Ein angesehener
Islamexperte erzählt
Paul Hinder ist bekannt als
der »Bischof von Arabien«. In Abu
Dhabi, seinem Bischofssitz, hat er
Erfahrungen gemacht, die Antworten
geben auf die Frage, wie der Dialog
mit dem Islam gelingen kann. Hinder
schildert die Situation der Christen
am Golf und beschönigt nicht,
sondern liefert ehrliche Einblicke
in eine Welt, die für Christen nicht
immer einfach ist. AuthentischAnzeige Herder
erzählt und spannend geschrieben.
In Magazinform und in attraktiver
Gestaltung, leichtfüßig, luftig,
journalistisch, mit verschiedenen
Blickwinkeln, bietet das Buch Wünsche von Prominenten, Geschichten rund um die Katholikentage,
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Bibel / Philosophie 229
CIG BÜCHER Nr. 21 / 2016
Der erste Paulusbrief
D
er erste Thessalonicherbrief wird heute
gewöhnlich als die älteste Schrift des
Neuen Testaments angesehen. Da er bald
nach der Gründung der Gemeinde von
Thessaloniki entstand, lässt sich an ihm
besonders gut ablesen, welche Fragen und
Probleme eine junge Christengemeinde in
einer hellenistischen Großstadt umtreiben
konnten. Außerdem sind Rückschlüsse auf
die Erstverkündigung des Paulus möglich.
Rudolf Hoppes Kommentar, Frucht einer
mehr als zwanzig Jahre währenden Beschäftigung mit dieser Schrift, legt besonderes
Augenmerk auf diese beiden Fragerichtungen. Vor dem erklärenden Durchgang
durch den Text werden, der Gattung eines
exegetischen Kommentars entsprechend,
die historischen Entstehungsbedingungen
sowie die literarischen und theologischen
Merkmale besprochen. Im Hinblick auf
Abfassungsort und Abfassungszeit folgt
der Autor mit gutem Grund der verbreiteten Einschätzung, Paulus habe den Brief im
Jahr 50 in Korinth geschrieben. Diese geschichtliche Verortung wird erhellend eingebettet in übergreifende Zusammenhänge:
in den Weg der Christusbotschaft in die hellenistische Welt; in die Besonderheiten des
antiken Thessaloniki (Geschichte, soziale
Struktur, überaus vielfältiges religiöses Leben); in die Gegebenheiten des missionarischen Wirkens des Paulus, zu deren Rekonstruktion mit der Apostelgeschichte eine
zweite, kritisch auszuwertende Quelle vorliegt. In Absetzung von deren Darstellung
(Apg 17,1–10) sieht Hoppe die Adressatenschaft des paulinischen Wirkens vor Ort
wie auch des Briefes nicht jüdisch geprägt.
Die neue Existenz in Christus führte für
die Glaubenden in Thessaloniki zur Erfahrung der Ausgrenzung, und zwar im Hinblick auf ihre heidnische Mitwelt. So muss
Paulus „die Frage nach dem ,Gewinn‘ des
Evangeliums gegenüber ihren bisherigen
Lebenskonzepten“ im Brief bearbeiten. Als
thematische Schwerpunkte erkennt Hoppe
die Danksagung für den Glaubensweg der
Adressaten, die Beziehung zwischen Paulus
und Gemeinde sowie die Darlegung einer
neuen Ethik – nachdrücklich eingeschärft
durch die Betonung der baldigen Wiederkunft Christi.
Die Kommentierung folgt nach der
Übersetzung einem bewährten Dreischritt.
Die Analyse ordnet den jeweiligen Abschnitt in den Zusammenhang ein, erfasst
die sprachliche Struktur und kann – je nach
gegebenem Text – weitere Fragen verfolgen
wie die nach der Verwendung von geprägten Gattungen oder vorgegebenen Überlieferungen. Die Einzelauslegung – also die
Erklärung des Textes an dessen einzelnen
Aussagen entlang – wird eingehend und
gründlich durchgeführt. Hoppe hat dabei,
wie für einen exegetischen Kommentar
nicht anders möglich, den griechischen Text
im Blick, bietet aber in den meisten Fällen
selbst zu einzelnen Begriffen die deutsche
Übersetzung. Leser ohne Griechischkenntnisse werden das Werk nicht unbedingt
mühelos, aber ebenso wie die Fachleute mit
Gewinn lesen. Dazu trägt auch der dritte
Schritt der Kommentierung bei, der als Zusammenfassung die wesentlichen Aspekte
eines Abschnitts bündelt und gegebenenfalls
dessen bleibende Aktualität oder Problematik diskutiert. Hoppe scheut sich nicht, auch
Grenzen eines Textes zu benennen (etwa zu
der schwierigen Passage 2,14–16).
Sein Kommentar ist ein zuverlässiger
Wegführer in den ersten Thessalonicherbrief und damit zugleich in die Frühphase
der selbstständigen Mission des Paulus. Wer
Freude hat an klarer Sprache, an sorgfältiger Argumentation und an einem soliden
exegetischen Urteil, wird Freude an diesem
Kommentar haben.
Gerd Häfner
Rudolf Hoppe
Der erste Thessalonikerbrief
Kommentar (Verlag Herder, Freiburg 2016,
365 S., 39,99 €)
Mosebilder
D
er Judaist Günter Stemberger hat sich
in seinen Werken seit langem mit der
rabbinischen Literatur befasst. Der vorliegende Band beschreibt Mose, die bedeutendste Gestalt des Alten Testaments, in der
Diskussion der Rabbinen (70–1000 n. Chr.)
über eine lange Entwicklungsgeschichte.
Dass die jüdischen Lehrer nicht historischkritisch fragen, ist selbstverständlich,
ebenso, dass manche ihrer Aussagen eher
nur den Spezialisten interessieren. Aber ihre
Beobachtungen und Überlegungen sind für
ein lebendiges Mosebild aufschlussreich.
Gleichzeitig sind sie eine gute Einführung
in die Art, wie die Rabbinen Texte verstehen
und auslegen.
Zum Beispiel entdecken die Rabbinen an
Mose Seiten, die von ihrer geschichtlichen
Situation, von ihren Nöten und Hoffnungen, oft auch vom individuellen Temperament und von den religiösen Problemen
der jeweiligen Zeit bestimmt sind – wie
übrigens auch die Bücher des Alten Testaments schon unterschiedliche Mosebilder
kennen. Bei den Rabbinen erscheint Mose
als Retterkind, Priester, Gottes Gesandter,
Prophet, Autor der Tora, Führer des Volkes
Israel, Schüler Gottes, Mittler zu Gott oder
Lehrer.
Besonders geglückt ist die Gliederung des Buches. Da stellt Stemberger in
sechs Abschnitten die unterschiedlichen,
manchmal widersprüchlichen Überlegungen der Rabbinen vor, analysiert und
interpretiert sie: (1) Geburt, Kindheit
und Jugend, (2) Der Auszug / Exodus aus
Ägypten, (3) Die Offenbarung der Tora,
(4) Der Führer seines Volkes, (5) Tod,
Himmelfahrt und Grab des Mose, (6) Moshe Rabbenu, das heißt Mose der Lehrer
und seine Nachfolge. Für christliche Leser
ist der ergiebige Vergleich zwischen Mose
und Jesus wichtig. Er zeigt von Neuem, wie
tief die Jesusüberlieferung in der jüdischen
Tradition verankert ist. Werner Trutwin
Günter Stemberger
Mose in der rabbinischen Tradition
(Verlag Herder, Freiburg 2016,
250 S., 29,99 €)
Keine Landnahme, wohl aber David?
G
eschichte ist Konstruktion. Das gilt
auch für die Geschichte Israels. Der
Bochumer Alttestamentler Christian Frevel
zitiert den Orientalisten Julius Wellhausen,
der bereits im 19. Jahrhundert die deutende
Perspektive als Differenz zwischen „Wirklichkeit“ und „Geschichte“ ausgemacht hat.
Gleichwohl muss um diese Einsicht mitunter
bis heute gerungen werden. Abgesehen von
fundamentalistischen Kreisen entzünden
sich auch innerhalb der akademischen Disziplin „Geschichte Israels“ immer wieder Konflikte. Gegenwärtig, so der Autor, trete diese
Disziplin in eine neue Phase ein, die dadurch
gekennzeichnet sei, dass die übliche Skepsis
gegenüber einer Rekonstruktion der Geschichte Israels einem größeren Vertrauen
in das historische Quellenmaterial weicht.
Während der italienische Historiker des
Alten Orients Mario Liverani noch unterscheidet zwischen der „normalen“ und der
„erfundenen“ Geschichte Israels, bietet Frevel eine die Fülle jüngster Untersuchungen
berücksichtigende Zusammenschau und
diskutiert die biblische Darstellung auf der
Grundlage literarischer, ikonografischer und
vor allem archäologischer Daten. Zu Beginn
eines jeden Kapitels wird die einschlägige
Literatur angeführt; im Anhang findet man
neben illustrierendem Kartenmaterial unter
anderem ein Glossar ausgewählter Fachbegriffe. Dennoch verlangt die Lektüre dem
Lesenden einiges ab. Mit den erwähnten
Disziplinen und deren jeweiligem Gegenstand sollte man einigermaßen vertraut sein,
um die Studie mit Gewinn zu lesen.
Am Anfang stellt sich die Frage, wann
man, historisch gesehen, den Beginn der Geschichte Israels ansetzen darf. Die Kontroverse ist ausgespannt zwischen der Position
von „Maximalisten“, die noch die Auskünfte
über die biblischen Erzeltern auf vermutete
mündliche Überlieferungen aus der erzählten Zeit zurückführen wollen, und „Minimalisten“, die biblische Texte nur dann in
die Geschichtsrekonstruktion einbeziehen,
wenn sie mit außerbiblischen Befunden in
Deckung gebracht werden können. Einigkeit, so Frevel, bestehe darin, dass eine kritische Rekonstruktion des antiken Israel nicht
im Nacherzählen der biblischen Geschichte
bestehen kann, weil „Heilsgeschichte“ ihrerseits nicht in historischen Daten aufgeht. Die
Darstellung folgt der biblischen Erzählung
und stellt diese in den Rahmen der archäologischen Chronologie, beginnend mit der
Kupfersteinzeit, bis hin zur späten Eisenzeit
und der sich daran anschließenden altorientalischen und antiken Geschichtsschreibung
von der Perser- bis zur Römerzeit.
Während im Kontext von Exodus und
Landnahme kaum ein kritischer Bibelwissenschaftler noch von Historizität ausgeht,
sondern die Geschichten in einen Zusammenhang mit der spätbronzezeitlichen
Stadtkultur und der damit verbundenen
Reorganisation der Bevölkerungsstruktur
stellt, präsentiert sich die Sicht vom Beginn
der Staatlichkeit und dem frühen Königtum
Israels kontroverser. Auch wenn die 1993
entdeckte aramäische Inschrift auf der sogenannten Dan-Stele die von manchen in
Zweifel gezogene historische Existenz König
Davids stützt, muss man die Größe des davidischen Reiches ebenso infrage stellen wie
den Glanz der salomonischen Herrschaft.
Überraschend dürfte für manche der Befund
der Forschung sein, dass es eine Teilung des
Reiches nach Salomo, also einen Abfall des
Nordreiches Israel vom Südreich Juda, nicht
gegeben haben dürfte. Beide sind wahrscheinlich unabhängig voneinander entstanden und sollten über die Erzählung von der
„Reichsteilung“ mit den Überlieferungen von
David und Salomo verknüpft werden.
Frevels Gang durch die Geschichte Israels bleibt spannend und erhellend bis zur
Zeitenwende und zur Neuformierung des
Judentums nach der Zerstörung Jerusalems
und des Tempels durch Titus im Gefolge der
jüdischen Aufstände gegen die römische Besatzung. Es ist, um es mit Liverani zu sagen,
die „normale“ Geschichte der südlichen
Levante, aus deren Material die Verfasser
der biblischen Texte eine neue Geschichte
gewoben haben, mit der sie ihre Identität,
den Sinn und das Ziel ihrer historischen
Existenz festzuschreiben suchten. Es liegt
am Leser und vor allem am glaubenden
Menschen, leben, denken und glauben zu
lernen im Spannungsfeld zwischen der Welt
und ihren Deutungen. Andrea Pichlmeier
Christian Frevel
Geschichte Israels
Reihe: Kohlhammer Studienbücher
Theologie (W. Kohlhammer, Stuttgart 2016,
445 S., 35 €)
Homo mathematicus?
W
as unterscheidet das Gottesvolk
vom Rest der Menschheit?“ Dieser
Frage geht der Publizist Adam Deutsch
philosophisch-anthropologisch nach. Im
technischen Fortschritt der Moderne sieht
der Autor das Ziel menschlicher Selbstverwirklichung in völliger Autonomie erreicht.
Zur neuen Sprache der Menschen ist die
Mathematik geworden. Über alle Religionen, über alle Differenzen hinweg „spinnt
die mathematische Sprache das kommunikative, ‚digitale‘ Netz der Globalisierung“.
Dieser Homo mathematicus kann mithilfe der Mathematik auch Dinge erkennen,
die er mit seinen Sinnen nicht wahrnehmen
kann. Es gelingt ihm sogar, seine Wirklichkeit selbst zu konstruieren. Diesem Wissen
steht der Glaube der Angehörigen des Gottesvolks entgegen. In der Gegenwart Gottes
zu leben, begrenzt ihr Recht zum Selbstsein. Sie sind auf „das Andere“ angewiesen.
In diesem „Gottesgehorsam“ liegt für die
Menschen aber auch Freiheit: Das Gottesvolk ist unabhängig von jeder weltlichen
Macht. Ungewöhnlich ist die Gliederung
mit fünfhundert Paragraphen, die – was das
Nachvollziehen der Argumente erschwert –
stellenweise leider sehr ruppig aufeinanderfolgen.
Amelie Tautor
Adam Deutsch
Das Gottesvolk
Eine philosophische Anthropologie (Matthes &
Seitz, Berlin 2016, 260 S., 29,90 €)
230 Kirche / Spiritualität
Nr. 21 / 2016 BÜCHER CIG
Wegweisungen Banaler Glaube?
Weltgebet Vaterunser
es wirklich noch Bücher darüs gibt viele Interpretationen des Va- dungen her zwischen den christlichen Kondes Frère Roger B raucht
ber, dass die Kirchen nach wie vor mit E terunser aus den verschiedensten fessionen – und zieht Linien bis zu den Welter erste Band einer auf vermutlich zehn der Moderne fremdeln? Erinnert sei zum Traditionen, Epochen und Perspektiven, religionen und dem säkularen Denken, ohne
D
Bände angelegten Reihe mit Texten
von Frère Roger, dem Gründer der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé, versammelt
Schriften von 1941 bis 2001, die sich mit dem
Leben der Brüder als einem „Gleichnis der
Gemeinschaft“ befassen. Als Erstes begegnet
dabei dem Leser die letzte, 2001 redigierte
Fassung der „Quellen von Taizé“, wie Frère
Roger bezeichnend die Wegweisungen, herkömmlicherweise Ordensregel genannt, betitelte. Im weiteren Verlauf erfährt man durch
die erstmalige Zusammenstellung von Texten
unterschiedlichen Charakters (dokumentiert
sind früheste Überlegungen von 1941, die
Gelübdeablegung, die „Regel“ in den fünfziger Jahren, weitere geistliche und theologische Reflexionen aus den sechziger und siebziger Jahren), wie Frère Roger im Lauf seines
Lebens immer wieder neu darum gerungen
hat, das Wesentliche für ein gemeinsames
Leben zum Ausdruck zu bringen.
Dabei wird auf faszinierende Weise deutlich, wie der Prior einerseits von Anfang an
eine klare Grundintuition hatte, der er bis
zuletzt treu blieb, und wie er andererseits zugleich seine Brüder davor bewahren wollte,
in einem „geregelten Leben“ zu erstarren.
Deshalb unternahm er immer wieder neue
Anläufe und suchte stets neue Formulierungen, um unter veränderten Zeitumständen
verständlich zu bleiben. Frisch und originell
liest sich Frère Rogers Sprache, die auf unnachahmliche Weise biblisches Fundament,
nüchterne Lebensweisheit und geistliche
Poesie miteinander verbindet. Wohltuend
und hilfreich empfindet man dabei die neue
Übersetzung.
Jakob Paula
Frère Roger
Die Grundlagen der Communauté
von Taizé
Gesammelte Schriften von Frère Roger,
Bd. 1 (Verlag Herder, Freiburg 2016,
174 S., 15 €)
Beispiel an den Konflikt von Hans Küng mit
der Kirchenleitung über sein Buch „Credo“
Mitte der siebziger Jahre. Wer heute noch in
diese Kerbe hauen willen, muss dem Thema
etwas grundlegend Neues abgewinnen.
Martin Urban versucht dies. Der Physiker und frühere Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ hat zwar Sympathien für das
Christentum, stammt er doch aus einer evangelischen Theologenfamilie. Aber gerade seiner Konfession in ihrer aktuellen Verfassung
kann der Autor nichts Positives abgewinnen.
Aus der Kirche der Freiheit habe man eine
„Kirche der Feiglinge“ gemacht. Sie sei eine
„dahinsiechende Organisation“. Fundamentalistische Strömungen seien auf dem Vormarsch. Der Hauptkritikpunkt lautet: Die
Kirchen nehmen zu wenig die Erkenntnisse
der Naturwissenschaften wahr. Stattdessen
werde der Glaube banalisiert.
Bei allem Richtigen, was Urban aufzählt:
Die Lektüre lässt den Leser doch einigermaßen ratlos zurück. Das Ganze ist eine wortgewaltige – und deshalb auf weite Strecken
auch gut zu lesende – Abrechnung. Doch
neu ist das alles nicht. Auch Lösungsansätze
bietet das Buch keine. Er wolle mit dem Buch
ein großes „So nicht“ formulieren, sagt der
Autor: „So kann man das heute nicht mehr
sagen. Das Wie dann? zu klären, wäre Sache
der Kirche. Aber dazu müsste sie wieder disputfähig werden.“ Das ist ein bisschen dünn.
Hinzu kommt der undifferenzierte Blick des
Naturwissenschaftlers auf seine eigene Disziplin. Auf die Zeitbedingtheit hinzuweisen,
aus der auch diese Sicht auf die Welt lebt,
wäre 500 Jahre nach der Reformation das
Mindeste gewesen.
Stephan Langer
Martin Urban
Ach Gott, die Kirche!
Protestantischer Fundamentalismus und
500 Jahre Reformation (dtv Verlagsgesellschaft, München 2016, 270 S., 14,90 €)
von Kirchenvätern wie Reformatoren, von
Mystikern, Religionsphilosophen, Psychologen, Historikern und vielen anderen. Den
Versuch, diese „Kurzformel“ christlichen
Glaubens vor dem Horizont nichtchristlicher Religionen und säkularen Denkens
zu interpretieren, gab es laut Hans-Martin
Barth bisher noch nicht.
Der Autor unternimmt dieses „Wagnis“
nicht ohne Bedenken. Entlang der acht Vaterunser-Bitten geht er deren je eigener Problematik nach, sucht nach entsprechenden
wie auch gegenläufigen Vorstellungen in anderen Religionen und säkularen Auffassungen, versucht, Anschlussmöglichkeiten aufzuzeigen. Das gelingt Barth, in persönlicher,
existenzieller wie auch wissenschaftlicher,
theologischer Auseinandersetzung mit dem
Gebet. Ausgehend von der eigenen religiösen
Heimat stellt er über das Vaterunser Verbin-
den je eigenen Standpunkt aufzugeben. So
betrachtet er zum Beispiel die erste Sure des
Koran, manches jüdische Gebet oder hinduistische und buddhistische Texte konsequent
aus der Perspektive des Christen. Umgekehrt
ist es ihm ein Anliegen, das Vaterunser als
Inspirationsquelle ebenso für Angehörige
anderer Religionen wie für Nichtreligiöse zu
deuten und als Einladung an alle zu richten.
Wenn dies in der gegenseitigen Achtung des
je Fremden geschieht, kann das Vaterunser
tatsächlich ein nicht nur die Weltchristenheit,
sondern sogar die Menschheit weltumspannendes Gebet sein.
Christina Herzog
Hans-Martin Barth
Das Vaterunser
Inspiration zwischen Religionen und
säkularer Welt (Gütersloher Verlagshaus,
Gütersloh 2016, 222 S., 19,99 €)
Das ungekämmte Leben
W
ie lässt sich das Vertrauen auf Gott
angesichts einer heillosen Welt begründen und als Lebensgrundlage für Einzelne und die Gemeinschaft durchhalten?
Zu dieser Grundfrage des Glaubens legt der
Schriftsteller und Theologe Ulrich Knellwolf
eine Fülle theologisch begründeter und origineller Reflexionen in einer lebendigen und
zupackenden Sprache vor. Sie sind in vierzig
Jahren gewachsen und geordnet vom Leitgedanken der Rechtfertigung her: der Rechtfertigung Gottes (angesichts des Leids), der
Rechtfertigung des Menschen und der christlichen Gemeindeversammlung, der Kirche.
Ihren Ausgang nehmen die Überlegungen vornehmlich bei der biblischen Theologie und der Literatur: Hamann, Hebel, Gotthelf, Swift – um nur einige Gewährsleute zu
nennen. Der Autor bevorzugt dabei das
ungekämmte Leben gegen die reine Lehre,
das „Stückwerk“ des Erzählens gegen das
geschlossene System, das Abenteuer gegen
die Beamtenmentalität, Markus und Petrus
gegen Paulus, den Protest Jesu am Kreuz gegen den präexistenten Gottessohn, die offene
Zukunft gegen den geschlossenen Kosmos.
Die Ernte eines langen theologischen Lebens lässt sich nicht in wenigen Sätzen würdigen. Man kann aber in Aussicht stellen, dass
theologisch interessierte Leser das Buch mit
Gewinn lesen werden.
Josef Epping
Ulrich Knellwolf
Wir sind’s noch nicht,
wir werden’s aber
Stückwerk zu Gott und der Welt (Theologischer Verlag Zürich, Zürich 2016,
350 S., 29,90 €)
800 Jahre
Dominikaner
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NEU
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ADAM KOZŁOWIECKI SJ
LIBORIUS OLAF LUMMA
HANSJÜRGEN VERWEYEN
Not und Bedrängnis
Feiern im Rhythmus
des Jahres
Mensch sein neu
buchstabieren
Eine kurze Einführung in christliche
Zeitrechnung und Feste
Vom Nutzen der philosophischen
und historischen Kritik für
den Glauben
Als Jesuit in Auschwitz und Dachau.
Lagertagebuch
Ein bewegendes Dokument gegen
Hass und Verzweiflung!
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Islam / Theologie 231
CIG BÜCHER Nr. 21 / 2016
Muslimas, traut euch!
W
arum haben bislang eigentlich nur
Männer den Koran und andere islamische Quellen gedeutet?, fragt Sineb
el Masrar. Warum keine einzige islamgelehrte Muslima? Traut man(n) Frauen
nichts Vernünftiges zu? Dabei sei doch,
provoziert die Autorin, von Männern „alles Hirnrissige … schon gesagt worden“,
Frauen könnten dem nichts Schlimmes
mehr hinzufügen.
So und ähnlich scharfzüngig, humorvoll
und schlagkräftig schreibt die Wahlberlinerin mit marokkanischen Wurzeln über den
Islam, über sein Potenzial und seine Rolle in
Europa. Höchste Zeit sei es, dass die Frauen
damit anfingen, den Islam auf den neuesten
Stand zu bringen, und zwar so, dass Frauen,
Jugendliche, Homosexuelle und andere sich
mit ihm identifizieren könnten. Auf die
männlichen Islamgelehrten zu vertrauen,
sei vertane Zeit: Traut euch also, Muslimas,
macht den Mund auf!
Den zahlreichen islamischen Verbänden in Deutschland steht sie skeptisch
gegenüber und warnt vor allzu schneller
Akzeptanz derselben. Dass sich ein Großteil der Verbände zum Beispiel nicht mit
salafistischen Inhalten oder extremistischen
Anteilen auseinanderzusetzen bereit ist, sei
für Frauen nicht zu akzeptieren. Schließlich
sind sie die Hauptleidtragenden des islamischen Extremismus.
Ähnlich wie vor einigen Jahrzehnten
feministische Theologinnen anfingen, das
Christentum frauentauglich zu erneuern,
so soll auch der Islam durch weibliche Tat-
kraft modern und frauenfreundlich werden, wünscht sich die Autorin. Sie bedauert, dass die Unterweisung von Imamen
aus der alten Heimat, die seit den achtziger Jahren gastweise in muslimischen Gemeinden den Islam lehrten, an deutschen
Gegebenheiten total vorbeiging und ohnehin nicht einheitlich war, ja sogar oft nicht
durchschaubare salafistische Inhalte hatte.
Altes Islamwissen aus der Türkei, Syrien
und Tunesien ging dabei für die junge Generation deutscher Muslime weitgehend
verloren.
Eindringlich weist Sineb El Masrar
darauf hin, dass Islam und Judentum aufgrund der gemeinsamen Geschichte etliche Gemeinsamkeiten hätten. Es sei an der
Zeit, dies herauszuarbeiten. Die Tochter
malikitischer Sunniten hat nicht nur mit
großer Quellen- und Geschichtskenntnis eine Streitschrift für einen modernen
Islam geschrieben, sondern dank eines
ausführlichen Glossars und erläuternder
Fußnoten auch für alle Islamunkundigen
einen Religionsunterricht der besonderen
Art geschaffen. Absolut lesenswert! Aufgrund einer gerichtlichen einstweiligen
Verfügung, beantragt von einer islamischen Gemeinschaft, musste ein Textabschnitt des Buches allerdings geschwärzt
werden.
Daniela M. Ziegler
Sineb El Masrar
Emanzipation im Islam
Eine Abrechnung mit ihren Feinden (Verlag
Herder, Freiburg 2016, 315 S., 24,99 €)
Athanasius der Große –
und Unruhestifter
A
ufregender und irritierender kann
Kirchengeschichte kaum sein: Was
wir heute Christentum nennen, entwickelte sich einst erst in heftigsten Auseinandersetzungen und Kämpfen. Die
Jahrhundertfigur des Alexandriner Bischofs und Kirchenlehrers Athanasius
(um 300–373) führt mitten hinein in die
kaiserlichen und kirchlichen Machtspiele
beziehungsweise Interessenlagen zwischen
Ost und West, nicht zuletzt in die Konfessionskämpfe um die Identität und Einheit
des Christlichen selbst. „Es seufzte der
Erdkreis und wunderte sich, dass er arianisch geworden war“, meinte zum Beispiel
Hieronymus.
Mitten in dieser Konstantinischen
Wende zum staatlich anerkannten Christentum und im entstehenden Mönchtum
als jesuanischer Alternativbewegung steht
Athanasius, mit gerade dreißig Jahren –
und vielen Tricks – Bischof in der Kulturmetropole Alexandria geworden und
trotz fünfmaligem Exil geblieben. „Das
Machtbewusstsein des Patriarchen, seine
Kompromisslosigkeit und die damit einhergehende Gewaltbereitschaft“ prägten
die fast fünfzig Jahre, die seit dem ersten
Konzil in Nizäa vergangen waren. Sein
Gegner Kaiser Julian nannte Athanasius
„diesen unverwüstlichen Intriganten,
diesen Unruhestifter“. In der bis heute
aktuellen Jahrhundertfrage, ob in Jesus
Christus wirklich Gott selbst begegnet,
blieb Athanasius unbeirrt auf der Linie des
ersten Konzils, der Wesenseinheit von Jesus und Gott. Das brachte ihm – durchaus
mit Gründen – den Ehrentitel „der Große“
ein. Auch dass er das spirituelle Bestseller-Buch des Jahrhunderts, das Leben des
Mönchvaters Antonius, schrieb, gehört
zu den großen Verdiensten Athanasius’.
Wie sehr trotzdem die Treue zum Evangelium verquickt sein kann mit eklatanten
menschlichen Schwächen, schier unglaublichem Intrigantentum und unbekümmerter Gewaltbereitschaft, ist zwar auch dem
Zeitgeist damals geschuldet, gibt aber
doch nachdrücklich zu denken – in der
heutigen Zeit erst recht, in der dem Christentum seine imperialen Anwandlungen
und konstantinischen Verhaltensweisen
genommen werden.
So zeichnet der Frankfurter Althistoriker und Theologe Manfred Clauss kompetent, anschaulich und sehr gut lesbar nicht
nur das Porträt eines imponierenden, befremdlichen, schwierigen Kirchenvaters,
sondern das Bild eines ganzen Jahrhunderts.
Gotthard Fuchs
Manfred Clauss
Athanasius der Große
Der unbeugsame Heilige (Philipp von
Zabern Verlag, Darmstadt 2016, 256 S. mit
20 s/w-Abb. und Karten, 29,95 €)
Scheitern der islamischen Eliten
D
er Islam gründet auf den Offenbarungen
des Korans. Wie der Koran allerdings
auch für arabischkundige Leser zu mindestens einem Drittel unverständlich und rätselhaft bleibt, scheinen auch die Politik und das
Tagesgeschehen in der islamischen Welt zu
mindestens einem genauso hohen Prozentsatz rätselhaft. Anders verhält es sich jedoch
mit der Geschichte der islamischen Welt, die
im Rückblick Analysen und Erklärungsmuster zulässt, die das Verständnis dieser komplexen Religion und ihrer unauflöslichen
Verquickung mit der Politik zumindest etwas
enträtseln. Dies ist das große Verdienst des
neuen Standardwerks von Reinhard Schulze
zur islamischen Geschichte.
Es handelt sich um die dritte Auflage einer bereits 1994 erschienenen Erstausgabe.
Seit der letzten Publikation 2002 hat sich
auch als Folge des 11. September 2001 die
asymmetrische Konfrontation zwischen den
Verfechtern radikalislamischer Ideologien
und dem Westen drastisch verschärft, und
diese Front wurde in Form von Bürgerkriegen auch in die islamischen Länder selbst
hineingetragen. Die „Arabellion“ – der arabische Frühling – und die Kriege in Syrien
und im Irak, die zur Schreckensherrschaft
des „Islamischen Staates“ geführt haben,
sieht Schulze auch als eine Folge des totalen Scheiterns der islamischen Eliten.
Ultraislamische Gruppierungen wie Boko
Haram, IS, Al Qaida oder Al Shabaab profitieren von dem von den Eliten zu verantwortenden Scheitern der Modernisierung und
dem Zerfall staatlicher wie gesellschaftlicher
Ordnungen und der sie tragenden Normen.
Dieses Scheitern hat mit dem schwierigen Prozess der Modernisierung zu tun,
der vom Westen angeregt und geformt, aber
auch gleichzeitig behindert wurde. Auf die
Globalisierung, einhergehend mit Ent-
wurzelung und Radikalisierung, war und
ist erst noch eine „islamische“ Antwort zu
suchen. Der Dschihadismus und der Salafismus wollen diese Antwort geben. Dabei
war dem islamischen Orient schon das ihm
fremde Konzept des Nationalstaats nach
1918 aufgedrängt worden, als Versuch zur
Modernität. Heute fördert vor allem das
Internet einen ganz neuen Diskurs über die
Moderne in einer geschulten islamischen
Öffentlichkeit. Das führt zu Veränderungen auch mancher religiösen Auffassung.
Aus einer islamischen Öffentlichkeit wurde
zusätzlich eine virtuelle Weltöffentlichkeit.
In einer Zeit, da bedingt durch wachsenden Terror zahlreiche Publikationen
sich verkürzt und einseitig mit den radikalsten „islamischen“ Ideologien befassen,
liegt rechtzeitig ein tiefgründiges Werk vor,
das auch die wachsende Abhängigkeit der
Kulturen voneinander aufzeigt. Der Berner
Islamwissenschaftler glänzt mit vielen Fakten und Szenenwechseln von Marokko bis
Indonesien. Einige der „blinden Flecken“ in
der neueren Islamgeschichte kann er aufklären. Doch insgesamt hat auch die beschwerliche Fülle des fast 800-seitigen Werkes zu
mancher Selektivität geführt. So kommt
die säkulare Türkei, wichtigster Partner
und Brücke zum Westen, in dem Werk viel
zu kurz. Alle Widersprüche und Rätsel der
islamischen Geschichte konnte Reinhard
Schulze dann doch nicht lösen. Bodo Bost
Reinhard Schulze
Geschichte der islamischen Welt
Von 1900 bis zur Gegenwart. Grundlegend
neu bearbeitete, aktualisierte und erweiterte
Fassung des Buches „Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert“ von 1994
(Verlag C. H. Beck, München 2016, 767 S.
mit 7 Karten, 34,95 €)
Universum des Staunens
D
ie Verteidiger Gottes waren jahrzehntelang in einem Rückzugsgefecht. Mit
jeder neuen Erkenntnis vor allem naturwissenschaftlicher Art war die Arbeitshypothese
Gott einmal mehr überflüssig geworden.
Und als man mit Raketen in den Himmel
flog, fand man ihn nicht. Bestenfalls führte
er noch ein Nischendasein in der kleinen
Welt abnormer Phänomene. Harald Lesch,
Professor für Astrophysik in München,
und der Jesuit Christian Kummer, Biologe,
Theologe und ehemaliger Leiter des Instituts für naturwissenschaftliche Grenzfragen
zur Philosophie und Theologie, holen Gott –
ohne dies groß in ihrem lesenswerten Buch
zu thematisieren – zurück in die Mitte. Und
zwar, indem sie erst einmal ihre ganze naturwissenschaftliche Leidenschaft – manchmal etwas detailverliebt – ausleben, Lesch
auf dem Gebiet der Entstehung des Universums, Kummer auf dem der Evolution.
Doch anstatt mit zunehmender Erkenntnis Gott zu widerlegen oder überflüssig zu
machen, ziehen sie in ihrem gemeinsamen
Band den umgekehrten Schluss. Nicht: Erkenntnis entmystifiziert die Welt. Sondern:
Jeder Erkenntnisschritt führt zu einem noch
größeren Staunen. „Das Wunderbare, worüber wir staunen, ist nicht das unverstan-
den Geheimnisvolle, sondern gerade das
Erkannte und Verstandene.“
Rationaler Erkenntnisgewinn vertieft die
Frage nach dem Sinn und stellt damit auch
die Gottesfrage. Die Naturwissenschaften ersetzen nicht den Glauben an Gott, sondern
führen – je weiter sie in ihre Materie eindringen, desto drängender – zur Frage aller
Philosophen: Warum ist überhaupt Seiendes
und nicht vielmehr nichts? Und, das wäre die
anschließende Frage, wie entsteht es überhaupt, das Leben? Wie sind die qualitativen
Sprünge in der Entwicklung der Welt letztlich zu erklären? Diesen Fragen sind die Naturwissenschaften bisher keinen Deut näher
gekommen. Was man allerdings schon sagen
kann: Naturwissenschaftliche Ergebnisse
zwingen dazu, von primitiven Gottesbildern
und naiv-frömmlerischer Sprache Abschied
zu nehmen. Angesichts der Komplexität des
Lebens liegt es nahe, dass auch Gott ziemlich
komplex und alles andere als letzterklärbar
ist.
Alexander Schwabe
Harald Lesch, Christian Kummer
Wie das Staunen ins Universum kam
Ein Physiker und ein Biologe über kleine
Blumen und große Sterne (Patmos Verlag,
Ostfildern 2016, 176 S., 17,99 €)
232 Philosophie / Kunst
Nr. 21 / 2016 BÜCHER CIG
Weltinnigkeit – ja, Achtsamkeitsgeplapper – nein Vor dem Kreuz
E
I
s ist der Untertitel, der aufmerken
lässt: „Eine stille Subversion“. Eine Subversion, ein Umsturz, wenn die Welt als
Schöpfung betrachtet wird? Für wen? Auf
den ersten Blick nicht für den religiösen,
den gläubigen Menschen, für den das Bekenntnis zum Schöpfergott fundamental ist.
Doch auch dieser wird der Darlegung Peter
Strassers mit Gewinn folgen – auch oder
gerade, wenn er sich durch dessen Thesen
provoziert fühlen könnte. Denn der Grazer
Philosoph setzt sich nicht nur mit einem
mängelbehafteten Naturalismus auseinander, „der als Realität nur gelten lässt, was
empirisch – mit den Methoden der Naturwissenschaft – beweisbar scheint“. Auch den
Glauben an einen Gott, dessen Schöpfung
das Leiden mit sich bringt, stellt Strasser
auf den Prüfstand und sieht „fundamentale
Konsequenzen für jede aufgeklärte, humane
Religiosität: Gott ist kein Du, und der Holocaust ist für uns nicht entschlüsselbar als
Ausdruck eines göttlichen Wollens“.
Wenn Strasser dennoch die Welt als
Schöpfung betrachten will, dann als „Schöpfung an sich“, als das „große Unbegreifliche“.
Er sieht dies als die allen Menschen gemeinsame, auch den Religionen noch vorausgehende Erfahrung einer „Weltinnigkeit“, eines
unmittelbar gegebenen Weltbezugs, der die
Welt als Schöpfung erschließt. Dabei will er
bewusst einen „sehr kindlichen oder sehr
philosophischen Standpunkt“ einnehmen.
Den Kreationismus, also ein unmittelbares
Eingreifen Gottes in jeden Schöpfungsakt,
sieht er ebenso kritisch wie die Ansicht, die
das menschliche Gehirn „mit quasi göttlichen Attributen“ versieht und an die Stelle
des „alten, ausrangierten Schöpfergottes“
erhebt. Ebenso kritisch beurteilt der Autor
unser „Zeitalter des Präsentismus“, also eine
extreme Gegenwartsfixierung. Diese führe
zu einer „Reduzierung der Erlebnistiefe“, wodurch „die Welt als Schöpfung unbegreiflich
und unfassbar“ geworden sei. Die Erfahrung
der Weltinnigkeit hingegen, die „unserem
Geist eingeboren“ sei, begründe „unseren
unabweisbaren, fortdauernden Hang und
Drang, die Welt als Schöpfung anzuschauen
und aufzufassen“. Innigkeit, nicht Objektivität, sei das Prinzip, unter dem sich das philosophische Fragen entfaltet. In der Liebe
zur Weisheit wiederum sieht Strasser „die
Liebe zur ‚Welt als Schöpfung betrachtet‘“.
Anregend sind auch seine Ausführungen
zum Ursprung der Gottesliebe: „Wir lieben
Gott, indem wir an den Dingen der Welt des
Wunderbaren gewärtig werden, das sie ins
geistdurchwirkte Dasein hebt, während wir
sie, dem Mythos nachlauschend, begriffslos
als Teile eines Ganzen begreifen, für welches
im Abendland der Begriff ‚Schöpfung‘ steht.“
Mit Peter Strasser die Welt als Schöpfung betrachten – das ist fordernd und in jedem Fall
der Mühe wert. Die Subversion ergibt sich
aus dem Standort des Betrachters.
Wer nach der hellsichtigen Schöpfungsbetrachtung Strassers sein Buch zur Achtsamkeit zur Hand nimmt, mag zunächst erstaunt,
vielleicht enttäuscht, in jedem Fall wohl irritiert sein. Denn anstelle einer einfachen
Ermutigung zu einem – naheliegend! – acht-
samen Blick auf die Schöpfung etwa formuliert der Philosoph „zeitgeistwiderständige“
Kommentare gegen die achtsamkeitsbeflissene neue Quasireligion. Er karikiert und
übertreibt – um das Anliegen dahinter zu
retten. Anhand der ironisch-unsinnig formulierten „Zehn Gebote der Achtsamkeit“ („der
ultimative Achtsamkeitspartydekalog“), allesamt durch ein warnendes „Bloß nicht …!“
eingeleitet, wird das Buch zu einem in mitunter derb formulierten Episoden verfassten
Aufruf zur Wachsamkeit gegen „jenes Achtsamkeitsgetue und Achtsamkeitsgeplapper,
das heutzutage auf das Podium der Jahrhunderttugend erhoben wird“.
Das ist nicht unsympathisch. Zur Anregung und zum Gewinn wird das Bändchen
durch das Aufblitzen der eingestreuten
philosophischen Erkenntnisse, wenn Strasser etwa das Wesen der Achtsamkeit wie
folgt formuliert: „Gib, soweit es in deinen
schwachen Kräften steht, den armen, dir
tagtäglich begegnenden Kreaturen rund
um dich herum das Gefühl, bei sich selbst
zu sein und dabei irgendwie zu Hause; gib
ihnen das Gefühl, dass sie dort sind, wo sie
hingehören.“
Norbert Schwab
Peter Strasser
Die Welt als Schöpfung betrachtet
Eine stille Subversion (Wilhelm Fink, Paderborn 2015, 118 S., 16,90 €)
Peter Strasser
Achtsamkeit
(Braumüller, Wien 2016, 93 S., 14,90 €)
m Symbol des Kreuzes eine angemessene
Sprache angesichts des Leids auch für
unsere Zeit zu finden, versucht der evangelische Neutestamentler Reiner Knieling,
der das Gemeindekolleg der Vereinigten
Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands leitet. Er skizziert die Entwicklung
von Kreuzesdarstellungen in der Kunst und
macht deutlich, wie darin Unverständliches
ausgedrückt werden kann. Bis zum 4. Jahrhundert von Nichtchristen als Zeichen der
Ohnmacht und Schwäche angesehen und
mit einem Eselskopf verhöhnt, setzt sich das
Kreuz immer mehr durch und wird zum Zeichen nicht nur für das Mitleiden Christi mitten in Leiden und Ohnmacht der Menschen,
sondern auch für die Überwindung des Todes und somit für die Gegenwart Gottes.
Kreuzesdarstellungen spiegeln ihre jeweilige Zeit wider. So sieht Luther das Kreuz
als lebensschaffende Kraft und Fundament
des Glaubens. Das Liebeswerben Gottes ist
die Botschaft, in die der Autor das Kreuz
einordnet. Knieling verzichtet dennoch
nicht darauf, Kritisches und bisweilen
Sperriges wie „Opfertod“ und „Sühne“ zu
erörtern. Besonders der dritte Teil enthält
zahlreiche Impulse für eine heute angemessene Sprache und die Auseinandersetzung
mit dem Kreuz.
Martina Ahmann
Reiner Knieling
Das Kreuz mit dem Kreuz
Sprache finden für das Unverständliche
(Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016,
224 S., 19,99 €)
Warum Bibel und Aufklärung
kein Gegensatz sind
Dieses Buch möchte zeigen, in welchem Ausmaß bereits das Alte Testament Aufklärung leistet, und wie durch Jesus und die Kirche diese Aufklärungsarbeit fortgeführt
und vertieft wurde. Auf der Grundlage dieser jüdisch-christlichen Aufklärungsgeschichte geht es um die Vernunft des Glaubens, die in diesen Tagen immer wieder
zur Debatte steht. Dabei möchte die Darstellung nichts vom Geheimnis des Glaubens
wegnehmen, sondern seine Vernünftigkeit aufleuchten lassen.
560 Seiten | Gebunden mit Schutzumschlag
€ 29,99 / SFr 39.90 / € [A] 30,80
ISBN 978-3-451-31239-7
Neu in allen Buchhandlungen
oder unter www.herder.de
234 Kultur
Nr. 21 / 2016 Bücher CIG
Der Tag des Zorns
E
ine Geschichte des Weltuntergangs kann
kein klassisches Geschichtsbuch sein.
Der Weltuntergang, obwohl schon öfter mit
einem Fuß in der Tür, hat bisher nicht stattgefunden. Der Historiker Johannes Fried
bleibt dennoch seinem Handwerk treu und
durchsucht detailgenau Geschichte, Kunst
und Wissenschaft nach den vielen Spielarten der Endzeiterwartungen.
Er fördert dabei eine Fülle von Katastrophenvisionen mit ihren Protagonisten
zutage und verlässt doch notgedrungen nur
kurz den jüdisch-christlichen Kulturkreis.
Denn hier, so stellt er fest, ist die Furcht vor
dem Weltenende zu Hause. „Dieses immerwährende Jüngste Gericht und dieser stets
erwartete Untergang verfestigten sich zu einem sozialen Habitus des christlichen Westens“, fasst der Professor für Mittelalterliche
Geschichte zusammen. Endzeitvokabeln wie
Jüngstes Gericht, Armageddon oder Apokalypse haben es nicht zuletzt dank Hollywood
bis in die moderne Sprache geschafft und
erinnern daran, dass etwas alle bisherigen
Katastrophen in den Schatten stellen könnte.
Was die Auseinandersetzung lohnenswert macht, erwartet den Leser manchmal
eher zwischen den Zeilen. Die dargestellten
Ereignisse und Entwürfe zum unausweichlichen Tag des Herrn kratzen an der Fassade
einer Kultur, für die die Zukunft immer besser werden soll, und legen Ängste frei, die
tief in der kollektiven Seele schlummern.
Ängste vor der totalen Zerstörung und die
damit verbundenen unbeantworteten Fragen nach Ursprung und Sinn allen Seins.
Dass dies tatsächlich ein abendländisches
Phänomen ist, zeigt ein kurzer Exkurs in die
östlichen Religionen. Zwar wird im Hinduismus und Buddhismus auch das individuelle
und kollektive Ende mitgedacht, jedoch stets
auch ein Neuanfang. Zyklisches Denken,
das im Osten ebenso tief verwurzelt ist wie
im Westen das lineare, entzieht einer totalen
Auslöschung den Boden. Auch die Vorstellung von Vernichtung als Strafe ist eine eher
westliche Denkfigur.
Auch die Aufklärung und die Wissenschaften bringen nach Johannes Frieds
Darstellung kaum frischen Wind in die
Vorstellung vom Untergang. Wo das eine
erleichternd hätte wirken können – der
strafende Gott verliert seine Bedrohlichkeit – und das andere eher ernüchternd –
das Erlöschen von Sonne und Leben ist eine
Gewissheit –, lebt die westliche Menschheit
lieber weiter mit ihrer namenlosen Sorge
vor dem katastrophalen Ende.
Zu tief hat sich die Angst vor dem Unaussprechlichen über Jahrtausende im kulturellen Gedächtnis festgesetzt und tritt besonders dann an die Oberfläche, wenn sich
individuell oder kollektiv Bedrohung anzukündigen scheint, sei es durch Krieg, Terror,
Viren oder Migrationswellen. So bedrohlich
der Weltuntergang auch sein mag, lähmen
lässt sich das Leben nicht. Angst vor dem
Ende, fasst Fried zusammen, hat auch eine
„stimulierende, gesellschafts- und weltverändernde Kraft“.
Barbara Münzer
Johannes Fried
Dies irae
Eine Geschichte des Weltuntergangs (Verlag
C. H. Beck, München 2016, 352 S. mit 26 s/wAbb. und 19 farb. Abb. im Tafelteil, 26,95 €)
Ein Gott ohne Körper?
H
at Gott einen Körper? Ist die Vorstellung von Gottes Körperlichkeit nur
Kinderglaube? Oder gibt es Gründe, Gott
auch körperlich zu denken? In der Antike
war es offenbar nicht nur für schlichte Gemüter selbstverständlich, dass die Götter über
einen Körper verfügen. Selbst der jüdischchristliche Gott konnte zu dieser Zeit bis in
die gebildetsten Kreise so gedacht werden.
Christoph Markschies zeigt, wie man sich
den Körper Gottes konkret vorgestellt hat.
Dazu verfolgt er die theologischen und philosophischen Debatten zu dieser Frage, wirft
einen Blick hinter den Vorhang des Olymps
heidnischer Gottheiten und vermisst die
Abstände zwischen ihnen und dem jüdischchristlichen Gott. Das Ergebnis ist eine gelehrte Studie, die alle relevanten Entwicklungen nachzeichnet, in deren Verlauf einstmals
breiter vertretene Ideen an den Rand gedrängt wurden. So wird erklärt, warum ausgerechnet das Mittelalter den Gedanken an
Gottes Leiblichkeit verabschiedete und sich
stattdessen die bis heute geläufige Vorstellung von Gott als einem körperlosen Wesen
durchsetzen konnte. Dass es so zu einem
Substanzverlust biblisch begründeten Gottglaubens kam, ermöglicht dem Verfasser,
einen vorsichtigen theologischen Impuls
zugunsten einer Rede vom Körper Gottes
zu formulieren. Sofern diese nicht eine um
Details der Körperlichkeit gekappte Rede sei,
verfüge sie über das Potenzial, die Wahrheit
des Mythos und auch die Notwendigkeit der
Entmythologisierung zu begründen.
Das Buch ist eine Fundgrube mit fast
zweitausend Anmerkungen und gut hundert Seiten Literatur. Es liest sich wie ein
spannender Rechenschaftsbericht über ein
Forschungsprojekt, der den Lesern Einblicke in die jüdische Mystik und die christliche Theologie der Spätantike gewährt. Der
hochkarätige Aufweis christologischer Debatten um das Mensch- und Gottsein Jesu
rundet diese Studie ab, die historische und
theologische Fragestellungen auf elegante
Weise verbindet. Auch in den Auslassungen
(zum Beispiel islamischer Textzeugnisse)
werden die Untersuchungen Markschies’
zum Ideengeber zukünftiger Forschung.
Leider kommt die Bibel selbst als Urkunde jüdischer und christlicher Gottesrede
fast nur am Rande zur Sprache, wobei gleichwohl festgehalten wird, dass „Aussagen über
die Körperlichkeit Gottes die jüdisch-christliche Bibel nahezu auf jeder Seite“ prägen.
Insgesamt handelt es sich bei diesem Werk
jedenfalls um eine gelungene Überraschung,
die vielfach Antwort gibt und immer neue
Fragen aufwirft.
Robert Vorholt
Christoph Markschies
Gottes Körper
Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike (C. H. Beck Verlag,
München 2016, 900 S. mit 15 Abb., 48 €)
Was begrenzt den Herrscher?
D
ie Herrscher des Mittelalters setzten
die von der Antike übernommene
Beratungskultur fort. Vor wichtigen Entscheidungen ließen sie sich in der Regel
Ratgeber kommen, die um einen allgemeinen Konsens im Sinne der Herrschenden
bemüht waren. Denn die Könige konnten
die Beratung lenken. Zudem waren sie an
den Rat nicht gebunden, sie behielten sich
die Entscheidung vor. Dennoch kann die
mit dem Ratgeben eröffnete Teilhabe an der
Herrschaft als ein Weg zur Begrenzung von
Willkür verstanden werden.
Dies ist die zentrale These der gründlichen Studie von Gerd Althoff, die Möglichkeiten und Grenzen von politischer Teilhabe durch Beratung aufzeigt.
Durch die Analyse besonders aussagekräftiger – vorrangig politischer – Fälle
intensiver Verhandlungen aus der Zeit der
Karolinger, der Ottonen, der Salier und
der Staufer versucht der Autor, das Wissen
um die Formen und Inhalte von Beratung
im Früh- und Hochmittelalter zu verbessern und vor allem auch ihre politischen
Ausmaße zu verstehen: die Regelhaftigkeit
des Vorgehens und Verhaltens sowie die
Handlungsspielräume der Akteure. Die
Quellenlage ist besser, als man denkt, auch
wenn es weiterhin schwierig ist, die Art der
Verhandlung und Beschlussfassung näher
zu bestimmen.
Im untersuchten Zeitraum kommt dem
religiös begründeten Rat ein besonderes
Gewicht zu. Ebenso wird die Intensität der
Bemühung der Mächtigen aufgezeigt, dafür
zu sorgen, dass sie nur den von ihnen erwarteten Rat bekamen. Ein nicht unwichtiges Ergebnis ist auch, dass die Herrscherberatung immer wieder auch versuchte, zur
Gewaltvermeidung, zum Gewaltverzicht
beizutragen – was eine gute Regierung auf
dem Boden der Christenheit kennzeichnete.
Mariano Delgado
Gerd Althoff
Kontrolle der Macht
Formen und Regeln politischer Beratung im
Mittelalter (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016, 360 S., 49,95 €)
Der Mystiker Martin Luther
Z
u welchen Ergebnissen ist das Nachdenken der letzten Jahrzehnte über
den Platz Martin Luthers in der Geschichte
gekommen? Ein Fazit liegt im lesenswerten
Buch des Tübinger Historikers Volker Leppin
über „Luthers mystische Wurzeln“ vor.
Wenn man das Spätmittelalter nicht
mehr unter dem Gesichtspunkt betrachtet,
was an ihm durch Martin Luther überwunden wurde, sondern untersucht, wie der Horizont des Spätmittelalters auch in den protestantischen Kirchen weiterwirkte, ist die
Grenze zwischen der – katholischen – Welt
des Mittelalters und der – protestantischen –
Neuzeit weniger abweisend. Der Autor
glaubt, dass die Mystik, wie Luther sie bei
Johannes Tauler und der Schrift „Theologia
deutsch“ des 14. Jahrhunderts vorgefunden
und durch seinen Beichtvater Johann von
Staupitz gelernt hatte, für den Reformator
zeitlebens von Bedeutung war. Sie ist daher
eine jener Größen, welche die „katholische“
und die „protestantische“ Welt verknüpfen.
Konsequenterweise stellt Volker Leppin die ersten Jahre der Reformation nicht
chronologisch, sondern unter dem Gesichtspunkt dar, wie sich Luthers Theologie
weiterentwickelte und sich dadurch das
mystische Erbe veränderte. Barbara Henze
Volker Leppin
Die fremde Reformation
Luthers mystische Wurzeln (Verlag
C. H. Beck, München 2016, 247 S., 21,95 €)
Evangelisch mystisch
D
urch ‚Leben und Sterben, nicht durch
Erkennen und Spekulieren‘ wird nach
Luther der Christ geboren.“ Dem werden
Mystikfreunde nicht widersprechen. Doch
die Autorin und C.-G.-Jung-Kennerin Brigitte Romankiewicz grenzt Martin Luthers
Zugang zu Frömmigkeit und Theologie mit
diesen Worten ab von dem, was dann „im
Schatten Luthers“ auf protestantischem Boden als Mystik entstanden ist. Luthers Umgang mit den sogenannten „Schwärmern“
wie Thomas Müntzer und Sebastian Franck
war fraglos abgründig, und die lutherische
Orthodoxie hat unselige Abgrenzungen vorgenommen und „wortlastige“ Einseitigkeiten
ausgebildet. Dennoch ist das Thema Protestantismus und Mystik zu komplex, um es in
schroffer Gegensätzlichkeit zu fassen. Zu differenzieren gelingt der Autorin nur bedingt.
Maria ist für Brigitte Romankiewicz das
Symbol mystischer Existenz. Sie gilt als Gefäß der göttlichen Sophia und bringt in ihrem „Es geschehe …“ die Bereitschaft zum
Ausdruck, sich von der Weisheit führen zu
lassen. Unter dem Motto „Sophia kehrt zurück“ wird eine marianisch-weisheitliche
Mystik an den Rändern des Protestantismus
nachgezeichnet. Die einzelnen Kapitel etwa
über Jakob Böhme oder die christlich-kabbalistische Lehrtafel der Prinzessin Antonia von Württemberg in Bad Teinach, über
Friedrich Christoph Oetinger oder Friedrich Daniel Schleiermacher sind anregend.
Im „Sprung in die Gegenwart“ plädiert die
Verfasserin für eine sophianisch inspirierte
Mystik heute, die im Wortsinn „radikal“ ist
und aus dieser Verwurzelung über sich hinauswächst in eine nichtduale kosmische
Ganzheit hinein. Die Identifikation des
Weisheitlichen mit dem Weiblichen hingegen ist ideologieanfällig. Die Autorin scheint
darin kein Problem zu sehen. Irene Leicht
Brigitte Romankiewicz
Sophia kehrt zurück
Evangelische Mystik im Schatten Luthers
(Verlag Herder, Freiburg 2016,
347 S., 28,99 €)
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